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Examensarbeit aus dem Jahr 2006 im Fachbereich Pädagogik - Reformpädagogik, Note: 1,0, Universität Lüneburg, Sprache: Deutsch, Abstract: Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der von Maria Montessori entwickelten Pädagogik. Die Montessori-Pädagogik entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts und ist ein pädagogisches Konzept von vielen, welches seinen Ursprung in der Zeit der so genannten „reformpädagogischen Bewegung“ hat. Das Besondere an der Pädagogik Montessoris ist, dass dieses reformpädagogische Modell das Einzige blieb, welches weltweit Anerkennung fand und umgesetzt wurde. Die Grundlage der reformpädagogischen Bewegung bildete eine neue Sichtweise auf das Kind und die daraus resultierende Forderung nach einer kindorientierten Erziehung. In einer Zeit, in der dem deutschen Bildungssektor erhebliche Schwächen attestiert wurden, gewinnen die kindorientierten Konzepte der Reformpädagogik wieder zunehmend an Interesse.
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Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Biographie
2.1 Kindheit und Jugend
2.2 Das Studium der Medizin
2.3 Montessoris Arbeit mit geistig behinderten Kindern
2.4 Die „Casa dei bambini“
2.5 Internationale Entwicklungen
2.6 Zusammenfassung
3 Das Verhältnis von Kind und Erwachsenem
3.1 Der Kampf zwischen Kind und Erwachsenem
3.2 Das Ende des Kampfes
3.3 Persönlichkeitsbildung als Grundlage für den Frieden auf der Welt
3.4 Zusammenfassung
4 Montessoris anthropologische und bildungstheoretische Vorstellungen als Grundlage ihrer Pädagogik
4.1 Die pränatale - und die postnatale Phase
4.2 Die sensiblen Phasen
4.2.1 Die erste Entwicklungsphase von null bis sechs Jahren
4.2.2 Die zweite Entwicklungsphase von sechs bis zwölf Jahren
4.2.3 Die dritte Entwicklungsphase von zwölf bis achtzehn Jahren
4.2.4 Die vierte Entwicklungsphase von achtzehn bis vierundzwanzig Jahren
4.3 Der absorbierende Geist
4.4 Die Polarisation der Aufmerksamkeit
4.5 Die Normalisierung
4.6 Das Konzept der Kosmischen Erziehung
4.6.1 Die Kosmische Theorie
4.6.2 Die Kosmische Erziehung
4.7 Zusammenfassung
5 Pädagogische Konsequenzen Maria Montessoris
5.1 Die Freie Arbeit
5.2 Die Wahlfreiheit
5.3 Die vorbereitete Umgebung
5.3.1 Das Material
5.3.2 Der Erzieher
5.4 Soziales Lernen in altersheterogenen Gruppen
5.5 Zusammenfassung
6 Praxisbeispiel
6.1 Die Grundschule K.
6.1.1 Die Schulleiterin
6.1.2 Das Schulprogramm
6.1.3 Die Eltern(mit)arbeit
6.2 Die Klasse 2a
6.3 Die praktische Umsetzung der pädagogischen Grundprinzipien Montessoris
6.3.1 Die Polarisation der Aufmerksamkeit
6.3.2 Die Freie Arbeit
6.3.3 Differenzierung – Die Berücksichtigung sensibler Phasen
6.3.4 Die vorbereitete Umgebung
6.3.5 Soziales Lernen
6.4 Zusammenfassung
7 Schlussbetrachtung
8 Thesenartige Zusammenfassung
9 Literaturverzeichnis
10 Anhang
Schulprogramm der Grundschule K.
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der von Maria Montessori entwickelten Pädagogik. Die Montessori-Pädagogik entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts und ist ein pädagogisches Konzept von vielen, welches seinen Ursprung in der Zeit der so genannten „reformpädagogischen Bewegung“ hat. Das Besondere an der Pädagogik Montessoris ist, dass dieses reformpädagogische Modell das Einzige blieb, welches weltweit Anerkennung fand und umgesetzt wurde. Die Grundlage der reformpädagogischen Bewegung bildete eine neue Sichtweise auf das Kind und die daraus resultierende Forderung nach einer kindorientierten Erziehung.
In einer Zeit, in der dem deutschen Bildungssektor erhebliche Schwächen attestiert wurden, gewinnen die kindorientierten Konzepte der Reformpädagogik wieder zunehmend an Interesse. Der bis heute in den Schulen praktizierte einheitliche Unterricht, der an die vermeintlich identischen Lernvoraussetzungen der Schülerschaft anknüpft, wird der Heterogenität der Schüler nicht mehr gerecht. Die Individualisierung des Unterrichts ergibt sich als logische pädagogische Konsequenz. Das von Montessori entwickelte pädagogische Konzept, welches die individuellen Bedürfnisse des Kindes in besonderem Maße achtet und berücksichtigt, scheint eine hilfreiche Möglichkeit für die Reformierung des Bildungssystems darzustellen. Die von Montessori entwickelten pädagogischen Prinzipien sollen die individuelle Förderung des Kindes entsprechend seiner Fähigkeiten ermöglichen.
In der vorliegenden Arbeit soll herausgestellt werden, inwiefern die Schulpraxis mit Montessoris pädagogischen Vorstellungen übereinstimmt. Zu diesem Zweck hatte ich ein jeweils zweiwöchiges Praktikum an einer Montessori-Schule in privater Trägerschaft und an einer Regelschule, die nach den Prinzipien Montessoris arbeitet, geplant. Ziel dieser Arbeit sollte es sein, gegenüberzustellen, inwieweit die pädagogischen Prinzipien Montessoris in diesen beiden unterschiedlich organisierten Schulen Anwendung finden. Fünf Tage vor Beginn des Praktikums in der Montessori-Grundschule Wittenberge wurde ich in einem Telefongespräch darüber informiert, dass ich dieses Praktikum aufgrund personeller Umstrukturierungen dort nicht mehr antreten könne. Dieses Problem war bei der Themenstellung für die Examensarbeit nicht zu erwarten, da ich die Zusage von beiden Schulleitern für das jeweilige Praktikum bekommen hatte. In Rücksprache mit Herrn Ziegenspeck haben wir uns, unter Berücksichtigung der neuen Umstände, darauf geeinigt, dass ich mich in der Betrachtung von Praxisbeispielen ausschließlich auf die Darstellung meiner Erfahrungen in der Regelschule beziehen werde. Folglich findet in Kapitel 6, anders als im Titel dieser Arbeit formuliert, lediglich ein Praxisbeispiel – die Grundschule K. – Berücksichtigung.
Aufgrund der Darstellung der praktischen Erfahrungen ergibt sich eine Begrenzung des vorangehenden theoretischen Teils. Dies hat zur Folge, dass nicht alle Aspekte der Montessori-Pädagogik ausführlich dargestellt werden können. Die Akzentuierung bestimmter Bereiche im theoretischen Teil ergibt sich aus deren Relevanz für meine praktischen Beobachtungen.
Die Arbeit beginnt mit einer Darstellung der Biographie Montessoris, die im engen Zusammenhang mit der von ihr entwickelten Pädagogik steht (Kapitel 2). Anschließend werden im 3. Kapitel Montessoris neue Sichtweise auf das Kind und die damit verbundenen Forderungen für eine kindzentrierte Erziehung näher erläutert. Friedenserzieherische Aspekte werden in diesem Zusammenhang ebenso berücksichtigt.
Montessoris Theorie von der sich in Phasen vollziehenden Entwicklung des Kindes wird in Kapitel 4 näher betrachtet. Dabei wird auch auf phasenspezifische Eigenschaften des Kindes eingegangen und die „Polarisation der Aufmerksamkeit“ in seiner Bedeutung als Schlüsselphänomen in der Montessori-Pädagogik herausgestellt. Zusätzlich wird Montessoris Konzept der „Kosmischen Erziehung“ dargestellt, die als bildungstheoretische Grundlage ihrer Pädagogik verstanden werden kann.
Im 5. Kapitel wird auf die pädagogischen Prinzipien Montessoris, welche sich aus ihren Vorstellungen von der kindlichen Entwicklung ableiten, eingegangen. Begonnen wird mit der Darstellung der „Freien Arbeit“[1] als zentrale Unterrichtsform in der Montessori-Pädagogik. Im Anschluss daran wird das Prinzip der Wahlfreiheit vorgestellt und die Bedeutung der „vorbereiteten Umgebung“ für die Entwicklung des Kindes erläutert. Abschließend wird das Lernen in altersgemischten Gruppen als Grundlage für soziales Lernen genauer betrachtet.
Hierauf folgt das bereits erwähnte 6. Kapitel mit der Darstellung meiner Erfahrungen in der Grundschule K.. In dem sich anschließenden 7. Kapitel wird die Umsetzung der Montessori-Pädagogik auf nationaler und internationaler Ebene betrachtet. Besondere Berücksichtigung finden dabei die Internationale Montessori-Gesellschaft AMI und die Deutsche Montessori-Gesellschaft (DMG e.V.).
Den Abschluss bildet das 8. Kapitel, in dem noch einmal die wichtigsten Inhalte dieser Arbeit thesenartig zusammengefasst sind.
In diesem Kapitel wird die Biographie Maria Montessoris dargestellt, denn diese ist eng verbunden mit der von ihr entwickelten Pädagogik. Der Einblick in Montessoris Leben zeigt, auf welche Weise ihr in sich geschlossenes pädagogisches Konzept entstanden ist und wie es weltweite Anerkennung fand.
Maria Montessori wurde am 31. August 1870 in Chiaravalle/Italien geboren. Sie war das einzige Kind von Renilde Montessori, geb. Stoppani (1840-1912), und Alessandro Montessori (1832-1915) (vgl. Heiland 1991, S.9). Alessandro Montessori entstammte kleinbürgerlichen Verhältnissen, sein Vater war Angestellter in einer Tabakhandlung. Renilde Stoppani kam hingegen aus einer Gutsbesitzerfamilie und war, ungewöhnlich für die damalige Zeit, sehr gebildet.
Die Anstellung Alessandro Montessoris als Finanzbeamter hatte häufige Arbeitsplatz- und damit auch Wohnortwechsel zur Folge. 1875 wurde Alessandro Montessori nach Rom versetzt, welcher dann der endgültige Wohnort der Familie Montessori wurde. Dieser Umzug kam Renilde Montessori ganz recht, weil die Auswahl an Bildungsmöglichkeiten für ihre Tochter in Rom vielseitiger war als in Chiaravalle. Renilde Montessori wollte, dass ihre Tochter ihre Potenziale besser nutzt, da es ihr selbst zur damaligen Zeit nicht möglich gewesen war. „Renilde Montessori sah in Marias zukünftigem Lebensweg Möglichkeiten, die sie selbst nicht verwirklichen konnte und wollte für Maria eine hoch qualifizierte Ausbildung und spätere Berufstätigkeit, nicht lediglich die obligat erscheinende Verheiratung.“ (Heiland 1991, S.13). Auch Alessandro Montessori hatte Zukunftspläne für seine Tochter. Er wollte Maria in die römische Elite einführen und diese mit ihr und ihrer charmanten Art beeindrucken. Alessandro hatte für seine Tochter den Beruf der Lehrerin im Blick, doch diese Idee entsprach keineswegs den Vorstellungen Marias. Zunächst war Maria keine herausragende Schülerin, was zu einem bestimmten Teil gewiss auch in dem Zustand des italienischen Erziehungssystems begründet war: „Die am meisten angewandte Methode des Lernens war der Drill.“ (Kramer 1999, S.31). Doch im Laufe der Schulzeit, eventuell angeregt durch die Erwartungen die ihre Eltern in sie setzten, begann Maria intensiv Bücher zu lesen und entwickelte ein starkes Interesse an der Mathematik.
Renilde Montessori erzog ihre Tochter sehr liberal aber gleichzeitig auch nach christlichen Werten und unterstützte ihre willensstarke Tochter immer in ihren Vorhaben. Maria lernte schon früh, sich als Frau gegen Männer zu behaupten, denn oft entsprachen ihre Vorstellungen nicht den konservativen Vorstellungen ihres Vaters. So war sie stets dem Kontrast der sehr konservativen Sichtweise ihres Vaters einerseits und der liberalen Sichtweise ihrer Mutter andererseits ausgesetzt. Maria ist an den widersprüchlichen Anforderungen, die ihre Eltern an sie stellten, gewachsen. Sie lernte, sich durchzusetzen.
Marias Wunsch Ingenieurin zu werden, hat in der Familie Montessori zu Auseinandersetzungen geführt. Dem konservativ eingestellten Vater war der Wunsch Marias, in eine „Männerdomäne“ einzudringen, unverständlich. Marias Mutter hingegen unterstützte ihre Tochter in ihrem Vorhaben. Folglich wurde Maria im Herbst in die technische Schule Regia Scuola Tecnica Michelangelo Buonarotti eingeschult. Obwohl es in dieser Schule ähnlich wie in der vorherigen Schule zuging und auch dort wieder ausschließlich eintönige Wissensaneignung und Wissensproduktion praktiziert und die gleichen Drillmethoden angewandt wurden, beendete sie ihre dreijährige Ausbildung 1886 mit guten Ergebnissen.
Anschließend besucht Maria vier Jahre einen weiterführenden Kurs im Regio Instituto Tecnico Leonardo da Vinci. Obwohl sie auch diesen Kurs mit guten Leistungen absolvierte, wuchs in ihr schon gegen Ende dieser Ausbildung aufgrund ihres starken Interesses an der Biologie und der Mathematik der Wunsch, Ärztin zu werden. Schon zu dieser Zeit war zu erkennen, dass Maria sich nicht immer den einfachsten Weg aussuchte und die Kraft und den Willen besaß, unbekannte Wege zu beschreiten.
Als Voraussetzung für den Beginn eines Studiums der Medizin musste Maria Montessori zunächst zwei Jahre lang Physik, Mathematik und Naturwissenschaften an der Universität in Rom studieren. 1892 erhielt sie die offizielle Berechtigung, Medizin studieren zu dürfen. Allerdings hatte noch nie zuvor eine Frau ein Medizinstudium begonnen, so dass Montessori sich nicht ohne weiteres an der Universität einschreiben konnte. Der Kultusminister Guido Baccelli informierte Montessori in einem persönlichen Gespräch darüber, dass er es nicht zulassen werde, dass eine Frau Medizin studiert (vgl. Schwegmann 2002, S.50). Doch mit der Unterstützung ihrer Mutter und durch andere ungeklärte Umstände konnte sie ihr Medizinstudium entgegen der allgemeinen Missbilligung beginnen.
Nach ihrem ersten Tag im Anatomischen Institut zweifelte Maria Montessori an der Richtigkeit ihrer Berufswahl. Der Anblick konservierter Organe, Skelette, Schädel und Knochen widerte sie an. Ihr wurde klar, dass in diesen Skeletten und Organen einmal Leben steckte und das erschütterte sie zutiefst: „Das moralische Leben, das diese jämmerlichen Reste beseelt hatte, sein Denken, sein Leiden, brachte mich um…“ (Montessori 1896, zit. nach Kramer 1999, S.51)[2]. Doch von der Motivation, mit Menschen arbeiten zu können geleitet, ließ sich Montessori weder von den ungewohnten Anblicken in der Anatomie, noch von den Feindseligkeiten ihrer Kommilitonen oder dem gestörten Verhältnis zu ihrem Vater von ihrem Vorhaben abbringen. Sie blieb hartnäckig wie bereits in ihrer Kindheit und ihr Selbstbewusstsein war durch nichts zu erschüttern. Das bemerkten auch ihre Kommilitonen und so gewann sie allmählich Anerkennung, vorrangig für ihren Fleiß und ihre sehr guten Leistungen. Zwei Jahre vor ihrem Studienabschluss absolvierte Montessori mehrere Praktika in verschiedenen Krankenhäusern. Sie spezialisierte sich auf dem Gebiet der Kinderheilkunde und begann, in der psychiatrischen Klinik der Universität in Rom Material über den Verfolgungswahn zu sammeln, da das Thema ihrer Doktorarbeit „Ein klinischer Beitrag zum Studium der Halluzinationen als Bestandteil des Verfolgungswahns“ (Raapke 2001, S.169) lautete. 1896 beendete Maria Montessori ihr Studium. Kurz zuvor hatte sich bereits Montessoris Vater im Anschluss an einen beeindruckenden Vortrag seiner Tochter mit ihr ausgesöhnt.
Montessoris Durchsetzungsvermögen, ihre Willenskraft und nicht zuletzt ihr rhetorisches Geschick machten sie bereits während ihres Studiums zu einer Kämpferin in der Frauenbewegung. Sie kämpfte für das, was ihrer Mutter zeitlebens verwehrt geblieben war – für die Befreiung der Frau aus ihrer stereotypen Rolle in der Gesellschaft. Montessori war sich ihrer Ausnahmeposition als Medizinstudentin bewusst und nutzte diese dazu, um auf Kongressen mehr Rechte für die Frauen einzufordern.
Nach der Vereinigung Italiens im Jahre 1870 wurde die Politik liberaler und die Rolle der Frau veränderte sich langsam. Montessori redete von den „Neuen Frauen“, die den Kopf heben, statt ihn zu senken, denn nur dadurch erhielten sie eine schöne Haltung (vgl. Schwegmann 2002, S.84). Diese Forderung einer aufrechten Haltung der Frau spiegelt sich später auch in Montessoris Vorstellungen von der Erzieherin in der Montessori-Pädagogik wider. Montessori sprach davon, dass die Erzieherin sich anmutig im Raum bewegen sollte (vgl. Standing 1957, S.271) und wünschte sich für ihre Pädagogik Erzieherinnen, die in ihrer Persönlichkeit gefestigt sind und dieses nach außen verkörpern. Später zog sich Montessori aus der Frauenbewegung zurück, kämpfte jedoch weiterhin für die Achtung der Frauen.
Nach Beendigung ihres Studiums arbeitete Montessori als Assistenzärztin in der Universitätsklinik in Rom und eröffnete gleichzeitig noch eine eigene Praxis (vgl. Heiland 1991, S.34). Ein Jahr später, 1897, nahm sie zusätzlich ihre Tätigkeit an der Psychiatrischen Klinik der Universität in Rom auf. Auf diese Weise kam es zum ersten Kontakt Montessoris mit geistesgestörten Kindern. Eine kleine Begebenheit weckte Maria Montessoris Interesse an diesen Kindern: Eine Betreuerin der Kinder beschwerte sich bei Montessori darüber, dass die Kinder die heruntergefallenen Brotkrümel aufsammeln und essen würden. Montessori erkannte sofort, dass dieser Raum keinerlei Anregung für die Kinder bot, ihre Hände und Finger zu benutzen. Das Aufsammeln der Brotkrümel stellte die einzige sinnvolle Beschäftigung für die Kinder dar. Dieser Vorfall weckte Montessoris Interesse an geistesgestörten Kindern (vgl. Schwegmann 2002, S.76). Angeregt durch die Beobachtungen und das Studium der Literatur über geistig behinderte Kinder wurde Montessori bewusst, dass diese Kinder keiner medizinischen, sondern pädagogischer Hilfe bedürfen.
Bei ihrem intensiven Studium der Literatur über geistig behinderte Kinder stieß Montessori auf die Bücher von Jean-Marc-Gaspard Itard und dessen Schüler Edouard Séguin. Diese beiden Ärzte und Pädagogen haben Montessoris Werk nachhaltig beeinflusst. Die Erkenntnisse, die Itard aus der Arbeit mit einem wilden, im Wald gefundenen Jungen zog, dienten der Anregung für die später von Montessori entwickelte Pädagogik. Itard erfand Lernmaterial für den Jungen, welches ihm dabei helfen sollte, Ordnungsstrukturen aufzubauen (vgl. Raapke 2001, S.172). Diese Gedanken über die Beschaffenheit von Lernmaterialien, welches durch seine äußere Ordnung die innere Ordnung des Kindes einleiten sollte, griff Montessori später in ihrer Pädagogik auf. Auch das von Itard eingeführte Prinzip der Isolierung eines Sinnes bei der Übung und Verfeinerung der Wahrnehmung in mehreren Stufen wurden von Séguin und später auch von Montessori in weiterentwickelter Form übernommen (vgl. Heiland 1991, S.40). Séguin beschäftigte sich vor allem mit geistig behinderten Kindern und deren Erziehung und entwickelte zu diesem Zweck das bereits von Itard angewendete Material weiter. Zusätzlich fügte er neues Material und teilweise auch Gegenstände des täglichen Lebens zur Schulung der Sinne und zur Entwicklung der Motorik hinzu, welches Montessori im Laufe der Jahre noch weiter verfeinert und strukturiert hat. Die revolutionären Erkenntnisse Itards und Séguins wurden von Montessori in eine „logische und pädagogische Ordnung“ (Raapke 2001, S.174) gebracht und somit anwendbar für die pädagogische Praxis gemacht. In Frankreich war es schon lange üblich, dass Ärzte gleichzeitig Pädagogen waren. Auch Montessori entwickelte sich immer mehr von einer Ärztin zur Pädagogin. Aus der Zusammenarbeit von Medizin und Pädagogik ergaben sich in Frankreich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts neue pädagogische Grundprinzipien, an denen sich später auch Montessoris Pädagogik orientiert (vgl. 5):
- „Über die Entwicklung und Übung der Sinne wird der Verstand geprägt (John Locke).
- Über Sinne und Verstand bauen sich auf dem tragenden Grund von Liebe und Barmherzigkeit die Gemütsfähigkeiten auf.
- Der Weg zur Gesundheit, Ordnung und Moral führt über die regelmäßige Arbeit.
- Der Weg zur Selbständigkeit erfordert die individuelle Anleitung.
- Der Unterricht braucht nicht nur Anschauung, sondern Fasslichkeit und Begreifbarkeit.[3]
- Vor aller Erziehung muss die methodisch genaue Beobachtung stehen.“
(Raapke 2001, S.173)
Ihr Interesse für geistig behinderte Kinder spiegelte sich auch zunehmend in Montessoris Vortragsreisen wider. In ihren Vorträgen befasste sich Montessori nicht mehr nur mit der sich verändernden Rolle der Frau, sondern sie beschäftigte sich zunehmend mit den Missständen in der Erziehung des Kindes. Ihr spezielles Augenmerk war dabei auf die menschenunwürdigen Umstände in der Erziehung der geistig behinderten Kinder gerichtet. Die Forderung nach einer besseren Erziehung geistig gestörter Kinder brachte Montessori im Jahre 1900 die Ernennung zur Leiterin einer Modellschule ein, die einem Institut für die Ausbildung von Lehrern für die Arbeit mit geistig behinderten Kindern angeschlossen war. Sie leitete diese Schule gemeinsam mit Dr. Giuseppe Montesano. Montesano und Montessori hatten sich bereits während Montessoris Medizinstudiums kennen gelernt. Sie führten eine Liebesbeziehung, heirateten jedoch nicht. Aus dieser Liebesbeziehung entstand ein Kind, welches am 31. März 1898 geboren wurde. Bis auf wenige enge Vertraute wusste niemand von der Schwangerschaft Montessoris. Direkt nach der Geburt gab Montessori ihren Sohn Mario zu einer Pflegefamilie (vgl. Schwegmann 2002, S.83). Die Gründe dafür sind nicht bekannt.
Während ihrer zweijährigen Tätigkeit an der Schule Scuola Magistrale Ortofrenica entwickelte Montessori das bereits beschriebene Material von Itard und Séguin weiter und entwarf zusätzlich Material zum Lesen- und Schreibenlernen: die Modellbuchstaben. Durch die ihnen angebotenen Materialien waren die geistig behinderten Kinder in der Lage, die gleichen oder sogar bessere Ergebnisse in Prüfungen zu erbringen als „normale“ Schüler. Montessori erkannte, dass auch geistig gesunde Kinder noch stärker durch das entsprechende Material von ihr gefördert werden könnten: „Ich war ganz sicher, daß[4] ähnliche Methoden, wie ich sie bei den Schwachsinnigen angewandt hatte, auch normaler Kinder Persönlichkeit entwickeln und auf das wunderbarste und überraschendste befreien würde.“ (Montessori, zit. nach Standing 1957, S.28)[5].