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Tom Finnek

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Beschreibung

Karwoche 1814. In Europa toben die Befreiungskriege gegen Napoleon, die Welt ist in Aufruhr. Auch das Leben des westfälischen Bauernsohns Jeremias Vogelsang, der sich mit anderen geduldeten Deserteuren in seiner Heimat aufhält, gerät aus den Fugen. Vorgeblich, weil Jeremias desertiert ist, in Wahrheit jedoch, um sich des unerwünschten Liebhabers seiner Tochter zu entledigen, ruft Amtmann Boomkamp zur Hatz auf den "Verräter"auf. Von Gendarmen gejagt, bleibt Jeremias nur die Flucht ins Moor, das auch allerlei lichtscheuem Gesindel Zuflucht bietet - eine schicksalhafte Entscheidung, wie sich bald zeigt. Denn hier kommt Jeremias einem Rätsel der Vergangenheit auf die Spur, einem Geheimnis, das sein eigenes Leben umgibt ... - "Wie die verschiedenen Handlungsstränge in den Ereignissen der Karwoche 1814 zusammengeführt werden, verrät großes erzählerisches Geschick des Autors." - Westfälische Nachrichten

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Tom Finnek

Moorteufel

Historischer Roman

Auf der Flucht ins Moor stößt der Bauernsohn Jeremias auf eine ruchlose Räuberbande und ein dunkles Rätsel der Vergangenheit ...

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Vierter Teil

Fünfter Teil

Sechster Teil

Epilog

Anmerkungen und Übersetzungen

Impressum

Prolog

»Immerzu heißt es, erzähl und erzähl, und man kann sich nicht losmachen! Na schön, dann will ich erzählen, nur, bei Gott, das ist zum allerletzten Mal.«

Nikolai Gogol, »Der verhexte Platz«

Warum sitze ich hier bei flackerndem Kerzenschein in meiner Kammer und schreibe meine Geschichte nieder? Warum krame ich ohne jede Not in schmerzlichen Erinnerungen und gehe in Gedanken zurück in eine längst vergangene und verdrängte Zeit? Weshalb lasse ich die Toten nicht ruhen?

Ich wage nicht zu behaupten, dass der literarischen Welt etwas entgeht, wenn sie meine Erzählung nicht zu Gesicht bekommt, und ich bezweifle, dass sich die Historiker für das interessieren könnten, was ich zu berichten habe, dennoch drängt es mich, von den eigentümlichen und obskuren Ereignissen des Jahres 1814 zu erzählen. Ich bin ein alter Mann, meine Tage auf dieser Seite der Welt sind gezählt, und vielleicht ist mein naher Tod der eigentliche Grund, warum ich plötzlich den Mut aufbringe, diese Zeilen zu schreiben.

Beinahe sechs Jahrzehnte sind seit damals vergangen, wir schreiben mittlerweile das Jahr 1873, und kaum jemand erinnert sich noch an die Geschehnisse von einst. Weder an die Kriege gegen Napoleon*, an die blutigen Feldzüge, die ganz Europa fast zwanzig Jahre lang in Atem hielten, noch an die wilden und mörderischen Räuberbanden, die sich auf den Landstraßen und Handelswegen herumtrieben und für zusätzliche Aufregung und Angst sorgten. All das ist längst Geschichte und kann in historischen Büchern nachgelesen werden, zahlreiche Romane sind darüber geschrieben und lange Heldenepen verfasst worden. Napoleon wurde als glorreicher Führer verherrlicht oder als gottloser Dämon verdammt, und die Räuber wurden zu Volkshelden erkoren oder als Mördergesindel verteufelt. Meine Erlebnisse jedoch, obgleich eng mit diesen verbunden und kaum weniger zweischneidig, wird man vergebens in den Annalen suchen. Kein Mensch hat je von den Vorfällen der Stillen Woche des Jahres 1814 gelesen, niemand weiß, was sich tatsächlich in den Tagen vor Ostern in unserem kleinen westfälischen Dorfe Ahlbeck abgespielt hat.

Die unmittelbaren Zeugen der Vorfälle sind entweder tot oder nur bruchstückhaft, wenn nicht gar falsch unterrichtet. Einige sind seitdem verschollen oder untergetaucht, andere ziehen es aus gutem Grunde vor, sich nicht erinnern zu wollen. Den Nachgeborenen gegenüber habe ich mit keinem Wort etwas von den wahren Begebenheiten erwähnt, und nicht einmal meine Frau – Gott habe sie selig! – hat bis zu ihrem Tode vor wenigen Jahren die ganze Wahrheit erfahren (oder erfahren wollen). Niemand scheint sich für die tatsächlichen Umstände von damals zu interessieren. Wer sich Tag für Tag hart auf den Feldern abmüht und dennoch nicht weiß, wie er die zahlreichen Mäuler seiner Familie stopfen soll, der hat Besseres zu tun, als in der Vergangenheit zu wühlen und sich über weit Zurückliegendes den Kopf zu zerbrechen.

Natürlich gab und gibt es Gerüchte und überlieferte Erzählungen. Moritatensänger berichten von frevlerischen und ungesühnten Bluttaten, die alten Leute erzählen sich Spukgeschichten von ruhelosen Geistern im Moor, und die jungen Kerle singen in den Wirtshäusern Spottlieder auf den Krieg zweier Dörfer und einen übereifrigen und arg gedemütigten Amtmann. Erst gestern kam mir ein solches Verslein zu Gehör:

»In den Krieg mit hundert Knappen

zog der Amtmann stolz voraus.

Still und leise, auf gerettet’ Rappen,

kehrt er geschlagen bald nach Haus!«

Jene Spötter, die sich heute an solchen Liedern ergötzen, haben nicht die mindeste Ahnung, was sich damals vor sechzig Jahren tatsächlich zugetragen hat und welche unselige Rolle ich bei dieser Angelegenheit spielte.

Mein Name ist Jeremias Vogelsang, aber alle im Dorfe nennen mich den »Magisterbauern«, da ich mich beinahe ein halbes Jahrhundert lang als kleiner Kötterbauer wintertags, wenn die nicht so reichliche Arbeit auf dem Hof es zuließ, damit abgemüht habe, den Kindern in der Dorfschule das Alphabet, den Katechismus und das Einmaleins beizubringen. Bereits mein Vater und mein Großvater waren Magisterbauern gewesen und hatten es sich zur Aufgabe gemacht, für ein wenig Bildung unter den Dorfkindern zu sorgen, und ich habe diese Familientradition bereitwillig und mit Freude fortgeführt. Die freiwilligen Spenden, die die Eltern ihren Kindern, je nach Vermögen, zum Unterricht mitgaben, halfen mir, die spärlichen Erträge des Kottens aufzubessern, und die Arbeit mit den Jungen und Mädchen bereitete mir seit jeher großes Vergnügen. Aus den naseweisen Lümmeln wurden mit den Jahren wackere und tüchtige Landleute, und sie lüpfen heute ihre Hüte, wenn sie mich sehen, und wünschen dem »Herrn Magister« einen guten Tag.

Seit einigen Jahren bereits, seit es einen hauptberuflichen Lehrer an der Ahlbecker Schule gibt, unterrichte ich nicht mehr, und den Hof führt mittlerweile mein ältester Sohn, aber für alle im Dorfe werde ich der Magisterbauer bleiben, solange ich lebe. Ich bin mir nicht sicher, ob sie ebenso respektvoll und sogar dankbar von mir oder über mich reden würden, wenn sie wüssten, was sich damals in der Stillen Woche wirklich abgespielt hat. Wenn sie zu lesen bekämen, was ich hier niederschreibe.

Zu meiner Zeit als Magister habe ich den Schülern gern und häufig Geschichten erzählt, seien es Sagen des klassischen Altertums, Legenden der Heiligen oder Gleichnisse aus der Bibel. Dabei musste ich die traurige Feststellung machen, dass die Aufmerksamkeit der Kinder in gleichem Maße stieg, wie die Blutrünstigkeit der Geschichten zunahm. Die Tragödie des Ödipus oder die Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain weckten weit mehr Interesse als die Hochzeit zu Kanaan oder das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Der Kreuzweg zum Hügel Golgatha fand weitaus mehr Anklang als die tröstlichen Worte der Bergpredigt. Verbrechen und Bluttaten, so scheint es, erfreuen sich ebenso ungebrochener wie unfasslicher Beliebtheit. Und wer weiß, vielleicht wäre auch meine Geschichte nach diesem schauerlichen Geschmack, denn auch sie ist die eines Verbrechens.

Ich bin mir durchaus bewusst, dass es nicht ganz einfach sein wird, mein heutiges Wissen zurückzuhalten und in der Erzählung nicht auf Dinge vorzugreifen, die ich damals noch nicht ahnen konnte. Dennoch möchte ich auf den folgenden Seiten versuchen, mich nur an die Tatsachen zu halten und die Geschehnisse so wiederzugeben, wie sie sich mir in der jeweiligen Situation darstellten. Ich werde mich bemühen, jedwede Schlussfolgerung zu unterlassen, die ich zwar aus heutiger Sicht ziehen kann, die ich in der damaligen Situation aber nicht zu ziehen in der Lage war. Um wirklich zu verstehen, was vor sechzig Jahren passiert ist, genügt es nicht, allein das wiederzugeben, was ich heute weiß. Es ist ebenfalls nötig, das zu erzählen, worin ich einst irreging. Denn nur so kann ich hoffen, dass meine traurige Geschichte – so sie denn jemals anderen zu Ohren kommt – mehr sein wird als blanker Nervenkitzel.

Doch genug nun der Vorrede und der Ausflüchte. Was ich zu erzählen habe, das soll erzählt werden – der Reihe nach und wahrheitsgemäß.

Erster Teil

»Es war einmal eine Frau, die so gern ein winzig kleines Kind haben wollte, aber sie wusste gar nicht, woher sie es bekommen sollte. Da ging sie zu einer alten Hexe und sagte zu ihr: ›Ich möchte so herzlich gern ein kleines Kind haben. Kannst du mir nicht sagen, woher ich das bekommen kann?‹«

Hans Christian Andersen, »Däumelinchen«

1

Es war der Dienstag vor Ostern, ein ungemütlicher, feuchtkalter Frühlingstag im April. Seit den frühen Morgenstunden war ein feiner, aber steter Nieselregen niedergegangen und hatte die Wiesen morastig und die sandigen Wege glitschig werden lassen. Der Himmel war düster und wolkenverhangen, und kurz nach Mittag hatte dichter Nebel eingesetzt, der nun wie Rauchschwaden über dem Boden hing und die Sicht zusätzlich behinderte. Die Wacholderheide lag wie ausgestorben da, sämtliche Tiere hatten sich verkrochen, keine Biene summte, kein Falter flatterte, und selbst die Frösche am Weiher hatten ihr Quaken eingestellt. Kein Mensch war weit und breit zu sehen, keiner außer mir!

In gebückter Haltung und gestützt auf einen morschen Knüttel machte ich meine Runden um den kleinen Teich, der am Fuße einer hohen und lang gestreckten Düne lag und vom Pfad aus nicht zu sehen war. Meine Filzmütze war mittlerweile vom Regen durchnässt, und der ebenfalls klamme Umhang aus dichtem schwarzen Drillich hielt mich nicht länger davon ab, vor Kälte und Nässe zu zittern. Ich bückte mich und beschaute mein Spiegelbild auf der Oberfläche des Wassers. Mein Gesicht war käsebleich, allein die Nase und die leicht abstehenden Ohren waren vor Kälte rot angelaufen.

»Wo bleibt sie nur?«, murmelte ich und blickte zum grauen Himmel, als könnte ich die dichten Wolken durchdringen und am Stand der Sonne erkennen, welche Tageszeit es mittlerweile sei. Es war bereits eine gute Stunde über die verabredete Zeit, schätzte ich, und diese Unpünktlichkeit sah Lotte gar nicht ähnlich. Seit einigen Wochen trafen wir uns nun jeden Dienstag um die gleiche Zeit am »Seerosenteich«, unternahmen lange Spaziergänge über die Sandflure und durch die Weidendickichte rings um den Weiher, und noch nie war sie zu spät gekommen. Wenn ihr nur nichts zugestoßen war!

Unheil ahnend verließ ich meinen bereits tief ausgetretenen Rundweg um den Teich und stapfte durch den weißen, rutschigen Dünensand, hielt mich an Wacholderheiden und gelb blühenden Ginsterbüschen fest, um die Anhöhe der Düne zu erreichen, von der aus ich sowohl den Weg als auch den Teich im Auge zu behalten glaubte. Als ich jedoch den Hügel erklommen hatte, musste ich ernüchtert feststellen, dass von meinem neuen Standpunkt aus weder der Pfad noch das Gewässer zu erblicken war. Nichts als Dunst und Nebel und Dunkelheit.

»Lotte!«, rief ich zaghaft und ängstlich, doch als Antwort rief mich lediglich ein Käuzchen an, das auf einem Kiefernzweig saß und auf Beute lauerte. Unverzagt schaute ich in die zunehmende Dunkelheit und wusste, dass ich nicht länger warten konnte. Wenn ich zum Melken der Kühe nicht zurück auf dem Bauernhof war, würden meine Eltern kaum Verständnis dafür aufbringen können. Was ich in den Nachmittagsstunden nach getaner Stall- oder Feldarbeit tat und zu welchem Zweck und mit wem ich mich in der Gegend herumtrieb, schien sie nicht weiter zu interessieren. Sie tauschten allenfalls vielsagende Blicke aus, als hätten sie einen bestimmten Verdacht. Aber nie fragten sie nach, wenn ich wortlos meinen Wanderstab ergriff und den Filzhut aufsetzte. Sollte ich jedoch meine Pflichten auf dem Hof vernachlässigen, so würde dies unweigerlich Ärger heraufbeschwören.

»Sie kommt nicht mehr«, murmelte ich und wischte mir die Nässe aus dem Gesicht. Ich schlotterte mittlerweile am ganzen Körper, mir war elend zumute, und eine Art Fieber hatte mich ergriffen. Ich spürte den Regen nicht mehr, auch die Kälte nicht. Und immer wieder murmelte ich: »Sie kommt nicht.«

Schweren Herzens machte ich mich schließlich auf den Heimweg, stiefelte mühsam durch die Heide in Richtung Ahlbeck und erkannte kaum den Boden zu meinen Füßen. Der Weg war lediglich ein Trampelpfad von wenigen Ellen Breite, hier und da von Heidekraut überwuchert und von Baumwurzeln der umstehenden Kiefern durchzogen, über die ich immer wieder stolperte. Es war inzwischen stockfinster, und es fiel mir schwer, mich zu orientieren.

Ich dachte ich an die Zeit zurück, als Lotte und ich uns kennengelernt hatten. Zu Beginn des Jahres hatte ich meine Mutter mit dem Einspänner zu dem etwa eine Meile entfernten Nachbarort Oldendorf chauffiert. Sie hatte von der Frau des Amtmannes Boomkamp den Auftrag erhalten, für deren Tochter ein Abendkleid zu nähen. Vor ihrer Heirat und bevor es sie ins Münsterland verschlagen hatte, war meine Mutter eine talentierte Schneiderin aus dem Hannoverschen gewesen, und sie nahm auch heute von Zeit zu Zeit noch Aufträge an, um zusätzliches Geld in die Haushaltskasse zu bekommen. Während meine Mutter bei dem »Fräulein Lieselotte« – wie sie uns vorgestellt worden war – Maß nahm, starrte ich die Amtmannstochter wie ein Wesen aus einer fremden Welt an. Ihre Augen waren leuchtend blau, die Nase gerade und spitz, die Lippen voll, und ihre lockigen hellblonden Haare umrahmten ein etwas blasses, aber unbeschreiblich anmutiges Gesicht. Sie lächelte mir verschämt zu und bekam rote Wangen, während sie sich gleichzeitig mit meiner Mutter über die belanglosesten Dinge unterhielt. Die ganze Zeit sprach ich kein Wort und stierte sie nur an, sodass meine Mutter mich anschließend rügte und fragte, warum ich so unhöflich gewesen sei.

Als das Abendkleid, ein leuchtend rotes, mit Spitzen besetztes Kleid aus Seide und Samt, nach drei Wochen fertiggestellt war, brachte ich es nach Oldendorf und hatte die Gelegenheit, das hübscheste und vornehmste aller mir bis dahin begegneten Mädchen ein zweites Mal zu sehen. Diesmal empfing mich das Fräulein Lieselotte bereits mit dem verschämten Blick und den roten Wangen, und wir hatten die Gelegenheit, einige Worte miteinander zu wechseln. Sie bat mich, sie »Lotte« zu nennen, das sei viel hübscher und im Übrigen habe sie vor kurzem ein fürchterlich trauriges Buch gelesen, in dem die arme Heldin ebenfalls Lotte geheißen habe. Ich war so aufgeregt, und mein Herz schlug derart wild, dass ich lediglich zusammenhangslos daherstammelte und ungelenk in der Gegend herumstand. Doch als ich mich wenig später anschickte, das Haus zu verlassen, und ihr die Hand reichte, schob sie mir einen Brief zu und lächelte ein reizendes und zugleich verschrecktes Lächeln, als wäre ihr selbst nicht geheuer, was sie gerade tat. Den Inhalt des ebenso zauberhaften wie kurzen Schreibens werde ich nie vergessen:

»Kommst du morgen um drei zum Seerosenteich?«, las ich, kaum dass ich mich auf den Heimweg gemacht hatte, und mein Herz hüpfte vor Freude. »Ich erwarte dich am Fuße der großen Düne. L.«

Zwar wunderte ich mich, dass Lotte nicht einfach mit mir gesprochen hatte, schließlich waren wir zu dem Zeitpunkt allein im Zimmer gewesen und niemand hätte uns belauschen können. Aber, so erklärte sie mir später, Briefe seien viel romantischer.

Aus dem einmaligen Treffen waren mittlerweile wöchentliche Stelldicheins geworden. Jeden Dienstag Nachmittag trafen wir uns am Teich, gingen spazieren, redeten flüsternd miteinander und hielten uns an der Hand. Ort und Zeit waren mit Bedacht gewählt. Die Heide lag genau in der Mitte zwischen den beiden Dörfern Ahlbeck und Oldendorf, und Lottes Eltern wähnten ihre Tochter zu diesem Zeitpunkt in der nahegelegenen Stadt Altheim bei einer alten Dame zum Musikunterricht. Niemand außer uns beiden kannte unser süßes Geheimnis.

Ich fuhr aus meinen Gedanken auf, blickte mich um und stellte mit Schrecken fest, dass ich vom Pfad abgekommen war und mich mitten in der Heide befand. Ringsum nichts als Wacholdergebüsch, Heidegras und Sand. Ich hatte Zeitgefühl und Orientierung verloren und wusste nicht, wie lange ich gedankenversunken dahergeirrt war und in welche Himmelrichtung ich meine Schritte nun lenken sollte. Kein Stern war zu sehen, der Nebel war undurchdringlicher denn je. Ich wollte bereits einen gotteslästerlichen Fluch gen Himmel schicken, als ich in einiger Entfernung ein Licht in der Heide sah. Ich näherte mich und erkannte ein Lagerfeuer. Ein Schäfer hatte es sich dort unter einem steinernen Unterstand gemütlich gemacht und röstete eine Kartoffel über dem Feuer. Er hatte einen breitkrempigen Lederhut tief ins Gesicht gezogen und war so mit sich und seiner Tätigkeit beschäftigt, dass er mich nicht wahrnahm. Sein schwarzer Schäferhund lag zu seinen Füßen, und die Schafe standen ringsum aneinandergedrängt und reglos im Nieselregen.

Plötzlich hörte ich Pferdegetrappel dicht hinter mir. Der Nebel und der weiche Heideboden hatten die Geräusche des herannahenden pechschwarzen Pferdes dermaßen gedämpft, dass ich es erst hörte, als es beinahe schon über mich hinweggaloppierte. Im letzten Moment konnte ich mich zu Boden werfen und hinter einen Ginsterbusch, rollen. Der Reiter schien mich nicht gesehen zu haben, er ritt schnurstracks weiter und gab seinem Gaul die Sporen. Als er jedoch das Lagerfeuer erblickte, zog er heftig an den Zügeln und rief: »Hü!« Das Pferd schnaubte und blieb schliddernd auf dem glitschigen Untergrund stehen.

»He, du da!«, rief der Reiter dem Schäfer zu, wartete einen Moment, bis dieser aufschaute, und stieg dann, da der Angesprochene nicht reagierte, von seinem Tier ab. Auf dem Kopf trug er einen Dreispitz mit einer riesigen Fasanenfeder, und seine rosigen Wangen zierte ein buschiger Backenbart. »Heda, Schäfer!«, rief der Mann. »Wie komme ich von hier aus nach Ahlbeck? Ich scheine vom Weg abgekommen zu sein.«

Der Schäfer antwortete nicht auf die Frage, schaute nicht einmal auf und war gerade mit Fleiß dabei, eine geröstete Kartoffel zu pellen. Nur der Hund zu seinen Füßen sprang auf, gab jedoch – wie sein Herrchen – keinen Laut von sich.

»Bist du taub?«, rief der Mann mit der Fasanenfeder. »Mach den Mund auf! Wie komme ich am schnellsten zum Ahlbecker Venn? Zum Bauern Schulze Lanvermann?«

Der Schäfer hob seinen Kopf, und unter der Krempe seines Hutes kam ein langer schwarzer Bart und eine riesige und runzlige Knollennase zum Vorschein. Im Gesicht des Bärtigen war ein listiges Grinsen zu erkennen, als er sagte: »Setz dich hin. Willst du einen Erdapfel haben?«

»Was soll ich denn damit?«, entgegnete der Reiter.

»Essen!«, lautete die Antwort des Schäfers.

»Ich habe keinen Hunger, ich will zum Bauern Lanvermann! Zu eurem Dorfschulzen! Kannst du mir sagen, wie ich auf den Weg zurückfinde?«

»Was bist du denn gleich so kiebig?« Der Mann am Lagerfeuer war nicht aus der Ruhe zu bringen, tätschelte seinem Hund den Rücken und lächelte ein ebenso zahnloses wie lausbübisches Lachen. Trotz der fehlenden Zähne schätzte ich den Mann auf höchstens fünfzig Jahre, vielleicht sogar jünger. Zwar war sein Gesicht wettergegerbt und die Haut welk, aber sein Blick war hellwach, und die Augen blitzten wie die eines jungen Mannes.

»Ich bin nicht kiebig, ich habe es nur sehr eilig!«, rief der Mann mit dem Dreispitz, stieg wieder auf sein Pferd und hantierte ungeduldig mit den Zügeln, sodass das Tier nervös auf der Stelle trat und die Nüstern aufblähte.

»Du bist ein Oldendorfscher, was? Hurtig wie die Bienen und ebenso reizbar.« Abermals zeigte der Schäfer seine zahnlosen Kiefer und lachte herzhaft. »In Ahlbeck sind wir nicht so flink.« Er untermalte seine Worte, indem er die Silben dehnte und anschließend gähnte.

Dem Mann auf dem Pferd wurde es nun zu bunt. Er richtete sich in seinem Sattel auf und posaunte: »Ich bin der Amtmann Boomkamp. Würdest du mir also bitte den Weg zur holländischen Grenze weisen?«

Bei diesen Worten fuhr es mir durch Mark und Bein. Ich zuckte zusammen und musste mir auf die Lippe beißen, um keinen Mucks von mir zu geben. Lottes Vater! Auf dem Weg zum Bauern Schulze Lanvermann! Es lief mir heiß und kalt über den Rücken.

»Was ist nun?« Majestätisch thronte er auf seinem Pferd und harrte stoisch einer Antwort. »Willst du dem Amtmann nicht antworten?«

»Was du nicht sagst«, antwortete der Schäfer, der ebenfalls zusammengezuckt war. »Amtmann Boomkamp!« Das schelmische Grinsen war mit einem Mal aus seinem Gesicht verschwunden, und stattdessen glaubte ich so etwas wie Vorsicht, wenn nicht gar Furcht darin lesen zu können. »Wenn Ihr wirklich der Amtmann seid«, sagte er schließlich zögerlich, »dann solltet Ihr den Weg zum Bauern Lanvermann eigentlich kennen.«

»Natürlich kenne ich den Weg«, wetterte Boomkamp, »aber ich habe dir doch gerade erklärt, dass ich vom Pfad abgekommen bin und mich verirrt habe. Ist das denn so schwer zu begreifen?«

»Schreckliches Wetter, nicht wahr?«, erwiderte der Schäfer, als hätte er die Worte des Amtmannes tatsächlich nicht verstanden. »Da schickt man keinen Hund vor die Haustür. Und schon gar keinen Amtmann!«

»Das Wetter?!«, unterbrach ihn der andere, der nun gänzlich die Geduld verlor und unruhig auf dem Sattel hin und her rutschte. »Willst du mich auf den Arm nehmen, oder bist du so dumm, wie du tust?!«

»Warum denn gleich brüllen? In Ahlbeck sind wir eben nicht so helle«, antwortete der Schäfer, betrachtete sein Gegenüber misstrauisch aus den Augenwinkeln, senkte aber sofort wieder den Blick, als wäre es ihm unangenehm, dem Amtmann in die Augen zu schauen. Er widmete sich erneut voller Inbrunst seiner Kartoffel. Auch der Hund legte sich wieder hin und schien den Mann mit dem Pferd nicht länger zu beachten.

Boomkamp spuckte gar nicht amtmännisch auf den Boden, gab seinem Rappen einen Tritt in die Seite und galoppierte verärgert davon. »Verdammtes Bauernpack«, hörte ich ihn noch keifen, als der Nebel ihn längst hatte unsichtbar werden lassen. »Das Moor soll euch schlucken! Ihr Ahlbecker werdet euch noch umschauen, das verspreche ich euch!«

Ich lag regungslos hinter meinem Ginsterbusch und versuchte, meiner Aufregung Herr zu werden. Mein Herz pochte wie wild, und der kalte Schweiß stand mir auf der Stirn. Ich bemühte mich, ruhig zu atmen und nachzudenken. Was hatte Boomkamp mit dem Ahlbecker Dorfschulzen zu schaffen? Warum galoppierte er deswegen bei Nacht und Nebel durch die Heide?! Und plötzlich wusste ich, warum Lotte nicht wie verabredet am Teich erschienen war. Man hatte sie ertappt! Das war die einzige Erklärung. Womöglich war der Amtmann durch Zufall der Musiklehrerin begegnet und hatte von ihr erfahren, dass seine Tochter seit Wochen nicht mehr zum Unterricht erschienen war, oder man hatte Lotte auf dem Weg zur Heide gesehen. Sie haben sie ertappt, schoss es mir durch den Kopf. Daran konnte für mich kein Zweifel bestehen. Und jetzt war ihr Vater auf dem Weg nach Ahlbeck.

»Und du brauchst dich auch nicht länger zu verstecken!«, rief der Schäfer plötzlich. »Kannst ruhig rauskommen!«

Wieder fuhr ich zusammen. Ich sah zu dem Mann am Lagerfeuer hinüber, der seine Haltung nicht geändert hatte. Doch obgleich er nicht zu mir herüber-, sondern unverwandt ins Feuer schaute, war offensichtlich, dass er mich mit seinen Worten gemeint hatte.

»Bist du bange?!«, fragte er und schaute auf. Sein Gesicht war nun wieder gänzlich ausdruckslos, weder grinste er noch blickte er finster drein.

Ich rappelte mich auf, klopfte den Dreck von meiner Kleidung und ging zögernd in Richtung des Schäfers, der mit seinem Stecken in der Glut herumstocherte.

»Setz dich hin!«, knurrte der Schäfer, wies auf einen Stein neben sich und hielt mir eine aufgespießte Röstkartoffel entgegen. »Willst du einen Erdapfel haben?«

»Danke«, sagte ich, nahm die Kartoffel, pellte sie und biss gierig hinein. Ich bibberte am ganzen Körper und war froh, mich am Feuer wärmen zu können. Der schwarze Hund nahm kurz Witterung auf, schnupperte an meinen Hosen und interessierte sich dann nicht weiter für mich.

»So gehört sich das«, sagte der Mann, lächelte nun wieder und fügte hinzu: »Wie heißt du?«

»Jeremias Vogelsang«, stellte ich mich vor.

»Vogelsang? Der Sohn vom Magisterbauern? Ich kenne deinen Vater«, erwiderte er und warf eine weitere Kartoffel in die Flammen. »Ich bin Kuckels Hermann.«

Wieder nickte ich und biss in meine Kartoffel. Sein Name war mir geläufig. Mein Vater hatte oft von dem »verrückten Kuckels Männsken« erzählt, der sich seit einigen Jahren mit seinen Schafen in der Gegend herumtrieb und dem allerhand merkwürdige und phantastische Geschichten angedichtet wurden. Es hieß, er lebe ein Einsiedlerleben in der Heide und im Moor, streiche einsam durch die Gegend und ziehe die Gesellschaft der Tiere denen der Menschen vor. Nie sei er länger als einen Tag am selben Ort und die Einsamkeit habe ihn zu einem seltsamen Kauz werden lassen. Im Winter verdinge er sich als Korbflechter oder ziehe von Hof zu Hof, um seine Dienste als Schlachter oder Abdecker anzubieten. Gesehen hatte ich dieses verschrobene Ahlbecker Original bislang jedoch noch nie und mitunter sogar angezweifelt, dass es ihn überhaupt gab.

Kuckels Hermann saß stoisch im Schneidersitz da, blickte ins Feuer, brummte zufrieden und kraulte abwechselnd seinen langen pechschwarzen Bart und das struppige Fell seines wohlig knurrenden Hundes. Er fragte nicht, warum ich mich vor dem Reiter hinter dem Gebüsch versteckt hatte. Er wollte nicht wissen, warum ich mich nächtens in der Heide herumtrieb. Es hatte beinahe den Anschein, als existierte ich für ihn gar nicht.

»Warum habt Ihr dem Amtmann den Weg nicht gewiesen?«, stellte ich schließlich die Frage, die mir die ganze Zeit auf der Zunge gelegen hatte.

Anstatt zu antworten, sah er mich unverwandt an, zog plötzlich die Stirn kraus und fragte: »Du bist einer von den Deserteuren, stimmt’s? Bist vor der preußischen Landwehr getürmt!« Er kicherte und setzte kopfschüttelnd hinzu: »Ja, ich habe davon gehört.«

Ich starrte ihn überrascht an, senkte dann den Blick und schwieg.

»Willst nicht darüber reden?«, setzte er nach, kicherte und gab mir einen Klaps auf den Rücken. »Kann ich verstehen.«

Ich zuckte mit den Schultern und sagte: »Die Preußischen haben Lose gezogen, um ihre Freiwilligenverbände aufzufüllen. Und ich habe verloren. Als die Truppe letzten Monat ausrückte, da habe ich mich nicht blicken lassen und etliche andere aus dem Dorf auch nicht!« Ich schnaufte ärgerlich und setzte hinzu: »Was ist denn das auch für eine Freiwilligkeit, zu der man per Losentscheid gezwungen wird!«

»Hast keine Lust auf den Krieg, was?«

»Soll ich etwa meine Eltern und den Hof im Stich lassen, nur um mit den Preußen gegen die Franzosen zu ziehen?«, erwiderte ich aufgebracht und fügte murmelnd hinzu: »Wir haben wahrlich andere Probleme!«

»Hast ja recht, mein Junge«, erwiderte der Schäfer und lächelte nachsichtig. »Was schert uns der Krieg gegen Napoleon? Sollen die feinen Herrschaften doch selbst ihre Kriege führen. Man weiß ohnehin kaum, wer gerade das Zepter schwingt. Ein einziges Kommen und Gehen.« Er wiegte den Kopf und setzte hinzu: »Da soll noch einer durchblicken.«

Den Worten des Schäfers konnte ich nur zustimmen. Im Münsterland hatten sich in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts die Herrscher die Klinke regelrecht in die Hand gegeben, die Revolutionen und Kriegswirren in Europa waren auch in unserem verschlafenen Bauernlande nicht ohne Folgen geblieben. Das einstige Fürstbistum Münster war im Jahre 1803 auf Drängen Napoleons säkularisiert worden und an weltliche Herrscher übergegangen. Das Sagen hatten fortan nicht mehr die Bischöfe gehabt, sondern die Fürsten zu Salm-Salm, diese waren zwar dem französischen Kaiser freundlich gesinnt gewesen, hatten allerdings nur wenige Jahre das fürstliche Zepter in der Hand halten dürfen. Im Jahre 1810 hatten die Franzosen dann kurzerhand das Münsterland annektiert und es sich in ihr großes und glorreiches Kaiserreich einverleibt. Sie hatten dem Landstrich ihre Verwaltung aufgepfropft und nach Gutdünken eigene Amtmänner eingesetzt. Ganze drei Jahre hatte dieses französische Zwischenspiel gedauert, bis Napoleon mit der Großen Armee den Feldzug gegen Russland gewagt, diesen schmählich verloren und sich schließlich auf die westliche Seite des Rheins zurückgezogen hatte. Den abziehenden Franzosen waren die siegreichen Preußen auf dem Fuße gefolgt. Abermals hatte sich die Herrschaft und der Name des Regenten geändert, und allmählich waren die münsterländischen Bauern dazu übergegangen, das Hin und Her der Fürsten, Könige und Kaiser wie das wechselhafte Wetter zu betrachten. Man nahm es als gottgegeben hin und versuchte, das Beste aus der jeweiligen Situation zu machen.

»Die Herrschaft wechselt nach Belieben«, sagte ich und wischte mir den Mund ab, nachdem ich den Rest der Kartoffel verschlungen hatte. »Aber für uns Kötterbauern ändert sich nicht das geringste. Was kümmert uns der Bischof Maximilian, Fürst Constantin, Kaiser Napoleon oder König Friedrich Wilhelm der soundsovielte? Der Grundherr und Landeigner bleibt doch immer der gleiche, und der heißt Schulze Lanvermann.«

»Schulze Lanvermann«, wiederholte der Schäfer und nickte mit dem Kopf. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, und seine Mundwinkel zuckten nervös. »Habe ich es doch gewusst!«, stieß er hervor, und damit schien für ihn alles Wesentliche gesagt. Mit einem Mal jedoch fuhr er auf, sah mich an, als erinnerte er sich an etwas, und sagte: »Du bist also der Vogelsang-Filius? Hast du gar keine Angst?«

»Angst?«, antwortete ich und schaute ihn verständnislos an. »Wieso?«

»Ich an deiner Stelle hätte Angst«, erwiderte der Schäfer, nickte wissend und setzte mit merkwürdig traurigem Unterton hinzu: »Ich habe auch einen Sohn, ungefähr in deinem Alter.« Er lächelte plötzlich entrückt und fragte: »Wie alt bist du?«

»Beinahe neunzehn.«

»Siehst du, das habe ich mir gedacht.« Er rieb sich die Runkelnase und setzte hinzu: »Alwin wird im nächsten Monat zwanzig Jahre alt. Ich muss mir ein Geschenk für ihn überlegen, er freut sich immer so, wenn ich ihm etwas mitbringe. Auch wenn er gar nicht weiß, wer ich bin. Er kennt mich ja gar nicht, weil ich ihm nie unter die Augen trete. Das darf ich nicht.«

Ich stutzte und wartete auf Weiteres, aber er konzentrierte sich wieder auf die Kartoffel im Feuer und murmelte: »Zwanzig Jahre, eine lange Zeit.« Dann blickte er auf, betrachtete mich nachdenklich und meinte: »Schulze Lanvermann ist dein Grundherr. Als hätte ich es gewusst.« Er neigte bedächtig den Kopf und wiederholte flüsternd: »Habe ich es mir doch gedacht.«

Mein Vater hatte, wie ich mich jetzt erinnerte, einmal behauptet, Kuckels Hermann sei ein Spökenkieker, ein Geisterseher, und habe das zweite Gesicht. Mir allerdings erschien der Schäfer im Moment nur wie ein verwirrter und höchst eigentümlicher Sonderling, der unsinniges und dummes Zeug daherredete. Ich ließ mich durch seine wunderliche Art nicht beirren und wiederholte meine Frage von vorhin: »Warum habt Ihr dem Amtmann Boomkamp nicht geantwortet?«

»Von Franzmännern da halte ich nicht viel von«, antwortete er schließlich und spuckte ins Feuer, dass es zischte. »Und die oldendorfschen Franzmänner sind die schlimmsten von allen. Alles Verbrecher!«

»Seit wann ist Amtmann Boomkamp denn Franzose?«

»Der Welsche hat ihn doch erst zum Amtmann gemacht! Das ist gerade mal drei Jahre her. Und jetzt? Jetzt jagt er den Kaiserlichen hinterher, als hätte er nie was anderes getan. Verdammter preußischer Büttel!« Wieder spuckte er ins Feuer und setzte grummelnd hinzu: »Das ist ein Teufel, der Amtmann! Dem ist nicht zu trauen. Der ganzen Sippe nicht. Alles Teufel! Man muss sich überhaupt vor den Gendarmen in Acht nehmen!«

»Was kann der Amtmann so spät noch vom Bauern Lanvermann wollen?«, dachte ich laut. »Das ist doch seltsam, oder?«

»Er kommt euch holen!«, rief er und funkelte mich an. »Das ist sein schlechtes Gewissen, das sage ich dir. Wie ein Fähnchen im Wind und immer zum eigenen Vorteil, mal französisch, dann preußisch, und darum kommt er euch jetzt holen.« Er beugte sich zu mir herüber und flüsterte mir ins Ohr: »Mit seinen Gendarmen.« Er nickte und schüttelte dann eifrig den Kopf. »Das tun sie immer! Dann jagen sie dich fort oder sperren dich ein!«

»Was meint Ihr damit?«

Statt einer Antwort zog er sich den Lederhut über die Augen, senkte den Kopf, stocherte wieder mit dem Stecken in der Glut des niedergebrannten Feuers und deutete mit einer Kopfbewegung nach links. »Der Weg nach Ahlbeck, der ist gleich da vorne.« Mit irrem Lächeln im Gesicht fügte er hinzu: »Nicht mal einen Steinwurf von hier entfernt! Kannst du gar nicht verfehlen.«

Ich stand schwerfällig auf, wusste nicht, was ich von all dem halten sollte, und sagte: »Danke für die Kartoffel. Ich muss jetzt nach Hause. Die Eltern machen sich gewiss schon Sorgen.«

»Aber pass gut auf!«, rief er mir nach. »Es treibt sich allerlei fremdes Gesindel in der Gegend herum. Sei auf der Hut!«

»Was denn für Gesindel?«, erwiderte ich und wandte mich um.

Er schüttelte nur langsam den Kopf, spuckte in die glühenden Holzscheite und schien mich im gleichen Augenblick bereits vergessen zu haben. Er holte eine völlig verkokelte Kartoffel aus der Glut und fluchte zischelnd: »Schiete! Das kommt davon!«

2

Unser Bauernhof bestand neben ein paar Morgen Weideland und einigen Äckern nur aus einem kleinen und altersschwachen Häuschen, dessen Spitzdach mit einfachen Holzschindeln gedeckt war und dessen Wände aus gehärtetem Lehm gefertigt waren. Im hinteren Teil des Hauses befand sich die Wohnstube, die zugleich als Küche, Waschkammer, Wohnraum und Schlafzimmer für die Eltern diente. Zwei kleinere und nicht beheizbare Kammern wurden von uns Kindern als Schlafräume genutzt. Da sich unter dem Dach der Getreidespeicher befand und hier viel Platz nötig war, um Heu und Stroh zu lagern, waren die darunter liegenden Kammern sehr niedrig. Der vordere Teil des Kottens wurde von der Tenne beherrscht, einer großen Diele aus gestampftem Lehmboden, auf dem im Sommer das Getreide gedroschen wurde. An der Längsseite der Tenne befanden sich die Stalltrakte, in dem wintertags die Rinder untergebracht waren. Auch das Pferd hatte hier seinen Holzverschlag. Allein die Schweine hatten einen eigenen Stall auf dem Hof, direkt neben einem kleinen Schuppen für die Werkzeuge und Arbeitsgeräte. Unser Kotten sah aus wie die meisten Höfe der Ahlbecker Pachtbauern, viel zu klein und gänzlich schmucklos, die Beengtheit – vor allem in der Wohnstube – führte zu einem heillosen Durcheinander. Die Wände der Stube waren rußgeschwärzt, und da es damals noch keine Schornsteine gab, musste auch bei bitterer Kälte das Fenster geöffnet werden, um den Rauch abziehen zu lassen.

Wie oft hatte ich die klamme Kälte, die durchdringende Feuchtigkeit und die betäubende Räucherluft in den Kammern verwünscht, wie oft hatte ich davon geträumt, in einem herrschaftlichen Haus oder doch wenigstens auf einem größeren Bauernhof zu leben! Doch so armselig und winzig der Kotten auch war, ich vermag kaum zu beschreiben, wie mein Herz vor Freude hüpfte, als ich an jenem Abend auf meinem Weg aus der Heide endlich am elterlichen Haus anlangte. Der windschiefe Lehmbau erschien mir in diesem Moment wie ein königlicher Palast. Ich wusste nicht genau, wie lange ich in der Dunkelheit herumgeirrt war und wie ich überhaupt zum Kotten zurückgefunden hatte. Mein Kopf dröhnte und schien platzen zu wollen.

Mein Vater wartete bereits vor der Tenne auf mich und versperrte mir den Weg. »Wo kommst du denn jetzt her?«, rief er und packte mich am Schlafittchen. »Verdammtes Blag, weißt du nicht, wie spät es ist?!«

Er war ein großer und stämmiger Mann von knapp sechzig Jahren mit krausem, nur an den Schläfen ergrautem Haar und buschigen Augenbrauen, unter denen seine dunkelbraunen Augen mich böse fixierten.

Ich stand mit gesenktem Kopf vor ihm auf dem Hof, und die Tränen liefen mir über die Wangen, ohne dass ich recht wusste, wieso.

»Hör auf zu flennen!«, schrie er nur noch lauter. »Das kann dir auch nicht helfen! Godverdori!«

Dass mein Vater gotteslästerlich fluchte, hätte mich warnen müssen, doch die Ohrfeige, die seinem Wutausbruch folgte, kam so unerwartet und war so heftig, dass sie mich von den Beinen riss und zu Boden schickte.

»Aber Heinrich«, hörte ich die Stimme meiner Mutter, die nun ebenfalls im Tor erschien. »Bist du denn verrückt? Schlägst ihn ja tot!«

»Rede keinen Unsinn, Frau!«, antwortete mein Vater, schüttelte den Kopf und zog eine Grimasse. »Der Bursche soll sich nicht so anstellen. Nichtsnutziger Lausebengel!« Er packte mich am Kragen und hob mich in die Höhe, als wäre ich aus Papier. »Das Vieh kann verhungern und im eigenen Mist versinken«, sagte er und hielt sein Gesicht direkt vor meinem. »Hauptsache, der Herr Sohnemann hat seinen Spaß, was?!«

»Entschuldige, Vater«, sagte ich leise und flehentlich. »Ich habe mich … im Nebel verlaufen … ich war … ich bin …« Verwirrt hielt ich inne, wusste nicht mehr, was ich sagen wollte, und sah meine Eltern ratlos an. »Es tut mir leid.«

Meine Knie schlotterten, und auch das Zittern meines Unterkiefers hatte ich nicht mehr unter Kontrolle. Meine Nase lief und war eiskalt, und meine Augen brannten wie Feuer. Mir war hundeelend, vor Scham und vor Kälte.

»O Gott, Junge! Was ist mit dir?«, sagte meine Mutter, nahm mich in die Arme und führte mich über die Tenne. Der Stallgeruch und die dampfende Wärme der Tiere schlugen mir wohltuend entgegen, ich atmete tief ein, und im gleichen Moment lief mir ein Schauer über den Rücken.

»Du wirst mir doch hoffentlich nicht krank?!«, rief meine Mutter besorgt. »Hast ganz glasige Augen. Lass mal deine Stirn fühlen. Ist ja ganz heiß. Kein Wunder, bist ja klitschnass! Was machst du aber auch für Sachen? Rennst den ganzen Tag im Regen herum, als wärst du nicht ganz richtig im Kopf. Was ist bloß in dich gefahren, Jeremias?«

»Völlig verweichlicht, der Bursche«, lautete der Kommentar meines Vaters. Er knallte das Tennentor zu und schüttelte erneut den Kopf. »Rotzlöffel!« Erst jetzt bemerkte ich den beinahe erleichterten Unterton in seiner Stimme. Es schien, als wäre er nicht so sehr aus Ärger als vielmehr aus Sorge so böse mit mir. Noch nie war ich ohne Ankündigung so lange und bis weit nach Sonnenuntergang ausgeblieben, und dass ich meine Pflichten auf dem Hof vergaß, sah mir ebenfalls nicht ähnlich. Vermutlich hatten meine Eltern sich ernsthafte Sorgen gemacht, und dies war auch der Grund gewesen, warum mein Vater vor der Tennentür auf mich gewartet hatte.

»Du gehst sofort ins Bett«, befahl meine Mutter, mit strengem Seitenblick zu ihrem Mann, und schob mich in meine Kammer, die direkt neben der Wohnstube lag. »Ab unter die Decke! Ich komme gleich und bringe dir was Warmes. Dann geht es dir morgen schon wieder besser!«

Meine beiden kleinen Schwestern standen in der Tür zur Nachbarkammer und verfolgten die Szene mit einer Mischung aus Neugier und Schadenfreude. Als unsere Blicke sich trafen, kreischte Mechtild, die jüngere der beiden, laut auf und lief aufs Zimmer. Maria, die ältere, sah mich stirnrunzelnd und mitfühlend an, sie schien etwas sagen zu wollen, schwieg dann aber und folgte dem Beispiel ihrer Schwester.

»Und dass mir das nicht noch mal vorkommt«, rief mein Vater mir nach, nun schon merklich ruhiger. »Dann setzt es eine Tracht Prügel!«

»Ja, Vater«, sagte ich und verschwand in meiner Kammer. Nebenan hörte ich die Mädchen kichern und flüstern und erneut kichern. Doch ich nahm kaum noch etwas wahr oder nur wie durch Watte. Ich entzündete die Nachtkerze und warf mich heulend aufs Bett.

Als meine Mutter wenig später mit Milchsuppe und Kräutertee ins Zimmer trat, hatte ich die nassen Sachen ausgezogen, mich bibbernd unter die Wolldecke gelegt und meine Tränen getrocknet. Sonst war ich keine solche Heulsuse, aber im Moment war mir schlicht nach Weinen zumute. Auch als Mutter sich auf die Bettkante setzte und mir die Tasse mit dem Tee reichte, hatte ich Mühe, meine Tränen zurückzuhalten.

»Es ist dieses Mädchen, nicht wahr?«, sagte sie.

Ich stierte sie sekundenlang an, wusste nicht was ich sagen sollte, und nickte schließlich mit dem Kopf. »Woher weißt du?«

»Ich bin auch nicht ganz auf den Kopf gefallen.« Sie tätschelte meine Wange, gab mir einen Kuss auf die Stirn, schaute mich sorgenvoll an und fragte: »Seit wann geht das schon mit euch?«

»Seit ein paar Wochen«, antwortete ich. »Aber wir haben nichts getan, dessen wir uns hätten schämen müssen!«

»Und warum habt ihr es dann heimlich getan? Du bist achtzehn Jahre alt. Glaubst du, wir würden es dir verbieten, dich mit Mädchen zu treffen? Du bist alt genug, um selbst zu wissen, was du tust. Viele Jungs in deinem Alter sind längst verheiratet und haben Kinder.«

»Lotte ist nicht wie die anderen Mädchen«, sagte ich und hielt die Hand meiner Mutter. »Nicht so ein albernes Kicherweib wie die Ahlbecker Trinen. Sie liest Romane und schreibt Gedichte. Wir sind am See spazieren gegangen und haben geredet und uns aus Büchern vorgelesen.«

»Und ihr arrangiert heimliche Treffen in der Wildnis, als wärt ihr selbst aus einem Buch entfleucht«, erwiderte sie, tätschelte meine Hand und ließ sie dann los. »Das wirkliche Leben ist nun mal nicht so romantisch, wie es in den Büchern zu lesen ist. Händchenhalten ist gewiss eine schöne Sache, aber sie macht nicht satt.«

Wieder konnte ich sie nur verwundert anstarren. Schließlich brachen die Tränen wieder hervor, und ich rief: »Es ist nun ohnehin alles vorbei!«

Meine Mutter presste die Lippen aufeinander und sagte: »Wer weiß, vielleicht ist es besser so.«

»Nur weil sie eine Oldendorfsche ist?«, ereiferte ich mich, fuhr im Bett hoch und verschüttete dabei den Tee.

Meine Mutter sprang auf, da ich ihr einen Teil der Flüssigkeit über den Kittel geschüttet hatte. »Ach was, Jeremias, deswegen doch nicht«, sagte sie kopfschüttelnd, während sie sich gleichzeitig die Flecken mit einem Tuch abwischte. »Sie ist eine Boomkamp«, sagte sie mit ernster Miene und ging zur Tür. »Vergiss das nicht! Sie ist die Tochter des Amtmannes, und du weißt genau, was das heißt!«

Ich nickte und legte mich wieder hin. Ich wusste es nur zu gut. Boomkamp war in seiner Eigenschaft als Amtmann zugleich Hauptmann einer Landsturmkompanie. Anders als die im Felde kämpfende Landwehr blieben die Landsturmmänner in der Heimat und dienten dort als Hilfsgendarmen. Eine ihrer Aufgaben bestand darin, die Fahnenflüchtigen dingfest zu machen. So kam es, dass der einst von den Franzosen eingesetzte Amtmann nun dafür zuständig war, die Deserteure ins Gefängnis oder in den Krieg gegen Napoleon zu schicken. Das alles war mir durchaus bekannt, aber ich wollte es nicht wahrhaben.

»Der Krieg wird bald vorbei sein«, beharrte ich deshalb, »und dann wird niemand mehr von der Fahnenflucht reden!«

Diese Worte entstammten nicht nur reinem Wunschdenken, sondern beruhten auf dem, was allerorts zu hören war. Die preußischen Truppen waren längst in Frankreich eingefallen und hatten, wie es hieß, vor wenigen Tagen die Stadt Paris zur Kapitulation gezwungen. Die Niederlage Napoleons war so gut wie besiegelt, und die Abdankung des Kaisers wurde sozusagen stündlich erwartet. Schon in Kürze würden die Landwehrtruppen nach Hause geschickt werden und der Krieg in Europa beendet sein.

»Wenn die Franzosen erst einmal geschlagen sind«, sagte ich mit Nachdruck, »dann wird kein Hahn mehr nach uns Deserteuren krähen.«

»Umso mehr Grund, nicht in der Gegend herumzustreunen, sondern dich versteckt zu halten, bis der Krieg beendet ist«, sagte meine Mutter und trat erneut ans Bett. »Oder hast du Lust im Gefängnis zu enden?«

Ich schüttelte den Kopf und sagte kleinlaut: »Natürlich nicht.«

»Hast du deiner Lotte erzählt, dass ihr Vater nach dir fahndet?«, setzte sie hinzu. »Weiß sie, dass du ein Deserteur bist?«

Ich senkte den Blick und schwieg betreten. Nein, das hatte ich nicht. Es hatte sich nicht ergeben, ich hatte mich nicht getraut. Außerdem hatten wir über Poesie geredet, nicht über Politik. Ich schüttelte den Kopf.

»Siehst du«, sagte meine Mutter, »und selbst wenn sie es wüsste und dich deswegen nicht gering schätzen würde, ihr Vater sähe das sicherlich ganz anders. Er wird niemals einwilligen und dich als Freier akzeptieren. Du bist ein einfacher Köttersohn, und sie eine Tochter aus gutem Hause. Das wird er niemals zulassen. Schlag dir das Mädchen lieber aus dem Kopf! Es ist besser so, glaube mir! Solche Leute sind nichts für unsereins. Da gehören wir nicht hin. Kannst du dir deine Lotte als gewöhnliche Bäuerin vorstellen? Und kann sie sich das vorstellen? Weiß sie, was es heißt, von morgens bis abends zu arbeiten, tagaus, tagein in dreckigen Kitteln und Holzpantinen an den Füßen herumzulaufen und nachts in klammen Betten zu schlafen?«

»Aber wir haben uns doch lieb«, versuchte ich einzuwenden.

»Das ist schön, mein Junge, das ist sogar sehr schön. Aber es ist leider nicht entscheidend!«

Ich starrte sie ungläubig an und sagte: »Aber du hast Vater doch auch aus Liebe geheiratet.«

»Ich war eine stellungslose Näherin ohne Heimat«, erwiderte sie und seufzte schwermütig. »Wenn ich deinen Vater nicht geheiratet hätte, wäre ich wahrscheinlich als niedere Gesindefrau auf einem großen Hof gelandet. Ich habe Heinrich mit Liebe geheiratet, aber nicht aus Liebe.« Sie lächelte müde und blickte versonnen zur Wand. »Ich bin deinem Vater zutiefst dankbar.«

Dankbar?, wunderte ich mich und stierte sie überrascht an. Mein Vater war ein ungehobelter westfälischer Bauer gewesen, zwar der Sohn des Magisters, aber eher ein sittenstrenger und gläubiger als ein gebildeter Mann und nicht eben das, was man gemeinhin einen hübschen Kerl nennt. Meine Mutter hingegen war als junge Frau eine wirkliche Schönheit gewesen, mit auffallend dunklem Teint und rehbraunen Augen. Zwar waren die ehemals glänzendschwarzen Haare inzwischen ergraut und ihre Wangen ein wenig eingefallen, aber auch jetzt noch war Mutter eine schöne Frau, und die Männer in Ahlbeck ließen es ihr gegenüber nicht an Bewunderung fehlen. Warum redete sie also von Dankbarkeit? Nur weil sie eine Zugereiste war? Und keine begüterte Bauerntochter?

Sie kniff erneut die Lippen zusammen, deutete auf die Suppe auf dem Nachttisch und sagte: »Iss jetzt!« Und dann ging sie hinaus.

»Was ist mit Jeremias?«, hörte ich auf der Tenne die Stimme meiner Schwester Maria. »Ist er krank?«

»Ja, Maria«, antwortete meine Mutter, »das auch.«

Ich lag auf dem Bett, löffelte zaghaft meine Suppe, starrte ins Nichts und hörte dem Trippeln der Mäuse zu, die sich auf dem Dachboden am Getreide gütlich taten. Ich schloss die Augen und sah Lottes Gesicht vor mir, ihre blonden Locken, ihren verschämten Blick, ihre roten Wangen, und ich hörte sie erzählen, von romantischen Geschichten, aufregenden Abenteuern und immerwährender Liebe. Allmählich glitt ich hinüber ins schwerelose Land der Träume …

Ein lautes Klopfen und aufgeregtes Schreien an der Tür ließ mich mit einem Mal aufschrecken und zusammenfahren. Bevor ich mich recht gefasst hatte und wusste, wo ich mich befand, wurde die Tür aufgerissen, und der Amtmann stürzte in die Kammer. Er schäumte vor Wut, fiel über mich her und packte mich an der Gurgel, dass ich nur mehr röcheln konnte.

»Verdammter Lump!«, schrie er mich an. »Was fällt dir ein, Schande über meine Tochter zu bringen?! Das wirst du mir büßen! Jetzt geht es dir an den Kragen!«

Ich versuchte, mich aus seiner Umklammerung zu befreien, aber es war zwecklos. Ich wollte schreien, aber kein Ton kam mir über die Lippen. Immer fester drückte er zu, ich rang nach Luft, wirbelte hilflos mit meinen Armen umher und konnte mich doch nicht aus dem Würgegriff winden. Das einzige, was ich mit den Händen zu fassen bekam, war die brennende Kerze auf dem Nachttisch. Sie fiel um und landete auf dem Boden. Es wurde dunkel.

Und dann wachte ich auf.

Mein Herz raste, ich saß senkrecht und nass geschwitzt im Bett und starrte zum Nachttisch, auf dem die Kerze immer noch brannte und auch die leere Suppenschüssel stand. Ich hatte allerhöchstens ein paar Minuten geschlafen. Angestrengt horchte ich nach draußen und wusste plötzlich, was der Grund für meinen Alptraum gewesen war. Ein Poltern war zu vernehmen. Es hörte sich an, als würde von außen an das Tennentor gehämmert. Ich stand auf und ging mit wackligen Knien zur Tür, und wahrhaftig – ein zweites Mal war das Klopfen laut und deutlich zu vernehmen. Ein Mann rief den Namen meines Vaters, und das Vieh auf der Tenne wurde unruhig. Ich hörte Schritte auf der Diele, sie entfernten sich, eine Tür knarrte, dann Stille. Und schließlich kamen die Schritte zurück, zwei Männerstimmen waren zu erkennen, ohne dass ich hören konnte, worüber sie sich unterhielten. Die eine Stimme redete ruhig und schnell, die andere antwortete brummig und missgestimmt. Ein Besucher zu so später Stunde? Träumte ich etwa immer noch? Begann der Alptraum wieder von vorne?

Die Tür zur Wohnstube öffnete und schloss sich, und die Stimmen verstummten. Es war mit einem Mal so still im Haus, als wäre ich die einzige lebende Seele darin. Verwundert hielt ich inne, lauschte noch einen Moment und versank dann in düstere Gedanken. Meine Zukunft erschien mir wie ein tiefer schwarzer Abgrund, und nichts konnte mich davor retten hineinzustürzen.

Ein Klopfen an der Zimmertür ließ mich zusammenfahren.

»Ja?«, rief ich verschreckt und schlüpfte zurück ins Bett.

Meine Mutter schaute zur Tür herein und sagte: »Ich habe Licht in der Kammer gesehen. Warum schläfst du noch nicht? Hat die Suppe nicht gutgetan? Willst du noch Tee?«

»Doch, nein, schon gut«, antwortete ich und beeilte mich hinzuzufügen: »Mir geht es schon viel besser.«

»Das ist brav, mein Junge. Und jetzt schlaf schön.« Sie lächelte und wollte sich zurückziehen.

»Mutter?«, rief ich ihr nach. »Haben wir Besuch?«

Sie verharrte auf der Schwelle, nickte und sagte: »Es ist Hubertus Wessendorf. Der Knecht vom Bauern Lanvermann.«

Ich erschrak und fragte alarmiert: »Was will er?«

»Ich weiß es nicht, er sitzt mit deinem Vater in der Stube.«

»Kommen sie mich holen?«, flüsterte ich atemlos. »Werde ich verhaftet?«

»Rede keinen Unsinn, Jeremias. Hier kommt niemand dich holen. Und Hubertus schon gar nicht. Leg dich schlafen, du brauchst deine Ruhe. Gute Nacht.« Sie lächelte nachsichtig und schloss die Tür.

Sie führen etwas im Schilde, dachte ich Unheil ahnend, löschte das Licht und wiegte mich in einen unruhigen und wenig tröstlichen Schlaf.

3

Ich erwachte zur üblichen Zeit, um halb sechs, und fühlte mich wie ausgewrungen. Draußen dämmerte es bereits, und die Vögel zwitscherten, als freuten sie sich auf den kommenden Tag. Es war der Krumme Mittwoch, und zum ersten Mal glaubte ich zu wissen, woher dieser Tag seinen seltsamen Namen hatte. Mühsam rappelte ich mich auf, rieb mir den Schlaf aus den Augen und schlurfte zur Kammer hinaus. Als ich die Stube betrat, wunderte ich mich, dass meine Mutter bereits bei der Arbeit war. Sie hatte die Schürze vorgebunden, trug ihre Haube auf dem Kopf, hatte den Küchenherd mit Stroh und Holz gefüllt und legte gerade einige Brocken schwarzen Torfs, den sogenannten Klün, auf das Feuer. Schwarze Rauchwolken hingen in der Stube und ließen mich husten.

»Morgen, Junge«, sagte Mutter, als sie mich erblickte. »Geht es wieder?«

Ich zuckte mit den Schultern, schaute in den Alkoven hinter dem Ofen, bemerkte die gemachten Betten und sah sie fragend an. »Seit wann seid ihr wach?«

»Gib mir mal das Eisen«, sagte sie statt einer Antwort und deutete in die Ecke des Raums, wo ein schwarz angelaufenes Kanteisen auf dem Boden lag.

»Hat das Kalb wieder Durchfall?«, fragte ich und reichte ihr das Gewünschte.

Sie nickte und steckte das Eisen in den Ofen. Dann nahm sie einen halb mit Wasser gefüllten Topf und stellte ihn auf die Herdplatte.

»Wo ist Vater?«, wollte ich wissen.

»Beim Melken.«

»Schon?«, erwiderte ich und stutzte. »Warum so früh? Weshalb habt ihr mich nicht geweckt?«

Bevor meine Mutter antworten konnte, trat mein Vater in die Stube, in der Hand einen kleinen Eimer voll Frischmilch, den er ihr nun gab. »Für das Kalb«, sagte er. »Der Rest ist schon draußen im Pütt. Kommst du heute noch zum Buttern?«

»Wenn der Rahm soweit ist«, antwortete meine Mutter, nahm den Eimer und schüttete einen Teil der Milch in den Wassertopf und verrührte das Ganze mit einem Holzlöffel, anschließend prüfte sie, ob das Eisen im Ofen bereits glühte.

»Guten Morgen, Jeremias«, sagte mein Vater schmunzelnd. »Na, du Poussierstengel, gut geschlafen? Schön geträumt?«

»Heinrich!«, sagte meine Mutter tadelnd. »Schandmaul!«

Mein Vater lächelte nur als Antwort und schwieg.

Ich beschloss, seine anzügliche Andeutung zu überhören, wunderte mich über das geschäftige Treiben und fragte: »Warum seid ihr heute so früh auf den Beinen? Was ist hier eigentlich los?«

»Dein Vater muss zum Lanvermann«, antwortete meine Mutter, holte das glühende Eisen aus dem Feuer und hielt es in die mit Wasser verdünnte Milch, bis diese angebrannt roch. Dann nahm sie den Topf vom Herd und ging mit ihm zur Tenne. »Ich kümmere mich um das Kalb«, sagte sie. »Wenn es die Milch getrunken hat, sollte sich das mit dem Durchfall erledigt haben.«

»Warum musst du zum Schulzen?«, fragte ich und sah meinen Vater irritiert an. »Was will er von dir?«

»Johann will die Kartoffeln stecken.«

»In der Karwoche?«, wunderte ich mich. »Ich dachte, er will erst nach Ostern damit anfangen. Zusammen mit den Runkeln. Warum die plötzliche Eile?«

»Ich weiß es auch nicht. Er scheint es sich anders überlegt zu haben.« Er setzte sich an den Tisch, schüttete einen Löffel Kaffee in eine Tasse und fragte: »Willst du auch? Ist echter Bohnenkaffee.«

Ich nickte, reichte ihm eine Tasse und fragte: »Soll ich mitkommen?«

»Davon hat Hubertus nichts gesagt, er hat nur mich aufs Feld bestellt. Bleib du nur hier, irgendjemand muss sich ja um den Kotten kümmern. Es ist ohnehin besser, wenn du dich nicht in der Öffentlichkeit zeigst.«

»Warum lässt du dir das gefallen?«, erwiderte ich und goss uns heißes Wasser aus dem Kessel in die Tassen.

»Was soll ich tun? Er ist der Grundherr und kann machen, was er für richtig hält.« Er schnaufte abfällig und fügte hinzu: »Wir Kötter müssen springen! Ob wir wollen oder nicht. Als Heuerlinge können wir uns nicht aussuchen, wann und wie wir für den Großbauern arbeiten wollen.«

»Als hätten wir vor Ostern nichts Besseres zu tun«, sagte meine Mutter, die in diesem Augenblick wieder die Küche betrat. »Karwoche ist Reinemachezeit, das war schon immer so. Das sollte selbst Johann Lanvermann wissen, aber er schert sich einen Dreck darum und führt ständig neue Sitten ein. Ganz wie es ihm in den Kram passt.« Auch sie setzte sich an den Tisch, goss sich Kaffee ein und schmierte ein paar Schmalzbrote, die sie uns reichte. »Lanvermann sollte sich was schämen!«, lautete ihr unmissverständlicher Kommentar. »Wir wären alle besser dran, wenn sein Bruder noch da wäre.«

»Lass das Lamentieren, Frau!«, sagte mein Vater. »Wir sollten froh sein, dass der Mörder über alle Berge ist.« Er bekreuzigte sich und steckte sich einige Schmalzbrote in die Tasche. »Die arme Frau! Gott habe sie selig.«

»Mag ja sein«, erwiderte Mutter und machte ebenfalls ein Kreuzzeichen auf ihrer Brust. »Ich habe nicht vergessen, was er der armen Irmgard angetan hat. Aber als Bernhard noch Grundherr war, ging es uns sehr viel besser. Er hat wenigstens gewusst, wie ein so großer Bauernhof geführt werden muss und wie man mit seinen Leuten umzuspringen hat. Ein grober Klotz, das mag schon sein, aber ein patenter Kerl! Er hat auch selbst mit angepackt und war sich nicht zu schade, die Forke in die Hand zu nehmen und bis zu den Knien im Mist zu stehen. Johann ist dafür viel zu vornehm und spielt lieber den feinen Pinkel. Der macht sich die Hände nicht schmutzig, gibt stattdessen Befehle und stolziert wie ein Pfau herum. Der alte Lanvermann würde sich im Grabe herumdrehen, wenn er wüsste, was sich auf dem Hof abspielt.«

»Was nützt das Jammern«, erwiderte mein Vater. »Davon wird es nicht besser. Der Alte ist tot, der Bruder verschwunden, und der jetzige Schulze wird sich gewiss nicht mehr ändern.«

»Was Johann Lanvermann auf dem Bauernhof treibt, ist eine Schande«, beharrte meine Mutter. Sie schüttelte energisch den Kopf und wiederholte: »Er sollte sich was schämen! In den letzten Jahren ist der Hof vollends auf den Hund gekommen. Ein einziges Sodom und Gomorra!«

»Ich muss los«, sagte mein Vater achselzuckend, stand auf, nahm seinen Hut und wandte sich an mich: »Kümmerst du dich um das Vieh? Und bringst die Tenne auf Vordermann? Ich nehme das Pferd und versuche, zum Melken heute Abend wieder da zu sein.«

Ich nickte nur und starrte auf die Tasse in meiner Hand. Ich hatte das Gespräch meiner Eltern nur halbherzig verfolgt und hing meinen eigenen Gedanken nach. Ich versuchte, mir einen Reim auf die Ereignisse der letzten beiden Tage zu machen. Erst reitet der Amtmann bei Regen und Dunkelheit im Galopp zum Dorfschulzen, dachte ich, und wenig später taucht der Knecht des Schulzen bei uns auf und kommandiert meinen Vater für den folgenden Tag zu Heuerlingsdiensten auf den Schulzenhof. »Er kommt euch holen«, gingen mir die Worte des Schäfers durch den Kopf. »Das tun sie immer!«

Als meine Schwestern lärmend über die Dielen polterten und türenschlagend die Stube betraten, fuhr ich wie aus einem Traum auf und bemerkte, dass Vater das Haus bereits verlassen hatte.

»Morgen, Jeremias«, rief die kleine Mechtild erfreut und setzte sich mir gegenüber an den Tisch. »Bist du wieder gesund?«

»Ich war gar nicht krank«, antwortete ich. »Nicht wirklich.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Mechtild.

»Dafür bist du noch zu klein«, erwiderte ihre Schwester. Maria nahm neben mir Platz, lächelte schüchtern und nickte stumm. Sie war nicht nur namentlich das genaue Abbild unserer Mutter. Ihr Haar war rabenschwarz und der Teint dunkel, und vermutlich würde aus ihr eine ebenso schöne Frau werden. Mechtild hingegen glich eher unserem Vater und hatte von ihm die buschigen Augenbrauen geerbt.

»Still jetzt, alle beide!«, befahl unsere Mutter, faltete die Hände und sprach das Tischgebet: »Aller Augen warten auf dich, o Herr; du gibst uns Speise zur rechten Zeit. Du öffnest deine milde Hand und erfüllest alles, was da lebt, mit Segen.«

»Amen«, antworteten wir.

Während die Mädchen sich über die Schwarzbrote, die warme Milch und den Zichorienkaffee hermachten und sich dabei unentwegt zankten und von Mutter zurechtgewiesen wurden, schlich ich mich aus der Stube, zog meine Holzschuhe über und gab den Tieren zu fressen. Außer den Kühen und Kälbern auf der Tenne warteten auch die Schweine im Stall und die Hühner auf dem Hof auf das Futter. Ich verrichtete die Arbeit wie im Dämmerzustand, als wäre ich immer noch nicht wach, als wäre das Fieber in meinem Kopf noch nicht ganz vorüber.

Draußen war von dem Regen und dem Nebel des gestrigen Tages nichts mehr übrig geblieben. Ein leichter Morgendunst hing noch über dem Boden, aber am Horizont ragte bereits die Spitze des Ahlbecker Kirchturms aus dem Nebel hervor. Und die ersten Sonnenstrahlen lugten im Osten über die Wipfel des Buchenwaldes. Auch die Vögel trällerten vor Freude. Aprilwetter!

Während ich den Kuhstall ausmistete, die Tiere mit frischem Heu versorgte und den Boden fegte, horchte ich immer wieder auf Geräusche und Stimmen von draußen und fuhr zusammen, wenn eines der Rinder sich muckte oder unruhig mit den Hufen scharrte. Vor dem Haus hörte ich Maria und Mechtild, die in den Beeten das Unkraut jäteten oder sonstige Gartenarbeiten verrichteten und sich gegenseitig triezten und über den Mund fuhren.

»Doofe Pute!«, rief die kleine Mechtild aufgebracht. »Das ist wohl der Blödian vom Pättenbauern! Wetten?!«

»›Blödian‹ sagt man nicht«, antwortete Maria ernst. »Er kann doch nichts dafür! Außerdem ist er ein Verwandter!«

»Blöd bleibt blöd«, beharrte Mechtild. »Der guckt immer so komisch. Und die Spucke läuft ihm aus dem Mund.«

Neugierig verließ ich die Tenne und schaute den Weg zum Dorf entlang. Ich sah einen Jungen, der auf unseren Kotten zulief und aufgeregt mit den Armen fuchtelte.

»Das ist Wenzel«, erklärte Maria, als sie mich sah, »der Pättensohn!«

»Der nicht ganz richtig im Kopf ist«, fügte Mechtild hinzu.

»Er scheint ganz außer sich zu sein«, bemerkte ich und ging dem Jungen entgegen. »Hallo, Wenzel, warum rennst du denn so?«

»Mias?«, rief der Junge. »Mias hier?« Er blieb keuchend vor mir stehen, rieb sich die Hände, grinste ein ziemlich verrücktes und zugleich freudiges Grinsen und schaute durch mich durch, als nähme er mich gar nicht wahr. »Mias hier?«, wiederholte er seine Frage.

»Ich bin Jeremias. Das weißt du doch, Wenzel! Was ist denn los?«

»Ja, du Mias! Ich weiß!« Wieder lachte er, als hätte er einen Schalk im Nacken. Er gluckste vor Freude und klatschte in die Hände.

»Blödian«, hörte ich Mechtild hinter mir leise wispern.

Wenzel war etwa zwölf Jahre alt, aber er hatte den Verstand eines Dreijährigen. Es hieß, bei seiner Geburt seien Schwierigkeiten aufgetreten, und deshalb sei er geistig so zurück. Vielleicht liege es eher daran, so wurde im Dorf gemunkelt, dass der Pättenbauer damals seine Base geheiratet habe, um die beiden Erbhöfe miteinander zu vereinen. Und das »bekloppte Blag« sei die Strafe Gottes für die Blutschande. Zur damaligen Zeit war eine Heirat innerhalb der Familie gar nicht unüblich, selbst Halbgeschwister sollen in Einzelfällen vor dem Altar gestanden haben. Ob dies nun der Grund war oder nicht, auf jeden Fall gab es etliche geistig zurückgebliebene oder körperlich missgestaltete Kinder in Ahlbeck. Die wenigsten von ihnen bekam man jedoch zu Gesicht. Wenn sie nicht schon als Säuglinge »gehimmelt« und durch Verwahrlosung ins Jenseits befördert wurden, saßen sie zumeist den ganzen Tag in der Stube oder auf der Tenne und wurden von den Eltern vor den Nachbarn und Durchreisenden versteckt. Einige der Dörfler glaubten immer noch, bei den Kindern handele es sich um Wechselbälger, die von dämonischen Unholden in der Krippe vertauscht wurden. Allein der Pättenbauer, ein Vetter meines Vaters, schien sich seines schwachsinnigen Sohnes nicht zu schämen und ließ ihn wie einen normalen Jungen mit den zahllosen anderen Bälgern draußen herumtollen.

»Mias muss weg! Mias weg!«, rief Wenzel nun und fuchtelte wieder mit den Armen. »Papa sagt: Mias muss weg! Schnell! Die anderen auch! Alle!«

»Warum soll ich weg?«, fragte ich und hielt seine Arme, um ihn zu beruhigen.

Er jedoch schüttelte sie ab und deutete zum Kirchturm. »Viele Pferde, viele Leute! Papa sagt: Sandmann holen. Alle weg! Mias auch!«

»Was denn für ein Sandmann?«, fragte Maria und schaute mich irritiert an.

Ich zuckte mit den Schultern und konnte mir zunächst keinen Reim auf Wenzels Gestammel machen.

»Sandmann!«, rief Wenzel freudig.

Plötzlich dämmerte mir, was er sagen wollte. »Amtmann?«, rief ich aufgeregt. »Meinst du den Amtmann?«

»Sandmann, ja! Viele Männer, viele Pferde. Kirche!« Abermals lachte er sein schalkhaftes Lachen und wieherte anschließend wie ein Pferd.

»Gibst du ihm etwas zu essen und zu trinken«, wandte ich mich an meine Mutter, die nun ebenfalls durchs Tor schaute. »Ich will mal sehen, was los ist!«

»Nein, nicht gehen. Mias weg!«, versuchte Wenzel mich von meinem Plan abzubringen, doch die Aussicht auf ein Glas Milch und ein Schmalzbrot schien ihn zu sehr zu verlocken. Er ließ sich zunächst unter Protest, dann bereitwillig von Mechtild ins Haus führen.

»Du solltest besser nicht hingehen«, wandte sich Maria an mich und legte ihre Hand auf meinen Unterarm. »Der Pättenbauer wird schon seine Gründe haben, warum er den Wenzel geschickt hat.« Ihrem Gesicht war anzusehen, dass sie sich wahrhaftig Sorgen machte. Mit ihren dunklen Augen schaute sie mich mitleidig an, wie sie es schon am Abend zuvor getan hatte. »Bleib lieber, wo du bist. Wer weiß, was der Amtmann im Sinn hat.«