Mord am Konradsberg - Daniel Schmidt - E-Book

Mord am Konradsberg E-Book

Daniel Schmidt

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Beschreibung

„Mord am Konradsberg und andere Krimis“ ist eine Sammlung von kriminellen Machenschaften, Mord und Todschlag, die auf spannende Weise serviert, den Leser in seinen Bann ziehen und zu fesseln vermögen. 35 Autorinnen und Autoren lassen Pistolen glühen, Blut fließen und blicken skrupellosen Tätern in ihre düsteren Seelen. Bis ins kleinste Detail verschachtelte Fälle führen mal in die Irre, mal geben sie die Lösung erst in den letzten Atemzügen preis.

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Ähnliche


Mord am Konradsberg

und andere Verbrechen

Kriminalgeschichten

Schweitzerhaus Verlag

Schrift * Wort * Ton

Karin Schweitzer

Frangenberg 21 * 51789 Lindlar * Telefon 02266 47 98 211

eMail: [email protected]

Copyright: Schweitzerhaus Verlag, Lindlar

Satzlayout und Umschlaggestaltung: Karin Schweitzer, Lindlar

Foto:

Besuchen Sie uns im Internet: www.schweitzerhaus.de

Auflage 2017

ISBN: 978-3-86332-114-7

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Microverfilmung und die Einspielung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Mord auf dem Aasee

Daniel Schmidt

Sonntag, 15:12 Uhr, Aasee Münster

«Nicht so schnell, ich komm nicht hinterher!»

Johanna keuchte und fluchte leise vor sich hin. Sie hatte zuletzt vor acht Jahren auf Schlittschuhen gestanden und schien es irgendwo zwischen Kreissaal und Küche verlernt zu haben. Wieder einmal wurde ihr klar, wie wenig Zeit sie für sich selbst hatte in den letzten Jahren, doch jetzt waren Ferien, Jonas bei den Großeltern und sie konnte einfach so den Tag genießen. Sie lächelte verzaubert. Rundherum lag strahlend weißer Schnee, die Sonne lachte vom blauen Himmel und der ganze Aasee war dick zugefroren, das gab es schon seit Jahren nicht mehr. Ihr Atem blies kleine Wölkchen in die kalte Luft.

«Markus, warte doch auf mich!»

Er lachte nur in der Ferne, winkte ihr zu und drehte weiter seine Runden. Er fuhr in Richtung der kleinen Brücke, wo nicht so viele Leute unterwegs waren. Johanna fuhr etwas weniger elegant hinterher. Sie sah, wie Markus zum Sprung ansetzte. Der olle Angeber. Sie lachte vor sich hin. Genau das mochte sie an ihm, diese ungestüme Art, dieses Draufgängerische. Ein doppelter Rittberger war‘s nicht, doch sie klatsche von weitem und er verbeugte sich, um sogleich zum nächsten Versuch Anlauf zu nehmen. Er sprang ab und stürzte aufs Eis. Johanna lachte, doch als er nicht wieder aufstand, gefror ihr Lachen und eine leichte Panik ergriff sie.

Sie rief ihn und lief so schnell es ihr unter den gegebenen Umständen möglich war zu ihm.

«Schatz, hast du dir wehgetan? Ist alles in Ordnung?»

«Ja ja, mir geht’s gut aber hier liegt was unter dem Eis. Sieht aus wie eine Leiche!»

Johanna ließ ihren Blick über das Eis gleiten. Tatsächlich, durch das Eis schimmerte eindeutig die Kontur eines Menschen hindurch.

***

Sonntag, 16:07 Uhr, Aasee Münster

Hauptkommissar Kiepenbrock war wütend. Auf und unter der Modersohnbrücke standen lauter Menschen und machen Fotos mit ihren Handykameras. Mittendrin ein einsames Blaulicht und neben dem Auto stand Schröder, mit dem Telefon am Ohr. Eine Leiche im Aasee, das hatte ihm gerade noch gefehlt. Warum hat die nicht noch einen Tag warten können. Er würde das Schröder aufdrücken, sollte er sich mal nützlich machen, der Frischling.

«Schröder! Hören Sie auf zu telefonieren. Her mit den Fakten!»

«Fakten? Wir wissen noch gar nichts, außer dass da jemand unterm Eis liegt. Ich habe das THW angefordert und die Feuerwehr. Und die Spusi natürlich.»

«Gut, dann warten Sie hier, bis die Spurensicherung da ist. Sehen Sie zu, dass die Schaulustigen hier verschwinden, die zertreten jede Spur, sofern überhaupt noch was zu zertreten ist. Nehmen Sie die Zeugenaussagen auf und sorgen Sie dafür, dass Platz für die Bergungsmannschaft gemacht wird. Ich will, dass die Leiche heute noch obduziert wird, morgen will ich die Ergebnisse auf dem Tisch! Ich muss jetzt wieder nach Hause, meine Frau lässt sich scheiden, wenn ich schon wieder sonntags arbeite. Schröder ich zähl auf Sie!»

«Jawohl Chef, ich kümmere mich darum. Aber da ist auch noch die Presse, die hätten gern ein Interview.»

«Lassen Sie mal, das mache ich schon!»

Auch das noch. Diese Pressefritzen waren so nervig. Klar, gab ja sonst nichts zu berichten hier in der Provinz, wo höchstens mal ein Fahrrad geklaut oder bei rot über die Ampel gefahren wurde.

«Meine lieben Damen und Herren von der Presse, sie verpassen nichts, wenn Sie jetzt nach Hause gehen. Es gibt hier wirklich nichts, worüber man berichten könnte. So wie es aussieht, schwimmt eine Leiche unterm Eis. Die Polizei wird alles unternehmen, um den Tod aufzuklären, wenn es sein muss auch mit einer Sonderkommission. Wir werden Sie natürlich auf dem Laufenden halten. Gehen Sie nach Hause und trinken Sie einen Glühwein!»

***

Montag, 8:03 Uhr, Polizeipräsidium Münster

«Was ist das für eine große Scheiße! Schröder, sofort zu mir!»

Kiepenbrock stand hinter seinem Schreibtisch. Vor ihm lag die Münstersche Zeitung, auf dem Deckblatt stand in fetter Schrift: ‚Polizei sucht den Mörder der Sexpuppe‘. Daneben ein Bild mit einem Großaufgebot von Polizei, Feuerwehr und technischem Hilfswerk am Aasee.

«Schröder, warum haben Sie zugelassen, dass dieser Mist hier gedruckt wird? Hören Sie sich das an: ‚Wie Hauptkommissar Kiepenbrock versicherte, wird die Polizei alle Hebel in Bewegung setzen, um den Tod der Leiche aufzuklären. Die Einrichtung einer Sonderkommission sei schon beschlossene Sache. Etwas viel Aufwand für eine Gummipuppe, wie wir finden. ‘ »

«Na ja, als wir die Leiche aus dem Wasser gezogen haben, sah man ziemlich schnell, dass das nur eine Puppe war. So eine lebensgroße, fast echte, nicht so ein Aufblasdingens.»

«Ich bin das Gespött der Stadt! Wieso haben Sie das nicht verhindert?»

«Sie können die Zeitung verklagen, wenn Sie das nicht gesagt haben.»

«Natürlich habe ich das gesagt, da wusste ich ja noch nicht, dass unsere Leiche eine beschissene Puppe ist.»

«Soll ich den Chefredakteur ins Präsidium bestellen?»

«Ach, hauen Sie ab. Und sorgen Sie dafür, dass heute niemand zu mir kommt. Ich empfange heute keinen Besuch!»

«Ja Chef, geht klar.»

***

Dienstag, 9:34 Uhr, Polizeipräsidium Münster

«Chef?»

Kiepenbrock hatte es sich gerade zwischen zwei Aktenordnern gemütlich gemacht.

«Schröder, hatte ich mich nicht klar ausgedrückt? Die Tür bleibt zu!»

Er war genervt. Dass diese Neuen immer so viel überschwänglichen Elan mitbrachten. In der Ruhe liegt die Kraft, in der Ruhe. Nichts überstürzen, lieber zwei Mal drüber nachdenken, eine Nacht drüber schlafen und auf keinen Fall wegen jedem Mist beim Chef an der Tür klopfen.

«Es ist aber wichtig!»

Kiepenbrock stöhnte. «Na gut, kommen Sie rein. Was gibt’s?»

«Wir hatten grad einen Anruf, schon wieder Leiche im Aasee.»

«Nee, Schröder, da falle ich nicht drauf rein. Verarschen kann ich mich alleine!»

«Nein, im Ernst, klang ziemlich echt. Ich denke, wir sollte da hin fahren.»

«Fahren Sie Schröder! Rufen Sie mich an, wenn‘s keine Puppe ist.»

***

Dienstag, 10:17 Uhr, Aasee Münster

«Männlich, Anfang 30, 1,75m groß, ca. 75kg schwer, keine Papiere dabei. Liegt noch nicht lange hier drin, maximal ein paar Stunden, ist bei der Kälte schwer zu sagen. Jemand hat versucht, ihn durch das Loch, das wir gestern für die Puppe frei gehackt haben, im See zu versenken. Selbst wird er nicht rein gesprungen sein, hat eine große V-förmige Wunde am Hinterkopf, was vermutlich auch die Todesursache ist. Genauer kriegen Sie’s im Obduktionsbericht.»

«Danke. Also tatsächlich eine echte Leiche.»

Schröder rieb sich die Hände vor Glück. Endlich mal was zu tun, endlich mal ein richtiger Fall. Er griff zum Telefon. Beim Wählen fiel sein Blick auf die blasse Haut der Wasserleiche. Er war froh, dass sie noch nicht länger drin gelegen hatte. Wasserleichen sahen immer sehr eklig aus, fand er. Plötzlich stutzte er. Ja natürlich! Den Mann kannte er!

«Hallo? Hallo? Schröder sind Sie das?

Schröder kam aus seiner Sprachlosigkeit zurück.

«Ja Chef.»

«Und, was gibt’s?»

«Hier ist tatsächlich eine echte Leiche. Und ich kenne den Mann. Der war gestern im Präsidium und wollte zu Ihnen. Er hat gesagt, er kennt den Mörder der Sexpuppe, wollte aber nur mit Ihnen sprechen.»

«Und warum erfahre ich das erst jetzt?»

«Sie wollten gestern nicht gestört werden! Und ich dachte, der will sich sowieso nur lustig machen. Der schien nicht ganz dicht zu sein.»

«Finden Sie raus, wer das ist. Und zwar schnell!»

«Er hat keine Papiere dabei.»

«Das ist dann wohl Ihr Problem!»

«Ja, ist gut, Chef, ich besorge den Namen.»

Wie er diesen Kiepenbrock manchmal hasste. Aber es nützte ja nichts, er war nun mal der Chef. Und Schröder hatte auch schon eine Idee.

***

Dienstag, 12:44 Uhr, Polizeipräsidium Münster

«Schröder!»

Schröder ahnte nichts Gutes, als er das Büro seines Vorgesetzten betrat.

«Ja Chef?»

«Was soll das hier denn nun schon wieder? Drehen Sie jetzt völlig durch?»

Kiepenbrock wedelte ihm mit einer Mappe vor der Nase herum.

«Ein Obduktionsbericht von der Sexpuppe. Wollen Sie mich jetzt auch noch auf dem Revier lächerlich machen? Reicht der Bericht in der Presse nicht?»

«Sie wollten den doch haben!?»

«Ja aber doch nicht, wenn es sich bei der Leiche um Sperrmüll handelt! Schalten Sie eigentlich auch ab und zu mal ihr Gehirn ein?»

Kiepenbrock warf die Mappe in den Papierkorb. Manchmal hatte er das Gefühl, nur von Idioten umgeben zu sein. Für einen Moment kam ihm der Gedanke in den Sinn, Schröder auch in das Eisloch zu stecken. Ändern würde sich wahrscheinlich trotzdem nichts, dann kam halt der nächste Möchtegern frisch von der Polizeischule.

«Hauen Sie ab, Schröder, machen Sie sich irgendwo nützlich.»

***

Mittwoch, 10:08 Uhr, Polizeipräsidium Münster

Kiepenbrock war grad bei seinem Morgenkaffee und schob sich die Salamischeibe in den Mund, die beim Abbeißen vom Brötchen hängen geblieben war.

«Chef, wir haben ihn!»

«Schröder, habe ich nicht gesagt: erst anklopfen, warten und dann eintreten?»

«Ja Chef, aber …»

«Anklopfen!»

Schröder verdrehte die Augen, ging hinaus auf den Flur, schloss die Tür und klopfte an.

Kiepenbrock lächelte. So sah ein guter Morgen aus. Er nahm einen Schluck aus der Kaffeetasse und rief Schröder herein.

«Na, dann schießen Sie mal los!»

«Also, wir wissen jetzt, wer die Leiche ist. Die Telefone stehen gar nicht mehr still, seit das Foto in der Zeitung ist. Er heißt Karl Beimken und war Organist im Dom. Am Sonntag zur Messe hat er noch gespielt.»

«Gute Arbeit, Schröder. Dann machen wir mal einen Ausflug zum Dom. Was macht der Obduktionsbericht?»

«Ist fertig. Die Wunde am Kopf war nicht die Todesursache. Er ist ertrunken, die ganze Lunge ist voll Aaseewasser. Der genaue Tathergang wird gerade noch rekonstruiert. Ist aber schwierig, weil zwischen den Spuren vom Sonntag kaum was Verwertbares zu finden ist. Todeszeitpunkt nachts zwischen elf und Mitternacht.»

«Danke. Lassen Sie uns gehen!»

***

Mittwoch, 10:44 Uhr, Dom zu Münster

Kiepenbrock konnte sich nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal hier gewesen war. Kirchen waren ihm immer suspekt. Zu dicke Mauern, zu viel Heimlichtuerei. Und da sah er den Mann, wegen dem sie hier waren.

«Guten Tag, Herr Pfarrer. Hauptkommissar Kiepenbrock, das ist mein Kollege Kommissar Schröder. Sie wissen vermutlich, warum wir hier sind?»

«Nein. Ehrlich gesagt weiß ich das nicht. Wenn Sie Buße tun wollen …»

«Na das ganz bestimmt nicht. Lesen sie keine Zeitung?»

«Nein, dafür habe ich keine Zeit. Und mich interessiert dieses oberflächliche Geschwätz auch nicht.»

«Vermissen Sie Ihren Organisten?»

«Oh ja, Karl habe ich seit gestern nicht mehr gesehen, obwohl er sonst fast täglich hier ist.»

«Er ist tot. Er ist … ertrunken. Im Aasee.»

«Das ist ja schrecklich. Gott barmherziger, behüte seine Seele.»

«Amen. Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?»

«Das war am Sonntag, während der Messe. Danach hat er immer frei.»

«Ist Ihnen irgendwas aufgefallen in letzter Zeit, hat er sich verändert, war er ängstlich, hatte er Feinde?»

«Nein. Karl war ein sehr introvertierter Mensch. Er saß entweder an der Orgel oder in seiner Kammer. Nach draußen ging er selten. Er hatte kaum Kontakt zu anderen Menschen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er Feinde hatte. Warum fragen Sie das?»

«Reine Routine. Können wir einen Blick in seine Kammer werfen?»

«Natürlich. Die Tür ist offen, einfach die Treppe nach oben und dann rechts.»

***

Mittwoch, 10:58 Uhr, Kammer von Karl Beimken

«Oh Mann, wie kann man in so einem winzigen Zimmer leben?»

Die Kammer von Karl Beimken maß kaum sechs Quadratmeter. In der Ecke stand ein altes Holzbett mit perfekt gefaltetem Bettzeug. Daneben ein ebenso alter Schrank, beide wohnten vermutlich schon länger hier als der Organist. Aus dem kleinen Fenster hatte man einen schönen Blick über den Markt, der heute von lauter Ständen und noch mehr Menschen bevölkert war. Markttag. Könnte ich gleich noch etwas Käse kaufen, dachte Kiepenbrock. Auf dem Schreibtisch herrschte weniger Ordnung.

«Tja Schröder, manche Menschen sind eben genügsam. Sehen Sie mal, er hat die Zeitung vom Montag hier liegen. Auf dem Bild hat er die Puppe eingekreist. Wenn wir nur wüssten, was er uns mitteilen wollte!»

***

Mittwoch, 13:31 Uhr, Polizeipräsidium Münster

«Der Pfarrer war’s!»

«Schröder, klopfen Sie an, bevor sie hier reinplatzen!»

Schröder drehte sich wieder zur Tür.

«Jetzt bleiben Sie hier, wenn sie schon da sind. Also, wie kommen Sie da drauf?»

«Nehmen wir mal an, der Pfarrer hat sich so eine Puppe ins Hinterzimmer gelegt, eine echte Frau darf er ja als Katholik nicht …»

«Schröder, Sie sind eklig.»

«Nein, es ist total logisch. Er hat sich also an der Puppe vergangen und dann hat ihn das schlechte Gewissen gepackt und nachdem er hundert Vaterunser gebetet hat, wollte er sie weg werfen, konnte sie aber schlecht in die Mülltonne stopfen. Also wohin damit? Dahin, wo sie keiner findet, in den Aasee. Zu den ganzen geklauten Fahrrädern und dem ganzen anderen Müll, der jedes Jahr rausgefischt wird. Und der Orgeltyp hat ihn wahrscheinlich beobachtet. Stellen Sie sich mal vor Chef, was das für einen Skandal gäbe! Ein besseres Motiv gibt es ja wohl nicht!»

«Jetzt drehen Sie völlig durch!»

«Warum haben wir von 142 Menschen Hinweise bekommen, dass der Tote der Organist ist, nur vom Pfarrer nicht, der ihn fast täglich sieht? Der hat was zu verbergen! In der Puppe befanden sich Spermareste. Das steht im Obduktionsbericht. Also könnten wir das ganz einfach prüfen, ein DNA-Test und er ist überführt!»

«Sie haben den Bericht gelesen?»

«Ähm, ja, natürlich.»

«Den Obduktionsbericht einer Puppe?»

«Ja.»

Kiepenbrock schüttelte den Kopf.

«Okay, dann machen Sie den Test und schalten Sie die Staatsanwaltschaft ein, wir brauchen dann ja auch ein wenig Blut des Pfarrers. Und machen sie das diskret! Wenn die Presse davon Wind bekommt fegen Sie hier nur noch die Flure!»

***

Donnerstag, 16:12 Uhr, Polizeipräsidium Münster

Es dauerte einen Moment, bis er wusste, wo er war. Verdammt, wieder eingeschlafen. Es klopfte erneut an der Tür. Na, wer sag’s denn, aus diesem Schröder konnte ja doch noch was werden.

«Kommen Sie rein, was gibt’s Neues?»

Schröder legte ihm zwei Zettel auf den Tisch.

«Der Pfarrer war’s nicht, die DNA stimmt nicht überein. Jetzt tappen wir wieder im Dunkeln.»

«Tja Schröder, ich hab‘s ja gleich gesagt. Dann gehen wir mal rüber, damit Sie sich entschuldigen können.»

***

Donnerstag, 16:44 Uhr, Dom zu Münster

«Ach, Sie schon wieder!»

Der Pfarrer schien nicht sehr begeistert zu sein vom dritten Besuch der Polizei in zwei Tagen.

Kiepenbrock beruhigte ihn. «Wir sind nur hier, weil sich mein Kollege entschuldigen wollte. Nicht wahr, Schröder? Schröder?»

Verwundert sah Kiepenbrock, wie Schröder schnüffelnd durch die Bankreihen schlich. Was war nur mit dem Kerl los?

«Schröder!», rief er ihn zu sich, aber dieser winkte nur beschwichtigend ab. Kiepenbrock ließ den Pfarrer stehen und ging zu ihm hinüber.

«Was tun Sie hier?»

«Riechen Sie das?»

«Was?»

«Chlor! Hier riecht es nach Chlorreiniger. So was verwendet heute kaum noch einer.»

Kiepenbrock lachte.

«Sagen Sie mal Schröder, schnüffeln sie so was heimlich?»

«Wir müssen die Putzfrau finden!»

Kiepenbrock bemühte sich, ruhig zu bleiben. Bevor er etwas erwidern konnte, war sein Kollege schon beim Pfarrer, der das Ganze beobachtet hatte. Ihm blieb nichts weiter übrig, als ihm hinterher zu laufen.

«Kommen Sie, die Putzfrau ist grad im Blauen Zimmer.»

«Und warum suchen wir die? Können Sie keinen Staubsauger bedienen?»

«Kommen Sie, da ist Sie.»

«Ja, aber …»

Kiepenbrock war erstaunt. Ein gekacheltes Zimmer hatte er hier im Dom nicht erwartet. Das entsprach so gar nicht seiner Vorstellung.

«Guten Tag Frau …»

«Kruse.»

«Kommissar Schröder, das ist mein Kollege Hauptkommissar Kiepenbrock. Sie putzen mit Chlor?»

«Ja, das einzige, was wirklich sauber macht.»

«Putzen Sie alles damit?»

«Ja!»

«Auch lebensgroße Puppen?»

«Was denn für Puppen?»

Schröder setzte sein triumphierendes Lächeln auf. Kiepenbrock sah ihn fragend an. Sollte ich ihn unterschätzt haben?

«Kannten Sie Herrn Beimken?»

«Unseren Organisten?»

«Genau den. Was meinen Sie, wenn ich den Bodenwischer mitnehme, passt der halb zusammengeklappt zur Kopfwunde von ihm? Und ist der Reiniger derselbe, den die Puppe in ihren Körperöffnungen hatte?»

«Oh, Herr im Himmel, vergib mir!»

«Warum haben Sie das getan?»

«Er hat Schande über die Kirche gebracht! Er hatte dieses Ding in seiner Kammer und er hat sich damit vergnügt. Hier, im Gotteshaus! Ich habe sie gestohlen, versucht, die Schande auszuspülen und sie im Aasee versenkt, vor Wochen schon. Ich habe ihm gesagt, dass er nie wieder so was anschleppen soll. Das ist Teufelszeug!»

«Und deshalb haben Sie ihn umgebracht?»

«Das war ein Unfall. Nachdem das Ding gefunden wurde, hat er sich dort aufs Eis gesetzt und getrauert. Ich war ihm nachgelaufen, wollte ihm sagen, dass Gott ihm verzeihen wird, wenn er wieder zurückkommt und Buße tut, aber er wollte nicht auf mich hören, hat mich angeschrien und mich beschimpft, da habe ich in Panik zugeschlagen. Er ist umgefallen und im Eisloch verschwunden.»

«Und den Wischer tragen Sie immer mit sich herum?»

«Er war kaputt, ich wollte ihn zu Hause reparieren.»

«Natürlich. Frau Kruse, ich nehme Sie fest wegen des Verdachts auf Mord an Herrn Karl Beimken. Sie haben das Recht zu schweigen, ...»

Kiepenbrock reichte ihm die Handschellen. Dieser Schröder!

Der goldene Ring

Carmen Matthes

Es geschah an einem strahlendblauen Montagmittag in einer kleinen ruhigen Stadt namens Eppingen bei Heilbronn. Niemand der Einwohner hätte gedacht, dass hier einmal solch ein schreckliches Verbrechen verübt werden würde. Ein Monster treibt sein Unwesen; so stand es seit Monaten in den Zeitungen.

Eine Menschentraube drückte sich um die Absperrung an dem abgelegenen See herum. Jeder wollte so viel sehen, wie möglich. Reporter kämpften um gute Fotos für ihre Artikel. Niemand konnte hinsehen und doch gafften die Neugierigen um die Wette.

Der 52jährige Kriminalkommissar Herbert Leschke blickte auf die weibliche Leiche zu seinen Füßen. Während er überlegte, kaute er auf seinem Zahnstocher; eine alte Angewohnheit.

«Sie war erst Mitte 30, eine bildhübsche Frau», sagte sein jüngerer Kollege Sven Milkov neben ihm, den er derzeit einlernte.

«Na ja, viel kann man nicht mehr erkennen», bemerkte Leschke. «Ihr rechtes Ohr ist abgeschnitten und weitere Körperteile fehlen. Das Gesicht weist tiefe Schnittspuren auf und der Leichnam ist ziemlich verwest. Es sind kaum mehr Liegespuren zu erkennen, die kurz nach dem Tod auftreten. Jedenfalls wurde sie nicht hier ermordet.»

«Das ist nicht der Tatort, meinen Sie?», fragte der 25 jährige Milkov. «Wie Sie das immer gleich erkennen können!»

«Na, hör mal, Kleiner. Ich gehöre fast zum Inventar des Kommissariats», grinste Leschke und genoss die Bewunderung Milkovs. «Hier sehe ich einen roten Faden. Das lässt darauf schließen, dass die Frau woanders ermordet und post mortem hierher geschleppt wurde.»

Leschke nahm mit einer Pinzette den Faden auf und bugsierte ihn vorsichtig in einen kleinen wieder verschließbaren Plastikbeutel, den er einem der Männer der Spurensicherung gab. Noch einmal schaute er sich die Leiche an. Raben oder Krähen hatten sich ihre Fleischstückchen herausgepickt. Fadenwürmer, schwarze Aaskäfer und anderes Getier schlängelten und krabbelten in den Wunden der Leiche.

«Wir müssen uns langsam sputen» – meinte Herbert Leschke – «den Serientäter zu schnappen. Dies ist nun schon der fünfte Mord in diesem Monat. Hier können wir für heute nichts mehr tun. Ich gehe etwas essen. Kommst du mit, Kleiner?»

«Ähm ... klar. Aber ich trinke nur was. Diese Anblicke bin ich noch nicht gewöhnt», hüstelte Sven Milkov verlegen.

An der kleinen Eckkneipe angekommen, setzten sich die beiden an den einzig leeren Tisch am Fenster.

«Hier war auch schon mal weniger los», bemerkte Leschke, während er seinen dicken Bauch unter den Tisch schob, um sich zu setzen. Er nannte diese Spelunke immer liebevoll Hexenhäuschen anstatt Willis Stübchen, da gerade mal vier oder fünf Tische und ein kleiner Tresen hineinpassten.

Der 56 jährige untersetzte Wirt war Leschkes langjähriger Freund. Herbert kam oft zu dem brummigen Willi Lampfort. Schon oft konnte dieser ihm bei Ermittlungen helfen, da er viele Gäste kannte. Kennengelernt haben die beiden sich vor etwa zehn Jahren durch einen verzwickten Fall. Willi war damals Zeuge einer Entführung. Acht Jahre später versuchte sich Lampfort mit schon 54 Jahren noch als Kneipenwirt. Eineinhalb Jahre liefen die Geschäfte schlecht. Bis vor wenigen Monaten. Da bot Willi auch warme Speisen an, die sehr gerne von den Gästen angenommen wurden. Gerade zur Mittagszeit war es immer voll. Willi überlegte sich schon, die Kneipe zu vergrößern. Doch noch fehlte es ihm an finanziellen Mitteln. Leschke war von Anfang an sein Stammgast. Er aß gerne bei Willi, da er sauber und zuverlässig war. Und seit er mittags sein Gulasch in allen Varianten anbot, aß Leschke fast täglich bei Willi.

Mal gab es Gulasch mit Nudeln, dann mit Reis oder Knödeln; wie es seine Gäste wünschten.

«Na, wieder am Ermitteln, alter Knabe?», fragte Willi Lampfort mit dunkler sympathischer Stimme, während er die Gläser spülte.

«Klar, wie immer halt», grüßte Herbert zurück. «Gibst du mir auch heute wieder von deinem guten Gulasch ab?»

«Aber sicher doch, kommt sofort. Und dein Begleiter?»

«Das ist übrigens Sven Milkov, mein neuer Schützling. Ich soll ihm alles zeigen, was er wissen muss.»

«Ich möchte nichts, danke», würgte Sven und wieder schossen ihm die Bilder ins Gedächtnis, die er vor wenigen Minuten sah. «Doch halt!» Bringen Sie mir bitte einen starken Kaffee.»

Zehn Minuten später roch das kleine Hexenhäuschen wunderbar nach Willis Spezialität.

«An solche Anblicke wirst du dich gewöhnen müssen», lachte Herbert Leschke. «Du bist einfach zu weich.»

«Ich kann die eingebrannten Bilder im Gehirn nicht mit Alkohol betäuben, wie Sie es abends tun, Herr Kriminalkommissar.»

«Das hat gesessen, Herr Milkov», bemerkte Willi schmunzelnd und servierte das lecker riechende Gulasch mit Knödeln und Salat. «Hinter wem seid ihr denn her, Herbert?», fragte Willi neugierig.

«Ein Serienkiller treibt seit wenigen Monaten sein Unwesen in Heilbronn und Umgebung. Du hast es sicher in der Zeitung schon gelesen. Er hinterlässt keine Spuren, die zu ihm führen würden. Man könnte meinen, wir hätten es mit einem Profi zu tun, wenn nicht diese laienhaften Abtrennungen der Gliedmaßen wären. Manche der Leichen werden gefunden und manche bleiben verschwunden.»

«Das reimt sich sogar», kicherte Sven Milkov, um sich abzulenken. Leschke überhörte wohlwollend die Bemerkung seines Kollegen und führte seine Gedanken weiter aus. «Ich denke, für manche Leichen hatte der Täter keine Zeit. Ich meine, er hatte keine Zeit, sie weg zu transportieren. Ein Schema hat er ebenfalls nicht. Er mordet sowohl Frauen als auch Männer.» Doch das bekam Willi nicht mehr mit, denn er war schon wieder in der Küche beim Kochen.

«Aber immer nur junge Menschen, Herr Kommissar», meinte Milkov und nippte an seinem heißen Kaffee.

«Das stimmt! Das fiel mir auch schon auf. Gut beobachtet, Kleiner. Ja, und dann haben wir noch diesen goldenen Ring, den wir bei einer Frauenleiche fanden. Den gleichen Ring hat auch die Zwillingsschwester, erzählte uns deren Mutter. Doch die Schwester ist unauffindbar.» Herbert Leschke zeigte seinem jungen Partner ein Foto des goldenen Rings mit den Initialen 28. März 1985.

«Daf ift daf Geburtfdatum der beiden Frauen, haben die Ermittlungen ergeben», nuschelte Sven Milkov in Gedanken versunken.

Herbert schaute ganz verdutzt über die komische Aussprache seines Partners.

«If habe mir die Funge verbrannt», versuchte Milkov zu erklären.

Währenddessen schmatzte und schlürfte Herbert Leschke und es war nicht zu überhören, dass ihm das Gulasch und die Knödel schmeckten. «Sag mal, Willi», schrie er hinüber zur Theke. «Warum bietest du denn erst jetzt dieses herrliche Gulasch an und nicht schon viel früher?»

«Meine Ma war so lieb und hat mir ihr altes Hausrezept verraten und meinte, ich solle es mal damit versuchen. Freut mich, wenn es dir schmeckt. Den anderen Gästen scheint es ebenfalls zu munden, denn der Umsatz steigt seit Monaten», lachte Willi, während er die Theke säuberte. «Zudem habe ich jetzt eine eigene Schlachtung.»

Wenige Tage später waren Herbert Leschke und Sven Milkov bei einer Hausdurchsuchung, bei einem schon länger verdächtigen Geschäftsmann namens Peter Gilbert, zugegen. Nichts ahnend öffnete der 44 Jährige die Wohnungstüre.

«Guten Morgen. Sind Sie Peter Gilbert?», fragte Leschke bestimmt.

«Ja, das bin ich», antwortete Gilbert, erschrocken über all die Uniformierten hinter Leschke und Milkov.

«Wir haben einen Hausdurchsuchungsbeschluss. Dürfen wir hereinkommen?» Und bevor Gilbert etwas antworten konnte, drückte Leschke sich durch den Türspalt, gefolgt von den uniformierten Polizeibeamten und Milkov.

«Sie kaufen also gebrauchten Schmuck auf, wie mir zu Ohren kam», sagte Leschke und schaute sich um. Auch im Keller wurden sie nicht fündig. Weder eine Leiche, noch etwas Rotes wie ein Teppich, von dem der Faden des letzten Opfers herstammen könnte.

«Das ist richtig, ich kaufe gebrauchten Schmuck auf und verkaufe ihn ein wenig teurer wieder. Ganz legal, die Sache», erklärte Gilbert. «Ich mache die Geschäfte vorerst privat in meiner Wohnung, damit ich nicht gleich zu Anfang Miete für einen Laden bezahlen muss.»

Das klingt logisch, dachte Leschke. «Kommen Sie, wir gehen wieder», wies er seine Kollegen an. «Wir behalten Sie im Auge, Herr Gilbert.»

«Vielleicht haben Sie ja mal was zu verkaufen oder ich verkaufe Ihnen etwas Schönes für Ihre Frau Gemahlin», meinte Peter Gilbert spöttisch und schloss die Türe hinter den Beamten.

Zwei Stunden später saßen Herbert und Sven in Leschkes Lieblingskneipe am Eck und aßen das immer gleiche Tagesmenü: Gulasch.

«Mir geht eine wichtige Frage nicht aus dem Kopf», meinte Leschke und knabberte gedankenverloren an einem Stück gekochter Karotte. «Warum fehlen den Leichen immer nur bestimmte Körperteile? Gerade die, die viel Fleisch liefern, wie beispielsweise Schenkel oder Oberarme.»

«Ich bin am Essen, Meister», nuschelte Milkov und schlürfte seine Nudeln durch die Lippen.

«Schon gut, tut mir leid. Ich frage mich halt, was der Geschäftsmann Peter Gilbert mit dem Fall zu tun haben könnte. Er ist der Hauptverdächtige der Polizei.»

Beide ließen sich in Ruhe das Essen schmecken. Plötzlich schrie Milkov auf.

«Auaaaa!!! Ja, Himmelherrgott, waf war denn daf?»

«Was ist passiert?», fragte Leschke erschrocken.

«If hab auf waf Hartef gebiffen.»

Milkov spielte mit seiner Zunge an diesem harten Gegenstand in seinem Mund und bugsierte ihn aus dem restlichen Fleischbrocken an dem er zuvor kaute. Dann spuckte er das Ding in seinen Teller. Mit einer Serviette säuberte er es, als er auf einmal ganz weiß im Gesicht wurde. So schnell er konnte rannte er zur Toilette. Leschke wusste gar nicht, was los war. Bis er das Objekt aus Milkovs Mund in seinen Händen hielt.

Ein goldener Ring mit den Initialen 28. März 1985. In Willis Gulasch aus eigener Schlachtung. Er schaute zur Theke hinüber und beobachtete Willi beim Abspülen in seinem roten Pullover.

Heringsbrötchen

Brigitte Gruber

Der Nebel legte sich immer dichter über den Fluss. Nichts außer dem Ächzen der Taue, die das Schiff mit dem Ufer verbanden, war in der einsetzenden Abenddämmerung zu hören. Die Geräusche des Hafens waren schon lange verstummt und die Umrisse der Lagerhallen verschwanden langsam im letzten Licht, einzig die kahlen Arme der Lastkräne zeigten noch scharf in den grauschwarzen Himmel.

Während kaltes Neckarwasser die Sohlen der Schuhe umspülte, griff die Hand des Mannes bei jedem Schritt über die Gangbord fest um die Reling. Man konnte das Licht seiner Taschenlampe vom Ufer aus unmöglich sehen, genauso wie den jetzt nur noch wenige Meter entfernten gelben Schein aus dem Bullauge einer Kajüte. Ein plötzliches Platschen zerriss die Stille.

Der Mann verharrte in seiner Bewegung und drehte sich dann leise und wie in Zeitlupe um. Seine Augen suchten nach etwas Verdächtigem, aber alles verschwamm in den dichten Nebelschwaden und sofort breitete sich die Stille wieder aus. Er lauschte lange Sekunden. Stand wie festgewachsen mit dem schwankenden Schiff und spürte die Strömung tief unter der schweren Ladung. Wieder nur das Ächzen der Taue.

Er bewegte sich sehr langsam weiter, als würde er die feuchte Kälte dieser Herbstnacht nicht spüren und blieb direkt unter dem Bullauge stehen, stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte nach innen. Sein bärtiges Gesicht war für Sekunden vom Lichtschein erhellt und seine Augen zeigten einen seltsamen Glanz. Schnell drehte seine schwielige Hand den Griff der schmalen Tür, die sich leise knarrend nach innen öffnete und den Blick freigab auf ein zerwühltes Bett, eine mit Speck und Eiern verklebte Pfanne und schließlich eine Glühbirne, die ihr schaukelndes Licht über einen Klapptisch warf, auf dem nur ein Blatt Papier lag.

Kommissar Volkert fuhr langsam durch die verlassenen Straßen seiner Stadt. Der Nebel hing inzwischen über ganz Heilbronn, trieb von den Weinbergen herunter und legte sich über die Häuser wie ein dichtes schweres Tuch. Ein betrunkener Fußgänger suchte sich seinen Weg an den Häuserfronten entlang, unsicher und zögernd und doch getrieben von einer beklemmenden Angst. Nur unter dem diffusen Licht der Straßenlaternen war seine Gestalt deutlicher zu erkennen, verschwand dann sofort wieder in den dichten Nebelschwaden.

Kommissar Volkert hatte gerade die Innenstadt verlassen und bog jetzt in einen schmalen Schotterweg ein. Man hörte das leise Knirschen der Räder auf den Steinen und das sanfte Brummen des Motors. Er saß hinter dem Lenkrad weit nach vorne gebeugt, seine Muskeln angespannt, das Gesicht nah an der Scheibe. Aber seine Scheinwerfer konnten den Nebel kaum noch durchdringen. Und so stoppte er den schwarzen Audi, griff nach seiner Waffe, öffnete die Tür und stieg aus dem Licht des Innenraums hinaus in die Nachtluft. Langsam ging er den Weg entlang. Es war eiskalt und windstill. Nach wenigen Metern schon war seine ganze stämmige Gestalt nur noch schemenhaft zu erkennen. Mit jedem Schritt wurde die Stille um ihn herum dichter. Er fühlte wie die Feuchtigkeit sich wie eine zweite Haut über seinen Körper legte, sah wie neben ihm die verschwommenen Umrisse knorriger Büsche auftauchten, um nach wenigen Sekunden wieder in der Bewegung des Nebels zu verschwinden.

Er lief weiter, schien die bedrohliche Stimmung nicht zu bemerken, hatte nur ein Ziel vor Augen. Den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, hörte er plötzlich das Geräusch, auf das er gewartet hatte. Die Wellen. Er trat noch wenige Schritte weiter nach vorne und stand jetzt so nah am Neckarufer, dass seine Schuhspitzen über die Kante der Kaimauer ins Leere ragten. Unter seinen Füßen schwappte das Wasser. Die Konturen seiner Gestalt waren verschwommen, manchmal vollkommen vom Nebel verschluckt. Sein Oberkörper im kurzen offenen Mantel neigte sich weit über die Wasseroberfläche, und wäre es Sommer gewesen, hätte man denken können er würde gleich springen. Aber er stand wie versteinert und konzentrierte seinen Blick in die trübe Dunkelheit unter ihm. Genau hier, er war sich sicher, musste die Leiche unter der Wasseroberfläche zu finden sein. Ein Angler hatte vollkommen geschockt die Polizei angerufen, mit zittriger Stimme dem Beamten erklärt, er hätte gerade seine Angeln zusammengepackt, als letztes die Reuse ans Ufer gezogen, da hätte ihm eine Hand aus dem Wasser heraus zugewinkt. Eine kalkweiße Hand. Langsam und im ständig gleichen Rhythmus. Ja, er wäre sich sicher, eine Leiche hing an seinem Angelplatz und diese schreckliche Hand bewegte sich wie zum Gruß in der Strömung. Nein, keinen Augenblick länger würde er hier an dieser Stelle bleiben, der Nebel käme immer dichter auf ihn zu und außerdem sei er auch schon fast am Auto. Nein, er würde nicht auf die Polizei warten, sondern sofort nach Hause fahren und einen Schnaps trinken.

Und so stand jetzt Kommissar Volkert allein an diesem Angelplatz, eine einsame Gestalt auf der Suche nach dieser Wasserleiche.

Er hatte schon lange aufgehört, die Leichen in seinem Leben zu zählen. Aber in seinem Kopf lagen sie alle aufgereiht, wie in einzelne Schubladen hineingeschoben. Und nur manchmal, nachts in seinem schlimmsten Träumen, kamen einige herausgekrochen, um ihn zu quälen mit ihren Geschichten. Dann schreckte er auf, schweißgebadet, entsetzt, stand auf, stellte sich unter die eiskalte Dusche und versuchte diese Erinnerungen abzuspülen. Trocknete dann seinen bulligen straffen Körper, der auf die Frauen einen so eigenartigen Reiz ausübte. Sie fühlten sich angezogen von seiner Kraft und seiner animalischen Erotik. Doch wenn sie dann in seinem markanten Gesicht in diese graugrünen Augen blickten, die vielen grauenvollen Nächte und diesen eisernen Willen entdeckten, trauten sich nur noch die wenigsten sich auf ein Abenteuer mit ihm einzulassen. Und so blieb er der einsame Wolf, dem die Jagd nach den Mördern dieser Welt wichtiger war als jede schöne Frau. So manche Nacht trieb es ihn dann unruhig durch die Straßen, aufgewühlt, besessen. Und so war es Zufall gewesen, dass er schon ganz nah am Hafen gewesen war, als ihn der Alarm erreichte. Hier am Ufer des dunkel dahinströmenden Neckars, in der Nähe des Kohlekraftwerks stand er nun und musste auf die Taucher warten. Er lief einige Meter auf der Kaimauer entlang, hin und her, suchte nach irgendwelchen Beweisen. Lauschte in die Stille hinein. Seine Augen streiften durch die Nebelschwaden. Nichts.

Aus der Ferne hörte er leise die Sirenen, langsam kamen sie näher, erst sehr spät sah er die Blaulichter der Fahrzeuge, die kurz vor der Kaimauer stoppten. Der erste Taucher ließ sich sofort an der mit Algen bedeckten Uferwand hinab und war augenblicklich vom Wasser verschluckt. Kurz war das Rot seines Tauchanzugs noch zu erkennen gewesen, aber jetzt konnte man nur noch vage die Leine sehen, die wie eine Angelschnur über die Handschuhe des Signalmanns in die Tiefe spulte und die beiden Kollegen verband. Schon gingen die nächsten beiden Taucher ins Wasser, um fächerartig das ganze Ufergebiet abzusuchen. Lange Minuten verstrichen, bis das eindeutige Rüttelzeichen eines Tauchers kam. Inzwischen war auch der Notarzt eingetroffen, stellte sich breitbeinig neben den Signalmann, als der gerade anfing mit voller Kraft die Leine zurückzuziehen. Auch der Kommissar war näher gekommen. Seine Augen starrten auf den Punkt, an dem die Leine Meter für Meter aus dem Wasser kroch.

Ein kalkweißes Ohr, der Gehörgang mit grauem Schlamm gefüllt, ein gespaltener Hinterkopf mit klatschnassen Haaren, dann erst stießen Schultern in blau kariertem Stoff aus dem Wasser. Der Taucher hielt den Mann fest im Arm. Das Gesicht des Toten war ein einziger qualvoller Schrei, die Augen aufgerissen, der Mund weit offen und die durchscheinende Haut war bläulich und an mehreren Stellen sogar aufgerissen. «Er hing nur ungefähr einen Meter unter der Wasseroberfläche fest.» Der Taucher atmete heftig. Die Leiche lag jetzt auf der Kaimauer und der Notarzt beugte sich über ihn. «Vermutlich ist der Tod vor vier bis sechs Stunden eingetreten. Sein Alter schätze ich auf 25.»

Der Kommissar nickte nur. «Hier, der Totenschein!» Der Kommissar steckte das Blatt ungelesen in seine Manteltasche. Der Notarzt wandte sich zum Gehen. Er hatte mit diesem Kommissar Volkert in den letzten fünf Jahren, in denen er der Mordkommission vorstand, nur recht wenig gesprochen, obwohl es nicht wenige Mordfälle im Raum Heilbronn in dieser Zeit gegeben hatte. Beide hassten unnötiges Geschwätz.

«Ein Handy, sonst nichts!» rief der Polizist, der den Toten jetzt nach Ausweispapieren untersucht hatte. Er ließ es in einen Plastikbeutel gleiten, an dessen Boden sich sofort Wasser aus dem Gehäuse sammelte. «Wir rufen den Leichenwagen und machen dann alles fertig hier.»

Der Weg zurück zu seinem Audi reichte Volkert für eine Reval. Es war noch dunkel, der Nebel hing noch immer dicht über dem Boden, aber im Osten zeigte sich am Himmel eine rötliche Färbung. Die Nacht war vorbei und Kommissar Volkert fuhr langsam Richtung Präsidium, aus dem Radio drang die rauchige Stimme Joe Cockers an seine Ohren und er sehnte sich nach einer Tasse heißen schwarzen Kaffee.

Zur gleichen Zeit in Rotterdam auf einem spärlich beleuchteten Parkplatz stieg eine junge Frau zögernd aus ihrem Auto. Lilly Toons blaue Augen blickten nervös auf das Display ihres Handys. «Was ist nur los?» Unruhig strich sie ihre Locken aus dem Gesicht und nahm nur unbewusst den stärker werdenden Wind wahr, der den Geruch von aufkommendem Sturm über der Nordsee mit sich trug. Wellen schlugen an die Mole der Havenstraat in Delvshafen und ein strenger Geruch nach Fisch erfüllte die Luft. Die Dunkelheit hockte noch in jedem Winkel dieses alten Viertels und Lillys hastige Schritte suchten sich ihren Weg über den Asphalt, genau in der Mitte zwischen den hohen Toren der Lagerhallen und den Kränen. Lilly musste an ihren Lars und seine Geschichten denken, Geschichten von der Arbeit auf den dunklen Docks hier in Rotterdam, aber auch von den wunderschönen Schiffen aus fernen Ländern mit ihren geheimnisvollen Menschen und Ladungen. Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht, während sie sich sanft über den kugelrunden Bauch strich. Lange hatten sie gestern Abend telefoniert. Lars würde richtig reich werden, er tat ganz geheimnisvoll. Er wäre einer wirklich heißen Sache auf der Spur und danach könnten sie endlich heiraten. Und sie sah in Gedanken die Bucht auf der Insel Ameland vor sich, dahinter der reetgedeckte Bauernhof ihrer Großmutter, meinte schon das Lachen ihrer Eltern zu hören, wenn ihr kleines blondgelocktes Mädchen vor Glück beim Schaukeln juchzte. Lars würde die Feriengäste mit einem knallgelben Motorboot vom Festland herüberholen und zu der neuen Ferienhütte bringen.» Aber sofort kam ihr Herzklopfen zurück. Irgendetwas stimmte heute nicht.

Aus der Dunkelheit vor ihr tauchte plötzlich ein Mann auf, der fast unsichtbar im Schutz der Lagerhallen entlang geschlichen kam. Für einen winzigen Augenblick konnte sie sein Gesicht erkennen und auch er blickte in ihre Augen.

«Herr Olavson?» Er zögerte fast einen Moment zu lange mit der Antwort: «Ja, guten Morgen. Ich habe es sehr eilig … ein Termin draußen im Europoort. Also dann, bis morgen!» Lilly war stehen geblieben und zog den Schal enger um ihren Hals. Ihr war plötzlich richtig kalt. Umso schneller setzte sie jetzt ihre kurzen Beine in Bewegung, sie wunderte sich schon seit Tagen über diesen eigenartigen neuen Kollegen im Außendienst.

Ihr Atem ging schnell und sie wagte nur einen vorsichtigen Blick über die Schultern zurück, doch der Weg lag einsam und ohne Bewegung im Wind. Es war unmöglich für sie, die Gestalt hinter dem abgestellten Lieferwagen zu entdecken und auch als sie in die letzte Seitenstraße kurz vor ihrer Firma einbog, bemerkte sie nicht, dass der Mann ihr folgte.

Ruben van Morten telefonierte, als Lilly über den Gang an der Glastür seines Büros vorbeiging. Sie hob grüßend die Hand und nickte ihrem Chef zu. Auf ihrem Schreibtisch stapelten sich Ladelisten und Unmengen von Rechnungen. Sie seufzte, schaltete den Computer ein und auf dem Bildschirm erschien eine Windmühle und davor alle drei Schiffe der Reederei van Morten.

Es war zehn vor neun, pünktlich wie jeden Morgen, als Lilly zum Kaffeekochen die Dose öffnete und mit einem tiefen Atemzug den herrlichen Duft einzog. Plötzlich stand van Morten wie aus dem Boden gewachsen hinter ihr in der kleinen Küche.

«Frau Doven ist krank heute. Sie müssen also ein bisschen schneller arbeiten.» Eine Wolke von Zigarettenrauch wallte über ihren Kopf und im Hinausgehen sagte van Morten mit seiner tiefen Stimme: «Holen Sie mir gleich den Ordner Lükkemarken aus dem Keller.» Lilly war enttäuscht, dass ihre Kollegin ausgerechnet heute krank sein musste und sie nicht mit ihrer fröhlichen Ausstrahlung von ihren eigenen trüben Gedanken ablenken würde. Es war also sonst niemand da, der sich auch nur um das Telefon kümmern konnte. Also stellte sie ihre Vespertüte in den Kühlschrank und war sich sicher, dass heute kaum Zeit bleiben würde, ihre wunderbar sauren Heringsbrötchen mit Genuss zu essen.

In die Keller dieser alten Handelshäuser führten immer schmale, eng gebogene Treppen. Bei jedem Schritt hinunter knarrten die Holzstufen und der muffige Geruch nach altem Papier und verstaubten Regalen zwickte Lilly in der Nase. «Warum Lükkemarken? Das ist doch sicher wieder nur Schikane ...», grübelte sie und bemerkte erstaunt, dass direkt unter dem hohen Regal mit «L» schon eine kleine Leiter stand. Ein Frösteln lief ihr zwischen den Schultern hinab und sie fühlte die Kühle des Kellers wie Eiswürfel im Hals. Obwohl das Licht trüb war, erkannte sie sofort den richtigen Ordner hoch oben auf der linken Seite. Vorsichtig stieg sie die Sprossen hinauf, zögerte kurz und strich mit ihrem Zeigefinger einen flotten Strich in die Jahrzehnte alte Staubschicht, bevor sie sich an einem Regalbrett festhielt, um mit der freien Hand nach dem Ordner zu greifen. Aber in dem Moment, als sie sich auf die Zehenspitzen streckte, weil sie doch eher eine kleine Person war, ging plötzlich das Licht aus. Eine winzige Sekunde nur konnte sie sich noch festhalten, als unter ihren Füßen die Leiter weggestoßen wurde. Es blieb ihr nicht einmal mehr Zeit zum Schreien, bevor ein gewaltiger Schlag auf den Kopf ihr das Bewusstsein nahm. Aber auch einen gellenden Schrei hätte niemand aus diesem tiefen Keller mit den dicken Wänden hören können.

Kommissar Volkert saß an seinem Schreibtisch im Polizeipräsidium Heilbronn und vor ihm lag der Obduktionsbericht und die Nahaufnahmen des Toten. Ein junger kräftiger Mann, muskulös, kaum Fett unter der Haut, 1,82 groß und breite Schultern, blaue Augen, rotblonde Haare, vollkommen gesund, die kräftigen großen Hände ließen darauf schließen, dass er an harte Arbeit gewöhnt war. Eindeutige Todesursache war ein Schlag auf den Hinterkopf, der die Schädeldecke gespalten hatte. Die Tatwaffe war vermutlich ein sehr scharfes Beil, der Täter war Rechtshänder und ebenfalls sehr kräftig. Keinerlei sonstige größere Verletzungen am Körper, außer Abschürfungen durch Kontakt mit Treibgut unter Wasser, kleine Bissstellen an freiliegenden Hautflächen durch Fische.

Kein Wasser in der Lunge. Kein Ehering, kein Ohrring, auch kein anderer Schmuck am Körper. Sein Alter lag zwischen 24 und 27 Jahren. Der Tod war unmittelbar nach der Kopfverletzung, um ca. 23 Uhr am 9. Oktober 2009 eingetreten.

Der Kommissar lehnte sich zurück und ließ seine Augen durch das Fenster hinaus in die klare und trockene Luft dieses Spätnachmittags wandern.

Der Wartberg lag erhaben in den letzten Sonnenstrahlen aus dem Westen, an seinen sanft ansteigenden Weinbergen standen Tausende von Rebstöcken mit reifen dunkelblauen Trollingertrauben.

Diese schwäbische Landschaft erschien so friedlich, als wäre alles leicht und freundlich. Und doch lag hier ein weiterer Beweis menschlicher Grausamkeit vor ihm auf dem Tisch. Wieder ein Mord in Heilbronn an einem Tag wie heute, der scheinbar genauso leicht und freundlich zwischen einem Morgen und einem Abend vergangen war.

Es klopfte kurz und augenblicklich betraten seine Kollegen Marie und Tom nacheinander den Raum. «Der Tote heißt Lars van Holmen», sagte Marie «und ist ein Holländer, wie der Name schon vermuten lässt. Die einzige Telefonnummer, die er angerufen hatte, mehrmals täglich, auch spät nachts, gehört zu einer Lilly Toon. Wahrscheinlich ein Liebespaar, denn beide sind unter dem gleichen Wohnsitz gemeldet, Erasmusstraat 79, Rotterdam.»

Volkert atmete hörbar aus, sein erster Impuls war Mitleid mit dieser Lilly, aber so oft waren die Hintergründe von Kapitalverbrechen Beziehungstaten. Vielleicht war diese Frau mitschuldig. «Wir müssen sachlich bleiben. Diese Ergebnisse sind schon mal sehr wichtig.»

Durch die geschlossene Bürotür waren gedämpfte Geräusche zu hören: Telefonklingeln, hastige Schritte, Gesprächsfetzen.

Marie stand am Fenster und draußen hinter ihrem Rücken breitete sich langsam ein tristes Grau im Himmel aus. Volkert knipste die Schreibtischlampe an. Im gelben Lichtschein der Lampe lagen seine Hände mitten in den grausamen Aufnahmen eines jungen Mannes, dessen Geschichte sich nun öffnete wie die ersten Seiten eines Buches.

«Und was hast du, Tom?»

«Auf dem Handy waren auch Fotos gespeichert. Fotos von Computern.» Tom sortierte alle Bilder nebeneinander an die Magnettafel. «Ungefähr 1.000 Bildschirme und Computer über- und hintereinander. Alle in einem Frachtcontainer und alle ohne Verpackung.» Volkerts Gesicht veränderte sich. «Na, dann ist alles klar!»

Einen Moment lang zögerte Marie. «Also tut mir leid, aber was ist klar?»

Tom blickte ihr direkt in die Augen: «Es gibt einen riesigen illegalen Markt für Elektroschrott, der als Secondhand- oder Recyclingware deklariert wird und so aus Deutschland ausgeführt werden darf. Meistens in Drittländer … Nach Asien oder Afrika. In Lagos zum Beispiel, einer Riesenmetropole in Nigeria, arbeiten rund 25.000 Menschen in Rohstoffküchen. Dort kochen auch Frauen und Kinder ungeschützt mit primitivsten Säurebädern Kupfer, Gold und Silber aus den Platinen defekter Computer. Dabei werden aber auch Quecksilber, Cadmium und Blei gelöst, die die Menschen schwer belasten und krank machen.» Marie hing an seinen Lippen.

«Ich habe meinen kaputten Laptop erst letzten Monat zum Recycling gebracht. Verschwinden die vom Recyclinghof?»

«Möglich, ein echtes Recycling in Deutschland ist ungefähr viermal so teuer wie diese graue Entsorgung. Also ein riesiger Geldmarkt. Es gibt Angebote skrupelloser Händler, die 400 brauchbare Computer nur anbieten, wenn gleichzeitig 400 Schrottrechner genommen werden.» Marie hatte sich inzwischen auf einen Stuhl gesetzt. «Also Erpressung. Unsere Wasserleiche wollte selbst an Geld kommen ...»

«Ich denke diese Lilly Toon ist in Gefahr!» Volkert saß jetzt kerzengerade auf der vorderen Kante seines Schreibtischstuhls, «Marie gib mir ihre Nummer!»

«Hier, also, aber ich ... ja, ich habe dort in Holland schon angerufen …» «Was hast du ihr gesagt?»

«Nichts, es ist niemand dran gegangen. Kein einziges Mal. Dann habe ich die Polizei in Rotterdam verständigt. Ein Olav Smits war sehr interessiert. Er kümmert sich darum. War das alles falsch?»

«Mal sehen …»

«Hier.» Tom gab dem Kommissar ein Fax. «Der Fundort von Lars, seine Adresse und die verdächtigen Fotos lassen eindeutig vermuten, dass er auf einem Frachtschiff angeheuert hatte. Vielleicht tuckert sein Mörder gerade gemütlich den Neckar oder schon den Rhein abwärts.» Volkerts Zeigefinger glitt langsam über das Fax der Heilbronner Schleuse. Aufgelistet waren alle Schleusenvorgänge der letzten drei Tage mit genauer Uhrzeit, Name des Schiffes, Heimathafen, Zielort und Ladung. Vier Holländer, darunter aber nur ein Containerschiff, die «Königin Beatrix», Reederei van Morten. Der Kommissar griff zum Telefon.

Auf dem schwimmenden Revier der Wasserschutzpolizei im Heilbronner Hafen war Schichtwechsel. Oberwachtmeister Häberle hatte gerade seine erste Zigarre angezündet und den Heizkörper neben seinem Schreibtischstuhl voll aufgedreht, um seinen vom Rheuma geplagten Beinen eine angenehme Spätschicht zu bieten, als sein Telefon klingelte.

Im Laufe des Gesprächs löste sich zunächst sein Oberkörper von der Stuhllehne, seine Schultern spannten sich, und am Ende stand er in voller Größe vor seinem Schreibtisch, um mit einem klaren «Ja, Herr Hauptkommissar Volkert, wir werden sofort die Sache in Angriff nehmen. Die «Königin Beatrix» wird gestoppt – egal, wo sie ist!»

Lilly Toon lag bewegungslos am Kellerboden des alten holländischen Handelshauses. Die Schmerzen strömten vom Kopf aus bis in die Fußspitzen. Verzweifelt wollte sie nach einem einzigen wichtigen Gedanken greifen, der ihr aber immer wieder wie ein zappelnder Fisch entwischte. Ihr Bewusstsein kippte wieder und wieder weg, doch in ihrem so ruhig daliegenden Körper kämpfte sie einen verzweifelten Kampf gegen das Absinken in ein dumpfes Nichts. Ein ganz plötzlicher Schmerz, noch stärker als der in ihrem Kopf, ließ sie zusammenzucken. Das Kind in ihrem Bauch hatte beschlossen, Lillys Körper zu verlassen.

Kommissar Volkert saß allein in seinem Büro in der Karlstraße. Im Polizeipräsidium war es ruhiger geworden, nur noch vereinzelt waren Kollegen im Gebäude und taten ihren Dienst. Volkert saß mit geschlossenen Augen und konzentrierter Miene an seinem Schreibtisch, wichtige Gedanken wirbelten durch seinen Kopf. Trotz offenem Fenster war ihm heiß. Er spürte wieder dieses Fieber, das ihn immer packte kurz bevor er einen Mordfall löste. Er dachte gerade an diese Lilly, als ein Anruf aus Holland kam. Das Gespräch mit Oberkommissar Olav Smits dauerte nur wenige Minuten.

Das «Nederlands Dagblad» knisterte, als Ruben van Morten umblätterte. Mit den leiser werdenden Geräuschen aus den umliegenden Lagerhallen verebbte die Hektik des Tages, immer mehr Hafenarbeiter liefen müde den Parkplätzen zu und langsam legte sich wieder die Dunkelheit zwischen die alten Gebäude. Draußen über der Nordsee wehte nur noch ein schwacher Westwind. Auf seiner Telefonanlage blinkte ein Licht und die Nummer seines Kapitäns der «Beatrix» leuchtete auf.

«Chef, ich hab sein ganzes Zeug aus der Kajüte verschwinden lassen. Es gibt keine Spur mehr von Lars.»

«Ist irgendwas verdächtig?»

«Alles ganz normal. Die deutschen Bullen wissen noch nix, das dauert bis der an die Oberfläche kommt ...»

«Und der Neue ..?»

«Frag besser nicht. Der ist immer noch besoffen, aber er war der einzige in der Hafenkneipe der mitfahren wollte … und Chef, der Lars und deine Sekretärin … also, die weiß vielleicht zuviel …»

«Wir telefonieren morgen wieder.»

Van Morten schloss die unterste Schublade seines Schreibtischs auf und griff hinein. Er holte seine Walther P99 heraus und legte sie vor sich auf den Mahagonitisch. Er liebte diese Waffe. Ihre kompakte Form, das matte tiefschwarze Metall. Aber das eigentlich Faszinierende war die Macht und die rohe Gefahr, die von ihr ausging. Er atmete ruhig und streckte dabei sein kantiges Kinn ein wenig nach vorne und oben. Die Lippen schlossen sich zu einer geraden Linie, als er an die aufgerissenen Augen seiner ersten Frau dachte, die tatsächlich in ihrer Naivität geglaubt hatte, er würde sie für ihre Affäre nicht bestrafen. Die Waffe war geladen und auch einige Male seither von seiner Jacht aus an Seevögeln getestet. Heute Abend noch, wenn die ganze Sache erledigt war, würde er ins «Delphin» an der Uferpromenade gehen und einen frischen Hummer genießen. In diesem Augenblick klingelte es zweimal kurz und einmal lang an der Tür.

«Olavson?»

«Ich brauche dringend Unterlagen für meinen ersten Termin morgen.» Er lief eilig den Gang entlang in sein kleines Büro, wühlte dort in einem Stapel Papier. Nach kaum einer Minute war er fertig. Statt jedoch an van Morten vorbei, den geraden Weg hinaus zu nehmen, bog Olavson in die Küche ein, riss den Kühlschrank auf und sortierte scheppernd den Inhalt durcheinander.

«Was machen Sie denn da?»

«Hatte keine Zeit zum Essen heute – ah, hier sind ja noch Heringsbrötchen. Hatte Frau Toon heute keinen Hunger?»

Er biss herzhaft in die Zwiebeln und den sauren Fisch. «Also, bis morgen. Schönen Abend noch.» Und damit war er im Treppenhaus verschwunden. Van Morten lauschte nach unten und lächelte beruhigt, als er das laute Klacken der Haustür hörte, dann löschte er das Licht.

Lilly spürte keine Schmerzen mehr. Sie lag in dem Kellerverlies, einem Sichelmond gleich um ein leise wimmerndes Bündel. Ihre Lippen berührten die flaumige Stirn ihrer Tochter, während der Geschmack von Blut auf ihrer Zunge lag. Wie ein Reh sein Kitz ableckt, hatte Lilly das winzige Köpfchen in der tiefen Dunkelheit gereinigt und wusste so, wie zart und schön ihr Baby war. In diesem Augenblick hörte sie schleichende Schritte und sah einen wandernden Lichtstrahl zwischen Tür und Boden. Tränen stiegen in ihre Augen und sie faltete ihre gefesselten Hände. Doch das Licht war plötzlich verschwunden und jetzt polterten laute, energische Schritte die Treppe herunter, der Lichtschalter knackte, innen wurde es hell und die Tür wurde aufgestoßen. Van Morten zielte auf Lillys Kopf, zögerte nur für den Bruchteil einer Sekunde, als er die Blutlache und das Baby sah. Genau jetzt entriss ihm jemand von hinten mit einem perfekten Polizeigriff die Waffe. Blitzschnell wurde van Morten auf den Boden geworfen, seine Arme nach hinten gerissen und mit einem lauten Klacken schlossen sich die Handschellen.

«Herr Olavson?» flüsterte Lilly mit weit aufgerissenen Augen.

«Ja, Sie kennen mich als Olavson, aber ich heiße Olaf Smits, Wirtschaftsdelikte Kripo Rotterdam.»

Der Nebel löste sich langsam über dem Fluss. In der einsetzenden Morgendämmerung war immer noch nichts zu hören außer dem Ächzen der Taue, die das Frachtschiff mit dem Ufer verbanden. Kaltes Neckarwasser spülte um die Schuhe des Mannes, der eilig auf den gelben Lichtschein aus dem Bullauge der Kajüte zulief. Er stieß die schmale Tür nach innen auf und sein Blick fiel auf den Klapptisch, über dem wie tot der Oberkörper seines Matrosen lag. Er rüttelte fest an seinen Schultern, riss ihn aus traumlosem Schlaf und zog gierig unter seinem bärtigen Gesicht mehrere handgeschriebene Blätter Papier hervor, knallte ihm eine Tüte voll mit frischen Heringsbrötchen vor die Nase. «Ist dein neuer Krimi gut geworden?»

Mord mit Ankündigung

Dietrich von Bern

Hauptkommissar Arnold saß am Schreibtisch. In fünf Minuten war Feierabend. Der kleine Ort Stadtholm in Thüringen bot nicht viel Aufregung. Fünftausend Seelen war ein überschaubares Potential für kriminelle Verfehlungen. Allerdings kamen noch ein paar Dörfer und die Autobahn A4 hinzu. Der Blick, der die Uhr traf wurde von Unruhe begleitet. Wie zur Bestätigung klingelte das Telefon.

Arnold nahm den Hörer in die Hand.

«Polizeiinspektion, vier, Hauptkommissar Arnold?»

Am Ende der Leitung war ein Schnaufen zu hören.

«Ich möchte einen Mord ankündigen!»

«Da müssen sie bei der Zeitung anrufen. Nicht meine Zuständigkeit, Herr ... äh wie war ihr Name?»

«Nennen sie mich Müller.

«Bitte, Herr Müller, ich komme erst wenn es schon einen Toten gibt, nicht vorher.»

Arnold war Profi. Nur keine Aufregung, erst einmal klären, wer Chef im Ring ist.

«Es stört sie also nicht, wenn ich jemanden umbringen will?» Eine Frage aus der Enttäuschung klang.

«Ich bin jetzt seit dreißig Jahren im Amt, Herr Müller. Da ist Mord Routine. Insofern hält sich meine Aufregung in Grenzen. Es sei denn, ich kenne das Opfer? Wer soll es denn sein?»

«Meine Schwiegermutter!»

«Ah ja …», eine Pause folgte. Arnold brauchte einen Plan.

«Sie hat es sicher verdient. Was sind denn die Gründe?» Sollte doch Müller erst einmal Dampf ablassen.

«Sie ist ein Ungeheuer, das mir das Leben zur Hölle macht!»

«Einzelheiten, Herr Müller. Ein Mord braucht schon eine Begründung. Wenn sie da einen Irrtum begehen ...», wieder eine Pause mit Betonung, «... dann ist der nicht mehr zu korrigieren. Glauben sie meiner Berufserfahrung. Einmal Toter, immer Toter. Da tragen sie eine Verantwortung.»

«Die übernehme ich, Herr Hauptkommissar, das können Sie mir glauben.» Trotz und Wut schwangen in Müllers Stimme. «Dieser Drachen! Nur ein Fakt, der alles sagt. Nach zehn Jahren bin ich für die Alte immer noch «Herr Müller». Hauptkommissar! Die kanzelt mich seit Jahren mit «Sie» ab. Frechheit!»

Der Hauptkommissar begann eine Brücke zu bauen.

«Wissen Sie, Herr Müller, ich hatte auch mal eine Schwiegermutter. Auch ein Problemfall. Aber das hatte Vorteile. Die Attacken der Schwiegermutter waren die Gewissensbisse meiner Frau. Die hat sie dann natürlich abarbeiten wollen. Also DAS war nicht von Nachteil. Was macht den Ihre Frau?»

Stöhnen. «Die hält zu ihrer Mutter. Deshalb muss die Ziege weg. Das verstehen Sie doch jetzt oder?»

Arnold baute seine Brücke aus.

«Sie treibt also einen Keil in Ihre Beziehung!»

Ein Seufzer der Erleichterung drang durchs Telefon.

«Sie verstehen mich. Und deshalb habe ich auch angerufen. Umbringen ja, ich weiß aber noch nicht wie. Mir fehlt es an Erfahrung.»

Der Hauptkommissar ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

«Die Erfahrung vermuten Sie bei mir?»

«Ja!»

«Sie wollen nicht erwischt werden?»

«Nein, da habe ich keine Angst. Mein Name ist ja in Wirklichkeit nicht Müller.»

«Ach so. Sie Schlitzohr.»

Ein Grinsen kroch durch den Hörer. «Ja, ich weiß.»

«Worum geht es dann?»

«Sie soll keine Leiden ertragen. Nicht, dass mein Mangel an Erfahrung die Sache in die Länge zieht. Das muss nicht sein.»

«Ihr Mitgefühl spricht für Sie. Haben Sie denn schon eine Vorzugsvariante entwickelt?» Der Hauptkommissar tastete sich vor. In die Stimme am Ende der Leitung kam Schwung.

«Also gefallen könnte mir die Variante mit der Badewanne und dem Föhn.»

«Und welche Zweifel haben Sie noch?»

«Na ja, die Frage der Sicherheit. Gibt es keine Chance zu überleben und die Dauer. Wie gesagt, sie soll ja keine Qualen ertragen. Sie mit ihrer Berufserfahrung können das sicher einschätzen.»

«Na ja, na ja ...», Arnold packte Grübelpotential in seine Stimme. «Wenn wir kommen, hat das Opfer in der Regel schon ausgezappelt. Die Länge dieses Rumplätschern´s? Tja? Ich denke aber trotzdem, die Schnelligkeit der Variante als Qualität kann angenommen werden.»

«Und Sicherheit, dass es klappt?»

«Also aus der Wanne hat es noch keiner geschafft.»

«Klingt wie Musik in meinen Ohren...», ein Quieken der Freude drang aus dem Hörer.

«Nur so, um an alles zu denken. Wie kommen Sie denn mit einem Föhn an die Wanne, in der Ihre Schwiegermutter badet?»

«Sie wohnt doch auch in unserem Einfamilienhaus.»

«Und?»

«Ich muss ihr immer das Badewasser einlassen. Ein Schaumbad der Düfte. Diese Kuh. Da lege ich den Föhn vorher rein. Dem Schaum sei Dank. Die Sicherung habe ich erst einmal abgeschaltet.»

«Und dann Sicherungsschalter Richtung Hölle?»

«Und dann Sicherungsschalter Richtung Hölle! Sie hat es verdient.»

«Ich weiß nicht, ich weiß nicht?» Der Hauptkommissar begann die gebaute Brücke zu betreten.

«Wollen Sie es sich nicht noch einmal überlegen?»

«Wozu?»

«Vielleicht ist noch Hoffnung?»

«Das glaube ich nicht.»

«Lassen Sie es mich beurteilen!»

«Wie das?»

Die Ungläubigkeit war aus Müllers Stimme zu hören.

«Ich schaue mir Ihre Schwiegermutter auf dem Revier an. Das ganze Wochenende. Ich stecke sie in den Knast.»

«Mein Schwiegermutter ein Wochenende im Knast?» Das Beben in der Stimme verriet, dass der Gedanke bei Müller Genuss verbreitete. «So richtig bei Wasser und Brot und einer Pritsche mit der Härte von Beton. Und keine Decke?»

«Wenn Sie wollen, lasse ich noch das Licht weg.»

«Jaaa ...», Müllers Begeisterung war nicht zu überhören. «Aber mit welchen Grund?»

Die Brücke trug, Arnold kam zum Schluss.

«Passen Sie auf. Sie drehen das Radio so auf, dass die Wände wackeln. Ich schicke eine Streife wegen Ruhestörung. Sie sagen, dass war Ihre Schwiegermutter und wir nehmen sie mit.» Arnold wartete einen Moment, dann schlug er zu.

«Wo soll die Streife hinfahren?»

«Eigenheimweg 8D!»

«Wir kommen!»

Arnold legte auf und drückte eine Taste der Rufanlage.

«Jungs, schwingt euch in die Kiste, Eigenheimweg 8D und bitte mit Tempo.»

«Geht in Ordnung Chef.» Ein Quaken sprach nicht für die Qualität der Technik.

Hauptkommissar Arnold erhob sich. Na also. Er hatte schon Angst gehabt, es wird nichts mehr.

Arnold ging zum Schrank. Jetzt musste Anzug gegen Anzug getauscht werden. Dienstklamotten gegen Ausgehanzug.

Hilde kam.

Keine Ahnung was Müller hat. Die Schwiegermutter ist in Ordnung. Arnolds Typ. Vor vier Monaten hatte es begonnen. Müller rief an. Kumpel Alkohol im Schlepptau. Das Gespräch lief wie eben. Dann hatte Arnold die Schwiegermutter abholen lassen. Es war Zuneigung auf den ersten Blick. Für Beide. Das Wochenende und die Kreisstadt gehörte ihnen. Anschließend kam Freitag für Freitag der Anruf von Müller. Gesprächsritual und ab die Maus. Seit Müller am Wochenende seine Schwiegermutter im Knast wähnte, hatte er Gelassenheit entwickelt. Sagt Hilde.

Trotzdem, eine Lösung für die Ewigkeit war das nicht.

Vielleicht sollte man Müller mal einen Föhn in die Wanne schmeißen …

Bratwurst mit Senf

Ursula Schmid-Spreer

25 Jahre sind wir verheiratet. Schon lange nimmt er keine Rücksicht mehr auf mich. Ungeniert rülpst er. Besonders, wenn er seine heiß geliebten Bratwürste in sich rein schlingt. Der Senf läuft ihm dann an den Mundwinkeln herunter. Ein Biss und das Fett spritzt und der Senf tropft. Dick ist er geworden und er stinkt. Aber jetzt ist genug. Deshalb ziehe ich einen Schlussstrich. Ich gehöre einer Generation an, für die Sicherheit groß geschrieben wird. Und Heinz-Rüdiger ist Beamter, Beamter auf Lebenszeit.

Wer von uns beiden hat sich wohl verändert? War meine rosarote Brille im Laufe der Zeit dunkler geworden? Oder war Heinz-Rüdiger erst mit den Jahren zum Proll mutiert?

Im Frühjahr muss es schön sein zu sterben. Da werden Feld und Wald grün und die Menschen krabbeln aus ihren geheizten Wohnungen in die Natur. Frühlingsfeste gibt es viele. Ich glaube, das wird Heinz-Rüdiger gefallen, wenn er seinen letzten Atemzug auf dem Volksfest macht.

Er mag die Atmosphäre, die dort herrscht. Zweimal im Jahr findet am Reichsparteitagsgelände am Dutzendteich das Frühlings- bzw. Herbstfest statt.

Mein Männe liebt Bratwurstsemmeln mit viel Senf, das Gejohle der Menschen, wenn sie Karussell fahren und natürlich das Bier, das er dann reichlich in sich reinschüttet.

Ich werde ihn auf dem Nürnberger Frühlingsfest umbringen. Da fällt es nicht so auf und schließlich bin ich ja auch kein Unmensch. Er soll mit einem Lächeln auf den Lippen sterben. Und ich werde lächeln, wenn meine erste Witwenpension auf mein Konto überwiesen wird.

Anfangs schlenderten wir noch langsam die Allersberger Straße hinauf. Als wir am Blauen Haus vorbei kamen, wurde sein Schritt schon etwas schneller und er nahm die Abkürzung durch das Nürbanum. Etwa 200 m vor dem Eingang legte Heinz-Rüdiger einen Spurt hin, sodass ich ihm kaum folgen konnte.

«Was rennst du denn so, Heinz-Rüdiger?»

«Der Duft von Bratwurst zieht mich magisch an.»

«Wir haben doch eben erst gegessen.»

«Ich hab schon wieder Hunger!»

Ehe ich mich richtig versah, stand er bei der ersten Bratwurstbude. Während er «Drei im Weckla» orderte, betrachtete ich interessiert eine Tafel, die besagte, dass das Volksfest im Jahre 1826 zu Ehren und zum Geburtstag des König Ludwig gefeiert werden sollte.

«Lies mal Böckchen», das war der Kosename, den ich ihm in der Anfangszeit unserer Liebe gegeben hatte. «Hier steht wie das Volksfest entstanden ist. Unser Nürnberger Volksfest hier hat sich das Münchner Oktoberfest zum Vorbild genommen.»

«Hmmm!»

«Allerdings haben sie anfangs Zuchtvieh ausgestellt und über Landwirtschaft berichtet.

«Und viel Senf, den extrascharfen!»

Die Grillmeisterin zeigte auf einen großen Eimer und meinte freundlich: «Hier können Sie sich bedienen, so viel Sie möchten.»

Das ließ sich Heinz-Rüdiger nicht zweimal sagen. Mit Schwung drückte er auf den Knopf und ein Schwall Senf kleckerte auf sein Hemd.

«Kulturbanause», knirschte ich zwischen den Zähnen hervor. Ich begann innerlich zu kochen.

Dieser Gierschlund, dieser Fressalien-Lüstling, dieser Fettjunckie!

Und dann rieb er den Senf auch noch mit dem Taschentuch von seinem Hemd weg, sodass ein großer Fleck entstand. Genüsslich schleckte er sich die Finger ab.