Mord & Fromage - Ian Moore - E-Book
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Mord & Fromage E-Book

Ian Moore

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Beschreibung

Richard hat es sich sehr gemütlich gemacht in seiner kleinen Pension im Loiretal und in seinem ruhigen Leben, in dem absolut nichts passiert – genau, wie es ihm recht ist. Er will keine Mörder jagen, und er ist kein Detektiv! Doch plötzlich ist großer Aufruhr im Val de Follet: Das Restaurant im Nachbarort hat einen Michelin-Stern verloren. Der verzweifelte Koch muss mit dieser Schande zurechtkommen, das ganze Dorf ist starr vor Schreck.  Wie aufs Kommando taucht natürlich Valérie d'Orcay aus Paris in ihrem gelben Oldtimer auf, das Hündchen in der Handtasche. Und sie macht es Richard unmöglich, sich aus dieser Sache einfach herauszuhalten, wie es ihm eigentlich am besten gefiele. Nur wenig später ertrinkt der Chef der weit und breit besten Ziegenkäserei im Käsetank. War es Selbstmord? Wohl kaum, denkt Valérie, und spätestens als der sensationslüsterne Restaurantkritiker Tatillon in seiner Pension unterkommt, findet sich auch Richard mitten in einem hoch spektakulären Fall wieder …

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Seitenzahl: 414

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Ähnliche


Ian Moore

Mord & Fromage

Kriminalroman

 

 

Aus dem Englischen von Barbara Ostrop

 

Über dieses Buch

Käsemord im Nachbarort!

 

Richard Ainsworth hat es sich sehr gemütlich gemacht in seiner kleinen Pension im Loire-Tal und in seinem ruhigen Leben, in dem fast nie etwas passiert – genau, wie es ihm recht ist. Er will keine Mörder jagen, und er ist kein Detektiv! Doch plötzlich ist großer Aufruhr im Val de Follet: Das Restaurant im Nachbarort hat einen Michelin-Stern verloren. Der entsetzte Koch muss mit der Schande zurechtkommen, das ganze Dorf ist starr vor Schreck. Und damit nicht genug: Wenig später wird der Chef der Ziegenkäserei, die das Restaurant beliefert, tot im Käsetank gefunden. Ein Mord im Ort! Doch wer ist der Mörder?

Wie auf Kommando taucht die elegante Valérie d’Orçay aus Paris in Richards Pension auf, fest entschlossen, dem Käsemord auf den Grund zu gehen – natürlich mit Richard zusammen. Und spätestens als der sensationslüsterne Restaurantkritiker Tatillon ebenfalls in einem seiner Zimmer unterkommt und Richard selbst ins Visier der Polizei gerät, stecken die beiden mitten in ihrem nächsten Fall …

Vita

Ian Moore ist ein bekannter britischer Comedian und trat in Fernsehshows und auf großen Stand-up-Bühnen auf, bevor er begann, seinen originellen Blick auf die Welt in Bücher zu verpacken und damit sehr erfolgreich wurde. Ebenso wie sein Held Richard lebt auch der Autor seit einigen Jahren im französischen Loire-Tal, gemeinsam mit seinen drei Söhnen, seiner Frau und einer lustigen Ansammlung wilder und weniger wilder Tiere. «Mord & Croissants» war sein erster Krimi und stieg sofort auf die Times-Bestsellerliste ein, in «Mord & Fromage» ermittelt sein Held Richard ein zweites Mal im Loire-Tal.

 

Die Autorin und Diplomübersetzerin Barbara Ostrop arbeitet seit 1993 als literarische Übersetzerin aus dem Englischen, Französischen und Niederländischen und zählt Liebes- und Familienromane, Spannung, Historisches und Jugendromane sowie Fantasy zu ihren Schwerpunkten. Inzwischen hat sie über hundert Bücher ins Deutsche übertragen.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel «Death and Fromage» bei Farrago/Duckworth Books Ltd., Richmond.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Death and Fromage» Copyright © 2022 by Ian Moore

Redaktion Nadia Al Kureischi

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München, nach dem Original von Duckworth Books, UK

ISBN 978-3-644-01670-5

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für meinen Dad, der mich die Liebe zum Film gelehrt hat

1

Richard Ainsworth fühlte sich wie ein Fisch auf dem Trockenen. Und wenn er den ausgezeichneten Sauvignon Blanc weiter in diesem Tempo herunterkippte, würde man ihn wohl noch hinausschmeißen, und dann säße er wirklich auf dem Trockenen. Ein Degustationsmenü, um den Eröffnungsabend des Restaurants Les Gens Qui Mangent zu feiern, und das gerade jetzt, da Valérie d’Orçay ihre Rückkehr angekündigt hatte: Es war zu schön, um wahr zu sein. Und das stimmte leider. Jetzt saß Richard also einsam und allein an einem Zweiertisch mitten zwischen sämtlichen Lokalgrößen des Val de Follet im Umkreis von fünfzig Kilometern und fühlte sich, wie Humphrey Bogart es ganz plastisch in Casablanca beschrieben hatte – «wie ein Mann, dem man einen Tritt in den Magen versetzt hat».

Er versuchte, auf den nächsten Schluck Wein zu verzichten, und widerstand einen Moment lang der Verlockung des schimmernden Kristallglases. Dann aber knurrte er: «Zum Teufel damit», und ergab sich dessen Charme. Sofort stand ein Kellner neben ihm, schneller als eine Wespe beim Picknick, und schenkte nach, eine Mischung aus Servilität und Verachtung im Gesicht. Ein Pariser Kellner, dachte Richard, der die geheime Kunst erlernt hat, erlesensten Service zu bieten und gleichzeitig einen unbezwingbaren Groll auszustrahlen.

«A töp-öp, Monsieur?», fragte der wieselflinke kleine Mann, ohne zu ihm hinunterzuschauen. Er meinte wohl einen Top-up, womit er sich anschickte nachzuschenken. Sein Versuch, Englisch zu sprechen, bewies seine Herkunft aus Paris zweifelsfrei. Nur ein Profi, der für den schicken Einweihungsabend aus der Hauptstadt geholt worden war, konnte so angeberisch sein.

«Danke, nur zu.» Richard sprach mit gezwungener Herzlichkeit. Eigentlich hatte er auf Französisch antworten wollen, nur um dem Mann klarzumachen, dass er sich nicht herumschubsen ließ, aber seine Reaktion war ganz spontan auf Englisch erfolgt, und genau das hatte der verdammte Kellner mit seiner Pariser Ausbildung vorhergesehen. Woher hatte er überhaupt gewusst, dass Richard Engländer war? Richard lief schließlich nicht mit einer Melone auf dem Kopf herum und war nicht mit einer Teekanne bewaffnet. Seit seinem Umzug nach Frankreich hatte er sich sehr große Mühe mit der Landessprache gegeben, und inzwischen beherrschte er sie gerade im richtigen Maße fließend. Ihm war klar, dass man jemandem, der mehrere Sprachen beherrschte, hier niemals richtig über den Weg traute – schon gar keinem Engländer –, und witzige Übersetzungen waren immer eine gute Möglichkeit, beim Kennenlernen das Eis zu brechen. Manchmal tat er sogar so, als wäre er sprachlich unbeholfener, als er es tatsächlich war, nur um ins Gespräch zu kommen. Vielleicht erkannte der Kellner ihn an seinem Anzug, den er heute seit Jahren zum ersten Mal trug und dessen Schnitt sehr englisch war, wie man ihm gesagt hatte. Ob das ein Kompliment war oder das Gegenteil davon, war ihm nicht klar gewesen, doch er hatte lieber nicht nachgehakt. Der englische «Stil» wurde von den Franzosen sehr bewundert, ob ein bei Debenhams erstandener Anzug von der Stange dafür auch zählte, konnte er allerdings nicht sagen. Normalerweise trug er Sachen, die an einem Mann mittleren Alters nicht weiter auffielen: gepflegt und zurückhaltend. Vielleicht würde schon ein gezogener Faden genügen, um das gefürchtete Urteil «er lässt sich gehen» zu provozieren, das einem seit Kurzem alleinstehenden Mann eines gewissen Alters stets drohte. Heute Abend hatte er sogar auf das Band verzichtet, mit dem er sich seine Lesebrille um den Hals hängte. Das Resultat war, dass er sie jetzt ständig verlegte, doch den Vorschlag hatte Valérie gemacht, und so bezahlte er diesen Preis gern.

Richard hatte den Verdacht, dass vielleicht gar nicht der Anzug seine englische Herkunft verriet, sondern eine ganz bestimmte Ausstrahlung von Verunsicherung. Das, was ihn von allen Franzosen im Raum unterschied, ließ sich genau definieren. Eine gewisse Verlegenheit in diesem Gourmettempel verriet seine Wurzeln. Während die Franzosen eine solche Umgebung als gegeben hinnahmen und so taten, als hätten sie ein Anrecht darauf, fühlte Richard sich hier fehl am Platz. Er kam sich seiner Umgebung unwürdig vor, fast so als wäre er ein Hochstapler, der jederzeit auffliegen könnte. Bildlich ausgedrückt, war seine britische Natur so auffällig wie eine englische Saveloy-Brühwurst auf einer Servierplatte mit Gratin Dauphinois.

Gleichwohl genoss er sein Leben an einem Nebenfluss der Loire sehr und mochte seine Rolle als fast schon exotischer Ausländer in dieser stillen, langsam vor sich hin plätschernden Welt. Eine der Einheimischen, die etwas alberne Jeanine, die die boulangerie der Stadt führte, behauptete, er sähe dem Earl of Grantham aus Downton Abbey ähnlich, doch Richard hatte die Serie nie gesehen. Dennoch bemühte er sich seitdem beim täglichen Kauf seines Baguettes immer um ein würdevolles Auftreten, fand das allerdings ziemlich anstrengend, da es so gar nicht sein Stil war. Sonst gab er sich gern ein wenig geistesabwesend und verwirrt, was er mit einer liebenswerten Höflichkeit verband. Nur war er eben heute Abend verstimmt, das war alles; etwas fehlte. Was das war, war natürlich für jedermann offensichtlich, da der Platz ihm gegenüber mit seinem glänzenden Besteck und dem leeren Teller laut verkündete, dass er «versetzt» worden war.

Verdammt!, dachte er und zerbrach beinahe den zierlichen Stiel seines Weinglases. Wann würden die jämmerlich wenigen Frauen in seinem Leben, nämlich derzeit drei – seine von ihm getrennt lebende Ehefrau, seine anspruchsvolle Tochter und seine nicht erschienene Tischpartnerin –, wann würden sie endlich aufhören, alles, was er sagte, wörtlich zu nehmen, und stattdessen zwischen den Zeilen lesen? Nach außen hin hatte er nicht überschwänglich reagiert, als Valérie verkündete, sie werde ins Val de Follet ziehen, aber er hatte auch nicht gerade das abweisende Gesicht einer steinernen Statue gemacht. Er dachte, in so einer Situation würde Coolness erwartet.

«Another töp-öp, Monsieur?»

Richard spannte sich an, erneut bereit zu einer französischen Antwort auf die Frage dieser Klette, doch dann ließ er die Schultern sacken und sagte mit schwacher Stimme auf Englisch: «Wirklich, jetzt schon? Na gut, warum nicht?»

Der Kellner hielt die Flasche inzwischen ziemlich weit unten in der Hand und schenkte den Wein mit einer fachmännischen Drehung ein. Dann stellte er den Pouilly-Fumé in den Eiskübel zurück, legte die Weinserviette um den schlanken Hals der Flasche, nickte vornehm, schlug praktisch die Hacken zusammen und schlängelte sich mit kleinen, zierlichen Schritten zwischen den Tischen hindurch, um sich ein anderes Opfer zu suchen, das er bedrängen konnte. Richard betrachtete die Flasche missmutig, tatsächlich ein Didier Dagueneau, was ihn immerhin aufmunterte. Es gab schlimmere Arten, versetzt zu werden, und er sollte stolz darauf sein, hier vor Ort so viel Ansehen zu genießen, dass er zu diesem Abend eingeladen worden war. Er entschied, nicht mehr auf grimmigen Bogart zu machen, der sich über Ingrid Bergmans Ausbleiben ärgert, sondern sich stattdessen einen Touch von Cary Grant in Die große Liebe meines Lebens zu geben. Hier nimmt der Versetzte es viel gutmütiger hin, dass Deborah Kerr nicht zum Rendezvous am Empire State Building erscheint. Das munterte Richard eine Weile auf: Wie schon von Jugend an fand er auch jetzt wieder Trost im Golden Age des Hollywood-Kinos, einer wunderbaren Zuflucht vor der Realität. Und er beschloss: Wenn er schon hier war, konnte er auch seinen Spaß haben.

Das Degustationsmenü war bisher ziemlich gut gewesen. Er hatte den Überblick über die Zahl der Gänge verloren, möglicherweise acht, aber vielleicht auch mehr. Eine schwindelerregende Zirkusshow mit gebratenen Jakobsmuscheln, Wachteleiern und ingwergewürztem pois-gourmand-Sorbet als Vorspeisen, Kiwi-Granita als Gaumenreiniger, raviolis de joue de veau avec soubise à l’oignon als Hauptgang … Richard war kein Experte. Normalerweise ging er kulinarische Events dieses Kalibers mit einer Beklommenheit an, die an Angst grenzte, daher hatte er keine Ahnung, ob das hier für einen Michelin-Stern reichen könnte oder nicht. Hingegen wusste er genau, dass er nach acht Gängen – oder waren es sogar neun? – alles andere als satt war. Tatsächlich, dachte er schuldbewusst und bemüht, nicht ganz so englisch zu sein, hatte er immer noch einen ziemlichen Appetit.

«Monsieur?» Der Kellner war zurück, die Nase so hoch oben, dass er sie vielleicht noch an einem der Luftkanäle stoßen würde, die unverkleidet über die Decke verliefen, wie es wohl derzeit im Restaurant-Design angesagt war: überall Rohre und Röhren. Das Centre Pompidou hatte so einiges auf dem Gewissen. «Wir servieren gleich das Dessert.» Wieder auf Englisch und mit grässlichem Akzent. «Hätten Monsieur gern Rotwein, oder möchten Sie bei dem weißen bleiben?»

Richard erkannte die Falle sofort. «Das Dessert ist mit Ziegenkäse, oder?»

«Richtig, Monsieur.» Die Nasenflügel zuckten.

«Dann bleibe ich bei diesem ausgezeichneten Sauvignon Blanc, danke. Wie von der Natur gewollt», fügte er großartig auf Französisch hinzu.

Der Kellner zog die Augenbrauen hoch und schnippte aus irgendeinem Grund mit den Fingern, als wäre er ein unzufriedener Flamencotänzer. Dann glitt er davon.

Der kleine Sieg beflügelte Richard, wie es so die Art von kleinen Siegen ist. Er sinnierte oft, dass sie der eigentliche Wesenskern des Lebens waren, der moteur, wie die Franzosen sagen würden. Wenn das Leben ein Krieg war und eine Niederlage daher unvermeidbar, verliehen ihm kleine Siege zwischendurch zumindest den Anschein, als wäre der Ausgang spannend. Jetzt, da der Wein seine Wirkung richtig entfaltete, betrachtete er Valéries Nichterscheinen ebenfalls als einen kleinen Sieg, auch wenn ihm klar war, dass selbst ein gewiefter Politiker stolz wäre auf einen solchen Dreh, die Dinge darzustellen. Er wusste, dass sie den Abend schwelgerisch genossen und im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestanden hätte. Ihre Eleganz, Gelassenheit und Schönheit hätten jede andere Frau im Saal vor Neid erblassen lassen, während die Männer den Blick nicht von ihr gewandt hätten. Und dank ihres Berufs hätte sie den Kellner mit einem perfekt ausgeführten, tänzerischen Roundhouse-Kick einen Kopf kürzer machen können. Na ja. Er trank noch einen Schluck Wein und schenkte sich dann selbst nach. Noch ein kleiner Triumph.

«Richard?» Mit einem schuldbewussten Blick stellte er die Flasche in den Weinkühler zurück, da er annahm, der Sicherheitsdienst wolle ihm dafür auf die Finger hauen, dass er irgendeine Weinausschankregel gebrochen hatte.

«Ja? Ah, Noel.» Er entspannte sich. Noel Mabit war ein eigenartiger kleiner Mann und heute fast selbst wie ein Kellner gekleidet – ziemlich ungewöhnlich für einen Franzosen, da man hier in einem formellen Rahmen Formlosigkeit vorzog. Noel beugte sich zu Richard vor, die Hände zusammengepresst. Der wusste nicht recht, was ihm an Noel Mabit eigentlich missfiel; das wusste keiner so genau, nicht einmal die leidgeprüfte Madame Mabit, die ihren Mann gern einmal ihren Appendix nannte, denn sie würde ihn nicht vermissen, wenn er fehlte. Nur war er eben immer da. Er saß in jeder Kommission und war bei jedem Anlass dabei wie ein Kleinstadtminister ohne Portfolio. Er beschwatzte andere, sich aufstellen zu lassen, schien aber selbst nicht wirklich etwas zu tun.

«Richard, tut mir schrecklich leid, dass ich dich stören muss.» Er warf einen demonstrativen Blick auf den Platz gegenüber, auf dem eigentlich Valérie hätte sitzen sollen. «Kennst du Monsieur Auguste Tatillon schon?» Er deutete auf die Person, die hinter ihm stand.

Richard hatte die Bekanntschaft des Herrn zwar noch nicht gemacht, aber doch schon genug von ihm gehört. Sein Ruf als einer der bissigsten Restaurantkritiker Frankreichs sorgte dafür, dass er wie ein Damoklesschwert über der kulinarischen Welt schwebte, allmächtig und vernichtender Zerstörung fähig. Sein Wort konnte Erfolg oder Scheitern bedeuten. Wie ein Chefkoch es ausgedrückt hatte, der keineswegs für übertriebenen Respekt bekannt war: Tatillons Stift war schärfer als ein japanisches Küchenmesser. Mit gelangweilter Miene stand Tatillon hinter Noel, die Lippen vorgeschoben, der Blick kalt.

«Wir hatten noch nicht das Vergnügen.» Richard stand auf und reichte dem Kritiker die Hand. Der Mann war größer, als Richard bewusst gewesen war, und schlank, fast schon mager. Er sah so aus, als könnte er eine anständige Mahlzeit gut vertragen.

«Sehr erfreut», quäkte Tatillon, sah aber absolut nicht danach aus.

«Monsieur Tatillon hat morgen beruflich in Saint-Sauver zu tun und möchte gleich hier übernachten», sprudelte Noel los. «Ich habe deine reizende Pension vorgeschlagen, Richard. Du hast doch bestimmt ein Zimmer frei …» Unwillkürlich deutete er auf den leeren Stuhl. Richards Bed & Breakfast, das er allerdings lieber französisch chambre d’hôtes nannte, hatte ihm sein Ansehen in der Gemeinde überhaupt erst verschafft, und dafür war er dankbar. Kurzfristige Buchungen mochte er allerdings nicht, denn sie bedeuteten, dass er umplanen musste, und das bereitete ihm Unbehagen. Andererseits war vollkommen klar, dass Valérie, die das letzte freie seiner drei Gästezimmer gebucht hatte, nicht kommen würde, und Richard könnte stolz darauf sein, stiege der berühmte Auguste Tatillon in seinem Les Vignes ab, selbst wenn er dann damit rechnen müsste, dass die Qualität seiner Frühstückscroissants mächtig unter Druck geriete.

«Natürlich», antwortete er. «Es wäre mir eine Ehre.»

Noel klatschte entzückt in die Hände. «Monsieur ist äußerst liebenswürdig», sagte Tatillon mit einem gequälten Gesichtsausdruck und einer Stimme, als hätte Richard ihm gerade das Trommelfell mit einem Fischmesser durchbohrt. Er zog sich wieder an seinen eigenen Tisch zurück.

«Wie wundervoll!» Noel konnte gar nicht an sich halten. «Auguste Tatillon! Hier in Saint-Sauver! Du enttäuschst uns doch nicht, Richard, oder?»

Richard überging das «uns». «Ist dieser Kritiker dann also bedeutender als Sébastien Grosmallard?»

«Als wer?» Noel folgte mit dem Blick Tatillon, der zwischen den Tischen hindurchglitt, als führe er auf Rollschuhen.

«Sébastien Grosmallard, Noel. Unser gefeierter Dreisternekoch. Unser Gastgeber.» Die Lampen wurden gedimmt. «Und da kommt er.»

Eine der Türen zur Küche ging auf, und Licht fiel in das Halbdunkel des Saals. Aus dem strahlenden Hintergrund löste sich eine Gestalt: der massige Körper des feurigen Sébastien Grosmallard, Enfant terrible der französischen Küche. Inzwischen war er allerdings, sehr zu seinem eigenen Bedauern, ein Enfant terrible in den mittleren Jahren, aber immer noch die Geißel des kulinarischen Establishments. Er trat durch die Tür ein, und das Licht im Saal wurde wieder ein wenig aufgedreht. Er trug seine weiße Kochkleidung, der oberste Knopf seiner Jacke stand offen, während sein mächtiger Körper die anderen fast sprengte. Seine Stirn war schweißnass, das schulterlange, lockige Haar klebte an den Schläfen, und er sah erschöpft aus. Mit der rechten Hand hielt er einen Teller hoch, und unter seinem linken Arm klemmte ein kleinerer, jüngerer Mann, dessen Beine in der Luft schwebten.

Alle im Saal applaudierten, und so auch Richard. Das war wahrlich ein Auftritt – ganz Grosmallard, würde man später sicher sagen. Der Applaus verstummte, und Grosmallard nickte dankbar.

«Mesdames et Messieurs», dröhnte er, und seine tiefe, sonore Stimme hallte fast von den freiliegenden Rohren wider. «Ich bin nach Hause gekommen!» Der Applaus begann von Neuem. Er hob den linken Arm, ließ den kleineren Mann auf die Beine fallen und wartete, bis der Applaus wieder verstummt war. «Dies hier», er hielt den Teller hoch, «ist das Gericht, dem ich meinen Ruf verdanke! Parfait de fromage de Chèvre de Grosmallard!» Er verbeugte sich zu mehr Applaus, und nun verströmten die Lampen des Restaurants ihren ganzen Glanz. Plötzlich wimmelte es im Saal von Kellnern und Kellnerinnen, die sich im Halbdunkel in Position gebracht hatten, und sie stellten die gefeierte Speise vor jeden einzelnen Gast. «Nur hat dieses Dessert», rief Grosmallard über den Lärm hinweg, «diesmal mein Sohn zubereitet, Antonin!» Er klemmte sich den kleinen Mann, offenbar Antonin, wieder unter den Arm, doch die meisten Leute waren vollkommen damit beschäftigt, die Pracht vor ihren Augen verblüfft anzustarren. Sie als ein simples Ziegenkäseparfait zu beschreiben, wäre eine Untertreibung.

Auf dem weißen Teller lag tatsächlich ein Ziegenkäseparfait, eierförmig und marmorglatt. Daneben leuchtete eine kleine Rote-Beete-Himbeer-Tarte, so zart wie ein paar Schneeflocken. Zu einem theatralischen Hingucker wurde das Ganze jedoch durch den letzten Touch, den zentralen Blickfang des Desserts, nämlich durch die Rote-Beeren-Coulis, die sich unter diesen beiden Elementen ausbreitete. Auf dem Teller bildete sie einen perfekten Handabdruck, einen absolut vollkommenen, blutroten Handabdruck. Es war überwältigend.

Alle beugten sich über ihr Essen, und Schweigen senkte sich über den Saal. Die Leute waren beeindruckt. Richard war an sich kein Fan von Food Art, aber das hier war ein erstaunliches Werk, selbst wenn es ihn an den realen blutigen Handabdruck auf der Wand seines B&B erinnerte, durch den er erst vor Kurzem mit Valérie bekannt geworden war. Er wusste gar nicht, wo er anfangen sollte; es schien eine Schande, ein solches Bild zu zerstören, und er spürte, dass die anderen Gäste ebenfalls zögerten, bevor alle kollektiv tief Luft holten, ihren Mut zusammennahmen und begeistert zuschlugen. Doch plötzlich veränderte sich die Atmosphäre im Saal. Richard vernahm ein Murmeln, ein unzufriedenes Murren. Es nahm seinen Ausgang an Tatillons Tisch, und bald wurde das übellaunige Stimmengewirr lauter.

«Er hat das Rezept geändert», rief ein aufgeregter Dinnergast.

«Was für ein Sakrileg!», schrie ein anderer. Richard glaubte sogar, eine Frau in Ohnmacht fallen zu sehen.

Es brodelte im Raum vor Zorn, Chaos brach aus, verstummte jedoch sogleich, als ein Schrei aus der Küche durch die Rohre wanderte und den Raum nicht nur ausfüllte, sondern von allen Seiten umfasste. Es war ein urtümliches Heulen, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ.

«Du hast mich getötet!», schrie die gequälte Stimme. «Du. Hast. Mich. Getötet!»

Richard griff zittrig nach seinem Wein und wollte gerade davon trinken, da wurde ihm das Glas aus der Hand genommen.

«Hab ich was verpasst?», fragte Valérie und trank einen Schluck. Der Wein und die Lichter spiegelten sich in ihren glänzenden Augen.

2

Langsam sickerten die Gäste aus dem inzwischen düster daliegenden Restaurant und begaben sich auf den Parkplatz. Ihr leises Flüstern mochte an Schweigen grenzen, sprach aber Bände. Tratsch und Spekulationen waren gut und schön, jetzt war jedoch nicht die richtige Zeit dafür; dies hier würde die Stadt bis ins Innerste erschüttern. Richard bemerkte, dass Noel Mabit sich noch herumdrückte, vermutlich um im Nachgang seine Dienste anzubieten, aber niemand wollte mit ihm reden. Das Personal räumte die Tische ab, bemüht, nicht zu viel Lärm zu machen; selbst Richards verhasster Kellner wirkte schockiert. Richard entdeckte Auguste Tatillon, der ihn an der Tür erwartete, ein kleines, elegantes Lederköfferchen in der Hand. Er hätte an jemanden erinnert, der evakuiert worden war, wäre nicht seine distanzierte, selbstherrliche Art gewesen. Er machte ein Gesicht wie ein strenger Lehrer, der von seinem Lieblingsschüler enttäuscht worden ist.

Valéries Miene verströmte kaum mehr Wärme. «Das ist einfach lächerlich!», sagte sie immer wieder. «Ehrlich, französische Männer!» Nach einem Blick auf Richard verbesserte sie sich: «Männer!», weitete sie die Kategorie aus. Richard hatte nach zu viel edlem Sauvignon Blanc nicht die leiseste Ahnung, womit er diesen Tadel verdient hatte, doch da er das bei Frauen eigentlich nie wusste, konnte er einen gewissen Trost darin finden.

«Übrigens, was war mit deinem Auto los?», fragte er, um vom Thema seiner vage angedeuteten Schuld abzulenken.

«Das weiß ich nicht», antwortete sie wegwerfend. «Ich habe angehalten, um kurz mit Passepartout spazieren zu gehen, und danach ist das Ding nicht wieder angesprungen. Ich musste warten, bis jemand mich hierher abschleppen konnte.» Wie üblich wechselten sie zwischen Englisch und Französisch, doch aufgrund ihrer Gereiztheit war Valéries französischer Akzent diesmal deutlicher zu hören.

Richard hatte Passepartout ganz vergessen, Valéries verwöhnten Chihuahua, der sie überallhin begleitete und der Richard stets mit einer argwöhnischen Überheblichkeit beäugte, die durchaus an Kellner und Restaurantkritiker erinnerte. «Und wo ist Passepartout jetzt?»

«Er ist in deinem Auto …»

Richard setzte an, um sie zu unterbrechen.

«Ja, genau, Richard, ich bin in dein Auto eingebrochen. Das war ganz einfach. Ich weiß gar nicht, wieso du dir die Mühe machst, es abzuschließen.» Sie verlor die Geduld. «Ach, das ist einfach lächerlich!», sagte sie zum x-ten Mal. «Und alles nur wegen ein bisschen albernem Käse.» Ein vorbeigehender Gast hörte Valéries Worte und sah sie an, als hätte sie gerade eine Gotteslästerung ausgestoßen. Wir sind hier in Frankreich, sagte sein Blick. So etwas wie einen «albernen Käse» gibt es hier nicht.

Die gedrückte Atmosphäre wurde von einem erneuten Geheul aus der Küche durchbrochen, von dem die Flügeltür im Saloon-Stil, die die Vorgänge dahinter weitgehend verbarg, nahezu erzitterte. Dann schwang die Tür mit so viel Wucht auf, dass sie fast gegen die Wand gedonnert wäre, und verfehlte dabei nur knapp eine mit Tellern beladene Kellnerin. Erneut stand die eindrucksvolle Gestalt von Sébastien Grosmallard im Durchgang. Er sah aus wie ein Stier, der am liebsten alles auf die Hörner nehmen würde, was ihm in den Weg kam. Seine Augen waren feuerrot, fast als hätte er geweint, und in der Linken hielt er eine Weinflasche. «Ich bin ruiniert!», schrie er – allerdings war es eher ein kehliges Brüllen. «Ruiniert!» Er sah sich im Saal nach einem Opfer um, das er angreifen könnte.

«Monsieur Ainsworth?» Auguste Tatillon tippte Richard auf die Schulter, den gleichen hochnäsigen Ausdruck im Gesicht wie vorhin, doch mit einem ängstlichen Blick auf Grosmallard, der noch immer schnaubend auf der anderen Seite des Saals stand. «Dürfte ich unseren Aufbruch vorschlagen? Monsieur Grosmallard hat ein feuriges Temperament, einen Skandal vor der Brust und empfindet intensiven Hass auf den bescheidenen Kritiker.»

«Ja, ja natürlich», antwortete Richard hastig, obwohl er den Blick nicht von dem berühmten Chefkoch wenden konnte, dessen gewaltige Gestalt in der Tür schwankte wie King Kong auf dem Empire State Building. «Darf ich Sie vorstellen, dies ist …»

«Gleich, in Ihrem Auto – verzeihen Sie, Madame, aber können wir jetzt bitte gehen?» Tatillon strebte Richtung Eingang, Richard folgte ihm. Doch als er sich umdrehte, stellte er fest, dass Valérie sich nicht von der Stelle gerührt hatte. Sie missbilligte Grosmallards Mätzchen und sah aus, als hätte sie vor, ihm das zu sagen, ein leichtes Lächeln auf den Lippen, die Augen fast schon voll Mitleid für das beklagenswerte Geschöpf vor ihr. Das war der Koch in ihren Augen: ein verwundetes Tier.

«Männer!», sagte sie erneut, so laut, dass Grosmallard es hätte hören können, doch er war zu sehr mit seiner eigenen Verzweiflung beschäftigt, um Notiz zu nehmen. Richard kehrte um, ergriff Valérie sanft am Ellbogen – so sanft, dass bei ihr kein Kampfkunst-Reflex einsetzte – und führte sie zur Tür, wo ein sichtbar erschütterter Auguste Tatillon sie erwartete.

Die Nachtluft war noch warm, doch so sauber, dass Richard sie wie einen Schlag empfand und sich noch ein bisschen benebelter fühlte als eben im Restaurant. «Der Wagen steht dort drüben», erklärt er, betont energisch, damit die anderen keinen Verdacht schöpften. Er hatte mit der Schnauze zur Straße geparkt, damit niemand mitbekam, dass er im Auto schlafen wollte, zumindest bis die Wirkung des Weins verflogen war.

«Nein, stimmt nicht, Richard, ich habe ihn umgeparkt. Ich wollte nicht, dass Passepartout gestört wird.» Sie hängte sich bei ihm ein und führte Richard und Tatillon in die entgegengesetzte Richtung. Richard fing Tatillons Blick auf und bemühte sich, auf typisch französische Manier mit den Schultern zu zucken. Damit räumte er ein, dass er hier nichts zu sagen hatte. «Ich übernehme das Steuer», erklärte Valérie in einem Tonfall, der keine Widerrede duldete.

Gleich darauf verließen sie den Parkplatz unter Valéries Flüchen, die auf das uralte Schaltgetriebe von Richards zerbeulter Ente schimpfte. Tatillon saß so zusammengesackt, wie seine Größe es gestattete, auf dem Beifahrersitz, während Richard sich mit dem würdelosen unbequemen Platz auf der Rückbank begnügen musste, direkt neben Passepartout, der wie immer wenig erfreut wirkte, ihn in seiner Nähe zu haben.

«Grosmallard weiß doch nicht, wo Sie wohnen, oder?», fragte Tatillon, vergeblich bemüht, die Nervosität aus seiner Stimme zu verbannen. Der Mann kam Richard verängstigt vor und hatte nichts mehr von dem eiskalten kulinarischen Scharfrichter, der selbst den berühmtesten Meisterkoch das Fürchten lehrte. Tatsächlich zitterte Tatillon jetzt sogar.

«Nein, ich denke nicht.» Richard war sich absolut sicher, dass Sébastien Grosmallard die meisten seiner hiesigen Gäste nicht kannte. Und wo Richard wohnte, wusste er mit Gewissheit nicht, doch hin und wieder konnte ein bisschen inszenierte Bedeutsamkeit nicht schaden. «Machen Sie sich seinetwegen wirklich so große Sorgen?»

Richard wollte dem Kritiker beruhigend die Hand auf die Schulter legen. Unglücklicherweise tat er es aber gerade in dem Moment, in dem Valérie ein wenig zu schnell um eine Kurve fuhr, sodass der Wagen sich nach rechts neigte. Richard verfehlte Tatillons Schulter knapp und erwischte ihn stattdessen am Kopf, wo er zu seinem Entsetzen das Toupet des Mannes verschob. Sofort rutschte er verlegen zurück, das Haarteil hatte sich jedoch an seiner Hand verfangen. Erschreckt versuchte er, es abzuschütteln, doch nun regte Passepartout sich auf, da er das Teil als einen geringfügig kleineren Rivalen betrachtete, und bellte knurrend los. Um einen Kampf mit dem Hund zu vermeiden, warf Richard das Toupet wieder nach vorn, wo es an der beifahrerseitigen Hälfte der Windschutzscheibe hängen blieb. Es sah beinahe so aus wie ein totgefahrenes Tier, und alle schauten betreten weg. Selbst Passepartout vergrub den Kopf tief in seinem teuren Reisekissen. Sehr langsam pflückte Tatillon die falschen Haare von der Windschutzscheibe, betrachtete sie und seufzte resigniert. Zum ersten Mal, seit Richard ihn kannte, wirkte er menschlich.

«Vielleicht erkennt Grosmallard mich so nicht mehr», sagte Tatillon langsam, jetzt ganz ohne Erhabenheit und abgehackte Konsonanten, «selbst falls er wissen sollte, wo Sie wohnen.»

«Männer!», wiederholte Valérie, diesmal allerdings weit weniger giftig. «Ohne das Ding sehen Sie sowieso besser aus, wenn Sie mich fragen», fügte sie gleichgültig hinzu.

Tatillon glättete das Toupet in den Händen, was für Richard so aussah, als streichelte er ein Meerschweinchen. «Danke, Madame.» Tatillon klang müde. «Ich würde Ihnen durchaus recht geben, aber das hier ist meine Verkleidung, wenn Sie so wollen. Trage ich dieses Teil, bin ich Auguste Tatillon» – nun sprach er wieder mit der abgehackten, verächtlichen Stimme – «der Furcht einflößende Restaurantkritiker.» Er schaute zum Seitenfenster, das ihn spiegelte. «Ohne das Toupet brauche ich nichts vorzuspielen», fügte er leise und ein wenig melodramatisch hinzu.

Was für eine peinliche Situation, dachte Richard. Er spürte, dass Valérie eine scharfzüngige Bemerkung über Männer und ihre absurde Eitelkeit auf der Zunge lag. Dem würde er zwar durchaus zustimmen, doch er hatte das Gefühl, ein Themenwechsel könnte die Luft reinigen.

«Du hättest mir eine Nachricht schicken sollen, als du die Autopanne hattest», sagte er. «Dann hätte ich dich abgeholt.» Wäre er richtig nüchtern gewesen, hätte er vielleicht eher bemerkt, dass die Atmosphäre im Wagen eisig wurde. «Allein zu essen, hat mir nicht gerade Spaß gemacht. Ich weiß nicht, wie Sie das machen, Monsieur Tatillon. Ich habe mich sehr befangen gefühlt …»

Tatillon wandte ihm den Kopf zu, um zu antworten, wurde jedoch unterbrochen.

«Ich habe dir sechs SMS geschickt, Richard, und zwei Nachrichten auf die Mailbox gesprochen. Mir scheint, du hast dich großartig amüsiert.»

Das war es also. Männer hatten sie enttäuscht, oder in diesem Fall, ein Mann, wobei Richard stellvertretend für sein ganzes Geschlecht stand.

«Er konnte sie so oder so nicht empfangen», murmelte Tatillon, der noch immer wehmütig aus dem Fenster schaute. «Grosmallard hasst die sozialen Medien, und so lässt er in seinen Restaurants teure Störsender installieren.»

«Oh», sagte Valérie, und in diesem Laut war vielleicht sogar ein Ansatz von Reue verborgen.

«Das finde ich eigentlich bewundernswert.» Richard unterbrach das kurze Schweigen erneut.

Tatillon hörte auf, mit dem Gesicht zum Fenster Trübsal zu blasen, und wandte sich den anderen zu. «Bei Grosmallards wunderbarsten Gerichten steht zunächst einmal der Geschmack im Mittelpunkt, und so muss es sein, gleich darauf folgt die dramatische Präsentation. Es geht um das Theatralische, das Visuelle. Deshalb hasst er Smartphones so sehr. Wenn sich jeder die Bilder auf Instagram anschauen könnte, ginge die Dramatik verloren, die Überraschung.» Er erwärmte sich jetzt für sein Thema und zeigte eine echte Passion, für die er seine übliche eisige Überlegenheit ablegte.

«Wenn Grosmallard in Hochform ist, ist das Essen überragend, aber außerdem erzählen seine Gerichte eine Geschichte, die über das Geniale des Geschmacks hinausgeht!»

«Das hab ich irgendwo gelesen!», sagte Richard, der ganz gefangen war.

«Ich habe es geschrieben», erklärte Tatillon, der auch ohne Toupet nicht ganz von seiner Großtuerei ließ.

«Ich verstehe. Und was war mit dem heutigen Dessert nicht in Ordnung? Warum das Tamtam? In meinen Augen sah es überwältigend aus.»

Tatillon schüttelte traurig den Kopf. «Das Drama war vorhanden, kein Zweifel, aber der Geschmack … nicht.»

«Mir hat es geschmeckt.»

«Sogar das Parfait?»

«Ja», antwortete Richard mit dem nervösen Gefühl, dass er gerade bei einer Prüfung durchfiel.

«Aber der Ziegenkäse …»

«Ja?»

«Es war veganer Ziegenkäse!» Vor Zorn konnte Tatillon sich kaum beherrschen. «Laut zu erklären, man wäre ‹nach Hause› gekommen, und dann sein Zuhause mit Fake-Käse zu beleidigen!» Die letzten Worte spie er heraus. «Veganer Ziegenkäse ist eines Sternerestaurants weder vom Geschmack noch von der Konsistenz her würdig. Es ist Hochstapelei.»

«Ich verstehe.» Tatsächlich verstand Richard es nicht.

«Nach all diesen Jahren hat man uns eine Rückkehr zu altem Ruhm versprochen. Stattdessen haben wir eine …» Er suchte nach Worten für seine Empörung. «Wir haben einen Witz bekommen, eine Komödie, eine Farce!»

Richard vermutete, dass Tatillons Restaurantkritik nicht gerade Lob in den höchsten Tönen enthalten würde, und nachdem er Grosmallards aufschäumende Art erlebt hatte, war er nur froh, dass er nicht dabei sein würde, wenn der Koch sie las. Er erwog, den Mann zu verteidigen, doch ihm fehlte die Expertise. Schließlich rettete ihn sein Handy, auf dem jetzt Valéries Nachrichten eintrafen und das verschiedene Pieptöne von sich gab, darunter einen, den er nicht kannte.

«Das war mein Handy», sagte Valérie und hielt vor Richards Tor. Alle stiegen aus, Richard unter ziemlichen Verrenkungen. Tatillon öffnete die Heckklappe und nahm sein Köfferchen heraus, während Valérie unter Passepartouts Kissen eine kleine Reisetasche hervorzog. «Das Gepäck habe ich in meinem Wagen gelassen», sagte sie. «Wir können es morgen holen.» Etwas verriet Richard, dass sie ohnehin zum Restaurant zurückkehren würde, doch das war jetzt nebensächlich, denn plötzlich wurde ihm klar, dass er Valéries Zimmer in einem Anfall von Groll an Tatillon vergeben hatte.

«Naaa dann», sagte er gedehnt, um noch ein paar Sekunden länger darüber nachdenken zu können, wo er Valérie unterbringen sollte.

«Oh, wie schade.» Valéries Gesicht wurde beim Blick auf ihr Handy von unten beleuchtet. «Mein Termin morgen ist abgesagt. Leider ist der Besitzer verstorben. Das ist wirklich ein Jammer.»

«Der Besitzer? Hast du also, äh, du weißt schon …?» Richard versuchte, sich zu zügeln.

«Ja, ich bin auf der Suche nach einem Haus.» Das wusste er bereits. «Und morgen hätte ich ein erstes Objekt besichtigt.» Es war eine kühle Bemerkung, fast wie eine Presseerklärung, und er fing ihren Blick auf, konnte ihn aber nicht deuten. «Ich muss aus Paris raus.» Wieder folgte ein verlegenes Schweigen, doch Valérie brach es. «Der arme Monsieur Ménard», sagte sie sanft.

«Ménard? Haben Sie Ménard gesagt?» Tatillon wartete vor dem Tor darauf, dass jemand es öffnete.

«Ja, anscheinend ist er heute Abend gestorben.» Valérie nahm Passepartouts Tasche und reichte sie Richard.

«Wahrscheinlich ist es ganz gut so», bemerkte der Kritiker sarkastisch. «Er war Sébastien Grosmallards Käselieferant.»

3

Richard stand wie üblich hinter der Frühstückstheke und gab sich beschäftigt. Alte Filme waren seine Zuflucht, aber nachdenken konnte er am besten, wenn er in der Küche seines Bed and Breakfast stand, entweder auf die schwere Eichentheke gestützt wie ein Gastwirt der Tudorzeit oder aber eifrig bemüht, einen nicht vorhandenen Kaffeering wegzuwischen. Das wirkte so, als wäre er geistig anwesend, was er aber nicht war. Er verhielt sich, als stünde er für alle eventuellen Kundenwünsche bereit, machte dabei aber ein so abweisendes Gesicht, dass die Gäste es sich hoffentlich zweimal überlegten, bevor sie ihn ansprachen. Das Frühstück war ohnehin beinahe vorbei, was ganz gut war, da er den Kopf voller Sorgen hatte.

Derzeit hatte er angenehme Gäste, die nicht so anspruchsvoll waren wie sonst oft. Da war das Schwulenpaar, das früh aufgestanden war, weil die beiden an diesem Tag so viele Châteaus wie möglich besichtigen wollten. Es waren zwei sehr gut aussehende Männer Anfang dreißig, die Messieurs Jean und Olivier Fontaine. Als Richard nach draußen gegangen war, um seine Hühner zu füttern, eine Zeit, die er für wirklich tiefes Nachdenken reservierte, hatten sie ihren Tisch abgeräumt und ihr Geschirr gespült. Ihr Zimmer war immer ordentlich und makellos. Zwei wirklich formvollendete Gäste, davon hätte er gern mehr – und Madame Tablier sowieso. Junge heterosexuelle Paare waren anders, so jedenfalls seine Erfahrung. Wenn ihre Beziehung noch frisch war, hatte der männliche Teil oft das Bedürfnis, sich auf die Brust zu trommeln, das heißt, sich im Tonfall eines Alphatiers zu beschweren, während der weibliche Teil, das musste man ihm lassen, meist eher verlegen dreinschaute. Außerdem trugen junge heterosexuelle Männer heutzutage immer absurde Polarforscherbärte, was auf verstopfte Waschbecken hinauslief und den nie endenden Zorn der eindrucksvollen Madame Tablier herausforderte, seiner femme de ménage, die wie eine Mischung aus einer rüden Bäuerin und einem Nachtklub-Rausschmeißer auftrat.

Familien waren allerdings die schwierigsten Gäste. Eine saß gerade am Ecktisch. Aus dem Augenwinkel beobachtete er sie. Wie so oft handelte es sich um Partner, die beide arbeiteten und sich daher selten sahen. Sie waren für eine Woche aus Paris gekommen, zusammen mit ihren Kindern, die sie sogar noch seltener sahen. Es schmerzte Richard, Familien zu beobachten, deren Mitglieder einander nicht kannten, die sich dann aber für ein paar Tage zwangen, eine Gruppe zu bilden. Auch Madame Tablier war nicht scharf auf Familien. Familien bedeuteten Kinder, und Kinder bedeuteten Krümel auf ihrem strahlend sauberen Fliesenboden oder Fingerabdrücke an den Wänden. Jetzt trat sie durch die Flügeltür herein und klapperte dabei mit ihrem alten Blecheimer. Sie machte ein so finsteres Gesicht, als wäre sie dazu eingeteilt worden, nach einem besonders ausschweifenden Musikfestival aufzuräumen. Die Mutter der Familie, eine stark geschminkte, zierliche Frau mit blondem Kurzhaarschnitt, sagte «Bonjour», und ihr Mann – schütteres Haar und ein No-Name-Rugby-Shirt mit hochgeklapptem Kragen – schloss sich ihr an. Beide sahen ihre Kinder auffordernd an, einen Jungen und ein Mädchen, schick gekleidet, die Haare noch feucht, aber gekämmt, und Schokoaufstrich um den Mund verschmiert. Der Nachwuchs ignorierte seine Eltern.

«Wie sagt man, Kinder?», fragte die Mutter. Ihre Miene ließ vermuten, dass sie das Kindermädchen rausschmeißen würde, sobald sie wieder zu Hause waren.

«Bonjour, Madame», intonierten sie im Chor.

«Hä? Ach so, ja.» Madame Tablier war einen Moment lang überrumpelt. «Bonjour. Also, passt auf, dass ihr nichts auf dem Boden verkleckert.» Sie entfernte sich zur schmalen Treppe, stieg ein paar Stufen hinauf, musste aber kehrtmachen, um Auguste Tatillon vorbeizulassen. Genervt stapfte sie anschließend mit klapperndem Eimer die Treppe hoch.

Tatillon hatte sein Toupet aufgesetzt, und so war auch seine Hochnäsigkeit zurück. Inzwischen war Richard allerdings überzeugt, dass das gar keine hochmütige Pose war, sondern dass er den Kopf steil erhoben halten musste, damit das Haarteil nicht herunterrutschte. Wieder mit demselben gleitenden Gang wie am Vorabend trat Tatillon zur Frühstückstheke.

«Guten Morgen, Monsieur Tatillon, ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.» Das waren immer die ersten Worte, die Richard morgens an einen Gast richtete, und manchmal verwendete er sie auch mehrmals, da er nicht auf Small Talk stand.

«Na ja, ich bin natürlich lang aufgeblieben, da ich den Artikel über Grosmallard schreiben musste.»

«Ist er Ihnen gut von der Hand gegangen?»

«So gut, wie das bei einem Nachruf eben möglich ist», erklärte er unheilvoll. «Allerdings klingt das jetzt vielleicht geschmacklos; heutzutage kann man sich nie sicher sein.» Er beugte sich vertraulich vor. «Wegen, äh, gestern Abend, Monsieur …» Er brach ab und zeigte zur Decke. Richard folgte dem langen, knochigen Zeigefinger und schaute hinauf.

«Wegen gestern Abend?» Dann begriff Richard, dass Tatillon in Wirklichkeit sein Haar meinte. «Ah so, ja, ich verstehe. Oh nein. Ihr Geheimnis ist bei mir sicher aufgehoben. Diskretion ist mein zweiter Vorname.»

«Und ist Diskretion auch der zweite Vorname Ihrer Frau?» Tatillon hätte kaum noch näher an Richard heranrücken können.

Meiner Frau, überlegte Richard. Was um alles in der Welt hatte Clare damit zu tun. Dann wurde er rot. «Oh», sagte er. «Sie meinen Madame d’Orçay, sie ist … äh, sie ist sozusagen eine alte Freundin der Familie.»

Tatillon lehnte sich zurück, ein raubtierhaftes Funkeln in den Augen, das Richard an Shir Khan aus dem Dschungelbuch erinnerte. «Wie interessant», schnurrte der Kritiker und leckte sich die Lippen.

Richard beachtete ihn nicht. «Nun zum Frühstück, Monsieur. Ich habe verschiedene Brotsorten und frische Croissants. Schließlich kommt es nicht allzu oft vor, dass ein berühmter Restaurantkritiker bei uns logiert … Außerdem habe ich das hier vorbereitet.» Er öffnete die Ofentür und holte einen warmen Teller heraus, der mit einer Speiseglocke aus Edelstahl abgedeckt war. «Ein im Ofen gebackener, frisch gesammelter Pilz, gefüllt mit Rührei von frei laufenden Hühnern, das alles auf einem Bett aus zerkleinerten Balsamico-Tomaten und mit frischem Schnittlauch bestreut.» Er hob die Glocke mit dem Schwung eines versierten Zauberers hoch. «Voilà», sagte er triumphierend.

«Ja.» Tatillon beugte sich erneut vertraulich vor, er musste ein weiteres Geheimnis enthüllen. «Haben Sie vielleicht Nutella?», flüsterte er. «Ich liebe dieses Zeug. Ich kann gar nicht genug davon bekommen. Einfach nur etwas Nutella auf Toast, danke.» Er wandte sich seinem Tisch zu und wollte losgehen, drehte sich aber noch einmal halb um. «Nicht Ihre Frau, sagen Sie? Sonderbar – Sie zanken sich, als wären Sie verheiratet.»

Richard setzte die Glocke wieder auf den Teller und stellte den Teller zurück in den Ofen, dabei überging er die neidischen Blicke der Pariser Familie. Das stimmte wohl, dachte er – Valérie und er stritten sich wie ein altes Ehepaar. Sie war ungewöhnlich reizbar gewesen, aber sie hatte ja auch eine Autopanne gehabt, da durfte man gereizt reagieren. Und wie es dann mit Grosmallard weitergegangen war … dass sein berühmtes Dessert mit veganem Käse zubereitet worden war, bedeutete doch gewiss nicht das Ende der Welt? Natürlich kannte Richard die allgemeine Haltung der Franzosen zu veganem Essen ganz genau; sie war vergleichbar mit der britischen Haltung gegenüber Menschen, die erst die Milch in den Teebecher gossen, bevor sie das heiße Wasser dazugaben: Danke, nein danke. Nun war allerdings Fabrice Ménard, der Käselieferant, der berühmte Käselieferant, gestorben. Es war ein ziemlich eigenartiger Zufall, aber vielleicht steckte auch einfach gar nichts dahinter. Richard kannte Ménard, wie sich Geschäftsleute des gleichen Ortes eben so kennen. Trotz seines riesigen unternehmerischen Erfolgs, sogar im internationalen Maßstab, war der kleine Mann immer schüchtern gewesen und körperlich recht schwach.

Das hatte Richard Valérie am Vorabend erzählt, als sie ihm die Nachricht auf ihrem Handy zeigte. Sie kam von Hugo Ménard, dem Sohn:

Die Immobilie steht nicht mehr zum Verkauf. Mein Vater ist tot, und wir sind nicht länger zur Veräußerung gezwungen. H. MÉNARD.

Selbst in Richards Augen war das eine Nachricht, die viele Fragen aufwarf und das Thema keineswegs abschloss. Zunächst einmal war sie mit unziemlicher Hast verschickt worden, aber außerdem schien sie auch anzudeuten, dass Ménard senior nichts von dem anstehenden Immobilienverkauf auf seinem eigenen Grund und Boden gewusst hatte. Oder interpretierte Richard da zu viel hinein? Und was hieß «Wir sind nicht länger zur Veräußerung gezwungen»? Der Senior führte ein florierendes Geschäft, im Tal des Ziegenkäses war er der König der Käsemacher. All diese Fragen waren zweifellos interessant, und Richard kannte Valérie gut genug, um sich darüber im Klaren zu sein, dass sie sie nicht auf sich beruhen lassen würde. Er wusste auch, dass sie ihn mit in die Sache hineinziehen würde. Natürlich würde er sich nach Kräften dagegen sträuben, verwickelt zu werden, und groß in Szene setzen, dass er Valérie nur widerstrebend nachgab. Doch insgeheim, gar nicht so tief verborgen, genoss er all das – in tiefen Zügen. Deswegen hatte er in der Nacht nicht geschlafen. Und außerdem, weil Valérie d’Orçay im Nachbarzimmer geschlummert hatte, im Bett seiner Tochter. Dass sie zudem in seiner Gegend auf Immobiliensuche ging, hatte seiner Nachtruhe auch nicht gerade gutgetan.

Die Pariser Familie erhob sich vom Tisch, und die Kinder kassierten einen weiteren Rüffel, diesmal weil sie die Stühle über den Boden zurückgeschoben hatten, statt sie anzuheben. Sobald sie weg waren, nahm Richard den Frühstücksteller wieder aus dem Ofen. Wenn Tatillon das Gericht nicht wollte, konnte Richard es auch ebenso gut selbst essen. Er nahm die Glocke ab, aber jetzt ohne jeden Schwung, da seine Bemühungen umsonst gewesen waren.

«Ach, Richard!» Wie immer hatte Valérie die Tür geöffnet, ohne dass er sie bemerkt hatte. «Ist das für mich? Es sieht köstlich aus. Morgen, Monsieur.» Sie nickte Tatillon zu, der sie auf ihrem Weg zum Tisch mit offenem Mund anstarrte, eine Scheibe Nutella-Toast auf halbem Wege in der Luft. Heute Morgen war sie ganz Audrey Hepburn. Sie trug eine schwarze Caprihose, schwarze Ballerinas und einen Matrosenpullover in Übergröße. Die Sonnenbrille war auf den Kopf geschoben, das Haar zu einem losen Knoten geschlungen, und über ihrem Arm hing eine Strohtasche mit Passepartout darin, dem ultimativen Accessoire. Der Nutella-Toast schwebte immer noch komisch dicht vor Tatillons Mund, während er ihr nachschaute. In einem Comic wäre jetzt sein Toupet hochgeschwebt und hätte sich einmal um sich selbst gedreht.

Während Richard nun doch Valérie das gebackene Frühstück servierte, gewann Tatillon seine Fassung allmählich zurück. «Ich setz mich gleich zu dir», sagte Richard so laut, dass Tatillon es hören konnte. «Ich koche nur noch einmal Kaffee.»

«Könnte ich bitte auch noch eine Schale Wasser für Passepartout bekommen?»

«Kommt sofort.» Die Zeit, als Richard Valérie hatte klarmachen wollen, Haustiere seien im Frühstückssalon nicht willkommen, und übrigens auch nicht im Gästezimmer, war längst vorbei. Damals hatte Valérie ihn so angesehen, als verstünde sie die Hausordnung zwar ganz genau, aber Passepartout sei nun einmal kein Haustier, sondern ein Familienmitglied, und daher träfe die Regel auf ihn nicht zu. Es war eine der vielen Schlachten, die sie geschlagen hatten und in denen Valérie aufgrund ihrer unerschütterlichen Speziallogik den Sieg davongetragen hatte. Doch schließlich zählte nicht der Sieg, das hatte Richards Vater ihm oft erklärt, entscheidend war, dass man überhaupt am Wettkampf teilnahm. Selbst wenn eine Niederlage unausweichlich war.

Tatillon erhob sich lässig von seinem Tisch und bedeckte den Teller mit seiner Serviette. Gemächlich schlenderte er zu Valérie und vergewisserte sich dabei mit einem Blick, dass Richard es auch sah. «Madame, Sie sehen heute Morgen ganz reizend aus», begann er scheinbar lässig.

«Danke», antwortete sie, wie das nur eine Frau kann, die so etwas ständig hört.

«Madame, heute Abend bin ich zum Dinner in ein anderes Restaurant eingeladen. Ach ja, das Leben ist nichts als Arbeit! Trotzdem würde ich mich sehr freuen, wenn Sie sich mir anschließen würden. Man kann hoffen, dass es erfolgreicher wird als der vorangegangene Abend.»

Valérie strahlte Tatillon an. «Es wäre mir ein Vergnügen, Monsieur, vielen Dank.» Sie schaute auf ihre Uhr, während Tatillon sich mit Siegermiene Richard zuwandte. «Haben wir heute Abend Zeit, Richard?», fragte sie. Er sah ihr Gesicht nicht, da Tatillons enttäuschte Miene es verdeckte.

«Ja, ich denke schon. Das ist sehr nett von Ihnen, Monsieur. Schreiben Sie wieder eine Kritik?», fragte er, ohne seine Freude über seinen Triumph zu kaschieren.

«Ja», antwortete Tatillon ausdruckslos und wandte sich zur Treppe. «Dann sehe ich Sie also beide heute Abend.» Er machte sich nicht die Mühe, seine Verärgerung zu verbergen.

Richard setzte sich mit zwei Kaffees zu ihr.

Madame Tablier stapfte mit klirrendem Eimer die Treppe hinunter und heftete den Blick sofort auf Passepartout. «Ah, Sie sind also zurück, ja?» Sie zog die Augen zusammen. «Mir sind in den Gästezimmern gar keine Hundehaare aufgefallen.»

«Bonjour, Madame.» Valérie stand auf und küsste sie auf beide Wangen, was sie vollständig entwaffnete. «Ich habe gestern Nacht in Richards Haus geschlafen …»

«Im Zimmer meiner Tochter», fügte Richard schnell hinzu.

«Hm, es geschehen wieder so sonderbare Dinge, genau wie letztes Mal, schätze ich. Jedenfalls mag ich den Kerl nicht, dem ich gerade auf der Treppe begegnet bin. Er hat Nutella-Fingerabdrücke auf meinem Geländer hinterlassen …» Vor sich hin grummelnd ging sie nach draußen.

«Also, Richard», sagte Valérie, nun plötzlich eindringlich. «Ich habe jedenfalls beschlossen, trotzdem zur Immobilie Ménards zu fahren.» Er tat so, als wollte er sie unterbrechen. «Diskutieren ist völlig zwecklos», kam sie ihm zuvor. «Der Tonfall der Nachricht, die ich gestern Abend erhalten habe, gefällt mir gar nicht.»

«Oder das Tempo, mit dem sie eintraf.»

«Oder das Tempo, genau, Richard.»

«Du möchtest also selbst nachschauen.»

«Genau, ich möchte selbst nachschauen. Oh.»

«Wirst du dann behaupten, du hättest die Nachricht nicht gesehen?»

Sie senkte den Blick. «Leider habe ich schon geantwortet. Ich sagte, wie leid es mir tue und so weiter.»

«Ah. Dann kannst du nicht einfach auftauchen, oder?» Sie saßen kurze Zeit schweigend da, und Valérie stocherte in ihrem Essen herum.

«Hör mal», sagte Richard ruhig. «Ich habe mich vor ein paar Wochen mit Ménard unterhalten. Wir haben darüber geredet, ob er mich mit seinem berühmten Joghurt beliefern könnte …»

«Und?» In ihrem Blick blitzte Erregung auf.

«Und das war’s schon. Es war einfach eine dieser höflichen Plaudereien beim Aperitif. Sie hat zu nichts geführt.» Sie machte ein enttäuschtes Gesicht. «Aber», begann er, schob dann aber hastig ein: «Ihr seid euch nie persönlich begegnet, oder?»

«Nein, nie.»

«Nun, da wir ohnehin in der Gegend vorbeikommen, wenn wir dein Auto abholen, könnte ich einfach hereinschauen und ihn fragen, ob er noch einmal darüber nachgedacht hat …» Er trank triumphierend einen großen Schluck Kaffee, der viel zu heiß für einen großen Schluck war.

«Oh Richard!», rief sie aus und legte die Gabel aus der Hand. «Einfach genial!»

4

Knisternde Erregung strahlte von Valérie ab wie statische Elektrizität. War sie am Vorabend verstimmt und gereizt gewesen, hatte das nur angedauert, bis sie die Nachricht von Fabrice Ménards Tod erhielt. In Verbindung mit dem Veganer-Käse-Skandal im Restaurant war sie sofort zu dem Schluss gelangt, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Ihre beinahe kindliche Lust auf Abenteuer war in Richards Augen sehr anziehend, obgleich er selbst beinahe das genaue Gegenteil war und durchaus stolz darauf. Sie hoffte auf spannende Verwicklungen und verhielt sich wie ein Kind am ersten Tag der Sommerferien. Natürlich war für sie, die Kopfgeldjägerin, die aufregende Jagd buchstäblich das Lebenselixier; sie brauchte sie wie ein Süchtiger das High. Allerdings wusste Richard, dass diesem bestimmten Abenteuer bald dasselbe widerfahren würde, was dem alten Ménard zugestoßen war: Sein Ende war nah. Er hatte ein etwas schlechtes Gewissen, weil er sein Wissen vorläufig für sich behielt, denn es war in der Gegend allgemein bekannt, dass Fabrice Ménard an einer Herzschwäche litt. Doch wie der Löwe im Zauberer von Oz brachte Richard es nicht über sich, Valérie aufzuklären.

«Hast du gut geschlafen?» Richard fiel keine bessere Frage ein. Sie fuhren über dieselbe Landstraße, die sie am Vorabend genommen hatten, nur saß diesmal Richard am Steuer.

«Was? Oh ja, ja, haben wir, danke.» Passepartout schien auf der Rückbank zustimmend zu nicken. «Aber du hättest mir sagen sollen, dass du ausgebucht bist, Richard, dann hätten wir uns irgendwo ein anderes Zimmer gesucht …»

«Oh, nein!» Sofort spürte er, dass seine Reaktion eher nach Panik klang als nach großmütigem Charme. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als er den Blick von der Straße nahm und der Wagen sich in derselben Kurve schräg legte wie schon am Vorabend. «So etwas kommt nicht infrage», antwortete er so ruhig wie David Niven unter Beschuss und richtete den Wagen wieder gerade.

Valérie kicherte. «Was für ein alberner Mann», sagte sie, und Richard errötete. «Warum tragen Männer überhaupt Perücken?»