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Mord in Aix-en-Provence.
Der betagte Postangestellte René Rouquet wurde in seiner Wohnung ermordet. Hier hatte der berühmte Maler Paul Cézanne einst seine letzten Lebensjahre verbracht. Rouquet hatte eine alte Leinwand entdeckt, auf der eine junge Provenzalin dargestellt ist. Ein echter Cézanne? Aber wer ist die lächelnde Frau auf dem Gemälde? Und wer hat Rouquet ermordet? Richter Antoine Verlaque und die schöne Juraprofessorin Marine Bonnet stehen vor einem komplizierten Fall ...
Ein charmanter Krimi voller Lavendelduft, Kochkunst und Liebe.
„Anheimelnde französische Atmosphäre.“ Berliner Morgenpost.
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Seitenzahl: 395
Mary L. Longworth lebt seit 1997 in Aix-en-Provence. Sie hat für die »Washington Post«, die britische »Times«, den »Independent« und das Magazin »Bon Appétit« über die Region geschrieben. Außerdem ist sie die Verfasserin des zweisprachigen Essay-Bandes »Une Américaine en Provence«. Sie teilt ihre Zeit zwischen Aix, wo sie schreibt, und Paris, wo sie an der New York University das Schreiben lehrt.
Als Aufbau Taschenbuch erschienen bisher »Tod auf Schloss Bremont« (2012), »Mord in der Rue Dumas« (2013), »Tod auf dem Weingut Beauclaire« (2014) und »Mord auf der Insel Sordou« (2015).
Mord in Aix-en-Provence
Der betagte Postangestellte René Rouquet wurde in seiner Wohnung ermordet. Hier hatte der berühmte Maler Paul Cézanne einst seine letzten Lebensjahre verbracht. Rouquet hatte eine alte Leinwand entdeckt, auf der eine junge Provenzalin dargestellt ist. Ein echter Cézanne? Aber wer ist die lächelnde Frau auf dem Gemälde? Und wer hat Rouquet ermordet?
Richter Antoine Verlaque und die schöne Juraprofessorin Marine Bonnet stehen vor einem komplizierten Fall. Ein charmanter Krimi voller Lavendelduft, Kochkunst und Liebe.
»Anheimelnde französische Atmosphäre.« Berliner Morgenpost
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Mary L. Longworth
Mord im Maison Cézanne
Ein Provence-Krimi
Aus dem Amerikanischen von Helmut Ettinger
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Impressum
Für Sophie und Philippe
Vorbemerkung der Autorin
Paul Cézanne hatte 1885 tatsächlich eine Affäre »mit einer geheimnisvollen Frau aus Aix«. Von diesem Kuriosum habe ich zum ersten Mal in einem Artikel des New Yorker gelesen und es später in Paul Cézannes Briefen, herausgegeben 1976 von John Rewald, bestätigt gefunden. Cézannes gute Freunde Émile Zola und Philippe Solari haben, wie bekannt, wirklich gelebt, aber alle weiteren Personen sind von der Autorin frei erfunden.
Dreikönigstag
Der Januar war sein Lieblingsmonat. Er mochte die Winter in der Provence: Die Tage waren kalt und trocken, meist mit einem klaren blauen Himmel. Die uralten Platanen, die im Sommer so wichtig waren, um mit ihrem dichten Laub Schatten zu spenden, wirkten wie große knorrige Skulpturen. Da sie nun kahl waren, konnten die in mattem Goldgelb gehaltenen Prachtbauten am Cours Mirabeau ihre Wirkung voll entfalten – die Stadtpalais aus dem 17. Jahrhundert, in denen jetzt Banken, Anwaltskanzleien, Cafés und seit Beginn des neuen Jahrhunderts auch die Filialen amerikanischer Ketten saßen. Vor allem aber war im Januar all der Kommerz und Stress von Weihnachten vorüber, und der Alltag aus Arbeit, Zigarrenklub und Leben mit Marine konnte neu beginnen. In diesem Jahr wollte er ein besserer Chef, ein besserer Freund und ein besserer Liebhaber sein. Oder es zumindest versuchen. Wie wenn man den Reset-Knopf am Computer drückt, dachte er bei sich.
Antoine Verlaque blieb mitten auf dem Cours stehen, lehnte sich an einen der großen Bäume, dessen grau und blassgrün gefleckte Rinde an das Muster eines militärischen Kampfanzuges erinnerte, und zündete seine Zigarre neu an. Er paffte in aller Ruhe seine Partagas und sah dabei den Leuten zu, die über die breite Prachtstraße flanierten. Drei Teenager mit fast gleicher Frisur und riesigen, sündhaft teuren Handtaschen gingen untergehakt an ihm vorbei und schnatterten miteinander in einem solchen Tempo, dass er fast kein Wort verstand. Etwas an dem Trio erinnerte Verlaque an seine eigene Jugend in Paris. War es ihr offenkundiger Reichtum, den man in Aix wie auch in bestimmten Vierteln von Paris gern zur Schau stellte, war es die Leichtigkeit im Umgang miteinander oder ihre Selbstsicherheit? Am Gymnasium hatte er Freundinnen wie diese Mädchen gehabt, aber an ihre Gesichter konnte er sich nur noch schemenhaft erinnern. Geblieben waren ihre Namen, die vom guten Geschmack und der Bildung ihrer Eltern zeugten oder auch von deren Katholizismus: Victoire, Mazarine, Josephine, Marie-Clothilde.
Eine alte Frau kam ihm entgegen. Von weitem sah es aus, als sei sie in Bademantel und Pantoffeln auf die Straße gegangen. Mitleid krampfte Verlaques Herz zusammen. Doch als sie näher kam, sah er zu seiner Erleichterung, dass sie einen Wintermantel trug, wenn er auch dünn und abgetragen wirkte. Aber ihre Füße steckten tatsächlich in Pantoffeln.
Auf ihren Stock gestützt, blieb sie stehen, um ein wenig Luft zu holen, blickte zu dem Richter auf und lächelte. »Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen, Monsieur«, sagte sie langsam und deutlich. Das klang nach einer gebildeten Pariserin.
»Auch Ihnen einen schönen Tag, Madame«, antwortete Verlaque, lächelte und verbeugte sich leicht, um ihr seinen Respekt zu bezeugen.
Die Frau sog tief die frische Luft ein und schaute zum Himmel auf. »Blau und klar«, sagte sie dabei.
»Der einzige blaue Himmel heute in ganz Frankreich«, gab Verlaque zurück. »Ich habe mir vorhin den Wetterbericht angeschaut.« Auf dem Computer … sagte er besser nicht. Er stellte sich vor, dass in ihrer Stube sicher ein alter Röhrenfernseher mit Zimmerantenne stand.
»Hm«, machte sie nur, und ihr Gebiss klapperte. Sie hob ihren Stock und wollte weitergehen. »Und Weihnachten ist endlich vorbei.«
Jetzt musste Verlaque laut lachen. »Zum Glück.«
Sie nickte ihm wortlos zu und ging. Verlaque wandte sich um und sah ihr nach. Wo sie wohl wohnte? In einem schäbigen möblierten Zimmerchen? Oder war sie eine exzentrische Adlige, die mit zu vielen Katzen in einem dieser großbürgerlichen Stadtpalais residierte? Eines schien allerdings klar zu sein: Sie lebte allein. Seine Eltern hatten einander noch, auch wenn sie kaum miteinander redeten. Dazu eine ganze Schar von Bediensteten, die sich um sie kümmerten.
Er ging weiter auf der mit Kopfsteinen gepflasterten Seite des Cours in Richtung seiner Lieblings-Bäckerei. Ein Paar kam ihm entgegen, und er musste sich Mühe geben, nicht die Stirn zu runzeln. Das war die Sorte Leute, die er verabscheute: Sie zu schlank, zu aufgedonnert, mit Frisur und extravaganter Handtasche wie die Teenager, denen er gerade begegnet war. Sie stakte auf viel zu hohen Absätzen einher und schob einen Kindersportwagen, nicht viel kleiner als sein Porsche, Baujahr 1963. Verlaque konnte sich nicht vorstellen, wie sie sich dabei mit ihrem Kind unterhielt. Das Gefährt war wohl auch nur ein Accessoire. Aber vielleicht war das unfair. Versuche, im neuen Jahr ein besserer Mensch zu sein, Antoine.
Er schaute den Leuten gern in die Augen, um etwas von ihrem Charakter zu erkennen, aber Mann und Frau trugen riesige Sonnenbrillen, die sie wie Fliegen aussehen ließen. Dolce & Gabbana. Sie hatten ihr Haar in der gleichen Weise gefärbt, oder war es möglich, dass ihnen die Natur so viele Strähnchen in roten und blonden Tönen geschenkt hatte? Er trug eine lederne Motorradjacke, die von Markennamen und deren Logos übersät war. Verlaque gab sich Mühe, bei dieser offensichtlichen Effekthascherei gelassen zu bleiben. Er wusste, dass Marine so etwas kaum zur Kenntnis nahm. Er sog an seiner Zigarre und schwor sich, es ihr gleichzutun.
»Noch so ein Vorsatz«, murmelte er vor sich hin. Und dann sah er die Schlange. »Was, zum Henker …?«
Eine Reihe Wartender, mindestens zwanzig, quoll aus Michauds Ladentür auf den Gehweg hinaus. Verlaque zückte sein Smartphone und schaute auf das Datum. »Merde!« Da klingelte das kleine Ding, und noch ungehalten, nahm er das Gespräch an. »Ja!«, schrie er fast hinein.
»Guten Morgen, Monsieur. Störe ich?«
»Nein, nein«, antwortete Verlaque. »Entschuldigung, Bruno. Ich stehe gerade hungrig auf dem Cours vor der Tür von Michaud und habe ganz vergessen, dass heute der 6. Januar ist.«
Der Kriminalkommissar von Aix-en-Provence musste lachen. Dann hüstelte er verlegen. »Tut mir leid. Die Leute stehen an, um ihre Dreikönigskuchen zu kaufen, oder?«
»Was sonst!«, brummte Verlaque und stellte sich an. »Wer isst denn heute noch so etwas?«
Wieder musste Bruno Paulik hüsteln. »Also …«, sagte er, »tjaaa …«
»Ich will doch nur eine Brioche, zu Hause bin ich nicht zum Frühstücken gekommen«, erklärte Verlaque. »Es wird wohl eine Weile dauern, bis ich im Büro bin.«
»Wenn Sie schon einmal in der Schlange stehen, Monsieur le juge«, sagte da Paulik …
»Soll ich Ihnen auch so ein süßes Hefebrötchen mitbringen? Kein Problem.«
»Das nun gerade nicht«, druckste Paulik. »Ich habe Hélène und Léa versprochen, den Dreikönigskuchen für heute Abend zu kaufen.«
»O je«, kam es von Verlaque.
»Die mittlere Größe wäre richtig«, fuhr Paulik fort, als sei Verlaques Bemerkung ihm entgangen. »Und vergessen Sie die Papierkrone nicht«, betonte er. »Léa spielt verrückt, wenn wir keine Krone haben.«
»Ich weiß, was es mit der Krone auf sich hat, Bruno«, brummte Verlaque und rückte langsam in Richtung Ladentür vor. Als er endlich die Schwelle erreicht hatte, legte er seine Zigarre auf dem Schaufensterbrett ab. Beim Hinausgehen wollte er sie wieder mitnehmen. Der Duft von Butter und schmelzendem Zucker ließ seinen Magen heftig knurren. »Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal Dreikönigskuchen gegessen habe. Ich mache mir nichts aus Mandelcreme.«
»Übrigens«, sprach Paulik weiter, als habe er nicht zugehört, »haben wir heute Nachmittag im Justizpalast ein Dreikönigsfest. Ich hatte ganz vergessen, Ihnen das zu sagen.«
Jetzt nahm Verlaque das Telefon vom Ohr und schaute darauf, fassungslos über diesen merkwürdigen Enthusiasmus seines Kommissars, eines bulligen ehemaligen Rugby-Spielers.
Paulik war nicht zu bremsen. »Léa hat mich heute Morgen gefragt, ob Sie und Marine nicht heute Abend zu uns kommen wollen, um mit uns den Dreikönigstag zu feiern.«
Léas ernsthafte Einladung zauberte ein Lächeln auf Verlaques Gesicht. Aber wenn er daran dachte, dass er nun an einem Tag sogar zweimal Kuchen mit Mandelcreme essen sollte, drehte sich ihm der Magen um. »Wir kommen gern«, sagte er stattdessen, denn er sah das strahlende Lächeln der zehnjährigen Léa Paulik deutlich vor sich. »Heute Abend trifft sich zwar mein Zigarrenklub, aber dort kann ich auch später noch aufkreuzen.«
»Wunderbar. Wie war es heute Morgen bei Gericht?«
»Unsere Mühe hat sich gelohnt, Bruno«, antwortete Verlaque. »Kévin Malongo wird die nächsten zwanzig Jahre hinter Gittern verbringen.«
»So muss es sein. Bis gleich.«
Endlich stand Verlaque in Michauds Bäckerei. Aus der Backstube hatte man hohe Gestelle aus Edelstahl herbeigeschafft, auf denen von oben bis unten die lockeren Blätterteigkuchen lagen. Die Wartenden reckten die Hälse und wählten bereits von weitem das Gewünschte aus. Verlaque fand, dass sie alle gleich aussahen. Die Kunden, die an der Reihe waren, zeigten auf den Kuchen ihrer Wahl, der dann von einer Verkäuferin in der schwarzweißen Uniform des Geschäfts vorsichtig vom Gestell genommen und in eine glänzend rote Schachtel bugsiert wurde. Beim Preis blieb Verlaque der Mund offenstehen. Dreißig Euro? Schließlich war in dem Kuchen nur eine Bohne und kein Brillant versteckt. Und warum wurde am Nachmittag im Justizpalast eine Party veranstaltet? Er versuchte sich vorzustellen, wie seine Polizeibeamten um die Kuchen herumsaßen, während der Jüngste – Jules? – im Schneidersitz unter dem Tisch hockte und ihre Namen aufrief. Verlaque seufzte. Eigentlich liebte er die Traditionen seines Landes, aber manchmal …
»Monsieur le juge«, hörte er da eine Verkäuferin sagen. Er kannte sie, denn sie war bei Michaud beschäftigt, solange er denken konnte. Sie hatte ihn offenbar auch erkannt.
»Einen Dreikönigskuchen, bitte, und zwei Brioches«, antwortete er.
»Welcher Kuchen soll es denn sein?«, fragte sie.
Verlaque betrachtete die Kuchen. Die weiter unten schienen ihm zu klein, schiefe oder mit anderen Mängeln behaftete schieden ebenfalls aus. Die Verkäuferin trat von einem Bein aufs andere, bis er schließlich auf den obersten Kuchen wies. Am Abend würden sie fünf Personen sein, und Léa wollte sicher einen großen Kuchen. »Vergessen Sie die Krone nicht!«, rief er der Verkäuferin zu.
Natalie Chazeau hatte Antoine Verlaque durch das Schaufenster ihres Büros beobachtet. Die Agence de la ville war das vornehmste Immobilienbüro von Aix-en-Provence. Zumindest war sie das gewesen, bis John Taylor Immobilien auf der anderen Straßenseite eine Filiale eröffnete. Mme Chazeau, eine gutaussehende, hochgewachsene Dame Anfang siebzig, war die Besitzerin der Firma. Sie hatte sie zusammen mit ihrem Mann aufgebaut, der vor zwanzig Jahren an einem Herzinfarkt verstorben war. Als sie dieses Büro in bester Lage am Cours Mirabeau kauften, waren sie jung verheiratet. Jahrelang hatten sie sich alles vom Munde abgespart, um den Kredit zurückzuzahlen. Inzwischen war das Unternehmen ein Vermögen wert.
Mme Chazeau stellte Farbfotos von zwei frisch zum Verkauf bereiten Objekten in das riesige Schaufenster des Büros, wo sie die Passanten entdeckten, stehen blieben und ins Träumen gerieten. Das eine lag am Stadtrand von Aix, das andere im Luberon. Wer allerdings bei der Agence de la ville kaufte, schaute sich selten zuvor die Fotos im Schaufenster an. Meist hatten solche Leute Angestellte, die den perfekten (häufig genug zweiten oder dritten) Wohnsitz für sie suchten. Aber die Agentur war für ihr großes Schaufenster bekannt, so wie die Bäckerei und Konditorei Michaud gegenüber, wo Natalie Verlaque in der Schlange der Wartenden entdeckt hatte.
Als das letzte Foto angebracht war, sprach der Richter gerade mit gesenktem Kopf in sein Smartphone und paffte eine Zigarre dabei. Die Schlange bewegte sich nur langsam. Er erinnerte sie an ihren einzigen Sohn Christophe, der mit dem Richter befreundet war und ebenfalls Zigarren rauchte. Er war erst kürzlich nach Paris gegangen und hatte dort seine eigene Agentur eröffnet. Wäre sie jünger gewesen, hätte sie alles unternommen, um Antoine Verlaque für sich zu gewinnen. Aber diese Zeit war lange vorbei. Sie wusste, dass er sie so sah wie andere Leute auch – eine vornehme, hart arbeitende alte Frau, die wahrscheinlich ihr dichtes schwarzes Haar färbte (was sie nicht tat). Sie blickte auf Verlaques breiten Rücken, der in einem schwarzen Mantel – wahrscheinlich Kaschmir – steckte, richtete sich dann auf und drehte gedankenverloren an einem ihrer mit Diamanten besetzten Ohrringe, einem Geschenk von Christophe.
Das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte, und sie nahm ab. Bis es kurz vor 18.00 Uhr dunkel wurde, erhielt sie noch über fünfzehn Anrufe. Dann verließ sie das Büro und sagte ihrer Sekretärin Julie, sie könnte nun nach Hause gehen. Nach der Zusammenkunft am Abend wollte sie selbst das Haus abschließen. Sie dankte Julie für ihre fleißige Arbeit, zupfte den feinen Wollschal am Hals des jungen Mädchens zurecht und warf dann noch einen Blick durch die Glastür auf die Warteschlange gegenüber. Der Richter war lange fort; nun wusste sie nicht, wie viele Kuchen er gekauft hatte. Mme Chazeau wünschte, sie könnte nach Hause gehen, in ihre Hauspantoffeln schlüpfen, ihren Halbbruder Franz in Deutschland anrufen und ihm von Michauds berühmten Dreikönigskuchen erzählen. Aber an diesem Abend musste sie noch arbeiten; sie hatte eine Versammlung von Wohnungseigentümern in dem vierstöckigen Wohnhaus Rue Boulegon 23 zu leiten. Es hatte Zeiten gegeben, da war der Immobilienhandel leichter gewesen, und sie hatte nicht als Hausverwalterin agieren müssen. Den Ärger mit den vielen banalen Tagesproblemen von Wohnungsbesitzern mussten sich kleinere, weniger renommierte Büros antun. Besonders wenn es um Häuser in der Altstadt von Aix ging, die oft über 500 Jahre alt waren. Aber Kunden zu finden – ob in Frankreich oder im Ausland –, die noch Objekte für über zwei Millionen Euro kauften, wurde immer schwieriger. Daher hatte sie eingewilligt, die Eigentümer von Rue Boulegon 23 zu vertreten, und sei es nur des besonderen Objektes wegen: Es war ein schönes, gutgepflegtes Haus, und der Maler Paul Cézanne hatte dort seinen letzten Wohnsitz gehabt.
Ein dumpfes Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. René Rouquet war gegen ihre Glastür gelaufen. Erschrocken öffnete sie ihm. »M. Rouquet«, sagte sie, »Kopf hoch beim Gehen. Willkommen. Sie sind der Erste.«
Rouquet grummelte etwas wie »Guten Abend« und trat ein. Er hielt den Kopf immer noch gesenkt, lehnte sich an Julies Schreibtisch mit der großen Marmorplatte und knetete seine Wollmütze in den Händen. Mme Chazeau musste lächeln, zufrieden, dass der etwas grobe pensionierte Postbeamte sich an seine Kinderstube erinnerte und wenigstens die Mütze abgenommen hatte. Als die kleine Glocke über der Tür wieder läutete, wandte sie sich um und sah, dass alle übrigen Eigentümer gemeinsam eintrafen, als hätten sie sich verabredet: Pierre Millot, der die neuen Besitzer seiner bisherigen Wohnung im obersten Stock begleitete – ein junges Paar, das Mme Chazeau noch nicht kannte –, Dr. Pitavy, ein Podologe, der in zwei Räumen im Erdgeschoss neben der Haustür eine Praxis führte, und Philomène Joubert, Besitzerin von zwei Wohnungen in der zweiten Etage über Dr. Pitavys Praxis, die sie vermietete.
»Haben Sie die Schlange bei Michaud gesehen?«, fragte Mme Joubert beim Eintreten. Sie blies sich in die kalten Hände und wünschte, sie hätte ihr Haus in der Rue Cardinale nicht ohne Handschuhe verlassen.
»Ich habe meinen Dreikönigskuchen schon heute Morgen gekauft«, teilte Dr. Pitavy mit und grinste.
»Ich backe ihn selbst«, erklärte Philomène Joubert und warf dem Doktor einen unfreundlichen Blick zu. Was für ein überheblicher Kerl, dachte sie bei sich.
»Michaud ist eine Institution«, erklärte Pierre Millot Françoise und Eric Legendre, die erst kürzlich nach Aix gezogen waren. »Auch Cézanne hat dort eingekauft.«
»Da nun alle versammelt sind, lassen Sie uns nach oben in den Besprechungsraum gehen«, schlug Mme Chazeau vor. Sie schloss die Haustür ab und ließ den Schlüssel samt großem klapperndem Schlüsselbund von innen stecken.
»Und der Belgier?«, fragte René Rouquet auf der Treppe.
»M. Staelens«, antwortete ihm Mme Chazeau, »hat mich heute Nachmittag angerufen. Er ist zu Hause in Brüssel und lässt Sie grüßen.«
Als alle Platz genommen hatten, schloss Mme Chazeau aus Gewohnheit die Tür des Besprechungsraumes. Sie selbst setzte sich ans obere Ende des Beratungstisches und öffnete eine rote Mappe. »Pierre, stellen Sie uns doch die neuen Besitzer Ihrer bisherigen Wohnung vor«, bat sie. Wie merkwürdig sie es fand, dass Pierre Millot an diesem Abend noch anwesend war, obwohl er im Haus Nr. 23 keine Wohnung mehr besaß, sagte sie nicht. Ähnliches hatte sie schon erlebt: Manchen Menschen fiel es schwer, loszulassen, obwohl alle Papiere längst unterzeichnet waren. Vor Jahren hatte ein früherer Eigentümer solche Sehnsucht gehabt, dass er jeden Abend zu seinem alten Haus fuhr, davor parkte und sich das Grundstück ansah, das er dreißig Jahre lang hingebungsvoll gepflegt hatte. Als er es schließlich auch betrat und darauf herumlief, mussten die neuen Eigentümer ihn mit Hilfe der Behörden daran hindern.
Pierre richtete sich kerzengerade auf und sagte: »Ich möchte Ihnen Eric und Françoise Legendre vorstellen, die vor sechs Tagen in meine frühere Wohnung gezogen sind. Sie sind nach Frankreich zurückgekehrt, nachdem sie über zehn Jahre in New York gelebt haben.«
»In New York?«, fragte Mme Chazeau. »Und wie war es dort?«
»Teuer«, antwortete Eric Legendre kurz angebunden.
»Das habe ich schon gehört«, gab Mme Chazeau zurück. »Willkommen in Aix. Wenn Sie irgendwelche Fragen haben – vielleicht über unsere Stadt –, ich stehe immer zu Ihrer Verfügung.«
»Danke«, antwortete Françoise Legendre sanft und blickte dabei ihren Gatten lächelnd an.
Mme Chazeau griff nach einem Stift. Jetzt begann der offizielle Teil des Abends. »Der erste Punkt unserer Tagesordnung betrifft die Reinigung von Eingangsbereich und Treppen. Der Preis ist um 15 Euro im Monat gestiegen. Sind Sie damit einverstanden?«
»Haben wir denn eine Wahl?«, fragte Dr. Pitavy.
»Wir können die Reinigungsfirma wechseln«, erklärte Mme Chazeau. »Was bedeutet, andere Firmen zu prüfen. Das habe ich bereits getan. Unsere ist derzeit die billigste, obwohl sie den Preis erhöht hat.«
»Wenn das so ist, stimme ich zu«, sagte Mme Joubert und hob die Hand.
»M. Staelens ebenfalls«, teilte Mme Chazeau mit. »Mit ihm habe ich die heutige Tagesordnung per Telefon abgearbeitet.« An die Adresse des Ehepaares Legendre fügte sie hinzu: »Jan Staelens gehört eine große Wohnung in der dritten Etage. Er nutzt sie für den Urlaub. Was meinen Sie zur Erhöhung der Reinigungskosten?«
Eric Legendre blickte seine Frau an und zuckte die Schultern. »Wir werden wohl zustimmen.«
»Ich auch«, ließ Dr. Pitavy mit einem Seufzer hören.
»M. Rouquet?«, fragte Mme Chazeau.
René Rouquet blickte auf. Er hatte die ganze Zeit seine Mütze in den Händen gedreht und war wohl mit anderen Dingen beschäftigt. Wichtigeren Dingen.
»Wir stimmen gerade über eine Erhöhung der Gebühren für die Reinigung der allen zugänglichen Teile des Hauses ab«, erläuterte Mme Chazeau. »Die anderen sind einverstanden.«
»Na schön«, murmelte Rouquet.
Mme Chazeau klopfte mit ihrem Stift auf den Tisch.
»Ich bin einverstanden«, sagte er.
»Danke«, erwiderte Mme Chazeau und machte sich eine Notiz. Von ihm, der für seine Sparsamkeit berüchtigt war, hatte sie mehr Widerstand erwartet. Aber in der Regel war er bei solchen Zusammenkünften aufmerksamer. »Als Nächstes steht auf unserer Tagesordnung …«
»Der rätselhafte Lagerraum«, warf Dr. Pitavy ein.
»So ist es …«
»Ich möchte ihn gern mieten«, fuhr Dr. Pitavy fort. »Er liegt direkt gegenüber meiner Praxis. Ich könnte dort Geräte abstellen und Papiere lagern, die ich für die Steuer und den Ärzteverband zehn Jahre lang aufbewahren muss. Wenn ich dafür keinen zusätzlichen Raum finde, werde ich mit meiner Praxis wohl ausziehen müssen. Und Ihnen allen ist es doch sicher angenehmer, einen Arzt meiner Richtung im Parterre zu haben als vielleicht einen Zahnarzt, der ständig bohrt, oder gar einen Imbissladen, wo immerzu gegrillt und gebrutzelt wird.«
»Wer nutzt denn jetzt diesen Raum?«, fragte Philomène Joubert. »Eine meiner Studentinnen, die die kleinere Wohnung gemietet hat, hat mich schon gefragt, ob sie dort nicht ihr Fahrrad abstellen kann.« Mme Joubert vermietete ihre beiden Wohnungen an Studenten, stets Mädchen, die sie wie Verwandte bemutterte (besonders, wenn sie regelmäßig zur Messe gingen). Sie brauchte gar nicht mehr an der Universität zu annoncieren, denn die Wohnungen wurden immer wieder an Freundinnen, Schwestern oder Cousinen weitergegeben.
»Das Konfektionsgeschäft in Nr. 21«, antwortete Dr. Pitavy.
Mme Chazeau seufzte und legte ihren Stift nieder. Der Podologe hielt sich offenbar für den Versammlungsleiter.
»Die benutzen ihn als Lagerraum. Sie sagen aber nicht, von wem sie ihn gemietet haben!«
»M. Rouquet«, sagte Mme Chazeau vorsichtig und schaute dabei den pensionierten Postbeamten an. »Da dieser Raum bisher nie ein Problem war, habe ich erst heute im Grundbuch nachgeschaut und festgestellt, dass er zu Ihrer Wohnung gehört. Möchten Sie ihn an Dr. Pitavy vermieten?«
René Rouquet blickte überrascht zu ihr auf und starrte Pierre an. Dann packte er seinen Mantel und stand so unvermittelt auf, dass er seinen Stuhl umwarf. Etwas vor sich hin murmelnd, lief er zur Tür. Eric und Françoise Legendre schauten verwirrt zu Mme Chazeau. Philomène Joubert holte ungerührt Wolle und Nadeln hervor und begann zu stricken.
»Laufen Sie nicht weg, M. Rouquet!«, rief Mme Chazeau dem Mann nach.
»Ich rede mit ihm«, sagte Pierre Millot, sprang auf und warf sich den Mantel über. »Er ist nur etwas …«
»M. Rouquet«, wiederholte Mme Chazeau, als sich die Haustür unter lautem Bimmeln des Glöckchens öffnete und wieder schloss. Sie stand auf und ging zu dem großen Fenster, von wo man den Cours Mirabeau überschauen konnte. Bei Michaud warteten immer noch Kunden. Rouquet und Pierre standen mitten auf dem Bürgersteig. Rouquet gestikulierte wild, Pierre wollte dem alten Mann eine Hand auf die Schulter legen, aber dieser wehrte heftig ab. Mme Chazeau wandte sich wieder der kleiner gewordenen Runde zu. »Wo waren wir stehengeblieben?«
Pierres Anliegen
»Weißt Du, wie komisch du aussiehst, wenn du mit einer goldenen Papierkrone auf dem Kopf deinen Porsche fährst?«, sagte Marine und warf ihrem Freund einen kritischen Blick zu.
»Tatsächlich?«, fragte Verlaque und tat überrascht. »Willst du damit sagen, in einem anderen Wagen, einem neueren Peugeot oder einem zerbeulten Pickup, sähe ich mit der Krone besser aus?«
Jetzt musste Marine laut lachen. »Dir hat der Abend Spaß gemacht, stimmt’s?«
»Bei den Pauliks macht es immer Spaß«, gab Verlaque zurück. »Und so wenig ich den Kuchen mag, so ist es doch ein hübsches Spiel, wenn die Jüngste in der Runde unter dem Tisch hockt und die Namen ruft. Bei uns hat das immer Sébastien gemacht.«
»Und bei uns immer ich«, stellte Marine fest. Marine Bonnet, die Juraprofessorin, war als Einzelkind in der Familie eines Arztes und einer Theologin aufgewachsen. »Léa war begeistert, als du das Kuchenstück mit der Bohne bekommen hast.«
»Sie ist eben meine treue Untertanin.«
»Ich denke, sie hat sich köstlich darüber amüsiert, wie lächerlich du mit der Krone aussahst.«
»Für diese Bemerkung kommst du in den Turm!«
Marine lächelte und schaute aus dem Wagenfenster. Obwohl es dunkel war, hatten sie die schmale, gewundene Route de Cézanne statt der schnurgeraden Nationalstraße genommen. Die Scheinwerfer des Porsches fielen auf die silbrigen Blätter der Olivenbäume, an denen sie vorüberkamen. Immer wenn sie auf dieser Straße fuhren, musste Marine an Aix’ berühmtesten Sohn Paul Cézanne denken. Sie stellte sich vor, wie er hier, die Staffelei auf dem Rücken, fast täglich entlanggegangen war. Diese Straße hatte ihm auch den Tod gebracht. Hier war er in einen Sturm geraten und hatte sich eine Lungenentzündung geholt, an der er wenige Tage später im Alter von 67 Jahren starb.
»Es ist wunderbar, wenn Léa für uns singt, nicht wahr?«, sagte Verlaque mit einem Lächeln.
»Hm«, ließ Marine hören und runzelte die Stirn. »Aber raubt das Konservatorium einem Kind in diesem Alter nicht zu viel Zeit?«
»Hast du denn nicht ihr Gesicht gesehen?«
»Ja«, antwortete Marine nachdenklich. »Natürlich hat sie Freude am Singen. Vor allem hatte sie Zuhörer, die von ihr fasziniert waren.«
»Meinst du, ihre Freude war nicht echt?«, fragte Verlaque und warf Marine einen Blick zu.
»Sie ist von der Art Mädchen, die alles tun, um Erwachsenen zu gefallen.«
Da jetzt eine Haarnadelkurve kam, musste Verlaque seinen Porsche-Oldtimer, Baujahr 1963, in den zweiten Gang schalten. »Woher willst du das wissen?«
Marine zwang sich zu einem Lächeln. »Weil ich selber von der Sorte kleiner Mädchen war.«
»Und schau, was aus dir geworden ist …«
»Genau. Vorsicht, da kommt eine Bremsschwelle.«
Verlaque bremste den Wagen noch mehr ab und rollte vorsichtig über das künstliche Hindernis. Léas Gesang hatte ihn begeistert, und er war ein bisschen frustriert, dass Marine ihm den Abend schlechtreden wollte. Sie fuhren bereits durch die Vororte von Aix, wo anstelle von Olivenbäumen einzelne Häuschen und niedrige Wohnblöcke die Straße säumten. Das war das ruhige Viertel La Torse, fast genauso teuer wie der Bau der Route de Cézanne. Leute, die hier wohnten, prahlten damit, dass sie das Stadtzentrum zu Fuß erreichen konnten, aber auch in drei Minuten auf der Nationalstraße waren und außerdem ihren Wagen vor der Haustür parken konnten. Er hasste La Torse.
»Noch einmal zu Léa«, sagte Verlaque. »Meinst du nicht, Bruno und Hélène würden ihr die Musikstunden streichen, wenn sie spürten, dass sie darunter leidet?«
Marine biss sich auf die Lippen. »Dafür kenne ich sie zu wenig.«
»Aber ihre Tochter glaubst du zu kennen.«
»Ach, vergessen wir das doch, Antoine.«
»Was quält dich? Warum hast du so schlechte Laune? Du verhältst dich in letzter Zeit etwas merkwürdig.«
»Mir geht es gut«, sagte sie leise.
Verlaque bog nach rechts in die Ringstraße ein, die die Altstadt von Aix umgibt, hielt sich dann scharf links und rollte die steile, schmale Rue Emeric David hinunter, die fast vor dem riesigen weißen Justizpalast im neoklassizistischen Stil endet.
»Das klingt aber nicht sehr überzeugend«, sagte er und umfasste sie mit einem Blick.
»Ich will nicht jammern«, sagte sie. »Ich weiß, dass ich glücklich sein müsste: Ich habe einen guten Job in der Wissenschaft, der alles von mir fordert und den ich genieße, wenn man von den vielen nutzlosen Sitzungen einmal absieht. Meine Eltern leben beide und sind gesund. Ich habe meine Wohnung gekauft, bevor der TGV-Anschluss Zugladungen voller Pariser nach Aix gebracht hat, wovon die Immobilienpreise in die Höhe geschossen sind. Und«, sie streichelte Verlaques Schulter, »ich liebe einen wundervollen Mann. Aber heute Abend geht es mir nicht gut; ich weiß selber nicht, warum. Ich sollte mich eigentlich schämen …«
»Ärgerst du dich über mich?«
Marine seufzte. »Mal ehrlich, Antoine …« Beinahe hätte sie gesagt: Es dreht sich nicht alles um dich. Aber das behielt sie für sich. Antoine wollte eine Antwort, eine logische Erklärung. Aber Marine, die an der Universität den ganzen Tag mit Worten und Argumenten zu tun hatte, war an diesem Abend einfach nicht in der Lage, ihre Gefühle in Worte zu fassen. Sie hätte höchstens schildern können, was sie gesehen hatte: Die Pauliks in ihrem 300 Jahre alten Bauernhaus, die über das undichte Dach im Esszimmer lachten, die singende Léa, deren braune Augen strahlten, wenn sie Antoine anschaute, und Antoine, der mürrisch sein konnte, wie kaum ein anderer, lachte, als gäbe es für ihn überhaupt keine Sorgen auf dieser Welt. Das verstand sie nicht und ärgerte sich darüber, dass sie es nicht erklären konnte. Als Antoine zusammen mit Hélène Paulik die Weingläser spülte, hatte sie gehört, wie er ihr von seinen Eltern in Paris erzählte. Dabei sagte er: »Ich glaube, sie begegnen sich einmal wöchentlich in der Diele ihres großen Hauses.« Er hatte es so leicht dahingesagt und dabei die ständig gerunzelten Brauen seiner Mutter so gut nachgemacht, dass Hélène laut lachen musste. Mit ihr war Antoine schon über ein Jahr zusammen gewesen, bis sie auch nur die Vornamen seiner Eltern erfuhr.
»Die Stadt ist nachts schöner als bei Tag«, sagte Marine und schaute in die Dunkelheit hinaus. »Zumindest im Winter. Nachts sind die Häuser nicht nur goldfarben, sondern sie strahlen geradezu.«
»Toll, wie du das Thema wechselst«, ließ Verlaque fallen. Wieder musste er den Wagen stark abbremsen, um auf der Rue d’Italie eine Bremsschwelle zu nehmen. »Wir sind fast vor deinem Haus, aber ich lasse dich nicht gehen, bevor du mir erklärt hast, was los ist.« Er bog nach rechts in die Rue Fernand Dol ein und hielt vor Marines grüner Haustür.
»Bitte sag mir nicht, Antoine, was ich zu tun habe.«
»Was?«, fragte er und schaltete die Warnblinker ein. Ein Volkswagen Polo, aus dem laute, plärrende Musik ertönte, hielt hinter ihm. »Marine«, sagte Verlaque, »ich versuche zu verstehen, wie unser Gespräch über ein glückliches kleines Mädchen mit deinem Bekenntnis enden konnte, dass du unglücklich bist.«
Der Polo hupte. Marine öffnete die Beifahrertür und stieg rasch aus. Verlaque sprang ebenfalls aus dem Wagen und folgte ihr.
»Es ist spät, Antoine«, sagte Marine und suchte in ihrer Handtasche nach dem Hausschlüssel. »Wir können morgen weiterreden.«
»Worüber?«, fragte er. »Was ist denn los?« Der Polo hupte wieder, Verlaque fluchte, trat an den Wagen heran und bedeutete dem Fahrer, das Fenster zu öffnen. »Halten Sie Ihre Pferde noch zwei Sekunden zurück«, sagte Verlaque zu dem Fahrer, einem jungen Mann mit Brillantohrringen und einem Tattoo im Nacken. Der schaute ihn nur an und lachte.
»Ich habe heute Morgen in ein paar Stunden einen, der genauso aussah wie du, hinter Gitter gebracht«, erklärte er. »Für zwanzig Jahre.«
Als der Polofahrer nur die Schultern zuckte und immer noch grinste, hörte Verlaque eine Tür ins Schloss fallen. Er fuhr herum und sah, dass Marine gegangen war. »Was für eine Scheiße!«, brüllte er und musste an sich halten, um nicht mit der Faust auf den VW zu schlagen. Er ging zu seinem Wagen zurück, stieg ein, legte den ersten Gang ein und rollte langsam davon. Sein Zigarrenklub versammelte sich an diesem Abend in der Wohnung von Jean-Marc und Pierre ganz in der Nähe an der Rue Pappasaudi. Danach noch zu Marine zu gehen hatte wohl keinen Sinn. Diese Nacht würde er in seinem eigenen Bett auf der anderen Seite der Altstadt schlafen. Am nächsten Tag wollte er den Abend noch einmal Schritt für Schritt durchgehen, um herauszubekommen, was passiert war. Hatte er bei den Pauliks etwas gesagt, worüber sich Marine ärgerte? Hatte er Léa zu viel Aufmerksamkeit geschenkt? Es stimmte, er liebte Faurés Lieder, die Léa wunderschön sang. Marine schwärmte für Jazz, besonders für brasilianischen, und hatte sich an dem Gespräch über klassische Musik nicht beteiligt. War sie sich ausgegrenzt vorgekommen? Jetzt fiel Verlaque auf, dass er sich lange mit Hélène unterhalten hatte, der Winzerin, die etwas tat, was er auch gern als Beruf gehabt hätte. Mit Weintrauben umzugehen war sicher ein leichteres Metier und möglicherwiese befriedigender, als all die Kévin Malongos von Aix ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Er schaute in den Rückspiegel und sah, dass der Polo nicht mehr hinter ihm war.
Als Verlaque vor sich einen Parkplatz entdeckte, drosselte er das Tempo. Er hatte jetzt keine Zeit, auf die andere Seite der Altstadt zu fahren, wo er, anders als die Leute von La Torse, einen Platz in einem Parkhaus gemietet hatte. Langsam näherte er sich der Parklücke, aber als er gerade den Blinker setzen wollte, um hineinzufahren, schoss ihm ein Mini aus der Querstraße von links direkt vor den Bug. Fluchend trat er auf die Bremse. Das Wägelchen von der Art, die er besonders hasste – dieser hatte obendrein noch weiße und rote Rennstreifen auf beiden Seiten – besetzte seelenruhig die Lücke.
»Son of a…«, brüllte Verlaque auf Englisch. Er drehte sich, um den Fahrer zu sehen, was ihm aber nicht gelang. So musste er wohl oder übel weiterfahren, vorbei am Collège Mignet, der Schule, in die Cézanne und Zola gegangen waren, als sie noch Freunde waren und davon träumten, die Welt zu verändern.
»Salut, Jungs«, raunte er ihren Geistern zu. Er wollte schon aufgeben und seinen Platz im Parkhaus aufsuchen, als er wieder eine Lücke erblickte, die letzte vor einer Kurve. Rasch blinkte er und rollte hinein, schaltete den Motor ab und nahm das Reiseetui mit den Zigarren aus dem Handschuhfach. Dann schloss er den Wagen ab und ging schnellen Schritts die Rue Laroque hinauf, am Kino vorbei und auch an der Konditorei Michaud, wo er fast noch eine Schlange von Kunden erwartet hätte. Zu dieser späten Stunde war das Geschäft längst geschlossen, aber der Duft von Butter hing immer noch in der Luft.
An einem solchen Winterabend war der Cours Mirabeau menschenleer. Obwohl er es eilig hatte, tauchte Verlaque die Hand in den dampfenden Springbrunnen La Moussue und ließ das angenehm warme Thermalwasser durch die Finger rinnen. Dann bog er in die Rue Clemenceau ein, die ihn schließlich zum Zigarrenklub führte. Passanten lächelten ihm zu, und er lächelte überrascht zurück.
Am Haus Nr. 19 klingelte er bei Jean-Marc und Pierre, worauf die schwere Haustür klickte und einen Zollbreit aufging. Er drückte sie auf, trat ins Haus und schloss sie sorgfältig wieder, denn Einbrüche in der Altstadt waren häufig. Er lief die Steintreppe hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend, vorbei an dem Architektenbüro in der ersten Etage, bis zur zweiten, die sich Jean-Marc und Pierre mit ihrem Nachbarn, einem pensionierten Steuerbeamten, teilten. Der drehte sein Fernsehgerät regelmäßig viel zu laut auf, obwohl sich schon zahlreiche Hausbewohner darüber beschwert hatten, und schien seine Behausung nie zu verlassen.
Die Wohnungstür, die noch ein kleiner Weihnachtskranz schmückte, stand offen, und Verlaque tauchte in eine Wolke von Zigarrenrauch ein. Er atmete tief und sagte dann: »Guten Abend, meine Freunde. Was für ein lieblicher Duft.«
Jean-Marc Sauvat starrte Antoine Verlaque mit offenem Mund an, und sein Partner Pierre begann zu lachen. Gaspard Baille, Jurastudent und jüngstes Mitglied des Klubs, legte seine Hand aufs Herz und kniete vor dem Richter nieder. Fabrice, der Präsident des Klubs, dem eine Kette von Installationswerkstätten in ganz Südfrankreich gehörte, nahm als Erster das Wort. »Mein König«, sagte Fabrice mit einer kleinen Verbeugung, wobei ihm Zigarrenasche auf den wohlgerundeten Bauch fiel. »Wir sind Eure ergebenen Diener.«
Erst jetzt begriff Antoine Verlaque, was los war. »Deshalb haben mir die Leute auf der Straße zugelächelt«, sagte er und griff sich an den Kopf.
Der Blitz eines Smartphones blendete ihn, dann nahm Verlaque rasch seinen Ehrenpreis ab, faltete die Papierkrone zusammen und steckte sie in die Manteltasche.
»Was kriege ich, wenn ich dieses Foto nicht an die Presse gebe?«, fragte Julien und ließ sein Smartphone in die Hosentasche gleiten.
Verlaque blickte Julien an – einen geselligen, von gutem Essen verwöhnten Händler mit gebrauchten Luxuswagen, dem er sein Leben anvertraut hätte, und lachte. »Meinen Erstgeborenen?«, fragte er.
»Gemacht!«, erwiderte Julien. »Aber ich denke, Ihre schöne Dr. Bonnet dürfte mit diesem Versprechen Probleme haben.«
Die ganze Gesellschaft lachte, und Jean-Marc warf seinem guten Freund, dem Richter, einen besorgten Blick zu. Noch nie hatte Antoine Verlaque von Heirat oder gar Kindern mit Marine Bonnet oder mit jemand anderem gesprochen.
»Hast du zu Abend gegessen, Antoine?«, fragte er den Neuankömmling.
»Ja«, antwortete Verlaque und rieb sich den Bauch, was ihn prompt an einen seiner Vorsätze für das neue Jahr erinnerte. »Danke.«
»Einen Whisky?«, fragte Jean-Marc weiter und nahm seinen Freund beim Arm. »Wir haben einen sehr guten Johnny Walker.«
Verlaque blickte Jean-Marc entgeistert an und wollte schon ablehnen, als der Anwalt, der seit langem auch mit Marine befreundet war, diebisch grinste. »Das sollte ein Scherz sein. Wir haben Ardbeg, wenn Julien und Fabrice noch etwas in der Flasche gelassen haben.«
»Die habe ich schon sichergestellt«, warf Pierre ein und gesellte sich zu den beiden.
»Gute Wahl«, sagte Verlaque. Er sah, wie Pierre sich kurz bei Jean-Marc einhakte, dann den Arm aber zurücknahm. Das Paar war gerade gemeinsam in diese Wohnung gezogen und hatte sich erst kürzlich vor dem Zigarrenklub geoutet. »Wenn ich einen Ardbeg haben kann, das wäre wunderbar«, flüsterte Verlaque. »Ich habe fast den ganzen Vormittag bei Gericht verbracht und musste am Abend auch noch Dreikönigskuchen essen.«
Pierre warf Jean-Marc einen Blick zu.
»Soll es den heute Abend etwa auch noch geben?«, fragte Verlaque und folgte Jean-Marc und Pierre in die Küche.
»Julien und Fabrice haben drei von Michaud mitgebracht«, sagte Jean-Marc.
»Für einen Haufen Geld«, fügte Pierre hinzu.
»Einer ist sogar verziert«, fuhr Jean-Marc mit unverhülltem Sarkasmus in der Stimme fort. »Mit einer großen Zigarre aus braunem Zuckerguss. Julien und Fabrice haben bei einer der jungen Verkäuferinnen ihren ganzen Charme spielen lassen, um das zu erreichen.«
Bei dem Gedanken, welchen Charme die beiden beleibten Kerle mittleren Alters bei einer hübschen Zwanzigjährigen hatten einsetzen können, musste Verlaque schmunzeln. Jean-Marc öffnete einen Schrank, griff hinein, goss den dort versteckten Whisky in ein geschliffenes Glas, händigte dieses Verlaque aus und schloss die Schranktür rasch wieder.
»Du darfst den Dreikönigskuchen weglassen«, sagte Pierre.
Verlaque nahm einen Schluck und strahlte. »Oh, der Torf von Islay. Ich liebe diesen Moorgeschmack«, sagte er. »Danke, dass ihr etwas davon für mich aufgehoben habt.« Mit einem Seufzer lehnte er sich gegen den Küchentresen.
»Ein harter Tag?«, fragte Jean-Marc.
»Er hat furchtbar angefangen, aber eine Zehnjährige hat am Abend Fauré gesungen und ihn gerettet …« Er schloss die Augen und nahm noch einen Schluck. »Ich weiß nicht, was dann passiert ist. Mit Marine ist etwas schiefgelaufen, aber ich komme nicht darauf, was und warum. Habt ihr zwei auch manchmal solche Aussetzer in eurer Kommunikation?«
»Nie«, entgegnete Jean-Marc, während Pierre fast gleichzeitig sagte: »Ständig.«
Alle drei mussten lachen. Dann erklärte Verlaque: »Und ich denke, das Dessert werde ich mir sparen.«
»Was ist mit dem Dessert?«, fragte jetzt Julien, der in die Küche gekommen war. »Wann kriegen wir endlich unseren Kuchen?« Er wollte sich ein Stück Schokolade nehmen, aber Pierre klopfte ihm auf die Finger.
»Wie kannst du immer noch Hunger haben?«, fragte er dabei. »Du hast doch schon von Jean-Marcs Schmorbraten einen Nachschlag bekommen.«
»Keine Sorge, Julien«, warf Jean-Marc ein, geschmeichelt, dass sein Rindfleisch auf provenzalische Art so gut angekommen war. »Antoine hat nur gesagt, er lässt das Dessert weg.«
»Was?«
»Wer will hier keinen Dreikönigskuchen?«, fragte jetzt Fabrice und zwängte sich ebenfalls in die Küche.
»Antoine«, teilte ihm Julien mit und warf einen argwöhnischen Blick auf Verlaques Glas.
»He, Jungs!« rief da Gaspard, so dass es alle hören mussten. Gaspard Baille war 1,95 Meter groß; er überragte Julien und Fabrice um einen ganzen Kopf. »Wir wollen jetzt endlich eine Hoyo de Monterrey rauchen. Was tratscht ihr hier in der Küche rum wie ein Haufen alter Weiber?«
»Danke, Gaspard!«, rief Jean-Marc und schob die Männer aus der Küche hinaus. »Ich brauche Platz, um die Spülmaschine zu bestücken.« Wenn er Gäste hatte, fand Jean-Marc keine Ruhe, solange nicht die Küche sauber war und der Spülautomat lief.
Pierre, der diese Marotte seines Freundes kannte, verließ mit den anderen die Küche und nahm dabei Verlaque beiseite.
»Wenn es hier etwas ruhiger geworden ist, möchte ich dich gern um einen Gefallen bitten.«
»Kein Problem«, antwortete Verlaque und versuchte den Lärm zu übertönen, den Julien und Fabrice veranstalteten, die sich um einen Sessel stritten. »Hast du deinen Wohnungsverkauf über die Bühne gebracht?«
»Ja, es hat keine Probleme gegeben. Der Käufer hat bar bezahlt. Der Gefallen, um den ich dich bitten möchte, hängt tatsächlich mit der Wohnung zusammen. Allerdings nicht mit meiner, sondern mit der meines Nachbarn.«
»Sprichst du von dem schrulligen alten Kerl?«
Pierre lachte. »In der Tat. Ich bin von der Rue Boulegon in eine vornehmere Straße von Aix umgezogen, nur um wieder einen schrulligen alten Kerl als Nachbarn zu bekommen.«
»Und die Wohlhabenden sind oft noch unleidlicher …«
»Antoine! Pierre! Wir machen jetzt die Zigarrenkiste auf!«
»Schon unterwegs!«, rief Verlaque zurück.
Als er in Jean-Marcs und Pierres kleines, aber elegantes Wohnzimmer trat, sah er Julien, die Armbanduhr in der Hand, über Fabrice gebeugt, der die Auseinandersetzung um den Sessel für sich entschieden hatte. »Ich nehme jetzt die Zeit, Fabrice«, verkündete Julien und versuchte, das winzige Rädchen an seiner teuren Tag Heuer Uhr herauszuziehen. Dafür waren seine Finger zu dick, so dass Virginie, das einzige weibliche Mitglied des Klubs, ihm helfen musste. Verlaque schaute den beiden verblüfft zu.
»Fabrice hat dreißig Minuten in diesem Sessel«, erklärte Virginie und stellte mit ihren schlanken Fingern den Wecker entsprechend ein.
»Was für ein Unsinn«, ließ Verlaque fallen, musste aber dennoch lachen.
Gaspard gab ein Kistchen mit Zigarren der zweiten Sorte des Abends herum. Verlaque wählte ein elastisches, noch feuchtes Exemplar und zückte seinen Zigarrenabschneider. »Sie hat keine Banderole«, stellte er fest, als er das dunkelbraune Ding, geformt wie ein Torpedo, in der Hand hin und her drehte. Da vibrierte sein Smartphone in der Jackentasche, und er hoffte, dass es Marine sein möge.
»Die Zigarren sind von unserer Kubareise«, erläuterte Gaspard.
»Bijou!«, brüllte Fabrice.
»Schmuckstück?«, fragte Verlaque und schaute Gaspard verwundert an.
»Das ist mein kubanischer Name«, erklärte Gaspard in vollem Ernst. »Man bekommt immer einen, wenn man nach Kuba reist. Beim nächsten Mal kommst du am besten mit.«
Und Julien fügte hinzu: »Die Frau, die uns begrüßt hat, eine große, kugelrunde Kubanerin, hat unseren hübschen Gaspard nur einmal angeschaut und ihm auf der Stelle diesen Namen verpasst.«
»Bijou passt perfekt zu Gaspard. Und welche Namen habt ihr zwei bekommen?«, fragte Verlaque und schaute Julien und Fabrice an.
Julien hüstelte, und Fabrice wechselte das Thema. »Diese Zigarren haben wir in einer kleinen privaten Werkstatt im Zentrum von Habana gekauft«, teilte Fabrice mit.
Dass Fabrice Havanna mit kubanischem Akzent auszusprechen versuchte, amüsierte Verlaque.
Fabrice nahm sich eine Zigarre und zündete sie an. »Das ist nur ein Zwei-Mann-Betrieb auf der Rückseite eines alten Hotels«, fuhr er fort. »Der eine rollt die Zigarren, und der andere, Emilio, ist der Chef. Er serviert den Kunden Rum und Kaffee und lässt sich auf eine Zigarre mit ihnen nieder. Wir haben seine Ware tonnenweise gekauft. Ohne Banderolen natürlich. Chic, was?«
»Auf die Idee ist ein Modedesigner vor einigen Jahren auch schon gekommen«, erzählte Virginie. »Es nennt sich reverse marketing, Marketing anders herum. Dabei verbirgt man den Markennamen. Auf der Rückseite ihrer Kleider und Shirts hinterlassen die Designer nur vier kleine weiße Stiche.«
»Gracias, Virginie«, sagte Fabrice.
Virginie verdrehte die Augen. »Mach weiter und erzähle allen die Geschichte von dem jungen Alberto, den ihr getroffen habt«, sagte sie.
Fabrice, der Präsident des Klubs, lehnte sich nach vorn. »Wir haben Habana für zwei Tage verlassen und uns die Tabakfelder von Vinales angeschaut«, berichtete er. »Wir mussten sie Bijou zeigen. In einem winzigen Dorf haben wir bei einer netten alten Frau und deren Tochter übernachtet, die dort Bett und Frühstück anbieten.«
»Eine blitzsaubere Angelegenheit«, fügte Julien hinzu.
»Man konnte vom Fußboden essen«, berichtete Fabrice weiter.
»Und als wir auf der Terrasse einen Mojito tranken …«,
»… was natürlich sein musste«, warf Verlaque ein.
»… kam dieser junge Kubaner von etwa zwanzig Jahren aus dem Nachbarhaus zu uns herüber und fragte, ob er mit uns ein wenig Französisch sprechen könnte«, erzählte Julien. »Dieses Französisch hättet ihr hören sollen.«
»Er hatte echten Pariser Slang drauf«, rief Fabrice.
»Aber die Sprache der Gebildeten auch«, fügte Gaspard hinzu. »Er hätte es mit jedem Jurastudenten in Aix aufnehmen können.«
»Wo hat er das gelernt?«, fragte Jean-Marc. »Ich habe viel Gutes über Bildung in Kuba gehört …«
»… wo sie keine Analphabeten mehr haben«, fügte Gaspard hinzu.
»Bijou ist dort zu einem echten Kommunisten geworden«, meinte Julien.
Gaspard ließ einen Seufzer hören. »Die machen schon eine Menge Dinge, die durchaus sinnvoll sind«, sagte er, lehnte sich zurück und paffte an seiner Zigarre. »Kostenlose Bildung bis zur Promotion, Null Analphabetentum und unentgeltliche medizinische Behandlung.«
»Das haben wir doch auch alles«, sagte Jean-Marc.
»Ich bin nicht sicher, ob in Frankreich alle Menschen lesen und schreiben können«, gab Gaspard zurück. »Mir gefällt auch, dass sie nicht so ans Internet gekettet sind wie wir …«
»Aber nicht aus freiem Willen!«, warf da Julien ein.
Gaspard hielt den Kopf schief. »Mir würde jedenfalls ohne Internet, Facebook oder Twitter nichts fehlen.«
»Ich könnte ohne soziale Medien auch besser leben«, pflichtete ihm Virginie bei. »Dann brauchte ich nicht jeden Tag zehn Fotos von den Kindern meiner Schwester anzuschauen.«
»Was ist denn nun mit diesem Alberto«, fragte Pierre, der inzwischen die Champagnergläser nachgefüllt hatte und wieder auf das Thema zurückkommen wollte. Er mochte keine politischen Diskussionen bei Partys. Bisher hatte auch noch keiner seine neuen Gläser bemerkt, die er in einem Kommissionsgeschäft beim Rotonde-Brunnen erstanden hatte. In jedes war eine Libelle, sein liebstes Insekt, eingraviert, und er war ganz vernarrt in sie. »Wo hat also Alberto sein Französisch gelernt?«
»Er war in eine Französin verliebt«, verkündete Fabrice.
»Die klassische Variante!«, rief Verlaque.
»Sie hat am Konservatorium von Habana Musik studiert«, informierte Fabrice. »Alberto hat uns erzählt, die besten Musikstudenten Frankreichs werden oft nach Kuba geschickt, wo es am Konservatorium noch strenger zugeht als bei uns.«
»Seht ihr?«, sagte Gaspard.
Verlaque musste an die kleine Léa denken, die er sich in zehn Jahren auf Kuba vorstellte.
»Die beiden sind aber nicht mehr zusammen«, berichtete nun Gaspard. »Alberto hat sie sogar einmal besucht. In Manosque!«
»In Manosque!«, rief Verlaque. Manosque war eine der guterhaltenen Kleinstädte der Provence, eine Autostunde nördlich von Aix.
Julien fuchtelte begeistert mit den Armen. »Aber jetzt kommt das Beste«, sagte er. »Alberto fing an, von der Provence zu schwärmen, von dem guten Essen, vom Wein und dem geruhsamen Leben, das wir hier führen …«
»Ich bestimmt nicht«, sagte Jean-Marc, der als Anwalt in einer sehr gefragten Kanzlei von Aix arbeitete.
»Doch, doch«, meinte Pierre. »Verglichen mit Anwälten in Großstädten …«
»Darf ich fortfahren?«, fragte Julien.
»Entschuldigung«, flüsterte Pierre.
»Als dann Alberto einmal zur Toilette musste, steckten wir drei unsere klugen Köpfe zusammen, stimmt’s, Bijou?«
»So war es«, bestätigte Gaspard. »Und wir haben uns überlegt, wie wir Alberto nach Frankreich holen können, für ständig, meine ich.«
»Ihm einen Job verschaffen, für sein Flugticket zusammenlegen usw.«, erläuterte Fabrice.
»Eine tolle Idee!«, sagte Virginie. »Ich bin dabei!«
Fabrice hob die Hand. »Die Geschichte ist noch nicht zu Ende«, sagte er dann. »Als Alberto zurückkam, haben wir ihm unseren Plan vorgelegt. Er war total schockiert.«
»Natürlich«, meinte Pierre. »Bei dieser Wohltätigkeitsattacke …«
»Nein, nicht, was du denkst!«, rief Fabrice. »Er will nicht kommen!«
»Er sagte, er könnte Kuba nie verlassen«, ergänzte Julien.
Gaspard lehnte sich zufrieden lächelnd zurück.
»Alberto erklärte, er sei Musiker, und seine Musik sei die Musik dieser Insel. Er hat es natürlich etwas poetischer gesagt. Er meinte, er liebe Frankreich, möchte aber nicht hier leben. Könnt ihr euch das vorstellen?«
»Man weiß nie, was im Kopf von Menschen vorgeht«, meinte jetzt Julien und zog an seiner Zigarre. »Es kann das Gegenteil von dem sein, was man vermutet oder selbst möchte.«