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Sonne, Wein und Mord.
Auf dem Weingut Beauclaire werden teure, alte Weine gestohlen. Außerdem treibt in der Gegend um Aix-en-Provence ein brutaler Frauenmörder sein Unwesen. Für Untersuchungsrichter Antoine Verlaque und seine Freundin, die attraktive Juraprofessorin Marine Bonnet, bleibt keine Zeit mehr, die Schönheit des provenzalischen Sommers zu genießen ...
Ein Kriminalroman mit südfranzösischer Atmosphäre, Spannung und charmantem Personal.
„Genau die richtige Sommerlektüre.“ Berliner Morgenpost.
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Seitenzahl: 401
Mary L. Longworth
Tod auf dem WeingutBeauclaire
Ein Provence-Krimi
Aus dem Amerikanischenvon Helmut Ettinger
Die Originalausgabe unter dem Titel
Death in the Vines
erschien 2012 bei Penguin Books, New York
ISBN 978-3-8412-0749-4
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, April 2014
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die deutsche Erstausgabe erschien 2014 bei Aufbau Taschenbuch, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
Copyright © M. L. Longworth, 2012
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Inhaltsübersicht
Cover
Impressum
1. Kapitel: Für die Engel
2. Kapitel: Ihr letzter Markttag
3. Kapitel: Ein Ehemann in Sorge
4. Kapitel: Bekenntnisse eines Weindiebes
5. Kapitel: Ein Überfall in Eguilles
6. Kapitel: Ein Elsässer versucht die Provence zu begreifen
7. Kapitel: Zitronenkuchen
8. Kapitel: Ich bin, sie ist …
9. Kapitel: Jules’ kleines Notizbuch
10. Kapitel: Judy-Kreuzfahrten
11. Kapitel: Ein verändertes Dorf
12. Kapitel: Zu bling für mich
13. Kapitel: Philomène arrangiert die Blumen
14. Kapitel: Die Kinder der Liebe
15. Kapitel: Diebe! Diebe!
16. Kapitel: Eine Liebesgeschichte
17. Kapitel: Der Malibu-Boy
18. Kapitel: Verlaque verdächtigt einen Freund
19. Kapitel: Der Charme des Südens
20. Kapitel: Eine neue Buskarte
21. Kapitel: Höflichkeit
22. Kapitel: Der Wagen, der einen Präsidenten rettete
23. Kapitel: Ein Geheimnis im Garten
24. Kapitel: Honig und Toast mit Butter
25. Kapitel: Ein Big Spender
26. Kapitel: Zwei Gläser Lagavulin
27. Kapitel: Innovation aus Frankreich und England
28. Kapitel: Das Gargouillou
29. Kapitel: Bruno Paulik bricht eine Tür auf
30. Kapitel: Antoine Verlaques Geschenk
Epilog
Anmerkungen
Informationen zum Buch
Informationen zur Autorin
Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …
Olivier Bonnard saß auf der untersten Stufe der Steintreppe zu seinem Weinkeller, den Kopf in den Händen vergraben, als plagte ihn eine Migräne. Mit seinen schwieligen Fingern fuhr er sich durch das dichte, leicht ergraute Haar und stöhnte. Als sein Blick auf die versteinerte Jakobsmuschel in der Kalksteinmauer fiel, lehnte er sich nach vorn und berührte sie sacht. Das war sein heimliches Ritual, das er, seit er denken konnte, stets vollzog, wenn er den Keller betrat. Das Fossil erinnerte ihn daran, dass vor Millionen Jahren ein großer Teil Südfrankreichs unter dem Meer gelegen und Salzwasser die Hänge umspült hatte, wo heute Weinstöcke wuchsen. Auch seine Winzerkollegen bis hinauf zum Luberon und zum Rhônetal hatten solche Stücke in ihren Mauern, aber diese kleine, perfekt geformte Muschel fand er am schönsten. Wieder wühlte er in seinem Haar, bemüht, die Tränen zurückzuhalten. Das letzte Mal geweint hatte er vor acht Jahren, als man seine Mutter zu Grabe trug.
Mit einem Seufzer zwang er sich, zu den Regalen mit den Weinflaschen hinzusehen, zog mit einer müden Bewegung Papier und Bleistift aus der Tasche seiner Steppjacke – im Keller herrschten konstant sechzehn Grad, weshalb er sich auch Anfang September warm anziehen musste – und machte sich ans Notieren. Auf die Liste setzte er zwei Eineinhalb-Liter-Magnumflaschen seines 1989er Roten, eine des 2005er Weißen, drei Flaschen Rotwein des Jahrgangs 1954 (den er selbst am meisten schätzte), zwei Flaschen Weißen von 1978 (der für einen Weißwein eigentlich zu alt und wahrscheinlich bereits umgeschlagen war), drei Flaschen 1946er Roten (von der ersten Lese nach sechs Jahren Krieg, der Lieblingswein seines alten Vaters) und schließlich eine Magnum von 1929, die allerletzte des ersten Jahrgangs, den sein Großvater abgefüllt hatte.
Nach ein paar Minuten ließ er den Stift sinken und hielt inne. Es fehlten noch mehr Flaschen, aber er brauchte eine Pause. Obwohl es sich um Weine seiner Familie handelte, tat sich Bonnard schwer, den Wert des 1929ers oder 1946ers zu schätzen. Diese Flaschen waren inzwischen zu reinen Sammlerstücken geworden. Sein Versicherungsvertreter in Aix würde ihm dabei helfen; er hatte die Kataloge der Weinauktionen von Sotheby’s und Christie’s in seinem Büro. Paul war ein alter Schulfreund und würde Olivier nicht übers Ohr hauen.
Durch den Verlust dieser Weine, die zu einem großen Teil noch sein Vater und Großvater gekeltert hatten, war der Winzer am Boden zerstört. Doch die Tränen trieb ihm der Gedanke in die Augen, dass der Dieb jemand sein musste, der ihm sehr nahestand. Der Weinkeller war stets verschlossen, aber alle Familienmitglieder wussten, wo sich der Schlüssel befand. Seit Olivier ein kleiner Junge war, hing er immer rechts neben der Küchentür. Wer sonst konnte davon Kenntnis haben? Gesichter zogen vor seinem inneren Auge vorüber, und obwohl seine Hände und Füße von der Kälte fast steif waren, lief er vor Zorn rot an. Freunde, Nachbarn oder Bekannte – er litt regelrecht darunter, sie sich als Verdächtige vorzustellen. Da war der Briefträger Rémy, der mit seinem uralten Moped oder außer Dienst mit seinem klapprigen Lieferwagen stets bis vor die Küchentür rollte. Da war Hélène, die Verwalterin des Weingutes und seine Kellermeisterin. Da ihr Mann bei der Polizei arbeitete, schied sie für ihn sofort aus dem Kreis der Verdächtigen aus. Da war Cyril, sein zweiter Festangestellter, jahraus, jahrein seine zuverlässige Stütze. Schließlich Sandrine, eine Studentin aus Aix, die an Wochenenden und Feiertagen Weinverkostungen durchführte. Wenn er ehrlich war, hatte er sie vor allem wegen ihrer Schönheit, nicht ihrer Weinkenntnis oder ihres exakten Kassierens eingestellt. Dazu kam eine Schar Nordafrikaner, die jedes Jahr bei der Lese half. Aber sie gelangten kaum in die Nähe des Hauses, und er kam sich wie ein Rassist vor, wenn er ihnen den Diebstahl zutraute. Sie waren so sehr auf die Erntearbeit angewiesen, einen Knochenjob, den Olivier als Student gern auf sich genommen hatte, zu dem sich aber heutzutage nur wenige junge Franzosen bereitfanden.
Jetzt kam die Familie an die Reihe. Nur sah sie Olivier nicht als Reihe von Verdächtigen bei einer Gegenüberstellung im Justizpalast, sondern beim Abendessen. Nicht in ihrem eleganten Speisezimmer, wo seine Frau so gern aß, sondern an dem langen hölzernen Küchentisch vor einem lodernden Herdfeuer. Eine beruhigende Vorstellung, bei der gewöhnlich ein Lächeln auf seinem Gesicht erschien. Heute aber bereitete sie ihm nur Magenschmerzen. Es gab keinen Grund, weshalb Elise, mit der er seit zwanzig Jahren verheiratet war, sich an den Weinen vergriffen haben sollte. Sie stand voll hinter seinem Geschäft, auch wenn sie selbst nur Tee trank. Viel mehr als Syrah, Grenache oder Mourvèdre interessierte sie die Boutique, die sie zusammen mit einer Freundin in Aix betrieb. Auch konnte er sich nicht vorstellen, weshalb sein achtzehnjähriger Sohn Victor, den Erde und Weinreben faszinierten, seit er laufen konnte, die kostbaren Flaschen gestohlen haben sollte. Schon gar nicht die dreizehnjährige Clara, sein ganzer Stolz und seine Freude, die ihre Nase nur in Bücher steckte und seit dem Kindergarten überall die Beste war. Außerdem lebte in einem Seitenflügel von Oliviers Haus aus dem 18. Jahrhundert sein Vater. Albert Bonnard war für seine 83 Jahre noch rüstig, ermüdete neuerdings aber rasch, und sein Gedächtnis ließ nach. Erst letzte Woche hatte Olivier ihn beobachtet, wie er die Reihen der Weinstöcke entlangging, mit ihnen sprach und ihnen für die reiche Ernte dieses Jahres dankte.
Olivier stand auf und streckte die verkrampften Beine. Nahezu eine Stunde lang hatte er, vor sich hinbrütend, dagesessen. Als er auf der Treppe Schritte hörte, fuhr er zusammen. Fast glaubte er, sogleich dem Dieb ins Auge zu schauen, der vielleicht wiederkam, um auch noch ein paar Flaschen aus den 1960ern mitgehen zu lassen, die er oder sie – Olivier wollte kein Sexist sein – bisher verschont hatte.
»Ich habe Licht im Keller gesehen. Suchst du schon den Wein für morgen Abend aus?«, fragte Elise Bonnard ihren Mann. »Oje«, fuhr sie fort. »So fassungslos, wie du mich anstarrst, hast du das Abendessen mit den Poyers bestimmt vergessen.«
Auch nach zwanzig Jahren Ehe freute sich Olivier immer, wenn er seine Frau sah, und an diesem Nachmittag umso mehr. Zwar trank sie keinen Alkohol, war aber eine gute Verkosterin und reiste gern mit ihm und seinen Weinen durch Frankreich oder ins Ausland. Letztes Jahr waren sie in Argentinien gewesen, wo südamerikanische und französische Weinbauern Erfahrungen ausgetauscht hatten. Als Elise jetzt vor ihm stand, wurde Olivier überdeutlich, was für ein glücklicher Mann er war und wie sehr er sie brauchte. Wieder stiegen ihm die Tränen in die Augen, er ließ die Schultern sinken und schluchzte tief auf. Elise Bonnard starrte ihren sonst so ausgeglichenen Mann erschrocken an, ihr Lächeln war wie weggewischt, sie lief die letzten Stufen herab und nahm ihn in die Arme.
»Was hast du, mein Lieber?«
Das raubte dem fast zwei Meter großen Kerl nun völlig die Beherrschung. Seine Tränenflut wurde nur noch von heftigen Schluchzern unterbrochen. Elise Bonnard zog ein paar Kleenex-Tücher aus ihrer Tasche und reichte sie ihm. Olivier flüsterte einen Dank, schnäuzte sich einige Male lautstark und seufzte tief auf. Mehrere Male atmete er kräftig durch, um sich zu beruhigen, so wie sie es ihren Kindern beigebracht hatten, wenn die sich bei einem Sturz weh taten oder sehr erregt waren. Schließlich drehte Olivier sich um, und nun konnte sie die großen Lücken in den Weinregalen sehen.
»Was ist denn das?« Elise stockte der Atem. Sie trat näher an die Gestelle heran, als traute sie ihren Augen nicht. Vier Generationen von Bonnards bauten auf diesem Gut bei Rognes, zwanzig Autominuten nördlich von Aix-en-Provence, nun schon Wein an, seit Oliviers Urgroßvater dieses Stück Land und die verfallenen Gebäude am Ende des 19. Jahrhunderts gekauft, vollständig wiederaufgebaut und den auf einer langen Geschichte beruhenden Ruf des Weingutes wiederhergestellt hatte. Viele ihrer frühen Weine hatten von berühmten Kritikern höchstes Lob erhalten. Mr. Colter aus den USA kam jedes Jahr herüber, um Bonnards Weine zu kosten und zu bewerten. An den weltberühmten Weinexperten musste Elise jetzt denken, der so viel Einfluss besaß, wie Olivier ihr immer wieder erklärte, und doch so bescheiden und einfach im Umgang war, dazu an allem leidenschaftlich interessiert, was ihre Region betraf. Einmal hatte er sie sogar nach dem Rezept für ihre Gougères, die kleinen mit Käse gefüllten Windbeutel, gefragt.
»Wie viele Flaschen fehlen?«, fragte Elise. Sie schloss für einen Moment die Augen und sandte ein stilles Stoßgebet gen Himmel. Als sie ihren Mann hatte weinen sehen, hatte sie fast geglaubt, er hätte Krebs oder sie seien ruiniert. Freilich war der Wein unersetzlich, aber sie würden neuen anbauen und auch wieder Spitzenernten erleben. Erschreckend war allerdings die Tatsache, dass jemand hier unbemerkt eingedrungen war.
»Bei 23 habe ich zu zählen aufgehört. Auch ein paar Magnum-Flaschen sind darunter. Wenn ich mich etwas beruhigt habe, muss ich weitermachen. Das Schlimme ist, dass mir die Lücken so wahllos vorkommen: Hier fehlt eine Flasche, da zwei.«
»Ob jemand den Keller offen gelassen hat?«, warf Elise ein.
»Die Tür war verschlossen, als ich vor einer Stunde gekommen bin, und den Schlüssel habe ich in der Küche vom Haken genommen. Würde ein Dieb daran denken, die Tür wieder zu verschließen und den Schlüssel an seinen Platz zu hängen? Außerdem habe ich den ganzen Vormittag auf dem Hof gearbeitet, weil ich den verdammten Traktor wieder in Gang bringen muss. Die Kellertür hatte ich dabei immer im Blick.«
Elise schluckte, sagte aber nichts. Da besaßen sie nun ein Weingut, das mehrere Millionen wert war, und ihr Mann bestand darauf, alle seine Maschinen und Motoren selbst zu reparieren.
»Wann bist du denn das letzte Mal in diesem Teil des Kellers gewesen?«, fragte sie.
Bonnard blickte sie betroffen an. »Gute Frage. Ich wage es gar nicht zu sagen: Das ist Monate her.« Der Weinkeller nahm eine riesige Fläche unter dem Wohnhaus ein. Üblicherweise fand man Olivier in der Kelterei, die in den ehemaligen Stallungen neben der Scheune untergebracht war. Dort standen große Tanks aus Edelstahl und dahinter Reihen von Eichenfässern. Im Alten Keller unter der Küche, wo sie sich jetzt befanden, lagerten die berühmtesten Weine der Familie. Der Boden bestand aus gestampftem Lehm, der mit feinem Kies bestreut war. Ein uraltes Fass, das bereits Oliviers Großvater benutzt hatte, war zu einem großen Tisch umgebaut worden. Elise hatte aus dem Katalog von La Redoute vier Bänke erstanden. Beim Licht von ein paar Partyleuchten, die man ebenfalls angebracht hatte, saßen sie so manchen Abend mit Freunden in dicken Wollpullovern hier unten und ließen sich ihren Wein munden.
»Für das Ganze muss es doch eine vernünftige Erklärung geben«, sagte jetzt Elise und stützte die Hände in die Hüften.
»Welche denn? Soll der Wein vielleicht verdunstet sein?«
»Hör mal, mein Lieber, ich rufe Victor, damit er dir bei der Inventur hilft. Er hat sich schon für diese Flaschen interessiert, als er fünf Jahre alt war.« Elise ließ ein kleines Lachen hören, um die Stimmung ein bisschen aufzuhellen. »Victor ist nicht gerade gut in Mathematik, aber im Weinkeller ist er ein Genie!« Sie wollte schon gehen, da hielt Olivier sie am Ärmel fest.
»Was ist?«, fragte sie.
»Victor«, entfuhr es ihm mit einem Blick, in dem sich Bestürzung und Zorn mischten. Elise zuckte zusammen. Als er sie das letzte Mal so angesehen hatte, war es auch um Victor gegangen. Der damals Vierzehnjährige war mit ihrem Auto ins Dorf gefahren – nur so zum Spaß.
Elise begriff sofort. »Victor? Das glaubst du doch nicht im Ernst! Warum sollte er die Flaschen nehmen?«
»Um sie zu Geld zu machen?«, entgegnete Olivier mit einem Achselzucken. Jetzt war Furcht in seiner Miene zu lesen. »Mir gefallen einige der Kerle aus Aix nicht, mit denen er in der letzten Zeit herumhängt. Vielleicht haben die ihn darauf gebracht. Sie können ihn ja bedroht und dazu gezwungen haben. Er ist nie ein Anführer gewesen, immer nur ein Mitläufer.« Dass in der Familie die kleine Clara das Sagen hatte, erwähnte er besser nicht.
Elise biss sich auf die Unterlippe, was sie immer tat, wenn sie nervös war. »Diese neuen Freunde mag ich auch nicht gerade, aber Victor ist in der letzten Zeit wenig mit ihnen zusammen gewesen. Ich denke, das war eine zeitweilige Sache. Heute Abend zum Beispiel geht er mit Fabrice und Thomas ins Kino.« Fabrice und Thomas Clergue waren die Söhne von Bonnards Nachbarn, ebenfalls einer Winzerfamilie. Jean-Jacques Clergue hatte sich das Weingut nebenan selbst zum vorzeitigen Ruhestand geschenkt. Er hatte bei Goldman Sachs in London eine Menge Geld gemacht und sich bereits mit 37 Jahren in die Provence zurückgezogen, als seine Söhne noch im Krabbelalter waren. Die beiden Familien hatten sich sofort angefreundet. Elise war überzeugt gewesen, dass es Jean-Jacques’ englische Frau Lucy, die in London geboren und aufgewachsen war, höchstens zwei Monate lang auf dem Lande aushalten würde. Aber es war Lucy gewesen, die Elise zeigte, wie man Aprikosenkuchen mit Mürbeteigkruste bäckt, und die Olivier jeden Winter beim Beschneiden der Olivenbäume half. Den Vogel schoss allerdings Jean-Jacques Clergue ab. Nach einem Intensivkurs in Önologie gelangen ihm phantastische Weine. Zusammen mit Oliviers Kellermeisterin Hélène Paulik und Marc Nagel aus dem Var hatte Clergue viel dazu beigetragen, dass Weine aus Südostfrankreich wieder zu Ansehen gelangten. Andere Winzer lernten von dem Trio, und bald wurden die lokalen Sorten besser und besser.
Olivier und Elise erstarrten, als ein Paar schwarze Converse-Sneakers die Treppe heruntertrampelten und dabei viel Staub aufwirbelten. »Wenn man vom Teufel spricht …«, murmelte Olivier Bonnard vor sich hin.
»Hallo, ihr beiden! Ich suche euch schon überall«, sagte Victor. »Wann gibt’s Abendessen, Mama? Das Kino in Aix beginnt um acht. Wir müssen den Bus um zehn nach sieben kriegen.« Victor Bonnard blickte seine Mutter an. Die sagte nichts. Dann schaute er zu seinem Vater hin, aber auch der blieb stumm. Im ersten Moment glaubte der Junge, die Eltern hätten gerade miteinander gestritten. Die Kehle wurde ihm trocken. Vielleicht wollten sie sich scheiden lassen wie die seines Freundes Luc.
Da drehte sich sein Vater zu den Weinregalen um und lenkte Victors Blick mit einer Handbewegung auf die großen Lücken.
»Was ist denn das?«, entfuhr es dem Jungen.
»Das hat deine Mutter auch gerade gesagt.«
Victor rannte die Regale entlang wie ein gefangenes Tier. Elise warf ihrem Mann einen bedeutungsvollen Blick zu, als wollte sie sagen: Siehst du, er ist genauso betroffen wie wir.
»Der 1929er fehlt! Verdammt!«, rief Victor und setzte seinen gehetzten Lauf fort. »Weiß Großvater davon?«
»Nein, der ist noch beim Mittagsschläfchen. Ich habe keine Ahnung, wie ich es ihm sagen soll«, gab Olivier zurück.
»Wer macht denn so was?«, fragte Victor.
»Das wollte ich dich gerade fragen«, erwiderte Olivier Bonnard. Als der Satz heraus war, bereute er ihn auch schon.
Victor fuhr zusammen. »Was willst du damit sagen, Papa?« Das Gesicht des jungen Mannes lief rot an, er schlug so heftig mit einer Faust gegen die feuchte Kellerwand, dass er sich die Haut aufschürfte. »Na, vielen Dank auch, Papa!«, brüllte er und rannte die Treppe hinauf. Krachend fiel die Kellertür ins Schloss.
»Bravo, chéri«, sagte Elise nur, verdrehte die Augen, stieg ebenfalls die Treppe hinauf und trat in die Nachmittagssonne hinaus.
»Oje«, sagte Olivier Bonnard zu sich selbst und seufzte. Er wollte sich bei Victor entschuldigen und dann zu seinem Freund bei der Versicherung in Aix fahren. Seit Wochen war er nicht mehr in der Stadt gewesen. Der ungewöhnlich nasse August hatte ihm keine Atempause gelassen. Gemeinsam mit Hélène hatte er die Fässer mit dem einjährigen Wein in den Keller für den zweijährigen geräumt, um Platz für die neue Ernte zu schaffen. Als das getan war, hatte er mit Cyril das Gerät für das Pressen und Keltern der neuen Lese umgesetzt und vorbereitet, bis sein Traktor versagte. Dann gab es in den Kellern viel zu tun. Bonnard füllte die Fässer und erklärte dabei der gelangweilten Sandrine, dass fünf Prozent des Weines durch die hölzernen Fasswände hindurch verdunsten. Nach dieser Arbeit hatte sich bisher Victor immer gedrängt, aber dieses Jahr bat Olivier Sandrine, ihm dabei zu helfen, damit sie etwas mehr über die Arbeitsgänge der Weinherstellung lernte. Victor sollte sich auf die Schule konzentrieren. Sie waren übereingekommen, dass er sich in diesem letzten Jahr hinter die Bücher zu setzen hatte, um am Ende bei den landesweiten Prüfungen ein wenigstens einigermaßen ehrenhaftes Abitur, das Bac, zustande zu bringen. Als Victor noch klein war, hatte er ihm beigebracht, dass die fünf Prozent Wein, die verdunsteten, »für die Engel« seien, wie er es von seinem Vater Albert gelernt hatte. Olivier stellte sich vor, wie der sechsjährige Knirps ein Fass angestarrt hatte, darum herumgegangen war und versucht hatte, den sich verflüchtigenden Wein mit seinen Händchen aufzufangen. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
Wenn Olivier in Aix alles erledigt hatte, wollte er zu Jean-Jacques Clergue hinübergehen und ihn zu sich einladen. Er würde einen Rat brauchen, und es tat einfach gut, mit einem Freund im Alten Keller, umgeben von den noch verbliebenen Spitzenweinen, ein Glas zu trinken. Als Winzer achtete Bonnard wie alle seine Kollegen streng darauf, es damit nicht zu übertreiben. Aber heute Abend brauchte er das. Jean-Jacques war ein Genießer und brachte vielleicht sogar ein paar kubanische Zigarren mit. Olivier hatte neulich eine mit dem Richter aus Aix geraucht, der ihn besuchte, und war dabei auf den Geschmack gekommen. Er wusste, dass Elise das gar nicht gefiel, aber das störte ihn jetzt nicht. Olivier stieg die Kellertreppe hinauf, schaltete das Licht aus und schloss die Tür ab. Den Schlüssel steckte er diesmal in seine Jackentasche.
An einem ganz gewöhnlichen Dienstag ging Mme. Pauline d’Arras zum Einkaufen auf den Markt – das letzte Mal in ihrem Leben. Das Septemberwetter war warm, aber sie trug einen dünnen Baumwollpullover über ihrer Seidenbluse. Die Sonne strahlte bereits vom blauen Morgenhimmel, und je näher sie dem Justizpalast kam, wo auf dem großen Platz dreimal in der Woche Markttag war, desto lauter wurde es. Ihr Hündchen Coco zerrte sie vorwärts, es spürte, dass es zum Markt ging. Madame hielt die Leine kurz und lächelte Coco zu, die den Markt liebte, besonders die Verkehrspolizisten auf ihren Motorrädern.
Während Mme. d’Arras an den großen Gemüseständen vorüberging, warf sie den Verkäufern abschätzige Blicke zu. Die hier Bananen, Ananas und Limonen verkauften, bauten gewiss nichts Eigenes in der Provence an. Sie holten sich ihre Ware bei den Großhändlern in Marseille. Martin, zu dem sie am liebsten ging, hatte einen kleinen Stand ganz am Ende des Marktes. Er bot Biogemüse von seinem Hof nördlich von Aix an. Als sie sich durch eine Gruppe Touristen drängte, die Gewürzstände fotografierten, stieß sie sie absichtlich mit ihrem Korb an … Die wussten wohl nicht, dass es tatsächlich Leute gab, die zum Einkaufen hierherkamen, weil sie etwas zum Kochen brauchten! An Martins Stand trat sie mit einem Lächeln heran. Aber das verschwand sofort wieder, als sie die Schlange sah. Offenbar waren auch andere Leute darauf gekommen, welch ausgezeichnete Ware er anbot. Nun musste sie anstehen und würde sich mit ihrem Mittagessen mindestens fünfzehn Minuten verspäten. Nicht, wenn sie sich auf dem Heimweg beeilte, sich keine Zeit für einen Tee nahm und in ihrer Küche zügig arbeitete. Sie griff sich eine von Martins großen Plastikschüsseln, die auf einem kleinen Berg rotschaliger Kartoffeln standen, und begann die Zutaten für den Pot au feu, das mit verschiedenen Gemüsen gekochte Rindfleisch, zusammenzusuchen, den sie am Nachmittag für das Abendessen vorbereiten wollte – eine Kohlrübe, Möhren, Kartoffeln, Porree, Zwiebeln und Knoblauch. Das Fleisch kaufte sie stets in der Boucherie du Palais ein. Das hieß, noch einmal anstehen. Zum Mittag wollte sie für sich und Gilles Schweinekoteletts mit grünen Bohnen braten. Das ging schnell, und Gilles mochte es sehr. »So wie du, nicht wahr, Coco?«, sagte sie zu ihrem Hund.
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