Mord mit Limmatblick - Susanne Mathies - E-Book

Mord mit Limmatblick E-Book

Susanne Mathies

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Beschreibung

Der erfolglose Krimi-Autor Florian Berger will sich in einem vornehmen Zürcher Hotel erschießen - stattdessen findet er eine leblose Frau mit einer Schusswunde. Dabei wird er vom Portier überrascht. In Panik flieht er, verfolgt von der Polizei. Warum muss kurz darauf eine andere junge Frau sterben? Hängen die Verbrechen mit einem Abbruchhaus zusammen? Die Polizei ermittelt gegen Florian, während dieser zusammen mit seiner Kollegin Cressida Kandel den Mörder sucht und sich dabei in Lebensgefahr begibt.

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Susanne Mathies

Mord mit Limmatblick

Zürich-Krimi

Zum Buch

Schockierender Fund Der gescheiterte Schriftsteller Florian Berger will sich in einem luxuriösen Hotelzimmer in Zürich erschießen. Durch Lärm aus dem Nebenzimmer aufgeschreckt, geht er hinüber und findet dort eine leblose Frau mit einer Schusswunde. Ehe er sie untersuchen kann, wird er vom Hotelportier überrascht. Florian flieht in Panik, von der Polizei verfolgt. Eine junge Frau, mit der er sich auf seiner Flucht unterhält, wird wenig später tot aufgefunden. Die Polizei ermittelt gegen Florian, ihren einzigen Verdächtigen, während dieser zusammen mit seiner Kollegin Cressida Kandel verzweifelt den wahren Mörder sucht. Warum verschwindet die angeschossene Frau, die Florian im Hotel fand, plötzlich aus dem Krankenhaus, und was ist aus ihr geworden? Ist der Täter beim Arbeitgeber des Opfers, beim Hotel oder bei der Familie zu finden? Während seiner Nachforschungen gerät Florian in skurrile Situationen, die sich als lebensgefährlich erweisen, und Cressida macht ungeheuerliche Entdeckungen.

Susanne Mathies, geboren 1953 in Hamburg, lebt in Zürich. Sie promovierte in Wirtschaftswissenschaft und in Philosophie. Die Autorin schreibt auf Deutsch und Englisch. Bisher hat sie mehrere Kriminalromane sowie zahlreiche Gedichte und Kurzgeschichten in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht. Sie gehört der Redaktion der orte-Literaturzeitschrift an und ist Mitherausgeberin der orte Poesie Agenda.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © anshar73 / AdobeStock

ISBN 978-3-8392-7308-1

Vorbemerkung

Wie alle meine Romane, so ist auch dieser unter Mithilfe von Merkur entstanden, dem Gott der Lügner. Ich danke ihm für seine Erfindungsgabe und entschuldige mich hiermit beim Hotel Storchen und beim Universitätsspital Zürich für die frech erfundenen Zustände und Mitarbeiter, die sich in diese Geschichte gemogelt haben und mit dem tatsächlichen hohen Standard dieser Häuser nicht das Geringste gemeinsam haben.

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Vorbemerkung

Inhalt

1. Blitzlicht

2. Im Storchen

3. Familienleben

4. Unklare Geschichten

5. Väter und andere Verwandte

6. Mörder und Nichtmörder

7. Diskutiert wird später

8. Nachtleben

9. Der Morgen danach

10. Noch mehr Familienleben

11. Der Morgen danach, etwas später

12. Suchet, so werdet Ihr finden

13. Florian wundert sich

14. Zwischenstation

15. Schon wieder im Storchen

16. Besuchszeit

17. Wie ein Taubenschlag

18. Schöner Wohnen

19. Stille Wasser

20. Schon wieder Familienleben

21. Die Polizei, dein Freund und Helfer

22. Nachts sind alle Katzen grau

23. Die alte Heimat

24. Erleuchtung

25. Der Stein des Weisen

26. Verführung

27. Epilog

Lesen Sie weiter …

1. Blitzlicht

Ein grelles Licht fuhr an ihren Augen vorbei, von rechts unten nach links oben, über ihr ganzes Gesichtsfeld. Es war so hell, dass sie die Gegenstände um sich herum als Negativbilder sah: die Schatten chromgelb, die beleuchteten Flächen dunkelviolett. Dann verblasste das Blitzlicht nach und nach, und um sie herum bewegten sich Objekte, aber ebenfalls sehr langsam, Schatten und Linien krochen an ihr vorbei, trotz der Unschärfe konnte sie ahnen, was sie darstellten: eine Wand, die sich ihr zuneigte, in einem Hotelblau, duck egg blue nannte man das in England, eigentlich ganz schön, warum hatte sie ihr Wohnzimmer nicht so gestrichen, dieses Beige war ein Fehler gewesen, viel zu trist, von vorn kam nun ein schmutzig-brauner Teppichboden auf sie zu, frisch gesaugt, da waren noch die Spuren der Staubsaugerdüse, hin und her gezogen, der Teppich bewegte sich auf ihre Nase zu, von der Seite kam eine gläserne Tischkante, die ihre Spitze wie einen Pfeil gegen ihren Schenkel gerichtet hatte, den Teppichboden konnte sie schon riechen, so etwas Süßliches, wahrscheinlich Wiesenblumenraumspray, sie wusste schon, wie der Flor sich anfühlen würde, oben weich mit einer leicht borstigen Unterlage, nur sich selbst spürte sie nicht, in ihrer Mitte war eine Leere, wo der Blitz eingeschlagen hatte. Aber im Zimmer gibt es keine Blitze, sagte sie sich und war erfreut über ihren vernünftigen Gedanken, als ein neuer Gedankenblitz durch ihren Kopf jagte, das Bild einer dunklen Figur mit einem Gegenstand in der Hand, Fluchtimpuls, zu spät, sagte das Nachwort zu dem Gedanken. Seltsam, dass die Gedanken so schnell kamen, während die Objekte sich in Zeitlupe bewegten. Ich sterbe, war der nächste schnelle Gedanken, weggewischt, dann schon der Folgegedanke, ich sterbe jetzt, in diesem Moment, nichts kann das mehr aufhalten, schwarz-weißer Film über Kaiserin Sisi von Österreich, die mit den schönen schwarzen Haaren, die Zofe durfte ihr nie die Bürste zeigen, damit sie den Haarausfall nicht bemerkte, waren ihre eigenen Haare eigentlich noch schön, hätte sie mal wieder nachfärben lassen sollen, diese Perücke war auch ein Fehler, Kaiserin Elisabeth wurde in Genf mit einem Stilett erstochen und ging dann noch zehn Minuten weiter spazieren, ohne zu wissen, dass sie todgeweiht war, geweiht, so ein altmodisches Wort, im Angesicht des Todes wird man ehrfürchtig, sagt man, man sagt auch, das Leben ziehe noch mal an einem vorbei, aber sie konnte keine Erinnerung fassen, hatte sie Familie, hatte sie geliebt, war sie erfolgreich, jetzt flogen die Gedanken ganz schnell weg, keinen einzigen konnte sie mehr behalten, warum hilft mir denn keiner, kam schließlich noch eine letzte Frage.

2. Im Storchen

»Mit Limmatblick.« Florian war selbst überrascht, mit welcher Kaltblütigkeit er dem Mann an der Rezeption ins Auge blicken konnte. Der Portier war fast einen Kopf kleiner als er selbst, wirkte jedoch imposant und absolut unerschütterlich. Das musste an den markant ausgeprägten Gesichtszügen liegen, so etwas hatte Florian vor Jahren mal in einer Zigarrenreklame gesehen, »Knowing« stand dort unter dem leicht verwitterten Heldenkonterfei. Oder Dieter Bohlen, der sah so ähnlich aus, bei dem wusste auch keiner, woher er sein ungeheures Selbstbewusstsein nahm, aber es funktionierte anscheinend. Und einen Mann aus dieser Heldengattung getraute Florian sich gerade anzulügen. Das war ein gutes Zeichen für das Gelingen seines Vorhabens.

»Der Preis spielt keine Rolle«, fügte er hinzu. Der Mann an der Rezeption verzog keine Miene. Wahrscheinlich hielt er Florian für einen Neureichen, vielleicht für einen Start-up-Millionär, der sich noch nicht daran gewöhnt hatte, sich etwas leisten zu können. Dass er nichts sagte, war ein Vorwurf an den Gast, schauen Sie mal, ich bin zu vornehm, Sie auf Ihre billige Art aufmerksam zu machen.

»Möchten Sie lieber eine klassisch-elegante Einrichtung oder das neu designte zeitgenössische Ambiente?«, fragte der Rezeptionist.

Die Worte »neu designt« riefen bei Florian eine Gänsehaut hervor. Diese peinlichen Anglizismen, die global tönen sollten, hatten sich in Zürich in letzter Zeit immer mehr ausgebreitet. Und nicht nur in Zürich! Aber mit diesem Problem musste die Welt nun allein klarkommen. Er war draußen.

»Elegant, bitte.«

»Sie haben Glück. Unsere Juniorsuite mit Limmatblick ist gerade frei. Wie lange möchten Sie bleiben?«

»Ich bleibe für eine Nacht.«

»Darf ich Sie dann um Ihre Kreditkarte bitten?«

»Selbstverständlich, hier ist sie.« Florian kramte seine Coop Master Card aus dem Portemonnaie. Besonders vornehm wirkte sie nicht. Immerhin sah man ihr von außen nicht an, dass Florians Kreditlimit schon seit über einem Monat überzogen war. Er beobachtete, wie der Portier die Karte durch das Lesegerät zog. Es passierte nichts – das Gerät ging nicht in die Luft, die Karte wurde nicht geschreddert.

»Vielen Dank, Herr Berger. Hier ist Ihre Zimmerkarte, für den zweiten Stock. Den Lift finden Sie dort drüben. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in unserem Haus!«

Die Juniorsuite gefiel ihm auf den ersten Blick nicht besonders, das enttäuschte ihn sehr. Ihm lagen noch Lenas Worte in den Ohren, immer wieder hatte sie vom Storchen geschwärmt. »Noblesse und Schweizer Tradition sind da auf geniale Art verbunden«, so etwas in dieser Art hatte sie oft gesagt, »Man fühlt sich wohl und bleibt trotzdem aufrecht, fühlt sich gut aufgehoben und ist trotzdem nicht in Versuchung, sich gehen zu lassen. In so einem Hotel könnte ich Dauergast sein.« Da schwang im Unterton natürlich der Vorwurf mit, dass Florian ihr so etwas nie bieten könnte, weder jetzt noch in Zukunft. Irgendwie störte es ihn, feststellen zu müssen, dass Lena sich für dieses Ambiente begeistert hatte. In einem berühmten Fünfsternehotel hätte er mehr Eleganz erwartet. Aber für Geschmack und Grandezza hätte er in einem Palazzo in Venedig absteigen müssen, fiel ihm ein. Angelina Jolie und Johnny Depp in The Tourist. Auf der anderen Seite passte zu viel Grandezza natürlich überhaupt nicht zu seinem durchschnittlichen beziehungsweise eher unterdurchschnittlichen Leben. Ein bisschen gediegen über die Stränge hauen, das entsprach gerade noch seinem Lebensentwurf. Leider. Und es wäre größenwahnsinnig, daran jetzt noch etwas ändern zu wollen.

Das große Zimmer war in einem Pseudo-Biedermeierstil eingerichtet, mit dichten goldenen Brokatvorhängen, und es roch nach einem süßlichen Duftspray. Über der Schreibtischplatte lag eine durchsichtige Glasscheibe, ordentlich blank geputzt, gegen Gästeschmutz und Gebrauchsspuren. Florian setzte sich wider besseres Wissen auf den unbequemen glänzend gepolsterten Stuhl, öffnete sein Notebook und legte es vor sich auf den Schreibtisch. Trotz allem, einmal musste er es noch versuchen. Doch das altbekannte beklemmende Gefühl stellte sich sofort ein, als er das Dokument mit dem Titel Doppeltes Spiel im Spiegel öffnete. Bisher enthielt es nur die Worte »Erstes Kapitel« und die Erinnerungen an viele wieder gelöschte erste Absätze. Meistens gelangen ihm die ersten paar Worte noch ganz ordentlich, aber sie führten nie in eine packende Geschichte, ließen keine Entwicklung ahnen, sondern standen einsam am Rand eines Sumpfes von ausufernden Beschreibungen. Florian spürte, wie ihm sein übliches bleiernes Joch Nacken und Schultern herunterdrückte, ihn dumpf machte, jeden Gedanken im Keim erstickte. Ein Plot, wenigstens eine interessante Hauptfigur, musste ihm einfallen. Dieses Problem quälte ihn seit über einem Jahr. Er hatte keine Ideen mehr, brachte einfach nichts zustande, hatte das Schreiben verlernt. Früher hatte er zum Aufwärmen Schreibübungen gemacht, Ecriture automatique, doch jetzt funktionierte nicht einmal mehr das. Stahlringe schlossen sich um seine Handgelenke und klemmten sie am Rand des Schreibtisches fest, sobald er sich entschloss, mit dem Schreiben anzufangen. Sie würden sich erst dann öffnen, wenn er aufstand, das wusste er aus Erfahrung.

Seine Entscheidung war richtig. So konnte er nicht weitermachen, diese ständige Wiederholung des gleichen Misserfolgs nicht mehr ertragen. Jedes Mal wurde die Niederlage erdrückender, weil sie die beschämende Erinnerung früheren Nichtgelingens als schweres Gepäck auf dem Buckel trug. Er hatte das Gefühl, bei seinen Schreibversuchen ständig mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, mit zunehmender Wucht. Ohne dass jemand auch nur das geringste Mitgefühl oder wenigstens Verständnis aufbrachte. Lena hatte recht damit, ihn rauszuwerfen, es war ja immer schlimmer geworden mit ihm. Zeit, dem Ganzen ein Ende zu setzen.

Obwohl ihn nichts mehr freuen konnte, empfand er eine fast wohltuende Genugtuung darüber, dass Jahreszeit und Ambiente stimmungsmäßig zu seinem Vorhaben passten. Ein heftiger Regen prasselte gegen die Fensterscheiben, der tintenblaue Abendhimmel war schwarz verhangen, die Limmat floss bleiern vorbei. Selbst die blau-weiß geringelten Pfosten an der Anlegestelle des Storchen wirkten im Schein der Lampen trist, wie Theaterkulissen, die man vergessen hatte einzusammeln. Boote fuhren im Februar nicht, schon gar nicht abends. Am Limmatquai gegenüber waren vereinzelte Fußgänger zu sehen, überdacht von schwarzen Schirmen, die ihre Flügel wie aasgierige Krähen nach unten beugten. Zu einer anderen Jahreszeit wäre es sicher schwierig gewesen, im Storchen ein Zimmer zu bekommen. Florian lächelte grimmig. Der einzige Gast, das wäre ein guter Titel für einen Roman. Wenn er noch schreiben könnte, hätte er sich das jetzt notiert.

Er zog die schweren Vorhänge zur Seite und öffnete die Flügeltüren zur Limmat. Kein Balkon, nur ein schmiedeeisernes Gitter spannte sich vor dem unteren Teil der Türöffnung. Vorsichtig schob er seine Schuhspitzen durch die Gitterstäbe, um das Gefühl des Draußenseins so weit wie möglich auskosten zu können. Der Regen traf ihn mit harten Spitzen auf Stirn und Wangen, das tat gut, ein Kampf gegen die Naturgewalten, zurechtgeschnitten auf das Format eines Schreibtischtäters. Eines Schreibtischnichttäters. Die Stille breitete sich um ihn aus, nur vom Regenrauschen übertönt, irgendwo gurrte eine Taube. So stehen bleiben, nichts denken, den Geräuschen zuhören, die die Stille verstärkten, dazu den Regen riechen, das sollte sein letztes Erleben vor dem Schlussstrich sein.

Ein scharfer Gestank zog ihm in die Nase. Rauchte da ein Kellner unter ihm auf der Terrasse? Nein, das musste aus dem Zimmer neben ihm kommen. Nun hörte er auch Stimmen, ein Murmeln. Ein paar Wortfetzen wehten zu ihm herüber. »Nicht auch noch …« – »auf gar keinen Fall …« – »keine Gefahr mehr« – »ich dachte«. Ein plötzlicher Windstoß riss an dem Fensterflügel, wollte ihn gegen die Wand schleudern, Florian konnte ihn gerade noch festhalten. Durch die Geländerstangen vor dem Fenster flatterte ein schmaler Zettel herein und ließ sich neben Florians Fuß nieder. Als er ihn aufhob, konnte er plötzlich die Stimmen aus dem Nebenzimmer ganz klar hören. »Nein! Lassen Sie das! Auf gar keinen Fall!« – »Geben Sie mir das sofort zurück!« – »Das war nicht …«

Dann ein Knall. Und plötzlich Stille.

Verdammt. Noch nicht einmal in Ruhe Abschied nehmen ließen sie ihn. All diese Leute, die sich seit seiner Kindheit regelrecht gegen ihn verschworen hatten. Seine Mutter, die ihn zum Musterknaben ausbilden wollte, völlig gegen seine ureigensten Neigungen, was diese noch verstärkt hatte. Seine Lehrer, die ihn mit dem Urteil »begabt, aber faul« in seinen Neigungen unterstützt hatten. Seine erste Freundin an der Schule, die es cool fand, dass er nichts auf die Reihe bekam, dann jedoch mit ihm Schluss machte, weil ihm vom Kiffen immer schlecht wurde. Seine Mitstudenten an der Uni, die ihn die Studentenzeitung machen ließen, sodass er eine gute Entschuldigung hatte, nie das Studium abzuschließen. Und Lena! Warum hatte sie es drei Jahre lang mit ihm ausgehalten, wenn sie ihn so unmöglich und unfähig fand? War er für sie einfach nur »besser als nichts« gewesen? Jetzt war er selbst auf dem Weg ins Nichts. Wenn sie ihn einfach mal alle in Ruhe lassen würden.

Wütend bückte er sich und hob den Zettel auf. Es war ein Kassenzettel für zehn Kaffee-Vollautomaten von einem Discounter, der Preis kam ihm erstaunlich günstig vor. In seinem Hinterkopf hängte sich der Gedanke fest, dass diese Rechnung irgendwie seltsam sei, aber er konnte dem im Moment nicht nachgehen, denn im Nachbarzimmer brach geräuschmäßig gerade die Hölle los. So etwas wie Musik – nein, das war ein sogenannter Jingle, eine Tonfolge, die im Radio oder Fernsehen Beginn, Ende oder Pause einer Sendung ankündigt, dann Orchestermusik, dann ein spitzer gellender Schrei, ein dumpfes Geräusch wie von einem Aufprall auf den Boden, die Musik wurde dramatischer. Anscheinend war nebenan nichts weiter passiert, als dass ein schwerhöriger Raucher den Fernseher lauter gestellt hatte.

Und das musste Florian sich in einem Fünfsternehotel wirklich nicht bieten lassen. Er setzte sich auf die Kante seines King Size Bettes (gute harte Matratze, nur dass er natürlich nicht darauf schlafen würde), griff nach dem Telefon und drückte die Taste für die Rezeption. Niemand meldete sich. Doch Florian ließ sich dadurch nicht abschrecken. Er blieb am Apparat. Endlich, nach einigen Minuten Wartezeit, meldete sich der Portier.

»Hier Florian Berger aus der Juniorsuite. Im Zimmer neben meinem hat jemand den Ton des Fernsehers bis zum Anschlag hochgedreht. Könnten Sie bitte etwas dagegen unternehmen?«

»Es tut mir leid, aber ich kann nicht in die Privatsphäre der Gäste eingreifen.«

»Bei diesem Lärm kann kein Mensch schlafen!« Florian fand allmählich Freude daran, sich in seine Wut hineinzusteigern. »Wäre es Ihnen lieber, wenn ich die Polizei rufe?«

»Es ist gerade erst 19 Uhr abends, da herrscht noch keine Nachtruhe.«

»Aber es ist sehr, sehr laut! Ich kann nicht arbeiten bei diesem Lärm!«

»Wie gesagt, da kann ich leider gar nichts ausrichten. Ich bedaure. Vielleicht verständigen Sie sich direkt mit Ihrem Nachbarn?«

Florian knallte den Telefonhörer auf die Gabel. So eine Frechheit. Auf gar keinen Fall würde er dieses Hotel jemals weiterempfehlen! Da fiel ihm ein, dass er ja ohnehin an diesem Abend seinem Leben ein Ende setzen und daher nie wieder jemandem etwas empfehlen würde. Zum ersten Mal überkam ihn in Bezug auf sein Vorhaben ein leichtes Bedauern.

Nicht nur das, sondern nun stieg auch ein Zweifel in ihm auf, ein Zweifel, der schon seit Längerem im Hinterhalt gelauert haben musste, um ihn jetzt in dieser schwachen Stunde zu überwältigen: Hatte er denn jemals wirklich vorgehabt, diese Sache bis zum Ende durchzuziehen? Gut, er hatte sich eine Pistole besorgt, das tat man nicht einfach so zum Spaß. Er öffnete seine Notebooktasche und zog die silbrig glänzende Waffe aus dem Seitenfach. Sie lag schwer in seiner Hand, ein ernsthaftes Gerät für einen ernsthaften Entschluss. Nur der hellblaue Plastikbesatz am Griff störte ihn ein bisschen. Er verstaute die Pistole wieder in der Tasche. Zum richtigen Zeitpunkt würde er sie herausholen und abdrücken, dafür hatte er sie schließlich gekauft. Trotzdem – der Zweifel ließ ihn nicht wieder los. Wollte er nicht einfach nur ausprobieren, wie weit er gehen konnte, in der Hoffnung, dass ihn in letzter Minute jemand daran hindern würde, es tatsächlich auszuführen? Zum Beispiel jemand wie Lena? Er hatte immerhin zweimal wie im Scherz gesagt, da sie ihn hinauswerfe, müsse er nun wohl in den Storchen ziehen …

Nein. Alles falsch. Natürlich hatte er Zweifel, das war nur normal, doch er hatte alle Möglichkeiten durchgespielt. Er würde es tun. Vollbringen.

Aber nicht, solang nebenan der Fernseher vor sich hin lärmte.

Er sprang auf, stürmte aus dem Zimmer, ohne die Tür hinter sich zu schließen, und klopfte laut dreimal an der Tür des Nachbarzimmers.

Der Fernseherlärm änderte die Tonlage. Es erklang wieder ein Jingle und dann eine übertrieben fröhliche Männerstimme mit österreichischem Akzent. »Freuen Sie sich mit uns auf die Sternstunde der Volksmusik!«, jubilierte der Ansager. »Als Erstes hören Sie das Mondseer Trio …«

Genug war genug. Lärm konnte Florian gerade noch ertragen, aber bei Volksmusik war eindeutig Schluss. Er hämmerte mit beiden Fäusten gegen die Tür.

Von drinnen kam keine Reaktion. Florian rammte mit aller Kraft seine rechte Schulter gegen die Tür. Zu seiner Überraschung schwang die Tür auf, und zwar so plötzlich, dass er auf den Boden knallte. Auf einen mit schmutzig-braunem Teppich bedeckten Boden – anscheinend war dieses Zimmer nicht so luxuriös eingerichtet wie seine eigene Suite.

3. Familienleben

Marie warf sich mit Schwung auf ihr Bett und bettete ihre Springerstiefel auf die frisch bezogene rosa Daunendecke. Scheiß Spießerleben! Und das an jedem zweiten Wochenende. Wäre super, wenn sie ganz bei ihrem Vater bleiben könnte, der war immerhin recht locker drauf, aber nein. »Deine Mutter will auch mal etwas mit dir gemeinsam unternehmen.« Ha!

Ihre Mutter war geil darauf, in ihrem Job Karriere zu machen, alles andere war ihr nicht so wichtig. Seit sie bei dieser internationalen Firma angefangen hatte, war das noch schlimmer geworden als vorher. »Was machst du denn dort genau«, hatte Marie gefragt, und ihre Mutter hatte sie so angesehen, als wenn sie zu doof wäre, irgendetwas vom Berufsleben zu verstehen. »Vermietungsmanagement«, hatte sie dann schließlich gesagt, mit der Betonung auf Management, hörte sich total wichtig an. Vermietungsmanager, hatte Marie gedacht, das waren doch Leute, die die Interessen der Eigentümer gegenüber den Mietern durchsetzten, und zwar möglichst so, dass sich keiner beschwerte. Ein super Job. Aber gesagt hatte Marie nichts, es hätte nichts gebracht, darüber zu diskutieren.

Und jetzt war ihre Mutter eben auch mal wieder nicht zu Hause, und das ausgerechnet an Maries Geburtstag, hatte ihr nur kurz ein Geschenk überreicht und war dann abgerauscht, ein dringender Geschäftstermin, tut mir so leid, Kleines. Ja, mir auch, fuck you too, dachte Marie. Ihr Geburtstagsgeschenk hielt sie noch immer zusammengeknautscht in den Händen. Noch so ein absolutes No-Go. Hatte sie ihrer Mutter nicht oft genug gesagt, welches Smartphone-Modell sie brauchte? Und nun das: ein Kleid! Als ob sie in letzter Zeit je etwas anderes getragen hätte als Jeans-Shorts im Boyfriend Cut. Es war ein Cocktailkleid von Dolce & Gabbana, mit aufgestickten Rosen auf dem weiten Rock, die Rosen so groß wie ihr Arsch, und das Ganze in Größe 36. Ihre Mutter fand das Teil bestimmt supercool, wahrscheinlich wünschte sie sich, dass sie die Figur hätte, um so etwas tragen zu können. Oder dass Marie die Figur dafür hätte. What­ever. Anscheinend war es ein Schnäppchen aus irgendeinem Sale, denn sie hatte gleich gesagt, sie könnte es nicht umtauschen. Mal wieder typisch für sie. Fast kamen Marie die Tränen – schon wieder ein Stolperstein auf ihrer Karriere als Influencerin, in der Schule konnte sie niemandem davon erzählen, zu peinlich.

Aber dann kam ihr die zündende Idee. Sie stellte ihr Smartphone so auf, dass es auf ihr Bett gerichtet war, und schaltete die Videoaufnahme an.

Im Schneidersitz auf dem Bett, das neue Kleid auf dem Schoß, nahm sie demonstrativ eine große Schneiderschere und schnitt den Stoff in lange Streifen. Dann streckte sie ihr rechtes Bein aus und band einen der Streifen oberhalb des Knies mit einer Schleife um ihr Bein. »Der neue Megatrend«, knurrte sie mit zusammengezogenen Brauen in die Kamera, »Knee-ribbons, nur aus recycleten Markenklamotten. Der Hypertrend! Destroy the bitch! Zeigt mir, welche Brands ihr für eure Ribbons zerstört habt, und postet die Aufnahmen auf meiner Website!« Sie hielt die Victory-Finger hoch und stoppte das Video. Fertig. Auf Instagram, auf allen sozialen Medien, auf Youtube.

Ihre Mutter war in den sozialen Medien natürlich überhaupt nicht zu Hause. Also fehlte noch ein Schritt. Marie schrieb eine kurze Mail: »Liebe Mama, vielen lieben Dank für das schöne Kleid! Deine Tochter Marie«, mit dem Video als Anhang. Einen Moment lang zögerte sie, ihr Finger schwebte über dem »Senden«-Button. Dann war es getan. So, jetzt konnte Mama ausrasten, so viel sie wollte. Wenn sie so wild darauf war, eine niedliche kleine Tochter in einem süßen Kleid zu haben, um mit ihr glückliche Familie zu spielen, sollte sie eine adoptieren. »Or take a gun!«, murmelte sie wütend und begann, ihre WhatsApp-Nachrichten durchzuschauen.

4. Unklare Geschichten

Wenn man stolpert, kommt man sich immer irgendwie blöd vor, dachte Florian. Stolpern, dass tun nur 90-Jährige auf der Treppe ihres Reihenhauses. Aber nun war er einmal in das fremde Hotelzimmer hineingestolpert und musste versuchen, einigermaßen würdevoll wieder aufzustehen. Hatte ihn jemand gesehen?

Der Fernseherlärm dröhnte in Florians Ohren, doch er konnte keinen Hotelgast entdecken. Waren die Bewohner ausgegangen, ohne den Fernseher abzustellen? Florian lief weiter in das Zimmer hinein und sah sich um. Die Fernbedienung lag direkt neben dem Fernsehgerät, und Florian benutzte die Gelegenheit, das Gerät auf Standby zu stellen. So, falls jemand etwas dagegen hatte, sollte er sich melden.

Niemand sagte etwas. Jetzt, in der plötzlich eingetretenen Stille, wurde es Florian zunehmend unheimlich, einfach uneingeladen in einem fremdes Zimmer zu stehen. Obwohl niemand zu sehen war, fühlte er sich wie ertappt.

Dieses Zimmer war tatsächlich wesentlich kleiner als sein eigenes. Das Queen Size Bett stand quer vor dem Fenster, es gab kaum Platz, drum herum zu gehen. Das Bett war aufgedeckt, aber anscheinend nicht benutzt. Auf dem fensterseitigen Nachttisch stand ein Eiskübel mit einer Flasche Champagner, er konnte das orangefarbene Label der Witwe Clicquot erkennen, daneben zwei leere Sektflöten. Einen winzigen verrückten Augenblick lang dachte Florian: Hat mich hier jemand erwartet? Oder spielt hier gerade einer der wunderbaren unvorhersehbaren glücklichen Zufälle des Lebens? Doch der Fernsehlärm passte nicht zu diesen Gedanken. Auch nicht das Rauchen am Fenster vorhin und nicht der Kassenzettel über zehn Kaffeemaschinen.

Wenn in Filmen ein Hotelgast in seinem Zimmer gesucht wird, schaut der Detektiv immer zuerst im Badezimmer nach, und dort bietet sich ihm in der Regel ein schauriges Bild mit viel Blut, entweder in der Dusche oder in der Badewanne. Das wollte Florian sich auf gar keinen Fall antun, jedenfalls nicht, wenn es nicht unbedingt nötig sein sollte. Als Erstes würde er die harmlosen Orte untersuchen. Vorsichtig drängte er sich am Bett vorbei zum Fenster.

Aber nicht vorsichtig genug. Sein Fuß trat auf etwas Weiches. Er zuckte zurück.

Vor ihm auf dem Boden lag eine dunkelhaarige Frau in einem engen schwarzen Rock, glänzenden Strümpfen und einer weißen Bluse. Sie lag auf dem Bauch, und im Rücken der weißen Bluse gab es links oben ein kleines Loch mit einem roten Rand. Der Arm der Frau zuckte, und sie röchelte leise. Florian schrak zurück, sein Herz klopfte bis in den Hals. Etwas tun, dachte er, ich muss dringend etwas tun, wie war das noch mit der Ersten Hilfe, stabile Seitenlage, aber gilt das auch für Schussopfer, der Kurs ist schon so lange her, damals zur Führerscheinprüfung, wann war das noch … Er riss sich zusammen. So ging das nicht. Hektisch zog er sein Handy aus der Tasche und tippte die Notruf-Nummer. »Hier Hotel Storchen, bitte schicken Sie einen Rettungswagen, eine Frau mit Schussverletzung in Zimmer 308.« Er wollte sich zu der Frau hinunterbeugen, aber da klopfte es hinter ihm an die offene Zimmertür. Erschreckt drehte er sich um.

»Entschuldigen Sie bitte die Störung, ich wollte nur sichergehen, dass hier alles in Ordnung ist, ich hatte den Eindruck, dass es eine Auseinandersetzung mit Ihrem Zimmernachbarn gab?« Der Hotelportier trat ins Zimmer. »Ach, Sie sind es, Herr Berger dann haben Sie sich schon einigen können über die Lautstärke? Ich wollte wirklich nur nach dem Rechten sehen …«

In diesem Moment erblickte er die Frau auf dem Boden.

»Um Gottes willen, was haben Sie getan? Rühren Sie sich nicht von der Stelle!« Aufgeregt zückte der Portier sein Handy und tippte eine Nummer. »Hallo, ist dort Polizei? Hier Hotel Storchen, hier ist ein Mord …«

Den Rest des Satzes hörte sich Florian nicht mehr an. Er drängte sich am Portier vorbei, dieser versuchte, ihn am Arm zu packen, doch es gelang Florian, sich loszureißen und die Treppe hinunterzurennen. Er lief durch die menschenleere Rezeption hinaus auf den Weinplatz, dann die Wühre hinauf zur Rathausbrücke. Der Regen hatte nachgelassen, es nieselte nur noch leicht. Auf der Brücke drosselte Florian sein Tempo. Er durfte nicht auffallen, sagte er sich. An der Brüstung standen ein paar Touristen und machten Fotos von der erleuchteten Altstadt, die sich in der Limmat spiegelte. Als er den Limmatquai erreicht hatte, atmete er auf. Hier, unter den Arkaden, stand er auf sicherem Posten, regen- und blickgeschützt. War ihm jemand gefolgt? Er konnte nichts Verdächtiges erkennen, aber er hatte ein merkwürdiges Gefühl im Nacken, eine unbekannte Gefahr drohte ihm, das mussten seine Nerven sein, kein Wunder. Was war im Nebenzimmer passiert? Die Frau lag offensichtlich im Sterben, war sicher inzwischen schon tot. Wer war sie, und wer hatte sie umgebracht? Und – ganz nebenbei – was hatte ihn selbst bewogen, plötzlich wegzulaufen, das war idiotisch gewesen! Gut, der Portier hatte ihn sozusagen blind des Mordes beschuldigt, aber bei näherer Untersuchung hätte so eine Anschuldigung weder Hand noch Fuß gehabt, die Polizei hätte seine Unschuld sofort erkannt. Durch sein Wegrennen hatte er sich unnötig verdächtig gemacht.

Oder sprachen die Indizien vielleicht doch gegen ihn? Wenn das rote Loch im Rücken der Toten von einer Revolverkugel stammte, sah es nicht so gut aus für ihn, schließlich hatte er vorhin im Wald noch ein paar Schießübungen gemacht, um sicherzugehen, dass seine Pistole auch wirklich funktionierte. Sicher gab es an seiner Hand Schmauchspuren davon. Immerhin konnte das Projektil nicht aus seiner Waffe stammen. Wo befand sich seine Pistole eigentlich? Natürlich, er hatte sie, wie alle seine anderen Sachen, im Hotelzimmer liegengelassen, das wahrscheinlich immer noch offen stand.

Über allen Gedanken zu seiner unüberlegten Flucht war sein eigentliches Entsetzen vorübergehend in den Hintergrund gedrängt worden, doch jetzt, als er ein wenig zur Ruhe kam, drängte es sich wieder nach vorn. Er hatte eine tote Frau in einem Hotelzimmer gefunden! Nein, korrigierte er sich sofort, es stand nicht fest, dass sie tatsächlich tot war. Vielleicht konnte der Rettungsdienst sie wiederbeleben. Aber es war schwierig, sich vorzustellen, wie jemand mit einem Einschussloch über dem Herzen überlebt haben könnte. Doch das war nicht das Schlimmste. Das Bild vor seinen Augen zeigte die Beine der toten Frau in glänzend silbernen Strümpfen, die unter einem schwarzseidenen Rocksaum verschwanden. Der Rock hatte einen Schlitz, dessen Kante nach außen verknickt war. Genauso einen Knick in genauso einem Rock hatte er heute Morgen bei Lena gesehen, als seine Augen jede ihrer Bewegungen verfolgten, nachdem sie ihn so brüsk hinausgeworfen hatte. »Du ziehst heute Morgen aus«, hatte sie ihm beschieden, nicht auf seine Antwort gewartet, sondern das Frühstücksgeschirr abgeräumt und in der Geschirrspülmaschine versorgt. Neben ihm tönte Maries hämisches Lachen. Lenas Tochter hatte ihn noch nie leiden können, aber das interessierte ihn zu dem Zeitpunkt wenig. Hatte ihn eigentlich noch nie besonders interessiert. Mit verwöhnten unflätigen Teenagern musste er sich nicht freiwillig abgeben.

Aber dieser Rocksaum mit dem Schlitz, der hatte genauso ausgesehen wie Lenas. Doch Lena war blond, und die Tote brünett. Wahrscheinlich bildete er sich da etwas ein. Er ging nie Damenkleider einkaufen, auch nicht als Begleitung, dabei waren Männer nur im Weg, konnte er sich bisher immer erfolgreich herausreden. Also wusste er nicht, ob diese Art von engem Seidenrock vielleicht gerade total angesagt war und zu Dutzenden verkauft wurde, außerdem vielleicht wegen seiner Materialeigenschaften bei allen Trägerinnen auf gleiche Weise verknickt. Nein, die Frau mit dem Loch im Rücken war nicht Lena. Konnte nicht Lena sein. Unsinnig, so etwas auch nur zu denken. In Gedanken war er unter den Kolonnaden schon ein Stück weiter gegangen. Jetzt fiel ihm auf, dass sich auf der anderen Straßenseite ein Gebäude der Kantonspolizei befand. Der Anruf des Portiers hatte bestimmt eine Fahndung ausgelöst, und an dem knallroten Kaschmirpullover, den Lena ihm zu Weihnachten geschenkt hatte, war er gut zu erkennen. Auf der Straße in der Nähe des Storchen war er nicht sicher. Aber wohin sollte er gehen?

Vor ihm stand ein niedriges Schild, schwarze Schrift auf gelbem Grund: »Die aktuelle Diskussion zur kulturellen Aneignung – Dürfen Nicht-Mörder Romane über Mörder schreiben? Es diskutieren die Krimischriftstellerinnen Cressida Kandel und Philippa Thun und der Philosoph Sandro Zwiespalt, mit anschließender offener Diskussionsrunde«. Florian schnaubte verächtlich. Cressida Kandel! Diese aufgeblasene Pseudo-Philosophin mit der blauen Perücke hatte ihn vor einem Jahr bei einer Lesung als »den Stadtzürcher Krimi-Schriftsteller aus dem Weichspülgang« vorgestellt, was zu lauten Prust-Geräuschen aus dem Publikum geführt hatte, jemand warf sogar eine schmutzige Pudelmütze auf die Bühne. Mit der Frau wollte er nie wieder etwas zu tun haben, und das war gut so. Diese Überlegung führte ihn aber wieder auf sein aktuelles Problem zurück. Er war vollkommen sinnlos aus dem Hotel weggelaufen, er müsste so schnell wie möglich zurückkehren. Dann würde er wahrscheinlich die ganze Nacht über bei der Polizei zum Verhör sitzen und erklären müssen, warum er eine weder bewilligte noch gemeldete Pistole besaß und was er damit vorhatte. Sein Plan für einen stilvollen Freitod war gründlich schiefgegangen. Und eine weitere Peinlichkeit stand ihm noch bevor: Er würde an der Rezeption des Storchen erklären müssen, warum er die Rechnung nicht bezahlen konnte. Eigentlich könnte er sich gleich in die Limmat stürzen. Er befürchtete nur, dass er das überleben würde. Nach Südamerika auswandern? Ohne Geld? Zur Fremdenlegion gehen? Er schloss die Augen, in der Hoffnung, dass sich seine Gedanken damit zur Ruhe bringen ließen.

»Herr Berger?« Eine klare Frauenstimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Ihnen steht die philosophische Reflektion ins Gesicht geschrieben. Schön, dass Sie auch an unserer Diskussion teilnehmen. Möchten Sie mit aufs Podium? Philippa Thun hat leider gerade abgesagt, krankheitshalber, wir würden uns sehr freuen!«

Cressida Kandel! Florian gelang es, sein automatisch einsetzendes Knurren in der Höhe seines Kehlkopfes zu arretieren. Natürlich würde sie sich freuen, ihn noch einmal publikumswirksam zum Affen zu machen, diese Frau hatte ein sadistisches Naturell. Aber, überlegte er jetzt, warum sollte er nicht mit ihr diskutieren? Er befand sich gerade in einem desolat planlosen Zustand. Zu verlieren hatte er nichts, und es bestand immerhin die Möglichkeit, dass er an ihr eine Schwachstelle entdecken und einen guten Schlag landen konnte. Sollte er es versuchen?

Er sah Cressida Kandel an und versuchte, in ihrem Gesichtsausdruck zu lesen. In welcher Stimmung befand sie sich gerade? Sie wirkte ungewöhnlich weich und freundlich, war das eine Maske? Bisher hatte er sie immer als ausgesprochen ehrlich erlebt. Ehrlich und saugrob. Ihre Frisur schien sie auch geändert zu haben: Ihre Haare waren immer noch blau, aber das war offensichtlich ihr eigenes Haar, keine Perücke. Sie trug lange Haare, oben auf dem Kopf zu einem Knoten zusammengesteckt. Vielleicht hatte sich ihr Gesamtausdruck dadurch geändert – die kurze, dichte Perücke hatte sie wie einen bösartigen Alien wirken lassen.

»Sind Sie noch immer Writer in Residence im Literaturhaus Zürich?«, fragte er, um sich nicht sofort entscheiden zu müssen.

»Nein, die Vergabe erfolgt immer nur für sechs Monate. Ich bin in Zürich geblieben, weil ich mich hier zu Hause fühle, und weil meine Romane hier spielen.«

»Und weil Sie beliebt beim Publikum sind, das tut bestimmt gut«, konnte sich Florian nicht verkneifen.

»Das Publikum gibt es nicht, dass sollten Sie wissen. Man weiß nie vorher, wie Leute reagieren werden. Letzte Woche hat mir eine Frau nach einer Lesung ein angefangenes Strickzeug überreicht. Sie wollte mir damit signalisieren, dass sie mich für eine schlechte Kopie von Miss Marple hält.«

»Miss Marple ist doch eine fiktive Figur!«

»Manchmal wünsche ich mir, ich wäre auch eine fiktive Figur! Aber im Ernst – wenn die Leute eine Person in einem Fernsehfilm sehen, wird sie dadurch real. Die Unterschiede zwischen Realität und Fiktion verschwinden.«

Nicht nur in Bezug auf das Fernsehen, dachte Florian. »Und was haben Sie mit dem Strickzeug gemacht?«

»Aufgeribbelt. Vor den Augen der Geberin. Und die Stricknadeln habe ich in meinen Dutt gesteckt.« Sie deutete auf ihren Haarknoten, der tatsächlich von Holznadeln durchbohrt war. Florian nickte. »In Ordnung. Ich mache mit. Gibt es ein Honorar?« Es tat ihm gut, über alltägliche Dinge zu reden.

»300 Stutz. In bar, nach der Veranstaltung. Ist das okay für Sie?«

»Ja. Kann ich mir das Podium schon mal ansehen?« Er verspürte eine starke Abneigung dagegen, noch länger auf der Straße herumzustehen.

»Ja, gern, wir haben ohnehin nur noch eine knappe halbe Stunde bis zum Beginn der Veranstaltung. Kommen Sie.«

Florian stieg hinter ihr die Steinstufen zum Vortragssaal hoch. Er fühlte sich wie in einem anderen Leben. Irgendwann würde er wieder in die Realität zurückkehren müssen. Aber nicht jetzt.

5. Väter und andere Verwandte

Irgendetwas störte den Soundtrack von »13 Reasons Why«. Marie nahm den Kopfhörer ab und lauschte. Jemand läutete an der Haustür. Nein, nicht ihre Aufgabe und nicht ihr Problem. Die sollten ein anderes Mal wiederkommen. Sie setzte den Kopfhörer wieder auf und schob sich ein zweites Kissen unter den Kopf.