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Die Galerie-Angestellte Pia Hürlimann will nur in die Mittagspause gehen. Statt dessen wird sie für rasante vierundzwanzig Stunden in eine internationale Rubinschmuggel-Affäre hineingezogen und muss um ihr Leben fürchten. Die dunkle Vergangenheit der Rubine reicht bis ins heutige Zürich. Pia versucht verzweifelt, der Bedrohung durch alte Intrigen aus Indien und England zu entkommen.
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Seitenzahl: 305
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Taubenblut
von Susanne Mathies
Buchbeschreibung:
Die Galerie-Angestellte Pia Hürlimann will nur in die Mittagspause gehen. Statt dessen wird sie für rasante vierundzwanzig Stunden in eine internationale Rubinschmuggel-Affäre hineingezogen und muss um ihr Leben fürchten. Die dunkle Vergangenheit der Rubine reicht bis ins heutige Zürich. Pia versucht verzweifelt, der Bedrohung durch alte Intrigen aus Indien und England zu entkommen.
Über den Autor:
Susanne Mathies promovierte in Wirtschaftswissenschaft und in Philosophie. Bisher wurden sieben ihrer Romane veröffentlicht, zuletzt "Mord im Filmpodium", Gmeiner 2023, und "Der Koffer, oder: Entartete Ecken", Baltrum Verlag 2023.
Sie ist Redaktionsmitglied der orte-Literaturzeitschrift und Mitherausgeberin der orte Poesie Agenda.
Impressum
© 2025 Baltrum Verlag GbR
BV 2551 – Taubenblut
Umschlaggestaltung: Baltrum Verlag GbR
Cover Bild: Susanne Mathies
Lektorat, Korrektorat: Baltrum Verlag GbR, Hans Jörg Springer
Herausgeber: Baltrum Verlag GbR
ISBN: 978-3-819020-59-9
Verlag: Baltrum Verlag GbR, Weststraße 5, 67454 Haßloch
Internet: www.baltrum-verlag.de
E-Mail an [email protected]
Druck: epubli
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Taubenblut
Susanne Mathies
Baltrum Verlag
Weststraße 5
67454 Haßloch
Ich möchte mich bei Ganesha, Sohn Parvatis, dafür entschuldigen, dass ich mit seiner Identität ein böses Spiel getrieben habe. Aber er ist ein Gott, also sollte er solche Streiche gewöhnt sein.
Eine Taube und zwei Elefanten
»Tut mir leid.«
Pia antwortete nicht, sondern löste eine Kopfrechenaufgabe: Wenn sie jedesmal für diesen Satz einen Franken bekommen hätte – und ein Franken war ja wohl nicht zu viel für jemanden, dem etwas wirklich leidtat –, dann hätte sie jetzt, bei circa zehn 'Tut-mir-leids' am Tag, nach zwanzig Jahren Erwachsensein, wie viel Franken beisammen? Zehn Mal dreihundertfünfundsechzig mal zwanzig, das waren dreiundsiebzigtausend, Schaltjahre nicht mitgerechnet. In der Südsee konnte man davon bestimmt fünf Jahre lang leben und malen wie Gauguin. Oder eben nicht wie Gauguin, sondern wie Pia Hürlimann.
»Aber ich habe eine Überraschung für dich.«
Sie sah Steffen an. Eigentlich fand sie es angenehmer mit ihm, wenn er nicht mit Überraschungen aufwartete. Aber sie war voreingenommen. Sei nicht so, ermahnte sie sich und lächelte ihn an.
Er zog ein silberglänzendes Päckchen aus der Schublade und reichte es ihr.
»Alles Gute zum Valentinstag, mein Schatz!«
Er sollte sie nicht »mein Schatz« nennen, das hatte sie ihm schon oft gesagt. Aber es war zwecklos. Er nannte alle Frauen »mein Schatz«.
Das Silberpapier hatte diesen speziellen Feenglanz, wie man ihn in den bei Teenagern so beliebten Geschäften für Modeschmuck findet. Sie biss die Zähne zusammen und riss die Verpackung auf.
Eine mit Strass besetzte Silbertaube funkelte sie mit grünen Augen an. Pia funkelte zurück. Ich weiß, dass du sieben Franken neunzig gekostet hast, dachte sie, also schau nicht so frech. Sie wusste den Preis so genau, weil sie dabei gewesen war, als Steffen fünf von diesen kaufte, als 'Geschenke für Geschäftsfreunde'. Die Quittung hatte sie selbst bei den Belegen für Werbung abgelegt.
»Danke«, sagte sie. Ihr fiel nichts anderes ein.
Steffen verzog sein Gesicht zu einem breiten Lächeln. Er besaß gute Zähne, klein und ebenmäßig, das hatte ihr an ihm immer am besten gefallen.
»Du hättest nicht gedacht, dass du auch eine Taube bekommst, stimmt's?«
Nein, hätte sie nicht. Andererseits hatte sie fest damit gerechnet, ihr Gehalt diesen Monat pünktlich zu bekommen. So konnte man sich täuschen.
Er kam näher und gab ihr mit spitzen Lippen einen Kuss. »Du gehörst zwar nicht zu unseren Geschäftsfreunden, aber du verdienst wirklich eine Belohnung. Da kann man schon mal eine Ausnahme machen.«
Pia setzte sich. Sorgfältig hüllte sie die Taube in das zerrissenen Papier und verstaute sie in ihrer Handtasche.
»Ich mache jetzt Mittag«, sagte sie.
Die Ödnis von Zürich-Oerlikon erschließt sich erst dann wirklich, wenn man dort täglich seine Mittagspause verbringt. Pia überquerte den Max-Bill-Platz so rasch wie möglich, aber das nützte nichts. Je schneller sie ging, desto länger zog er sich hin. An seinem äußersten Ende bog sie in die Therese-Giehse-Straße ein. Der lange Säulengang vor dem UBS-Gebäude ließ den Weg endlos erscheinen. Als sie an der Unterführung zum Bahnhof ankam, fühlte sie sich wie eine Kanalschwimmerin, die endlich das Ufer erreicht.
Sie mochte den Bahnhof Oerlikon. Durch die vielen Umbauten war er größer und komfortabler geworden, aber es war schade, dass man ihn nicht mehr durch den Torbogen des alten Bahnhofsgebäudes betrat. Das Relief über der Türrundung wölbte sich wie die wulstige Lippe über einem gierigen Mund, der es gar nicht erwarten konnte, die Fahrgäste aufzufressen. Pia hätte sich gern verschlingen lassen. Jetzt stand sie stattdessen am offenen Eingangsbereich. Vor ihr zog eine johlende Schulklasse vorbei, begleitet von einem müde aussehenden Mann mit grauem Bart, der die Nachzügler zur Eile ermahnte. Unablässig schwenkte er die linke Hand in Richtung Rolltreppe, während er mit der Rechten einzelne Schüler einfing, die versuchten, in Richtung Kiosk abzubiegen. Fast tat er ihr leid. Aber er hatte bestimmt Pensionsberechtigung und eine liebende Ehefrau, die ihm niemals eine grell funkelnde Silbertaube schenken würde.
Wie jedes Mal, wenn sie herkam, sah sie sich das Plakat über dem Kiosk an. Neben dem Foto einer blonden jungen Frau mit rosigen Wangen stand ›Ich heiße Petra, und ich mache Urlaub, so oft ich will‹, darunter die Adresse einer Temporär-Firma. Seit Jahren schon sah Pia hier immer das gleiche Plakat.
Urlaub so oft sie wollte, das hatte Steffen ihr auch versprochen. Und eine Teilausstellung in den Räumen seiner Galerie, »sobald wir einen Künstler ausstellen, dessen Werk mit deinem ästhetisch harmoniert.« Ästhetisch harmonieren – so einen Schwachsinn konnte nur Steffen von sich geben. Ging es hier vielleicht um Tapetenmuster, die zum Teppich passen sollten? In den drei Jahren, seit sie für ihn die gesamte Büroarbeit erledigte, hatte die ausgestellte Kunst angeblich nie mit Pias Werken harmoniert.
Na gut, von Martin gab es natürlich eine Dauerausstellung, und die musste bleiben, weil die Bilder sich gut verkauften. Andererseits brauchten seine Knopf-Porträts nicht besonders viel Platz, und die übrigen Räume hatte Steffen bisher immer an andere vergeben. Im Moment zeigten sie gerade Seidenmalerei. »Kitsch, Kitsch, Kitsch!«, rief ihre innere Stimme. Aber sie traute sich nicht, das laut zu sagen, nicht einmal, wenn sie allein war. Sobald sie einmal damit anfing, würde sie das auch in der Galerie vor den Kunden sagen, daran zweifelte sie nicht im Geringsten.
Die Schulklasse war längst vorbeigelaufen, aber Pia stand immer noch wie angewurzelt. Eigentlich sollte sie jetzt zu Blume 3000 gehen und den Blumenschmuck für die Galerie besorgen. »Nimm am besten Sonnenblumen«, hatte Steffen gesagt. »Die sind nicht so teuer, und die Kunden denken dann immer gleich an van Gogh. Das zeigt, dass wir auf solide Werte setzen.«
Es ging nicht weiter. Sie kam keinen Schritt voran. Vielleicht bleibe ich für immer hier stehen, dachte sie, nach und nach werde ich erstarren, angefangen mit den Fingerspitzen, die fühlen sich jetzt schon ganz taub an, dann kommen die Unterarme, die Füße wachsen fest in den Boden, und zum Schluss können die SBB mir dann Kästen umhängen, in denen Fahrpläne und Prospekte stecken. Unterdessen würden hier unzählige Züge halten und wieder abfahren, und Menschenmassen durch den Bahnhof hetzen. Einige Züge würden auch durchfahren, ohne in Oerlikon zu halten. Leute sähen dabei aus dem Zugfenster und ließen die halbhohen Hochhäuser einfach vorbeigleiten. Nur Pia bliebe genau hier stehen, starr und stumm, ein Teil des Inventars. Die blonde Petra schaute höhnisch vom Plakat herüber.
Die Buchstaben auf der Anzeigetafel kippten klappernd zurück und richteten sich neu auf. Die nächste S-Bahn Richtung Zürich Hauptbahnhof fuhr in einer Minute von Gleis drei.
Pia ließ sich auf den letzten freien Sitzplatz in der zweiten Klasse fallen und rang nach Luft. Schnelles Laufen war sie nicht gewohnt. Vielleicht hätte sie sich doch im Januar für das Fitness-Center einschreiben sollen, als es den Sondertarif gab. Aber wozu sich das Leben schwer machen, nur damit man nicht außer Atem geriet, wenn man einmal zur Bahn rennen musste?
Die S-Bahn fuhr im unterirdischen Teil des Hauptbahnhofs ein. Pia stieg aus und drängte sich in die Menschentraube am Fuß der Rolltreppe. Trotz des Lärms hörte sie bei jedem Schritt den Hall ihrer Absätze auf den Granitfliesen, ein helles ›Klonk‹. Eigentlich sollte sie nur noch auf Granitböden gehen.
Als sie die Rolltreppe betreten wollte, schob sich ein großer junger Mann an ihr vorbei, stellte sich breit auf die Stufe vor ihr und drehte ihr seinen prallgefüllten Rucksack vor das Gesicht. An einem der Riemen baumelte ein schmuddeliger hellblauer Plüschelefant, der erinnerte sie an ihre Kindheit. Vielleicht könnte sie ihn einfach vom Rucksack abpflücken? Als Kind hatte sie gern Dinge getan, die so ungefähr halb verboten waren. Nicht richtig kriminell, wofür man ins Gefängnis kam, aber auch nicht gerade etwas, was einem die Eltern erlaubt hätten. Am liebsten spielte sie damals mit ihrer besten Freundin Esthi Detektiv: Dafür musste man an einem belebten Ort jemanden aussuchen – am besten die Augen schließen, bis zehn zählen, dann langsam die Augen öffnen und einen Schuh fixieren. Die Person, die zu dem Schuh gehörte, wurde ausgewählt und verfolgt, bis sie in ein Haus ging. Natürlich durfte sie nicht merken, dass man sie beschattete.
Damals war das ihr größtes Problem gewesen, erinnerte sich Pia. Einmal gingen sie einer alten Frau bis zu einer Villa in Tiefenbrunnen nach, da waren sie lange die einzigen Menschen auf der Straße. Als die Frau sich nach ihnen umschaute, klingelten sie einfach an irgendeinem Hauseingang. Da ging drinnen ein hektisches Hundegebell los, ein schweres Gewicht warf sich von innen gegen die Tür, und es gab ein Klacken wie von Krallen auf Holz. Sie wollten gleich wieder weggehen, aber die Frau auf der Straße drehte sich gerade erneut zu ihnen um.
Da wussten sie gar nicht, vor wem sie mehr Angst haben sollten: Vor der misstrauischen Frau oder vor dem Hausbewohner, dessen Schritte sie näherkommen hörten, und in ihrer Panik rannten sie ganz schnell den Weg zurück, den sie gekommen waren. So etwas würde ihr heute nicht mehr passieren. Hoffte sie jedenfalls.
Aber den Elefanten durfte sie trotzdem nicht pflücken. Das ist Diebstahl, sagte sie sich streng, das tut man nicht. In dem Moment rückte der Mann den Rucksack mit einem Schwung auf seinen Schultern zurecht, und ein Zipfel der Jacke, der heraushing, streifte Pias Stirn. Nein, sagte sie sich, auch dann nicht. Halberlaubte Spiele waren spannender, weil man immer darüber nachdenken konnte, wo das Illegale eigentlich anfing. Wenn man richtig kriminell war, dann wusste man das, und es blieb nichts zum Nachdenken außer dem schlechten Gewissen.
Bei dem Spiel mit dem Verfolgen fing es immer ganz harmlos an. Man konnte ganz zufällig in dieselbe Richtung gehen wie die ausgewählte Person, und dann entwickelte sich alles Weitere.
Heute suche ich mir eine Frau mit einer roten Handtasche, beschloss sie, während sie auf dem schwarz-weißen Steinfußboden der Ladengalerie entlanglief. Rote Taschen waren in dieser Saison modern, trotzdem gehörte ein bisschen Mut dazu, so etwas zu tragen. Sie würde gern zu den Leuten gehören, die genügend Selbstbewusstsein für solche Taschen hatten. Sie schloss kurz die Augen.
Die Tasche passte nicht zu ihrer Trägerin. Egal, dachte Pia, abgemacht ist abgemacht. Das kantige knallrote Ding schlingerte in der Ellenbogenbeuge einer kleinen braunhäutigen Frau in einem Sari, die gerade die Treppe zur Löwenstraße hochstieg. Pia beschloss, sie Rani zu nennen. Vielleicht war sie die Tochter eines Radscha, die zum Studium in die Schweiz gekommen war.
Pia bahnte sich einen Weg durch die Menschen, die ihr von der Treppe entgegeneilten. Auf der obersten Stufe sah sie gerade noch die Sohlen der Sneakers, die unter dem Sari hervorblitzten. Als sie selbst endlich oben in der Löwenstraße ankam, fiel ihr auf, dass heute ziemlich viele Frauen rote Handtaschen trugen. So mutig musste man dafür also gar nicht sein.
Rani ging ziemlich weit vor ihr auf der linken Seite der Löwenstraße. Pia versuchte, näher an sie heranzukommen, aber sie musste immer wieder Gruppen von Leuten ausweichen: ein paar Mädchen mit Riesenrucksäcken, einer jungen Frau mit einem Doppel-Kinderwagen, zwei gestikulierenden Männern in eleganten Anzügen. Es war ein ungewöhnlich warmer Tag für Mitte Februar. Der Sonnenschein brachte den Asphalt zum Glänzen und ließ alle Farben grell aufleuchten. Violette Schals schoben sich vor gelbe Einkaufstaschen und hellblaue Jeans. Pia blinzelte gegen die Helligkeit.
Wahrscheinlich hätte sie Rani verloren, wenn es nicht vor dem Kaufhaus Globus zu einem Zwischenfall gekommen wäre. Ein Mann brüllte laut auf, als ob er dem Namen der Straße Ehre machen wollte. Männer stellen sich immer so an, dachte Pia und drängte sich zwischen zwei gemächlich schlendernden kräftigen Damen nach vorn. Sie kam gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Rani ihre kantige Tasche zwischen die Beine eines stämmigen Mannes schwang, der in seinem gelb-schwarzen Ringelpulli aussah wie eine genetisch veränderte Hummel aus einem B-Movie. Der Mann wich geschickt zurück und packte die Tasche.
»Polizei! Haltet den Dieb!«, rief Rani. Sie hielt die Henkel fest in der Hand, aber der Mann schwenkte die Tasche in unterschiedliche Richtungen, um den Griff der Frau zu lockern. Als er sie plötzlich nach oben riss, musste Rani loslassen. Sie packte ihn am Ellenbogen und versuchte, wieder nach den Henkeln zu greifen.
Inzwischen waren Zuschauer stehengeblieben. Aber keiner von ihnen machte Anstalten, der jungen Inderin zu helfen. Die beiden Damen sahen dem Geschehen aus ein paar Metern Distanz interessiert zu, während ein bulliger Mann, mit einer Einkaufstasche in der Hand, so nah wie möglich an Rani herangetreten war und sie eingehend musterte. Klar, dachte Pia, Ausländer haben immer unrecht. Sollte sie selbst irgendetwas tun? Es war nicht fair, dass sie jetzt plötzlich schwierige Entscheidungen treffen musste. Wieso passierte sowas ausgerechnet mit der roten Handtasche, die sie ausgesucht hatte? Wenn der Dieb sich mit der Tasche davonmachen sollte, müsste sie dann nach den Spielregeln eigentlich ihm folgen, oder doch dieser Rani? Oder war das Spiel dann zu Ende?
Der Dieb riss sich von Rani los, presste die Handtasche fest an sich und rannte über den Fußgängerstreifen zur Tramhaltestelle Richtung Hauptbahnhof. Ein Auto musste bremsen und hupte. Als der Fahrer gerade wieder anfahren wollte, lief Rani über die Straße.
Pia folgte ihr, so schnell sie konnte. Das Hupen auf der Straße wurde jetzt polyphon. Gleichzeitig fuhr eine Tram in die Station ein. Rani hatte den Dieb erreicht und versuchte, ihm die Handtasche wieder zu entreißen. Aber es war ganz klar, dass sie es ohne Hilfe nicht schaffen würde.
Wenn ich der Dieb wäre, überlegte Pia, würde ich einfach in die Tram steigen, kurz bevor die Türen schließen. Er stand schließlich nicht weit entfernt.
Sie stellte sich neben das Trittbrett und wartete. Selbst wenn der Dieb nicht einsteigen wollte, würde er wahrscheinlich auf seiner Flucht an ihr vorbeilaufen.
Rani hatte inzwischen die Tasche losgelassen und versuchte stattdessen, dem Räuber das Gesicht zu zerkratzen. Er wich aus und rannte zur Tram.
Pia streckte ihr Bein aus. Das hatte sie als Kind auf dem Schulhof immer so gemacht, wenn jemand sie ärgern wollte. Der Mann stolperte, als er an ihr vorbeikam, fluchte und landete mit einem lauten Klatschen auf dem Asphalt. Die rote Handtasche segelte ein paar Meter weiter bis zum Randstein der Tramhaltestelle.
Eine alte Frau, die gerade aus der Tram gestiegen war, beugte sich zu ihm herunter.
»Kann ich Ihnen helfen, junger Mann?«
Er rappelte sich mühsam hoch und schüttelte ihre helfende Hand ab. Rani hob ihre Tasche auf und ging auf die Leute zu, die an der Haltestelle warteten.
»Das ist ein Dieb«, sagte sie, »rufen Sie die Polizei!«
Diesmal sahen einige der Umstehenden den Mann im schwarzgelben Ringelpulli misstrauisch an, und einer holte sein Handy aus der Tasche. Der bloßgestellte Dieb zögerte kurz, dann rannte er in Richtung Bahnhofstraße, ohne noch einmal zu versuchen, in den Besitz der Tasche zu gelangen. Keiner der Wartenden machte Anstalten, ihm zu folgen. Rani sah ihm kurz nach, dann drehte sie sich um, überquerte die Straße und ging im normalen Zürcher Tempo die Löwenstraße hoch, als wäre nichts gewesen.
Als Pia hinter ihr hergehen wollte, sah sie an der Tramhaltestelle eine weiße Papiertüte, die vorher nicht dort gelegen hatte. Vielleicht war sie aus Ranis Tasche gefallen? Sie hob die Tüte auf und sah hinein. Drinnen lagen ein Taschenbuch und ein kleiner silberner Elefant. Die gehörten bestimmt Rani. Sollte sie hinter ihr herlaufen und es ihr gleich geben? Aber Rani hatte inzwischen schon einen ziemlichen Vorsprung. Außerdem mochte Pia keine Hektik.
Sie würde der Frau im Sari erstmal einfach weiter folgen. Pia hielt sich auf der linken Straßenseite und hatte so Gelegenheit, die Inderin genauer anzusehen. Sie trug ihr schweres glattes Haar im Nacken geknotet, dadurch wirkte sie besonders schmal und elegant. Ihr Sari war ganz anders als die, die Pia aus Bollywood-Filmen kannte: nicht leuchtend bunt, sondern dunkelgrüngrau gemustert. Sie sieht reich aus, beschloss Pia für sich, die kann sich alles leisten. Aber was machte so eine Frau am schmuddeligen Ende der Löwenstraße?
Pia schrak auf. Während sie in Gedanken versunken der Straße folgte, hatte Rani ein Reisebüro betreten. Jemandem in ein Geschäft zu folgen, war zwecklos, das hatte sie schon bei ihren Kinderspielen gelernt. Dabei fiel man immer unangenehm auf. Sie könnte natürlich einfach reingehen und der Frau das Täschlein wiedergeben. Aber was würde sie ihr dann sagen? »Sie haben da was verloren«, wäre das Einfachste, natürlich. Die Inderin würde sich kurz bedanken, und damit basta. Weiter folgen konnte sie ihr natürlich nicht, das müsste Rani ja merken.
Das Spiel war zu Ende, ob Pia nun wollte oder nicht. Sie würde nie erfahren, warum Rani einen Elefanten in einer Papiertasche bei sich trug, wo sie wohnte, ob sie in Zürich studierte und ob sie wirklich so reich war, wie sie aussah.
Rani hatte sich gesetzt, und die Angestellte reichte ihr einen Stapel mit Prospekten. Jetzt war es eigentlich schon zu spät für eine Spontanaktion, um ihr die Tüte zurückzugeben.
Also konnte sie ebenso gut warten, bis Rani herauskam, und ihr dann weiter folgen. Mit dem Warten kannte sie sich aus. Sie hatte in den letzten Jahren oft genug auf Steffen gewartet. Das waren einige von den vielen Gelegenheiten gewesen, bei denen er »Tut mir leid« gesagt hatte.
Plötzlich fiel ihr ein, dass Steffen jetzt in diesem Moment auf sie warten musste. Gewiss fragte er sich inzwischen, warum sie noch nicht mit den Blumen zurückgekommen war. Machte er sich Sorgen? Nein, entschied sie nach kurzem Nachdenken, der bestimmt nicht, er hatte ihr schließlich kein Geld mitgegeben, mit dem sie hätte durchbrennen können.
Endlich öffnete sich die Tür des Reisebüros. Rani trat heraus, drehte sich nach rechts und ging schnell weiter die Löwenstraße hoch. Hinter dem letzten Geschäft bog sie in einen kleinen Durchgang ein.
Pia folgte ihr mit einigem Abstand. Die Passage führte in einen Hof. Pia blieb im Schatten stehen und wartete. Rani ging an ein paar geparkten Autos vorbei auf ein Geschäft zu: 'Indische Antiquitäten' stand in verschnörkelten Goldlettern über der Tür. Hinter der verstaubten Schaufensterscheibe türmten sich funkelnde Armreifen vor Stapeln von gefalteten Seidenschals.
Rani öffnete die Ladentür und ging hinein.
Eigentlich war das Spiel jetzt zu Ende. Höchste Zeit, dass Pia sich überlegte, wie es in ihrem realen Leben weitergehen sollte.
Zuerst musste sie natürlich Rani den silbernen Elefanten wiedergeben. Sie stieß die Ladentür auf, die gerade mit lautem Bimmeln zugefallen war, und trat ein. Am Tresen stand Rani neben einem dunkelhäutigen jungen Mann, der ihr sehr ähnlichsah.
»Grüezi mittenand«, sagte Pia.
Im selben Moment stieß sie mit dem Schienbein gegen eine offene Holzkiste, die auf dem Boden stand. Sie verlor das Gleichgewicht, versuchte vergeblich, sich an der Kiste abzustützen, kippte stattdessen nach vorn und landete auf einem Haufen kleiner metallischer Gegenstände, deren spitze Stacheln sich in ihren Bauch, ihre Oberschenkel und ihre rechte Handfläche bohrten. Ihre Knie brannten schmerzhaft. Wahrscheinlich blute ich, dachte Pia, verdammt, und die Strumpfhosen sind auch ruiniert. Das kommt davon, wenn man anderen ein Bein stellt. Das rächt sich sofort.
Sie wurde von beiden Seiten unter den Armen gepackt und hochgezogen.
»Alles in Ordnung?« Der Mann sah sie an, als ob er sagen wollte, ›Das tut mir jetzt wirklich leid für Sie, aber was suchen Sie hier eigentlich?‹
Manche Leute haben einfach zu sprechende Augen, dachte Pia. Sie warf einen Blick auf die Kiste und stellte fest, dass sie mit kleinen silbernen Elefanten gefüllt war: eine richtige Invasion von diesen Tierchen.
Laut sagte sie, »Ja, ich bin ok.«
Aber das stimmte nicht. Ihre Knie schmerzten, und sie hatte ein Gefühl, als bohrten sich tiefe Löcher in ihre Handflächen.
»Wir haben nämlich eigentlich geschlossen.« Das war Ranis Stimme.
»Einfach so? Mitten am Nachmittag?«
Pia durfte die Galerie nie nachmittags schließen. »Es könnte ja Bill Gates vorbeikommen«, sagte Steffen immer und zwinkerte ihr zu. Dabei meinte er es gar nicht im Scherz, das wusste sie.
»Wir haben am Mittwoch nachmittags immer geschlossen, das steht an der Tür.«
»Dann sollten Sie aber auch abschließen!«
»Tut mir leid.«
Da war er wieder, dieser Spruch. Pia beschloss, sich dadurch nicht beirren zu lassen.
»Außerdem bin ich nicht hergekommen, um etwas zu kaufen«, sagte sie.
Rani runzelte die Stirn, sah aber immer noch freundlich aus. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie.
»Vorhin, vor dem Globus, hat doch jemand versucht, Ihre Handtasche zu stehlen.« Pia hielt inne. Das war schwerer zu erklären, als sie gedacht hatte.
»Ja, das stimmt, waren Sie dabei? Ich habe Sie gar nicht gesehen.«
»Ja, und ich habe dem Mann ein Bein gestellt, um ihn aufzuhalten.«
Die Falte auf Ranis Stirn wurde tiefer. »Möchten Sie eine Belohnung? Sind Sie deshalb hergekommen?«
Pia stöhnte innerlich. Jetzt hatte sie ja wirklich einen völlig falschen Eindruck gemacht. Wie sollte sie das richtigstellen?
»Nein, im Gegenteil, ich habe etwas für Sie.«
Rani zögerte und warf dem jungen Mann einen Blick zu. Dieser zuckte die Achseln. Endlich sagte die Frau: »Ja gut, das können wir dann in Ruhe besprechen. Aber erstmal sollten Sie sich verarzten, Sie haben sich ja wehgetan. Ich zeige Ihnen unser Badezimmer, da finden Sie alles, was Sie brauchen.«
Ehe Pia etwas antworten konnte, schob Rani sie zu einem Nebenraum und öffnete eine kleine weiß gestrichene Tür.
Eigentlich wollte Pia ihr ja nur die Papiertüte wiedergeben, da gab es gar nicht so viel zu besprechen. Außer, dass sie erklären musste, warum sie Rani bis zum Laden gefolgt war. Und das könnte sich schwierig gestalten, weil sie es selbst nicht so genau wusste. Es gehörte zwar zum Spiel, aber dieses war schon lange vorbei. Am besten versorgte sie wohl wirklich erstmal ihre Wunden.
Badezimmer war etwas hoch gegriffen, dachte Pia, als sie die Tür hinter sich schloss und verriegelte. Aber immerhin gab es ein winziges Waschbecken mit Seife und Papierhandtüchern. In einem Schränkchen an der Wand fand sie einen Erste-Hilfe-Kasten, aus beige lackiertem Metall mit einem roten Kreuz, der war bestimmt schon zig Jahre alt, aber Pflaster hatten ja kein Verfalldatum – oder etwa doch?
Ihre Knie bluteten immer noch. Sie zog die zerfetzte Strumpfhose aus und warf sie in den überquellenden Mülleimer unter dem Waschbecken. Die Wunden brannten, als sie sie mit Alkohol abtupfte. Glücklicherweise waren genügend Tupfer da.
Als sie auf ihre frisch gereinigten Beine mit den rosa Pflasterstreifen sah, hätte sie fast gelacht. So ähnlich hatte sie im Alter von sieben Jahren ausgesehen, als sie Rollschuhlaufen lernte. Irgendwie ein ernüchterndes Ende für ihr kleines Verfolgungsspiel!
Es störte sie, dass die Tüte immer noch in ihrer Handtasche lag. Die wollte sie jetzt wirklich so schnell wie möglich zurückgeben. Zur Sicherheit öffnete sie die Tüte und warf einen kurzen Blick auf das Buch. ›Aufzeichnungen für meinen Sohn‹ stand auf dem Umschlag, von einem Edward Goodall; den Namen hatte sie noch nie gehört. Auf der Vorderseite befand sich ein Foto einer reich verzierten Taschenuhr. Wie war Rani wohl zu diesem Buch gekommen? Pia schlug es im Mittelteil auf und las eine kurze Kostprobe:
»Zu meinem Bedauern habe ich heute von den Behörden die Mitteilung erhalten, dass meine Bewerbung um die Konzession zur Bewirtschaftung der Rubinminen in Burma erneut vertagt worden ist.«
Das lud nicht gerade zum Weiterlesen ein. Sie legte das Buch in die Tüte zurück und nahm die silberne Figur heraus. Der kleine Elefant war ziemlich hässlich, mit breitgedrücktem Rüssel und verschmitzten Augen. Es war eine Ganesha[Fußnote 1]-Figur, erkannte sie jetzt, mit dem typischen runden Bauch und dem abgebrochenen Stoßzahn. Am besten würde sie ihn Rani einfach in die Hand drücken, wenn sie wieder in den Ladenraum kam.
Sie schob den Riegel zurück und drückte die Türklinke.
Die Tür öffnete sich nicht. Das darf doch nicht wahr sein, dachte Pia und rüttelte an der Klinke. Jetzt hatte sie sich auch noch im Bad eingesperrt, weil die Tür klemmte. Sie war technisch nicht sehr begabt, obwohl man das heute als Frau gar nicht mehr zugeben durfte.
Gleich um Hilfe zu rufen, wäre jetzt viel zu peinlich. Sie rüttelte energischer. Nichts passierte. Sie gab der Tür einen Tritt. Etwas Putz löste sich von der Decke und fiel auf ihre Haare. Sie zog noch einmal an der Tür.
Dann atmete sie tief durch. Erstmal in Ruhe nachdenken, sagte sie sich. Panik brachte nichts. Wenn sie jetzt um Hilfe rief, stand sie als totale Idiotin da. Aber – mal ehrlich – tat sie das nicht sowieso? Warum musste sie mit ihren großen Füssen über diese Kiste stolpern? Was sollten die Leute von ihr denken? Wahrscheinlich hatte in Indien keine Frau die Schuhgröße 40. In seinen charmanten Phasen sagte Steffen gern, Pia hätte eben die gleiche Schuhgröße wie Sophia Loren. Aber dabei grinste er immer so gemein, denn es war klar, dass Pia sonst keinerlei Ähnlichkeit mit der Loren besaß.
Draußen gingen Schritte vorbei.
Jetzt half es nichts mehr.
»Entschuldigung?«, rief sie laut. »Könnten Sie mir bitte aus dem Bad helfen?«
Nichts rührte sich.
»Hallo? Ich bekomme die Tür nicht auf!«
Die Schritte näherten sich wieder, und ein schwerer Gegenstand wurde über den Boden geschoben.
»Hilfe! Ich möchte hier wieder raus!«
Die Schritte entfernten sich.
Pia drehte sich um und betrachtete ihr eigenes Gesicht im Badezimmerspiegel. Es wirkte ziemlich verdutzt.
Offensichtlich hatte man sie absichtlich eingesperrt.
Steffen denkt an Pia
Steffen dachte an Pia, während er sich unauffällig hinter dem Tresen die Nägel feilte. Dienstags war selten viel los, schon gar nicht an so einem strahlend blauen Nachmittag wie heute. Kobaltblau, genau das ist es, dachte er. Seit er die Galerie besaß, versuchte er, alle Spezialausdrücke aufzuschnappen, die irgendwie mit Malen zusammenhingen. Martin hatte ihn neulich mal gefragt: »Warum gehst du denn nicht zur Uni und machst ein paar Kurse in Kunstgeschichte?« Steffen musste daraufhin ziemlich entsetzt dreingeblickt haben, denn Martin bekam einen Lachanfall. Das war das Gute an einer Männerfreundschaft wie zwischen ihm und Martin. Sie konnten sich gegenseitig veräppeln, ohne dass einer das dem andern übelnahm.
Normalerweise gab einem Pia an langweiligen Nachmittagen wenigstens etwas zum Anschauen. Sie bewegte sich langsam, aber graziös, wie eine Giraffe. Schade, dass sie diesen Tick mit der Malerei hatte. Konnte sie nicht einfach damit zufrieden sein, in einer angesagten Galerie zu arbeiten und von den männlichen Kunden bewundert zu werden? Selbst Martin fand ihre Bilder ziemlich daneben, und der musste ja nun wirklich etwas von Kunst verstehen, schließlich lebte er davon. Aber Pia hörte nicht mal auf Martin. Sie hatte auch bis jetzt nicht mitbekommen, dass Martin ziemlich verliebt in sie war. Ein bisschen naiv, aber süß, dachte Steffen. Vielleicht sollte er sie mal in aller Freundschaft für ein Wochenende an Martin ausleihen? So was hatte er neulich in einem französischen Film gesehen – »Bring sie mir heil wieder«, sagte der Ehemann da zum Liebhaber.
Zu seiner Freude stellte er fest, dass sein Penis bei dem Gedanken steif geworden war. Er hatte nachher noch eine Verabredung mit Luzie, um ihr die Putzstunden zu bezahlen. Luzie fand auch, dass man nicht zu viele Steuern bezahlen sollte. Und irgendwie gab es ihm ein tolles Gefühl, das Geld in bar auf den Tisch zu blättern. Glücklicherweise war er jetzt in der richtigen Stimmung für das Treffen: Luzie, die ihn überall abtastete, um zu sehen, ob er noch irgendwo Geld versteckt hatte (und er hatte!), Luzies feuerrote Locken auf seinem hellen Bauch, weiche kleine Schlangen ... Rotes Haar sah auf weißer Haut viel dramatischer aus als schwarzes ...
Bei schwarzem Haar fiel ihm Pia wieder ein. Schade, dass sie es nicht schulterlang trug. Er würde sie überreden, es wachsen zu lassen. Alle Frauen sollten gesetzlich verpflichtet werden, ihr Haar lang zu tragen. Wo war sie eigentlich? So lange konnte das im Blumenladen doch nicht dauern. Wahrscheinlich gönnte sie sich noch einen kleinen Bummel. Oder schmiedete sie vielleicht neuerdings eigene Pläne? Er nahm sich vor, sie abends zu besuchen und das genau zu untersuchen. Ein Mann musste schließlich wissen, was seiner Verlobten alles durch den Kopf ging, und ob sie vielleicht Anrufe von unbekannten Nummern bekam.
So gegen zehn würde er von Luzie weggehen, weil um die Zeit ihr Mann nach Hause kam, dann könnte er spätestens um elf bei Pia sein.
Er lächelte. In Gedanken sah er schon ihr erfreutes Gesicht, wenn sie ihm die Tür öffnete.
Ganesha hilft
Ich sehe aus wie sonst, konstatierte Pia beim Blick in den Badezimmerspiegel. Pia Hürlimann, vierunddreißig, blass, dunkle Locken, seit drei Monaten nicht mehr beim Friseur gewesen, mit Schatten unter den Augen, wo die wasserfeste Wimperntusche gefärbt hatte. Bei so einer Kintopp-Geschichte wie dieser hätte man wenigstens eine perfekt gestylte Heldin erwartet, die aussah wie Nicole Kidman oder Cameron Diaz. Und noch etwas machte sie falsch: Opfer müssen blond sein, hatte Hitchcock gesagt.
Hinter ihr im Laden ertönte ein lautes Scharren. Dort wurden harte schwere Gegenstände über den Boden geschleift. Anscheinend hatte sie Rani und ihren Bruder bei irgendeiner dringenden und geheimen Tätigkeit gestört. Im Moment schienen sie damit zufrieden, sie eingesperrt zu lassen. Aber später wollten sie vielleicht noch die lästige Zeugin loswerden. Sie hatte zwar nichts Interessantes beobachtet, aber gut möglich, dass sie das anders sahen. Sie musste hier raus, und zwar unauffällig und schnell. Aber wie? Das einzige Fenster saß ganz oben in der Wand und war ungefähr halb so breit wie Pias Hüften.
»Was sagst du dazu, Ganesha?«, fragte sie und hob den silbernen Elefanten hoch. Sie fand es beruhigend, sich mit ihm zu unterhalten, er sah so klug und nachdenklich aus.
Der Elefant lehnte sich selbstzufrieden in ihrer Hand zurück. Seine winzigen Augen schienen sie anzublinzeln. Nein, das geht zu weit, dachte sie. Sie konnte nicht mit jedem hergelaufenen Elefanten flirten, nur weil sie zusammen verunfallt waren. Und ein Elefant hatte sie überhaupt erst zu einem Abenteuer verführt, dieser speckige Plüschelefant vorhin auf der Rolltreppe. Sie packte Ganesha um die fülligen Hüften und setzte ihn auf den Rand des Waschbeckens.
Einen Moment blieb er sitzen, ließ sich dann zur Seite abrollen, stürzte, prallte mit dem linken Ohr auf den Rand des Mülleimers und sprang mit einem Satz auf den gekachelten Boden. Pia schaute ihn verdutzt an. Sein Lachen war ihm vergangen.
Erst auf den zweiten Blick erkannte sie, warum er jetzt so traurig aussah. Er war in zwei Stücke zerfallen, einen vorderen und einen hinteren Elefanten. Sie bückte sich und hob die beiden Teile der hohlen Figur auf. Im hinteren Elefanten lag ein mit Watte gefüllter Plastikbeutel.
Der Beutel fühlte sich schwerer und härter an, als er aussah. Sie öffnete ihn, und ein glatter Gegenstand fiel heraus.
Es war ein massiver goldener Anhänger in Form eines Sechsecks, mit einem rundgeschliffenen dunkelroten Stein in der Mitte. Er lag warm und schwer auf ihrer Handfläche. Während sie ihn ansah, wurde sein Goldglanz stärker, und der Stein glühte. Ob das ein Rubin war? Sie schloss ihre Hand und spürte sein Feuer, ohne es zu sehen.
Dann öffnete sie ihre Faust wieder und betrachtete den Anhänger noch einmal genau. Er sah abgewetzt aus, seine feine Ziselierung war kaum noch zu erkennen. Entweder handelte es sich um ein sehr altes und wertvolles Stück oder um geschickt hergestellten Modeschmuck. Gut möglich, dass der schwere Kern aus Blei bestand, überzogen mit dünner Goldfolie. Diese abgegriffenen Konturen konnte man auch in Form gießen. Und der rote Stein bestand vielleicht aus Kunstharz.
Sie wartete ab, ob der Anhänger in ihrer Hand bei dieser Vorstellung kälter und leichter würde. Aber er blieb, was er war, ein warmes Leuchten auf ihrer Handfläche.
Ihr Herz fing an, schneller zu schlagen. Rani hatte bestimmt noch nicht gemerkt, dass der Elefant aus ihrer Tasche verschwunden war, sonst hätte sie Pia danach gefragt. Warum hatte sie ihn nicht einfach kommentarlos auf den Ladentisch gelegt? Aber dafür war es jetzt zu spät.
Als Erstes galt es, hier rauszukommen. Sie packte den Rubin wieder ein und steckte die Tüte und Ganesha in ihre Handtasche. »Du kommst mit«, sagte sie zu ihm, als sie die Tasche über ihre Schulter hängte. In ihrem Hinterkopf mahnte Pia von vor etwa einer Stunde: Das ist Diebstahl, gegen alle Spielregeln, so etwas tust du nicht, aber sie hörte nicht darauf. Besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen.
Sie musste einen Fluchtweg finden. Die Tür war anscheinend von außen verschlossen, und selbst wenn Pia es schaffte, sie aus dem Rahmen zu heben, liefe sie vermutlich bloß ihren Gefangenenwärtern direkt in die Arme.
Neben dem Waschbecken, durch einen Vorhang halb verdeckt, gab es eine winzige Besenkammer, in der nur ein Staubsauger und ein Eimer standen. Konnte sie sich dort verstecken? Probehalber kletterte sie über den Staubsauger und kauerte sich dahinter. Nein, das funktionierte nicht. Pia lehnte sich gegen die Wand und atmete tief durch.
Sie spürte Durchzug. Zwischen Rückwand und Seitenwand der Kammer klaffte ein Spalt. Vielleicht ließ er sich verbreitern? Aber natürlich hatte sie kein Werkzeug dabei. Und hier lag auch sonst nichts, was sie gebrauchen könnte. Den Erste-Hilfe-Kasten fand sie viel zu groß und sperrig.
Ihr Blick fiel auf den Staubsauger. Die Saugdüse war nicht groß und lief schmal zu, die ließ sich vielleicht verwenden. Sie versuchte, die Düse vom Rohr zu ziehen, aber sie saß zu fest. Also musste es auch so gehen. Sie hob das Rohr an und drehte es, bis sie die Spitze der Düse in den Wandspalt schieben konnte. Mit aller Kraft drückte sie sie so weit wie möglich hinein. Die Rückwand bog sich nach außen – sie schien nur aus Pappe zu sein.
Die Scharrgeräusche aus dem Laden hatten aufgehört. Stattdessen gab es ein lautes Klappern. Pia trat mit einem ihrer schweren Plateau-Stiefel gegen die Wand, dann warf sie sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen.
Es war gut, dass der Lärm im Laden andauerte, denn sie machte selbst einen Riesenkrach. Die Rückwand war am Rand eingerissen und löste sich von der Seitenwand. Dadurch entstand ein langes schmales Loch, und das Staubsaugerrohr fiel auf der anderen Seite auf den Boden.
Pia zwängte sich seitlich in die Lücke. Sie spürte einen leichten Widerstand – ihr Kleid hatte sich an einer Zacke der offen klaffenden Wand verhakt. Außerdem drückte die harte Kante gegen ihren Brustkorb. Sie steckte fest.
Im Laden war es inzwischen ruhig geworden. Nur ein leises, wisperndes Geräusch kam noch von dort. Sie hielt den Atem an. Wenn jetzt jemand einträte, um sie zu holen, könnte sie sich noch nicht einmal wehren.
Das Wispern ging weiter. Dann läutete plötzlich ein Telefon. Jemand fluchte in einer fremden Sprache, und es gab ein Poltern, als fielen schwere Gegenstände auf den Boden.
Pia holte tief Luft und rammte ihre Schulter gegen die Wand. Der Spalt wurde breiter, und sie konnte sich hindurchzwängen. Inzwischen registrierte sie den Schmerz nicht mehr so genau. Sie wollte durch die Wand, alles andere war egal.
Mit einem Knacken wich die Pappwand noch ein kleines Stück zurück. Pia drückte fest dagegen und stolperte, als der Widerstand nachließ und die Wand plötzlich wegkippte.
Als Pia ihr Gleichgewicht wiederfand, befand sie sich in einem anderen Raum. Es war still und schummrig. Zu ihrer Linken standen zwei schattenhafte Gestalten.
Aus ›Aufzeichnungen für meinen Sohn‹ von Edward Goodall
01. September 1885
Heute Abend auf dem Weg von der Edelstein-Auktion im Pall Mall Hotel hat mich auf der Treppe ein Unbekannter am Arm gefasst und meinen Namen geflüstert. Bei solchen Begegnungen bin ich immer sehr vorsichtig. Das Gesicht von Edward Goodall, Juwelier in der Bond Street, ist vielen bekannt, und nicht nur, weil es auf meinem Katalog abgedruckt ist. Immer wieder versuchen zwielichtige Gestalten, mich in ihre Geschäfte zu hineinzuziehen.
Der Unbekannte sah aus wie ein Abenteurer, mit schwarzen Augen, kaffeebrauner Haut und einem dichten Haarschopf, den er mit einem roten Seidentuch auf dem Kopf zu einem Knoten zusammengebunden hatte. Er trug westliche Kleider, einen weißen Leinenanzug wie ein britischer Kolonialbeamter und Stiefel aus feinem Leder. Ich griff in meine Jacke und packte den Griff meiner Pistole.