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Im Lesesaal der Zürcher Museumsgesellschaft sitzt ein verwahrloster Mann auf einem der roten Ledersessel, mit einem Blutfleck auf der Brust und einem Brieföffner im Herzen. Sechs Verdächtige befinden sich im Haus, jeder scheint einen dunklen Punkt in der Vergangenheit zu haben. Doch keiner will es gewesen sein, alle beschuldigen sich gegenseitig und mit Unterstützung durch die Polizei ist vorerst nicht zu rechnen. Wird es der Krimi-Autorin Cressida Kandel gelingen, den Täter zu entlarven, bevor weitere Morde geschehen?
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Seitenzahl: 276
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Susanne Mathies
Mord im Lesesaal
Zürich-Krimi
Dolchstoß ins Herz Ein grauenhafter Anblick im gediegenen Lesesaal der Zürcher Museumsgesellschaft: Im roten Ledersessel sitzt ein heruntergekommener alter Mann, die weiße Hemdbrust blutbefleckt, erstochen mit einem Brieföffner-Dolch. Die Lesesaal-Aufsicht Karin Zwingli stolpert über den Toten und wird sofort des Mordes verdächtigt. Natürlich ruft man die Polizei, doch die muss eine Straßenschlacht am Letzigrund unter Kontrolle bringen und kann vorerst nicht zum Tatort kommen. Ist Karin die Mörderin oder befindet sich der wahre Täter noch unerkannt im Lesesaal? Unter Anleitung der Krimi-Autorin Cressida Kandel beginnen die Anwesenden, die Taschen des toten Josef Gruber zu untersuchen. Neue Abgründe tun sich auf. Hat etwa jeder, der sich an diesem Abend im Lesesaal aufhält, ein schmutziges Geheimnis, das er um jeden Preis verbergen muss? Aus einer anfänglich geordneten Recherche entwickelt sich eine wilde Jagd durch das Haus und die Zürcher Innenstadt, bei der nicht nur Cressida ihr Leben aufs Spiel setzt.
Susanne Mathies, geboren 1953, lebt in Zürich, promovierte in Wirtschaftswissenschaft und in Philosophie. Die Autorin schreibt auf Deutsch und Englisch. Bisher hat sie mehrere Kriminalromane sowie zahlreiche Gedichte und Kurzgeschichten in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht. Sie ist Redaktionsmitglied der orte-Literaturzeitschrift.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung einer Illustration von: © Lutz Eberle, nach einem Foto von jordanoi / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-6942-8
Verschweigt die Natur ihm nicht das Allermeiste, selbst über seinen Körper, um ihn, abseits von den Windungen der Gedärme, dem raschen Fluss der Blutströme, den verwickelten Fasererzitterungen in ein stolzes, gauklerisches Bewusstsein zu bannen und einzuschließen! Sie warf den Schlüssel weg: und wehe der verhängnisvollen Neubegier, die durch eine Spalte einmal aus dem Bewusstseinszimmer heraus und hinabzusehen vermöchte, und die jetzt ahnte, dass auf dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend. Woher, in aller Welt, bei dieser Konstellation der Trieb zur Wahrheit!
Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, 1873
Dieser Roman sei Merkur gewidmet, dem Gott der Lügner. Ich danke ihm für seine Mithilfe bei der Erfindung neuer Mitglieder und neuer Eigenschaften der von mir sehr geschätzten Museumsgesellschaft Zürich. Möge nichts davon jemals wahr werden!
Die Zitate zu Beginn der Kapitel sind folgender Quelle entnommen:
Schapp, Wilhelm, In Geschichten verstrickt, Vittorio Klostermann GmbH, Frankfurt a. M., 5. Auflage., 2012. (Original veröffentlicht 1953)
Zum Buch
Impressum
Vorbemerkung
Literaturhinweis
Inhalt
Ledersessel I
Annäherung von innen I
Ledersessel II
Annäherung von außen I
Annäherung von innen II
Annäherung von außen II
Punktlandung
Entdeckung
Aufruhr
Die erste Schuldige
Die Verdächtigen sammeln sich
Beginn der Untersuchung
Karins Geschichte
Der zweite Schuldige
Die Jagd
Väter
Wozudinge
Auf Abwegen
Tief unten I
Spiel zu dritt
Zurück zum Anfang
Tief unten II
Spiel ohne einen
Tief unten III
Der dritte Schuldige
Noch einmal die Polizei
Tief unten IV
Noch einmal Räuchermännchen
Geselliges Beisammensein
Verteidigung der Methode
Rauchen für die Zukunft
Blau
Wir sind der Meinung, dass sich das Menschsein erschöpft im Verstricktsein in Geschichten.
Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt
Erschöpft ließ er sich in den roten Ledersessel fallen. Die Luft war stickig hier im Lesesaal der Zürcher Museumsgesellschaft. Nur mit Mühe hatte er den Weg vom Fahrstuhl hinter sich gebracht. Er sollte mehr auf sich achten, jetzt, da er es sich leisten konnte. Den alten Körper auf Vordermann bringen, wieder zum Mann werden. Das Leben genießen, solange noch Zeit war, aus dem Vollen schöpfen. Eine Kur machen, Wellness nannte man das heutzutage, der nasse Brunnen, mit Worten spielen hatte ihm schon immer Spaß gemacht. Nicht, dass ihm das bis jetzt irgendetwas genützt hätte. Die Welt war undankbar. Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner, das hatte schon seine Mutter damals immer gesagt, ein hervorragender Ratschlag. Abgesehen davon war sie allerdings nicht gerade ein Vorbild gewesen.
Er lehnte sich zurück und sah sich in dem hohen Raum um. An den Wänden standen Bücherregale mit Nachschlagewerken, von denen manche sehr alt aussahen, mit Goldbuchstaben in Sütterlin-Schrift auf den verblichenen, am Rand ausgefransten Lederrücken. Die Säulen an den Wänden waren nicht aus Marmor gehauen, sondern mit Steinimitat bemalt, und die Ormolu-Uhr an der Wand kontrastierte mit den runden 60er-Jahre-Lampen, die von der mit Stuck verzierten Decke hingen. Aber insgesamt entstand eine Atmosphäre ehrwürdiger Ernsthaftigkeit. Das Ambiente des Lesesaals gefiel ihm. Es wirkte diskret schäbig mit klassizistischem Einschlag, eine Einrichtung des gehobenen Bürgertums, das es nicht nötig hatte, mit seinen Besitztümern zu protzen. Hier saßen die Menschen, die dazu beitragen würden, dass er selbst einmal keine Gedanken mehr an Geld zu verschwenden brauchte, sondern imstande sein würde, auf diskrete Weise sein Leben zu genießen. Viel Zeit dafür blieb ihm dafür allerdings nicht mehr, möglicherweise nur noch ein paar wenige Jahre, deshalb sollten seine Pläne möglichst schon in nächster Zukunft aufgehen. Und warum sollten sie es auch nicht, er hatte sich gut vorbereitet.
Die Wirkung des Stoffs, den er sich vorhin besorgt hatte, ließ viel zu schnell nach. Er brauchte etwas Stärkeres. Hoffentlich war seine erste Verabredung pünktlich, er wollte dafür in Bestform sein. Bestform, bevor die Bestie in seinen Eingeweiden aufwachte. Fast hätte er gelächelt. Ich bin eben ein Dichter, dachte er, immer dicht am Wort. Selbst wenn niemand das zu schätzen wusste.
Man erkennt nicht zuerst eine Geschichte und ist dann in sie verstrickt, sondern das Verstricktsein ist das letzte Unteilbare. Es hat keinen Sinn, nach dem Wahrheitswert des Verstricktseins zu fragen. So, wie man in Geschichten verstrickt ist, so existiert die Geschichte.
Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt
»Tick-tock … Tick-tock … Tick-tock … Die Uhr an der Wand des Lesesaals tickte die letzten Sekunden seines Lebens herunter.«
Cressida Kandel strich sich mit ungeduldiger Hand die langen Strähnen aus der Stirn. So funktionierte das nicht! Die Szene wirkte nicht dramatisch genug. Ein Mordopfer, das schon wusste, dass es gleich sterben würde, hatte einfach nur Angst. Angst ließ sich literarisch gut ausschlachten, aber hier fehlte das Überraschungsmoment. Sie wollte die plötzliche Panik und Verzweiflung in den Augen des Opfers sehen, das letzte Aufbegehren, die verzweifelte Frage nach dem Warum, das schreckliche Ahnen einer Antwort kurz vor dem Ende. Der Mann musste anders sterben.
Beim Haareraufen hatte sie sich versehentlich ein einzelnes ausgerissen, es glänzte pfauenblau auf dem weißen Papier. Ein gutes, solides Haar, perfekt eingefärbt. So etwas bekam die Natur nicht hin. Eine satte, kräftige Farbe. Das brachte sie auf eine neue Idee: rotes Blut auf weißem Hemd, viel Blut, das sich ausbreitete wie eine sich öffnende Blüte im Zeitraffer, das leuchtend über den Ledersessel rann, sich mit den Teppichfarben vermischte. Das war gut, das musste sie gleich notieren.
»Hallo, Cressida. Wie geht es mit dem neuen Romanprojekt voran?«
Sie hatte ihn nicht heranschleichen gehört. Daniel Krumholz, der Leiter des Literaturhauses der Museumsgesellschaft, in Schlabberpullover und Cordhosen, die Lesebrille noch auf der Nase, stand direkt neben ihrem Tisch und sah auf sie herunter. Sanfter Gang, sanfte braune Augen, weicher Cardigan in gedämpften Farben. Cardigans waren jetzt wieder total angesagt, hatte sie der Vogue und der Annabelle entnommen, die hier im Lesesaal auslagen. Je verfilzter und unförmiger, desto trendiger. Daniel hatte sich überhaupt nicht verändert, aber er war modemäßig beim Puls der Zeit angekommen. Oder vielmehr hatte der Puls der Zeit ihn endlich erreicht.
Es gab keinen Grund dafür, dass sie bei seinem Anblick irgendetwas Besonderes empfand. Schließlich hatte sie ihn schon zweimal gesehen, seit sie nach Zürich zurückgekehrt war, einmal hatte sie sogar lange mit ihm gesprochen. Natürlich ging es bei diesem Gespräch ausschließlich um Literatur und um ihre bevorstehende Lesung. Aber es war immerhin ein richtiges Gespräch gewesen.
»Danke, es läuft gut, der Mord ist schon geplant«, flüsterte sie zurück. Einen Moment lang befürchtete sie, er würde jetzt seine Hand auf ihre Schulter legen. Aber dann ging er mit einem freundlichen Nicken weiter, nahm eine Zeitschrift vom Regal und verließ den Lesesaal.
Sie schrieb: »Die Uhr tickte weiter, während sein Blut aus den Herzkammern rann, das Herz langsam zuckte und endlich zum Stillstand kam.« Dann strich sie den Satz wieder. Unten auf dem Limmatquai herrschte früher Sonntagabend, das Grau war in klumpiges Tintenblau übergegangen. November. Auf der Straße liefen ein paar Touristen in warmen Jacken, die Smartphones schussbereit in der Hand, und suchten nach Motiven. Sie sahen nicht glücklich aus. Überall herrschte eine Atmosphäre, die nach brütenden Aggressionen schmeckte, nach enttäuschten Erwartungen in unpersönlichen Hotelzimmern, Hass auf den selbstsüchtigen Dauerpartner, Neid auf diejenigen, die sich auf der fernen Sonnenseite des Lebens zu befinden schienen. Selbst hier, im Lesesaal der Museumsgesellschaft, an diesem Ort des Studierens und Reflektierens, lauerte in den dunklen Ecken eine Aura der Missgunst.
Das war Wasser auf die Mühlen einer Geschichtensammlerin. Als ob sie noch zusätzlichen Stoff bräuchte! Das menschliche Leben offenbarte eine Fülle von spannenden Geschichten, sie vermehrten sich wie Kaninchen. Deshalb war der Kriminalroman – wie kulturell sensible Menschen längst erkannt hatten – die ideale literarische Darstellungsform für das heutige soziale Leben. Ständig entdeckte man neue Verbrechen, Kapitalverbrechen, Familienfehden, Vergehen gegen die eigene Befindlichkeit. Indizien für die Schuldigen waren jederzeit einfach zu finden. Das Schlimmste hielt man automatisch für das Richtige, und davon ließ man sich auch mit roher Gewalt nicht abbringen. Auch nicht durch die Polizei oder durch einen Gerichtsentscheid.
Schluss mit dem eigenen alten Kram! Neue Geschichten lagen überall in der Luft, sie warteten nur darauf, eingefangen zu werden. Eine davon bot sich ihr gerade an: Den arroganten Präsidenten der Museumsgesellschaft, diesen misogynen Gockel Jakob Wildenbruch, der beinahe ihre Nominierung zum Writer in Residence im Literaturhaus Zürich verhindert hätte, würde sie gern ein wenig bestrafen. Ihm nur ein bisschen wehtun, ein paar kräftige Ohrfeigen würden schon reichen. Klatsch – klatsch, eine rechts und eine links, verdutztes ungläubiges Gesicht, dazu sogar ein bisschen Angst? Dieser ignorante Hammel hatte seine Pläne, sie zu diskreditieren, noch nicht aufgegeben, dafür hatte sie einen sechsten Sinn. Schließlich hatte sie lange genug darum kämpfen müssen, als Schriftstellerin ernst genommen zu werden. Das würde sie sich von so einem lächerlichen Typen nicht ankratzen lassen. Aber da war sie schon wieder bei ihrer eigenen Geschichte. Andere Leute hatten auch Probleme, das war viel interessanter.
Wie wäre es zum Beispiel mit dem? Der hagere Mann ihr gegenüber, der mit den riesigen dunklen Nasenlöchern, war in den letzten fünf Tagen (solange Cressida selbst ihre Nachmittage im Lesesaal verbracht hatte) immer um Punkt 17 Uhr aufgetaucht und hatte jeden Tag eine andere Literaturzeitschrift durchgearbeitet, wobei er sich mit einem teuren Füllfederhalter nebenbei Notizen machte. Um Punkt 18 Uhr war er dann wieder gegangen. Wahrscheinlich wollte er seiner Frau die Gelegenheit geben, ungestört ein feines Abendessen für ihn vorzubereiten. Was, wenn er eines Abends früher nach Hause käme und sie mit ihrem Liebhaber im Bett entdeckte? Heute saß er noch spät im Lesesaal, es war schon kurz vor 19 Uhr. Hatte er seine Frau bereits erwischt und sie mit einem schweren Folianten aus seiner eigenen Bibliothek erschlagen, und ihren Liebhaber gleich dazu, sodass er keinen Grund mehr hatte, nach Hause zu gehen? Was würde so ein Mann mit den Leichen anstellen? Er sah ein wenig hinterhältig aus, wie ein schurkischer Buchhalter in einem Fernsehkrimi, vielleicht würde er sie bei seinen Nachbarn in den Keller legen, das wäre ihm zuzutrauen.
Einen Tisch weiter saß eine lokale Berühmtheit, Martin Leeman. Rundschultrig, spärliches Haupthaar, Mitte 40, mit beflissenem Gesicht und geschürzten Lippen. Er war ihr gestern vorgestellt worden, feuchter weicher Händedruck, wässrige Augen. Das war also der bekannte Sohn des noch bekannteren verstorbenen Schriftstellers Solomon Leeman. Die kommentierte Gesamtausgabe der Werke seines Vaters mit bislang unveröffentlichten Texten war ihm gelungen, das musste Cressida zugeben. Die lyrische Sprache des Sohnes ergänzte die Prosafragmente des Vaters auf glückliche Weise. Martin Leeman wirkte bescheiden, trotz seines Ruhmes. Allerdings war Cressida aufgefallen, dass er keine Gelegenheit ausließ, sein Buch öffentlich sichtbar zu machen. Seit Monaten schon veranstaltete er einen regelrechten Lesemarathon in Buchgeschäften, Nachbarschaftszentren, Bibliotheken, Literaturhäusern und Universitäten. Und jetzt war er sogar für den Literaturpreis nominiert – ob man dafür wohl jemanden bestechen konnte? Cressida hatte Gerüchte darüber gehört, aber sie mochte das nicht glauben, die waren sicher nur von neidischen Mitbewerbern erfunden worden. Die Welt war schlecht und voller boshafter Menschen. Glücklicherweise, denn woher sollten Krimi-Autoren sonst ihre Stoffe nehmen?
Faszinierend fand sie auch den struppigen brünett gefärbten Mann am hauseigenen Computer, den man laut Vorschrift nur eine Viertelstunde lang benutzen durfte. Der Struppige saß oft viel länger daran, vertieft in Recherchen, die Cressida von ihrem Platz aus nicht erkennen konnte. Er schien im Literaturhaus zu leben – wann immer Cressida durch das Haus ging, sah sie ihn in irgendeinem der Räume. Sie hatte bei der öffentlichen Hausführung vor ein paar Tagen gehört, dass sich die Bücherregale des Archivs im Keller immer noch in Luftschutzbetten umwandeln ließen – wahrscheinlich konnte man dort zur Not übernachten. Der Mann könnte der Geist der unterirdischen Räume sein, allgegenwärtig und allwissend, Kenner sämtlicher Geheimnisse des Hauses. Wofür er wohl alle diese Informationen verwendete – hortete er sie nur für sich selbst? Ein Netz von möglichen Geschichten breitete sich vor ihr aus.
Hinten, in einem der roten Ledersessel, saß ein Mann, der aus dem Rahmen fiel, und das nicht nur, weil seine voluminöse Gestalt über die Sessellehnen quoll. Fett, hätte man früher gesagt, heute durfte man das nicht mehr, wirklich erschreckend, wie schnell sie sich ganz automatisch an das allgemein verordnete Newspeak angepasst hatte. Verfilztes graues Haar, langer Bart, dunkelroter Schal, die breite Gestalt in einen fleckigen Trenchcoat gehüllt, weit über den nächsten Sitzplatz zur Seite gekippt, offenbar im Tiefschlaf. War das ein Penner von der Straße, der sich hier eingeschlichen hatte? Im Allgemeinen fühlten Obdachlose sich im Helmhaus auf der anderen Straßenseite ganz wohl. Dort war alles ebenerdig, keiner war dort lärmempfindlich, und es gab eine öffentliche Toilette. Warum sollte einer der Obdachlosen also bis in den Lesesaal der Museumsgesellschaft heraufsteigen? Kannte er hier jemanden? Vielleicht war er der vom Leben gebeutelte Onkel eines Mitglieds, dessen man sich schämte, der jedoch immer wieder ungefragt auftauchte und nur mit viel Alkohol und Drogen ruhiggestellt werden konnte. Wie lange er hier wohl schon unbehelligt saß? Der Lesesaal war den Mitgliedern der Museumsgesellschaft vorbehalten, und Karin war immer pflichtbewusst genug, das zu überprüfen. Lieb, aber irgendwie zwanghaft, die Arme. Cressida nahm sich vor, ihr ein bisschen mehr Lebensfreude und Frechheit einzuimpfen. Dies wäre gerade eine gute Gelegenheit, mit ihr zusammen eine Kaffeepause einzulegen. Cressida drehte sich zum Pult der Lesesaalaufsicht um. Doch der Platz war leer.
Die Geschichte ist sich ständig selbst voraus und ist auch ständig rückwärts gewandt.
Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt
Abwärtsfliegen war nicht dasselbe wie Abstürzen. Ein Abwärtsflieger hatte einen Plan, wollte auf dem Boden ankommen, während ein Abstürzler bestenfalls das unten Ankommen billigend in Kauf nahm. Ich fliege in einem flachen, nach unten gerichteten Winkel, dachte Karin Zwingli, die kritische Flughöhe habe ich noch nicht unterschritten. Außenstehende hatten wahrscheinlich den Eindruck, dass sie gerade auf Zehenspitzen durch den Lesesaal der Museumsgesellschaft schlich und auf einen der roten Ledersessel zusteuerte, so als ob sie etwas Heimliches vorhätte. Hoffentlich schaute keiner her. Denn sie hatte etwas Heimliches vor.
»Joe?«
»Nenn mich Joe«, hatte er gesagt, und sie musste das tun, obwohl alles in ihr sich dagegen sträubte, auf mehr Distanz drängte.
Joe antwortete nicht. Sein grauhaariger Kopf hing schwer über der breiten Brust, der rote Schal hatte sich von seinem Hals gelöst, die Brille war bis ans Ende der Nasenspitze gerutscht. Waren seine Lider geschlossen, oder hatte er einfach nur die Augen zusammengekniffen, um die kleine Schrift des Lexikons des Aberglaubens besser entziffern zu können?
Laut reden sollte man hier im Lesesaal nicht. Karin fasste den Mann an der Schulter und schüttelte ihn leicht.
»Joe?«
Stille. Schon den ganzen Morgen über hatte Karin nichts gehört außer dem Rascheln von umgeblätterten Zeitungsseiten und einem sägenden Schnarchen von den Sesseln her. Das Schnarchen hatte inzwischen aufgehört.
Sie zog vorsichtig das dicke Buch unter Joes Händen weg. Sein Kopf geriet ins Schwanken, sonst regte Joe sich nicht. Ein wildes Hoffen drängte sich in ihren Kopf: War er etwa tot? Wäre es nicht eine wunderbare Erleichterung, wenn er plötzlich weg wäre, eine unangenehme Konstante entfernt aus der Gleichung des Lebens, die sie dann ganz neu wieder ausbalancieren konnte? Film ab: Ambulanz, Friedhof (um sicherzugehen, dass er wirklich unter die Erde kam und der Sargdeckel geschlossen war), dann endlich frei. In eine andere Wohnung ziehen, in ein anderes Quartier, weg von den Erinnerungen. Neu anfangen. Niemals vollkommen frei, das war ihr klar. Doch wenigstens von der äußeren Bedrohung befreit sein. In einem steilen Winkel nach oben fliegen.
Ein massiger alter Mann mit mehr Macht über sie, als sie ertragen konnte. Warum sahen sich die meisten alten Männer so ähnlich? Bekamen die gleichen Hängelider, Gehässigkeitsfalten, den gleichen talgartigen Altmännergeruch? Erinnerungen stießen nach oben, brodelten unter dem Deckel, den sie notdürftig auf die jüngste Vergangenheit gesetzt hatte. Dieser Joe roch heute besonders unangenehm, ein saures Stinken, das sie nicht identifizieren konnte.
Sie rüttelte stärker an seiner Schulter. Gleich würden seine Arme vom Tisch rutschen, seine behaarten Hände neben dem Stuhl baumeln, sie würde den schweren Körper stabilisieren müssen, damit er nicht auf den Boden rutschte, während sie den Rettungswagen rief, aber für eine Rettung würde es längst zu spät sein.
»Verdammt, hör auf damit! Was soll denn das?« Seine Bassstimme war kräftig, wie schon beim letzten Treffen. Von einem der Tische am Fenster schreckte einer der Stammgäste hoch, sah Karin strafend an.
Der Traum war vorbei.
»Du hast mich gebeten, dich hier zu treffen, es ist 18.45 Uhr«, flüsterte sie Joe zu.
Er schaute zu ihr hoch, ein Glitzern in seinen graugrünen Augen. »Später. Wenn ich Zeit für dich habe.«
»Wann später?« So schnell ließ sie sich nicht abspeisen.
»Du kannst oben im Debattierzimmer auf mich warten.«
Das Bekanntsein ist keine Seinsform der Geschichte. Es realisiert sich immer nur im Kopfe eines anderen.
Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt
Jakob Wildenbruch, Präsident der Zürcher Museumsgesellschaft, schlug seinen Mantelkragen hoch, während er über die Münsterbrücke eilte. Seine Frau hatte ihn heute weder an den Schal noch an den Schirm erinnert. Myriam war nachlässig geworden in letzter Zeit. Es widerstrebte ihm, ihr das zu sagen; nicht zuletzt weil – selbst nach einem Jahr Ehe – seine Knie immer noch weich wurden beim Blick in ihre Augen, graublau mit goldbraunen Sprenkeln, so als ob hinter dem Himmel ein Goldschatz hervorleuchtete, nach dem es sich zu suchen lohnte. »Du Hexe«, sagte er immer zu ihr, und sie fühlte sich geschmeichelt, doch eigentlich meinte er es gar nicht als Kompliment.
Ein feiner Sprühregen drang durch sein dünnes Haupthaar. Er war froh, am Wettingerhus in den Schutz der Arkaden einzutreten. Es tat ihm gut, das harte Zürcher Pflaster unter seinen Ledersohlen zu spüren, erinnerte ihn das doch an das historische Erbe der Museumsgesellschaft, die Gewichtigkeit seiner Stellung und die Tragweite seiner Mission. Die Turmuhr am Fraumünster zeigte fünf vor sieben – er würde pünktlich sein.
Der Plakatständer vor dem Eingang zum Literaturhaus pries in großen schwarzen Lettern auf gelbem Grund die nächste Lesung für das kommende Wochenende an: »Die Erfolgsautorin Cressida Kandel liest aus ihrem philosophischen Kriminalroman In Geschichten verstrickt.« Darunter war ein Foto von Frau Kandel angebracht, einer leidlich hübschen Person mit energischem Kinn, deren schmales Gesicht unter einer Mähne von blauem Haar ein wenig blass wirkte. Wahrscheinlich war sie selbst eher der Meinung, dass sie interessant aussah. Ihn überkam ein spontaner Schwall von Ärger. Diese modernen Lifestyle-Philosophen waren alle nichts weiter als Dünnbrettbohrer, die sich dem Publikumsgeschmack anbiederten, insbesondere bei älteren Frauen, die nichts von guter Literatur verstanden und besser in ihrem Strickzirkel geblieben wären. Und dass man Kriminalromane neuerdings als Literatur ansah, war eine dieser zeitgenössischen Dummheiten, gegen die ernsthafte Literaturkenner wie er selbst schon seit Jahren vergeblich kämpften. Wo blieb da das Transzendente, wo der Ausdruck der Empfindsamkeit? Kriminalromane waren grobe Scheite für ein grobes Lagerfeuer, allenfalls geeignet für grobes Volk mit schlichtem Kunstverständnis. So dürfte er sich natürlich in der Öffentlichkeit niemals ausdrücken, jede Verbindung zwischen Büchern und Feuer war tabu, insbesondere wenn man sie herbei wünschte. Eines jedoch stand fest: Kriminalromane hatten keinen Platz in der intellektuellen Literaturszene! Das hätte gerade dem Leiter des Literaturhauses klarer sein sollen als jedem anderen. Aber Daniel Krumholz hatte diese Lifestyle-Autorin sogar als Writer in Residence eingeladen! Er selbst würde die Frau einfach ignorieren, wenn er ihr begegnete. Sobald er seine eigene literarische Entdeckung publik machen konnte, würde dieses Ereignis sie ohnehin in den Hintergrund drängen, niemand würde ihr dann mehr Beachtung schenken. Kriminalromane! Er schnaubte verächtlich.
Im Literaturhaus nahm er die Treppe, nicht den Fahrstuhl. Obwohl er für sein Alter gut in Form war, konnte es nicht schaden, auf die Gesundheit zu achten. Für Myriam, obwohl sie für eine so junge Frau erstaunlich bescheidene sexuelle Ansprüche stellte. Außerdem wollte er natürlich nicht, dass man ihn für Myriams Vater hielt.
Im ersten Stock wurde er fast von einer Frau umgerannt, die mit wehendem Mantel nach unten stürmte. Sie eilte weiter, ohne sich zu entschuldigen.
Nur wenige Mäntel hingen im Vorraum des Lesesaals, das war ein gutes Zeichen. Tagsüber konnte es dort recht unruhig zugehen. Man hätte den Studenten keine Mitgliedschaften anbieten sollen. Diesen Fehler hatte man allerdings schon lange vor seiner Zeit gemacht, daran ließ sich wohl nichts mehr ändern.
Als er den Lesesaal betrat, stutzte er einen Moment lang. Würde er seinen Gast überhaupt erkennen? Das letzte veröffentlichte Foto von ihm war immerhin 20 Jahre alt.
Am verabredeten Treffpunkt, den roten Ledersesseln im hinteren Teil des Saales, saß nur eine Person. Ein dicker alter Mann mit einem Schopf eisengrauer Haare beugte sich tief über den Folianten, den er auf dem Schoß hielt. Seine Jeans hatte Flecken, und der Trenchcoat war an der Schulter eingerissen. Konnte das wirklich …?
Jakob Wildenbruch trat vorsichtig vor den Mann hin und flüsterte: »Kann es sein, dass wir hier verabredet sind?«
Der Mann schaute noch nicht einmal hoch.
Jakob tippte ihm vorsichtig an den Oberarm.
Der Arm gab nach, der Ellenbogen rutschte von der Armlehne, und der Sitzende kippte schräg nach hinten. Nun war sein Gesicht Jakob zugewandt. Seine graugrünen Augen blickten starr ins Leere, und sein weißes Hemd war an der Brust leuchtend rot besudelt. Blutdurchtränkt.
Der Mann war tot, daran bestand kein Zweifel. Jakob spürte sein Herz im Hals pochen. Ihm wurde schwindelig, ein dunkles Prickeln kroch seinen Nacken hinunter. Nicht ohnmächtig werden, sagte er sich automatisch, keine Schwäche zeigen, niemals, besonders nicht in diesem Moment. Er atmete tief durch, mehrmals, zählte bis sechs nach dem Ausatmen, wie er es in der Therapie gelernt hatte. Ausatmen, Pause, einatmen. Das Prickeln verblasste. Er hatte sich wieder gefangen.
Aber was sollte er jetzt tun? Er konnte auf gar keinen Fall in einen Skandal verwickelt werden, so viel stand fest. Am besten wäre es wahrscheinlich, gar nichts zu tun. Auch wenn es sich im Moment falsch anfühlte, schien es das einzig Richtige zu sein. Ein anderes Mitglied würde in nächster Zeit den Toten entdecken und die Polizei rufen. Die würde den Todesfall professionell aufklären, dafür waren die Beamten bestens ausgebildet. Dabei würde er selbst ohnehin nicht helfen können.
Er schaute sich unauffällig um. Alle waren über ihre Tische gebeugt. Niemand schien seine Begegnung mit dem Toten bemerkt zu haben. Die Wanduhr tickte. Sonst rührte sich nichts. Betont lässig schlenderte er an den Sesseln vorbei, machte einen Rundgang um die Zeitschriftenregale und verließ dann den Saal.
Wir können höchstens sagen, dass die Geschichten nicht aus dem Nichts auftauchen, dass sie irgendwie in einem Horizont liegen, vorhanden sind, aus dem sie mehr oder weniger schnell heraustreten.
Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt
Karin Zwingli saß am offenen Fenster des Debattierzimmers und zog heftig an ihrer Zigarette. Der Rauch, den sie einsaugte, war durchmischt mit kalter Abendluft, und der ersehnte Kick in der Lunge fiel schwach aus, ein kleiner Knuff statt eines Befreiungsschlages. Es half nichts, sie musste den Tatsachen ins Auge sehen. Es waren Dinge passiert, die sich nie wieder rückgängig machen ließen. Kein Grübeln würde jemals etwas daran ändern können. Es ließ sich nicht wegerklären. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Sie war froh, allein im Debattierzimmer zu sein. Das fröhliche Schwatzen unbeschwerter Studenten hätte sie jetzt nicht ertragen.
Sie ließ ihren Blick unscharf werden, um nur noch Farben und Hell und Dunkel vor sich zu haben. Schmutzigschwarz. Tiefenschwarz. Grelle Lichtpunkte in Gelb und Blau. Seltsam schön, wenn man nicht genau hinschaute. Grelb und Pickblau. Lichtblau und Blaulicht. Braubleich. Grelles Gericht. Jemand würde über sie richten. Nicht über ihre schlechte Lyrik. Sondern über sie, über ihre Tat. Ihre Untat, die sich nicht ungeschehen machen ließ.
Irgendwann musste sie in den Lesesaal zurückkehren, schließlich hatte sie heute Abend dort Aufsicht. Das sagte ihr das Pflichtgefühl, aber seine Stimme war leise, überlagert vom Dröhnen der Schuld, die sie auf sich geladen hatte. Spielte überhaupt noch irgendetwas eine Rolle? Sie rutschte weiter auf das Fensterbrett und schaute hinunter auf den Limmatquai. Dritter Stock, vielleicht würde sie einen Sprung überleben, möglicherweise querschnittsgelähmt. Ihr Noch-Freund Mark würde sich verpflichtet fühlen, bei ihr zu bleiben, jedenfalls für eine gewisse Zeit. Grace Period. Amazing Grace. Nicht für sie.
Sie schüttelte sich und trat in das Zimmer zurück. Stand da jemand an der Tür? War das Joe? Sie konnte wirklich nicht länger auf ihn warten.
»Ich habe mich schon gewundert, wo du bist.« Heinrich natürlich, der strubbelige Heinrich, den man nicht Henry nennen durfte, schon gar nicht Heini. Der sich am liebsten mit Doktor Oberstrass anreden lassen würde, wenn es zurzeit nicht so angesagt wäre, links und nicht-elitär zu sein. Heinrich, der Allgegenwärtige. Immer da, wenn man ihn nicht sehen wollte. Er hielt ihr einen Zettel hin. »Ich suche hier eine Signatur, und in der Bibliothek ist keiner mehr, kannst du mir helfen?«
Nicht mein Job, dachte sie.
»Tut mir leid, ich habe zu tun.« Rasch ging sie an ihm vorbei, die Treppen hinunter in den Lesesaal. Dort war alles ruhig. So, als ob die Welt noch in Ordnung wäre. Sie nahm einen Stapel Literaturzeitschriften vom Schreibtisch und ging auf die Regale zu.
Wenn das Bild etwa die Begegnung Rotkäppchens mit dem Wolf darstellt, taucht die Frage auf, was der Wolf von Rotkäppchen will, in welchem Zusammenhang die beiden stehen, und wie die Begegnung wohl auslaufen mag.
Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt
Beim Glockenschlag zuckte Barbara Bärlich zusammen. Schon kurz vor 19 Uhr, fast hätte sie ihren Termin verpasst. Doktor Heinrich Oberstrass, Dozent der Neueren deutschen Literatur am Literaturinstitut Zürich, hatte sie persönlich gebeten, ihm bei der Korrektur der Hausarbeiten aus dem ersten Semester zu helfen! Das war nicht nur eine Ehre, sondern auch eine mega Chance für eine Studentin im letzten Semester. Vielleicht sprang ein Job oder ein Lehrauftrag dabei heraus, das durfte sie sich nicht entgehen lassen.
Inzwischen hatte sie sich wieder beruhigt. Erstaunlich, was eine kurze Pause ausmachen konnte. Alles war gut. Sie klappte den Siri Hustvedt-Roman zu und schaute aus dem Fenster. Unten auf der Gasse standen ein paar Touristen im Sprühregen und schossen Selfies. Das Leben war einfach weitergegangen, nichts hatte sich geändert. Manche Dinge fielen im Weltgeschehen wohl einfach nicht so ins Gewicht. Sie war auf dem richtigen Weg, da war sie sich sicher. Irgendwann würden Frauen frei bestimmen können, mit wem sie intim werden wollten, und mit wem nicht. Und wer ihnen blöd kommen durfte. Nämlich niemand.
Doktor Oberstrass war irgendwie süß. Sein offensichtlich gefärbtes Haar, das in alle Richtungen abstand, ließ ihn so verletzlich wirken. Warum versuchten Männer bloß, jünger auszusehen? Der intensive Blick seiner dunkelbraunen Augen unter den buschigen Brauen zeigte, wie ernst ihm seine Anliegen waren: die Literatur, die Forschung und seine Studenten. Super, dass er ausgerechnet sie aus allen Studentinnen des Abschlusssemesters ausgewählt hatte, obwohl sie da bisher nicht gerade als Star geglänzt hatte. Gut, sie gehörte zu denen mit den besten Noten; auf der anderen Seite musste sie zugeben, dass einige andere etwas sorgfältiger recherchierten. Manche Leute hatten einfach zu viel Zeit, wahrscheinlich passierte nichts Besonderes in deren Leben.
Sie betrachtete sich im Flurspiegel. Doch, sie war schon speziell. Goldene Locken, schmale Nase, ein Mund wie eine Rosenknospe. Es tat gut, das zu wissen. Obwohl sie es nicht nötig hatte.
Die Kirchenuhr hatte aufgehört zu schlagen. Cowboystiefel, Wildlederjacke, fertig. Kein Mantel, an dem hingen noch die Erinnerungen von vorhin. Gut, dass sie diese Künstlerwohnung im Niederdorf von ihrer Schwester übernehmen konnte, man war so schnell überall.
Sie eilte den Rindermarkt hinunter und rannte fast den kurzen Weg zum Literaturhaus. Man konnte einen Mann schon warten lassen, aber nicht zu lange.
Der Mensch ist nicht der Mensch von Fleisch und Blut. An seine Stelle drängt sich uns seine Geschichte auf als sein Eigentliches.
Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt
Karin Zwingli blickte misstrauisch über den Rand der Zeitschriftenregale zu den roten Ledersesseln hinüber. Joe hing über zwei Sesseln, er schien eingeschlafen zu sein. Aber sie spürte, dass sie nicht länger warten konnte. Irgendwann musste er Stellung beziehen zu ihrem Ultimatum. Vielleicht konnte sie ihn aufwecken, ohne ihm zu nahe kommen zu müssen, einen Versuch war es jedenfalls wert.
Mit Schwung zog sie die Schublade der orte-Literaturzeitschrift auf. Das Thema des neuen Heftes lautete »Gesponnen – das Lügenheft«. Die Redaktion hätte sie um Mithilfe bitten sollen, dachte sie bitter und warf das Heft hinein, dass es gegen die Rückwand knallte.
Joe rührte sich nicht. War irgendetwas mit ihm nicht in Ordnung? Falls er Drogen genommen oder einen Herzinfarkt erlitten hatte, würde sie wohl den Notarzt rufen müssen.
Karin atmete tief ein, zog die Schultern zurück und ging entschlossen auf die Ledersessel zu. Joe roch noch unangenehmer als vorhin, nicht nach ungewaschenen Kleidern, sondern nach etwas Metallischem. Sie schnüffelte, konnte es aber nicht identifizieren. Da fiel ihr Blick auf den Boden.
Zwischen Joes Füßen hatte sich eine dunkle Lache gebildet. Burgunderfarben, an den Rändern hellrot, die Flüssigkeit fraß sich in den beigefarbenen Teppich ein. Es tropfte immer noch vom unteren Metallrand des Sessels. Diesen Teppich hatte sie immer schon grässlich gefunden, er erinnerte sie an schlechte Filme aus Zeiten, als ein Teppichboden das Nonplusultra an eleganter Wohnungseinrichtung war. Frühe 70er, dazu passten auch diese kubusförmigen Ledersessel mit den dünnen blanken Metallfüßen. Im Moment waren diese Metallfüße allerdings nicht mehr blank, sondern an den Kanten blutbesudelt.
Sie zwang sich, Joe ins Gesicht zu sehen. Seine Augen waren weit geöffnet, und ein geronnener Speichelfaden hing aus seinem Mund. Sein Kinn ruhte auf dem Hemdkragen, das Hemd leuchtete weiß mit einem glänzenden dunkelroten Fleck in der Mitte, und in der Mitte des Flecks steckte ein schmaler Griff aus Messing.
Wie im Fernsehkrimi, kunstvoll vom Maskenbildner hergerichtet. Das war lächerlich. Konnte nicht sein. Aber sie träumte doch nicht!
Joe war tot.
Vorhin hatte sie es sich noch sehnlichst gewünscht, als Befreiung herbeigesehnt. Doch jetzt wirkte Joes maskenhaftes Totengesicht wie eine Bedrohung, als ob er sich selbst im Tod noch eine Gemeinheit für sie ausgedacht hätte.
Direkt vor ihr schrillte ein Fanfare, Trompetenklang, elektronisch verzerrt. Sie hatte das Gefühl, vor Schreck mindestens einen Meter in die Höhe gesprungen zu sein, aber anscheinend stand sie immer noch vor diesem Sessel, völlig erstarrt. Die Fanfare wurde lauter, und allmählich begann ihr Hirn wieder zu arbeiten. Ein Mobiltelefon. Völlig verpönt in diesem Raum.
Joes Telefon. Der Klang schien direkt aus der blutverschmierten Hemdtasche vor ihr zu kommen. Das musste aufhören, sofort. Sie versuchte, nach dem unsichtbaren Handy zu greifen, ohne allzu genau hinzusehen. Plötzlich spürte sie einen spitzen Gegenstand in ihrer Hand. Ich falle, dachte sie noch, dann wurde alles um sie herum dunkel.
Der Mensch und das Menschsein tritt bei dem Fall weit in den Hintergrund.
Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt
Fanfarenklang! Cressida schreckte aus ihren Gedanken auf und sah sich um. Wer war der Übeltäter, der ein eingeschaltetes Handy in den Lesesaal gebracht hatte? Wer immer es war, würde er sich gleich unter den dolchscharfen Vorwurfsblicken der anderen Besucher winden und auf dem Boden hinauskriechen, wie es sich gehörte?
Der elektronische Krach dröhnte weiter durch den Lesesaal. Die anderen schienen das einfach zu ignorieren, aber Cressida wurde neugierig. Wer hatte hier so gute Nerven, dass er sein Handy einfach vor sich hin lärmen ließ? Das Geräusch schien aus der Gegend der roten Ledersessel zu kommen, von dort, wo immer noch der Obdachlose schlief, den sie vorhin beobachtet hatte. Seltsam – vor ihm lag eine dunkle Masse auf dem Boden. Sie stand auf und ging zum Sessel.
Der schlaffe Körper einer schlanken Frau in Jeans und Sweatshirt hing halb auf dem Schoß des ungepflegten Mannes, halb auf dem Teppich. Das sah bizarr aus, wie in einem Underground-Film über ungleiche Sexpartner. Irgendwie schmuddelig und völlig falsch. Dazu ertönte immer noch der schrille Fanfarenklang, er schien mitten aus dem Körper des Mannes zu kommen. Der Mann lag bewegungslos im Sessel.
»Karin?« Inzwischen hatte sie die Lesesaalaufsicht an dem Tattoo auf dem linken Handgelenk erkannt, einer schwarze Tulpe.