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Die Krimischriftstellerin Cressida Kandel erkennt im Kinosaal des Zürcher Filmpodiums einen alten Bekannten. Kurze Zeit später wird dieser mit durchgeschnittener Kehle im Saal aufgefunden. Ein Schriftstück, das in seiner Tasche entdeckt wird, deutet darauf hin, dass er mehrere Menschen erpresst hat. Hauptkommissar Grimm durchforstet Cressidas Vergangenheit - und verdächtigt sie des Mordes. Das kann sie nicht auf sich sitzen lassen. Doch als Cressida versucht, das Dokument zu entschlüsseln und den Mord aufzuklären, gerät sie in Lebensgefahr.
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Seitenzahl: 290
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Susanne Mathies
Mord im Filmpodium
Zürich-Krimi
Mord im Dunkeln Während die Krimischriftstellerin Cressida Kandel im Zürcher Filmpodium einen neuen Film anschaut, wird in ihrer unmittelbaren Nähe dem Journalisten Moritz Stemming, einem alten Bekannten, im Dunkeln die Kehle durchgeschnitten. War das ein Verbrechen aus Leidenschaft, oder hat eins der Erpressungsopfer seinen Peiniger aus dem Weg geräumt? Welche Geheimnisse birgt das Schriftstück, das der Ermordete in der Tasche trug? Hauptkommissar Grimm verdächtigt Cressida des Mordes, da sie in der Vergangenheit eine Beziehung zu dem Opfer hatte, die unter gegenseitigen Schuldzuweisungen sehr unglücklich endete. Mit allen Mitteln arbeitet Cressida daran, sämtliche Feinde des Ermordeten ausfindig zu machen und mögliche Motive zu konstruieren, um den wahren Täter ausfindig zu machen. Das kostet sie um ein Haar das Leben.
Susanne Mathies, 1953 in Hamburg geboren, ist inzwischen in Zürich beheimatet. Sie promovierte erst in Wirtschaftswissenschaft, dann in Philosophie und schreibt Lyrik, Kurzgeschichten und Romane. Bisher hat sie sechs Zürich-Krimis veröffentlicht. Die Autorin gehört der Redaktion der orte-Literaturzeitschrift an und ist Mitherausgeberin der orte Poesie Agenda.Mehr Informationen zur Autorin unter: www.smathies.info
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Susanne Mathies
ISBN 978-3-8392-7676-1
Wie bei allen meinen Romanen, so hatte auch bei diesem Merkur, der Gott der Lügner, seine Hand im Spiel. Ich danke ihm für seine Erfindungsgabe und entschuldige mich hiermit beim Zürcher Filmpodium und bei der Zürcher Kantonspolizei für die frech erfundenen Zustände und Mitarbeiter, die sich in diese Geschichte gemogelt haben und die mit dem tatsächlichen hohen Standard dieser Einrichtungen nicht das Geringste gemeinsam haben.
Er lehnte sich in das Polster des Erste-Klasse-Sessels zurück, drehte sich nach rechts und sah aus dem Fenster. Sein Profil wirkte klassisch, eine gerade Nase unter einer hohen Stirn, unter den vollen Lippen ein markantes glatt rasiertes Kinn. Wenn seine Augen nicht in so einem kalten Grau gefunkelt hätten, wäre er ein schöner Mann gewesen. Er war elegant gekleidet, in einen gut geschnittenen Anzug aus grauer Rohseide, und an seinem Handgelenk blinkte eine Uhr einer bekannten Marke. Im Morgenlicht strahlte zu seiner Linken der schneebedeckte Bahnsteig von St. Moritz, zur Rechten blinkte der stille See vor dem Bergmassiv. »Wie in den Ferien in einem anderen Jahrhundert«, sagte er laut, obwohl er keine Zuhörer hatte, und schlug das Buch auf, das vor ihm auf dem Tisch lag. Auf der ersten Seite war deutlich ein Stempel zu sehen, »Eigentum des Hotels Waldhaus, St. Moritz«. Beim Anblick des Stempels zuckten seine Mundwinkel kurz, dann blätterte er weiter. Das Buch war anscheinend noch ungelesen, jungfräulich, wenn auch schon etwas ältlich, 1953 erschienen. Das Vorwort überschlug er, ging gleich zum eigentlichen Text. Ein paar Worte im ersten Absatz fielen ihm sofort ins Auge: »… fand sich Schulter an Schulter mit einem Mann, der gerade noch eine halbe Minute zu leben hatte …« – Jetzt breitete sich ein echtes Lächeln auf seinem Gesicht aus.
Die Bahnhofsuhr zeigte genau 10 Uhr, und der Zug setzte sich in Bewegung, pünktlich auf die Minute. Auf den Kopfbezügen der Sessel war eine eingestickte Inschrift zu sehen, »patschifig«. Er googelte den Begriff auf seinem Smartphone und fand heraus: rätoromanisch für »gemütlich«. Er klappte das Buch zu und begutachtete den Umschlag. Edmund Crispin, Morde – Zug um Zug, unter dem Titel war ein Schnellzug abgebildet.
Die Verbindungstür zum Waggon öffnete sich. Der Zugbegleiter trat ein, ein bulliger Mann in fescher grau-roter Uniform, mit einem auffälligen breiten Schlips, schräg aufsteigend gestreift. Der Zug ratterte in den Gleisen. Der Zugbegleiter trat näher zu dem Passagier, der immer noch das Buch in der Hand hielt. Der Mann mit dem Buch schaute hoch. Da fuhr der Zug in einen Tunnel, und es wurde dunkel.
*
Cressida fluchte innerlich. Wenn sie allein gewesen wäre, hätte sie laut und hemmungslos gewettert. Stattdessen musste sie versuchen, im Dunkeln auf dem abschüssigen Gang des Kinosaals unfallfrei nach unten zu kommen, ihr reservierter Platz war in der dritten Reihe. Über ihrem Ärger konnte sie die nostalgische Atmosphäre des Saales nicht so bewusst genießen wie sonst. Reihe 3, Platz 7 war ihr Lieblingsplatz, und aus Gefälligkeit hatte sie heute gleich daneben Platz 8 mit reserviert. Und viel zu lange im Foyer gewartet, ob der Mann, mit dem sie verabredet war, vielleicht doch noch eintraf. Nie wieder ein Rendezvous mit einem flüchtigen Bekannten, bei dem sie selbst zuerst da sein musste, sagte sie sich wütend, während sie mit dem Fuß vorsichtig nach vorn tastete. Sie hätte es sich ja denken können. Dieser Detlef war also auch einer von diesen Standardmännern, die sich beweisen wollten, dass sie bei einer Frau landen könnten, wenn sie es nur versuchten, und die sich schon beim Vereinbaren des ersten Treffens als Sieger fühlten. Detlef, allein der Name hätte sie stutzig machen sollen, so ein Detlef war immer ein braver Familienvater, der mal kurz mit dem Nichtbravsein flirten wollte. Inzwischen saß er bestimmt schon am Abendbrottisch und ließ sich von seinem Sohn das große Einmaleins aufsagen, während seine Frau das nachhaltige Brigitte-Menü auftischte. So eine verdammte Zeitverschwendung! Dabei hatte sie ihn noch nicht einmal sexy gefunden. Es war einfach nur nett gewesen, sich mit einem freundlichen Mann über eines ihrer Lieblingsthemen zu unterhalten. Und jetzt so eine blöde Entwicklung, als ob das Ganze ein Liebesdrama hätte werden sollen!
Der Film hatte schon angefangen, sie hatte den Vorspann verpasst. Bei den meisten Filmen war der Vorspann das Beste, außerdem brauchte man den zum Einstimmen auf die Atmosphäre. Oh nein, in diesem Moment wurde es gerade richtig dunkel auf der Leinwand, nur ein paar schwache Lichtpunkte waren am unteren Rand zu sehen. Vorsichtshalber blieb sie stehen und wartete. Warten hatte sie heute ja schon ausreichend geübt.
Eine Weile passierte nichts auf der Leinwand, die Lichtflecken erschienen aber etwas weniger matt, wahrscheinlich gewöhnte man sich an die Dunkelheit, und im Hintergrund war ein lautes, stetiges Rattern zu hören, begleitet von einem pfeifenden Rauschen. Dann plötzlich gleißend helles Licht, das auf der Leinwand durch eine große rhombenförmige Öffnung fiel. Ein Zugfenster. Cressida hatte eine Vorliebe für Filme, die in fahrenden Zügen spielten. Es wurde Zeit, dass sie zu ihrem Platz kam, um sich auf die Handlung konzentrieren zu können. Es sollte ein neuer Schweizer Kriminalfilm sein, das interessierte sie als Krimi-Schriftstellerin allein beruflich. Glücklicherweise konnte sie nun ihre Umgebung besser erkennen. Reihe 3, da war sie. Aber was war das, wieso saß da schon jemand auf Platz 8? Hatte Detlef sich vielleicht doch eingefunden und war heimlich in den Kinosaal geschlichen, um sie zu überraschen? Nein, den Gedanken verwarf sie sofort wieder. Wahrscheinlich hatte sich einfach irgendjemand dort hingepflanzt, weil es ihm gerade passte. Ein Mann, natürlich. Sie beschloss, sich drei Plätze weiter hinzusetzen. Sie warf dem Besetzer von Platz 8 einen wütenden Blick zu, während sie ihren Sitz herunterklappte. Dann erschrak sie. Denn sie kannte diesen Mann, und sie hatte ihn hier nicht erwartet. Sie hatte noch nicht einmal gewusst, dass er sich in der Schweiz aufhielt. Er sah noch genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte: aufrecht, schmal, grauhaarig, mit sorgfältig gestutztem Bart. Vielleicht ein bisschen magerer als damals – war er vielleicht krank? Seit über einem Jahr hatte sie keine Nachricht mehr von ihm bekommen. Würde er sie erkennen? Aber er sah gar nicht in ihre Richtung. Sein Gesicht war der Leinwand zugewandt. Dort sollte sie jetzt auch hinsehen. Nach dem Ende des Films konnte sie ihn immer noch ansprechen, er würde ja nicht mittendrin weglaufen. Sie fragte sich, was sie ihm wohl sagen würde. Sicher wieder das Falsche, wie immer, wenn sie sich auf ihr Bauchgefühl verließ. Aber planen mochte sie diese Unterhaltung nicht.
Im Film fiel das gleißende Morgenlicht auf den grau-rot gemusterten Teppichboden des Zugabteils. Ein gellender Schrei ertönte. Der Kamerablick folgte der gezackten roten Linie, hielt kurz an der Innenseite einer auf dem Boden liegenden Kappe an und bewegte sich dann auf einen Körper zu, der dahinter lag, man sah zuerst die kahle Oberseite eines Kopfes, dann den Körper in einer grauen Uniform mit rot gestreifter Krawatte. Ein Messer steckte bis zum Heft auf der linken Brustseite der Uniformjacke, umgeben von dunklen, glänzenden Flecken. Nun fuhr die Kamera zurück auf das Gesicht des Mannes und verharrte einen Moment auf den hervorquellenden hellblauen Augen, die keinen Ausdruck hatten.
Dann noch ein Schrei. Die Kamera schwenkte ein Stück zurück, zeigte die Spitze eines silbernen Damenstiefels, die gleich darauf wieder aus dem Blickfeld verschwand. Über dem Rattern des Zuges hörte man das Klappern von Absätzen, die sich entfernten. Es wurde wieder dunkel.
Das war ganz hübsch gemacht, dachte Cressida, aber irgendwie frustrierend. Bisher hatte sie keinen einzigen der Protagonisten sehen können, nur einen Toten, und der sah so tot aus, dass er im restlichen Film wahrscheinlich nicht wieder auftauchen würde, oder höchstens kurz in einer Rückblende. Worum ging es hier eigentlich?
Vielleicht sollte sie doch mit ihrem Sitznachbarn Kontakt aufnehmen und ihn nach dem Filmanfang fragen. Sie drehte sich nach links um. Aber auf Sitz Nummer 8 saß niemand mehr. Es war zwar wieder dunkel im Kinosaal, doch so viel konnte sie gerade noch erkennen. Hatte er sich unbemerkt zur anderen Seite hinausgeschlichen? Oder hatte sie sich in ihrem Ärger vorhin einfach nur eingebildet, ihn dort zu sehen? Jede dieser Möglichkeiten verstärkte das unangenehme Gefühl, das sich in ihr breitgemacht hatte. Denk nicht dran – genieße lieber den Film, ermahnte sie sich.
Dort hatte der Zug inzwischen den Berg erklommen und fuhr im Bahnhof Alp Grüm ein. Rucksackbeschwerte Touristen stiegen aus und hoben ihre Smartphones. Das hölzerne Bahnhofsgebäude und die steile Böschung wirkten echt, wahrscheinlich war die Szene wirklich vor Ort gedreht worden. Ein Ziegenbock spazierte am Rand der Böschung entlang, unbeeindruckt von allem, was unten passierte. Im allerletzten Wagen öffnete sich nun die Tür, und ein elegantes Paar trat auf den Bahnsteig, ein hochgewachsener, arrogant aussehender junger Herr im grauen Anzug, an dessen Ärmel der Schriftzug »BOSS« zu sehen war, der eine sehr distinguiert wirkende ältere Frau in einem Chanel-Kostüm sehr fest eingehakt hatte. Die Frau trug silberne Stiefel.
Cressida schnaubte. Ein so offensichtliches Product-Placement hatte sie nicht erwartet. Der Plot würde sich qualvoll drehen und wenden müssen, um das alles zu rechtfertigen. Sie war ein Fan von Kriminalfilmen, und von einem in den Medien so bejubelten Schweizer Regisseur wie Reto Langhausen hatte sie wirklich mehr erwartet. Die Geschichte wirkte – jedenfalls bis jetzt – einfach nur lächerlich. Der Anzugträger war höchstens Mitte 30, so ein junger Mann würde heutzutage niemals so etwas klassisch Elegantes tragen, oder höchstens auf dem Laufsteg bei einer Modenschau. Irgendwie hatte sie keine Lust mehr, diesen Film zu Ende zu schauen, ihre Stimmung war ja von Anfang an nicht richtig darauf ausgerichtet gewesen. Sie stand auf. Es war Zeit, etwas Praktisches zu tun, um die negativen Gedanken zu vertreiben. Deshalb ging sie bewusst den längeren Weg durch die Sitzreihe, vorbei an Platz 8, an dem sie vorhin einen Mann oder eben vielleicht auch nur das Phantom eines Mannes gesehen hatte. Sie duckte sich etwas, um den anderen Zuschauern nicht durch das Bild zu laufen. Der Sitz von Platz 8 war hochgeklappt, eindeutig, hier saß niemand. Ihr Fuß trat in etwas Weiches. Sie bückte sich und hob es auf. Im Licht des Films – der Zug fuhr gerade durch eine Gletscherlandschaft – erkannte sie einen weißen Wollschal. Sie hob ihn auf. Er hatte einen großen roten Fleck.
Schnell ging sie durch die Sitzreihe hindurch und den Gang hoch in Richtung Ausgang. Im grellen Neonlicht auf dem Treppenabsatz vor den Toiletten betrachtete sie den Schal genauer. Er trug ein Schild am Rand mit der Aufschrift »BOSS«. Fast hätte Cressida gelacht. Dieser Schal hätte gut in den Spielfilm gepasst, der drinnen gerade lief. Aber der mehr als faustgroße rote Fleck war nicht zum Lachen. Er sah nass aus, nur an den Rändern begann er leicht einzutrocknen.
Cressida ging zu dem Mitarbeiter an der Abendkasse.
»Ja, Frau Kandel, was kann ich für Sie tun?«, fragte er. Natürlich kannte er seine Stammkunden.
»Herr Zimmerli, ich hatte eben …« Sie hielt inne. Unmöglich konnte sie ihm erzählen, dass sie gerade im Kinosaal ein merkwürdiges Erlebnis gehabt hatte. So führten sich in Krimis immer die unglaubwürdigen Heldinnen ein, zum Beispiel Goldie Hawn in dem Film Eine ganz krumme Tour, der hatte auch niemand geglaubt, was sie im Kinosaal gefunden hatte, obwohl sie nicht nur die Wahrheit sagte, sondern außerdem noch so unglaublich treuherzig aussah. Da konnte sie selbst nicht mithalten. Mit ihrem pfauenblau gefärbten Haar und ihrem natürlich blassen Teint wirkte sie ohnehin ein wenig exzentrisch, da konnte sie es sich nicht auch noch leisten, seltsame Dinge zu sagen. Jedenfalls nicht im Ernstfall.
»Ich habe eben beim Hinausgehen einen Schal gefunden, an einem Platz, an dem vorhin noch ein Herr saß«, setzte sie neu an. »Als ich schauen wollte, ob ein Name drinsteht, habe ich diesen Fleck entdeckt.«
Sie faltete den Schal vor ihm auseinander und wartete auf seine Reaktion.
Er trat einen Schritt zurück.
»Da ist eine Menge Blut drin«, sagte er schließlich.
»Meinen Sie, man sollte die Polizei rufen?«, fragte sie. Als sie seinen Blick bemerkte, fügte sie hinzu: »Nein, vielleicht nicht. Ich lasse den Schal also vertrauensvoll als Fundsache bei Ihnen, Herr Zimmerli.«
Er zögerte, den Schal anzufassen.
»Haben Sie vielleicht erkannt, wer da vorher gesessen hat?«
»Nein«, log Cressida. Allerdings war das nur halb gelogen, denn vielleicht hatte sie sich vorhin wirklich nur eingebildet, den Mann zu sehen.
»Na gut, ich werde ihn aufbewahren.« Herr Zimmerli seufzte und nahm ihr den Schal mit spitzen Fingern ab. »Und der Film heute? Hat der Ihnen gar nicht gefallen? Er ist doch wirklich spannend, und er ist sogar für den Schweizer Filmpreis nominiert.«
Cressida hatte keine Lust, über den Schweizer Filmpreis zu diskutieren.
»Ich bin heute nicht in Stimmung für einen Kriminalfilm, habe das zu spät gemerkt. Also bis zum nächsten Mal, adé!«
Sie verließ das Kino und lief an lauten Gruppen von Partygängern vorbei zum Paradeplatz. Gerade fuhr das 8er Tram ein, sie rannte zum Perron, ganz knapp vor der Schnauze eines anfahrenden 7er-Trams. Der Tramfahrer betätigte wütend die Glocke. Außer Atem erreichte sie die Tür des 8ers noch rechtzeitig. Im Tram saß niemand außer ein paar amerikanischen Touristen. Plötzlich fühlte sie sich fremd, von der Realität abgeschnitten. Ihre Umwelt verhielt sich seltsam, nichts war so, wie es sein sollte, nicht einmal ihre eigene Wahrnehmung. Wenigstens wollte sie versuchen, unter eine Sache einen guten Schlussstrich zu ziehen. Sie nahm ihr Smartphone heraus und rief Detlefs Nummer an. Dort meldete sich nur die anonym klingende Stimme des Anrufbeantworters. »Guten Tag, der Teilnehmer mit dieser Nummer ist derzeit nicht erreichbar, aber Sie können nach dem Signalton eine Nachricht hinterlassen.«
Was sollte sie sagen? Sie hatte gehofft, ihn persönlich zu sprechen, um ihn durch eine angemessene Eiseskälte spüren zu lassen, dass sie ihn nicht vermisst hatte. Nun entschied sie einfach aus dem Bauch heraus. »Hallo Detlef, anscheinend hast du es nicht geschafft, ins Kino zu kommen, da hast du einen interessanten Film verpasst. Ich habe dort einen alten Bekannten getroffen, mit dem ich mich gut unterhalten habe. Ciao, Cressida.«
War das klug gewesen, fragte sie sich nach dem Auflegen, hätte sie sich nicht besser gar nicht gemeldet? Aber dafür war es inzwischen zu spät. Das Tram war inzwischen am Hardplatz angelangt, und sie war froh, nach Hause in ihre schöne neue Wohnung zu kommen. Es war etwas von dem Geburtstagsgrappa übrig, den goss sie sich in ihr Grappa-Glas aus Venedig und trank langsam, in kleinen Schlucken, ließ den aromatischen Alkohol über ihre Zunge gleiten und im Magen ein angenehmes kleines Lagerfeuer entzünden. Das zweite Glas war nicht mehr ganz so süffig wie das erste, versetzte sie jedoch in eine fröhliche Stimmung. Da fiel ihr die angebrochene Flasche Rotwein ein, die seit Annas Besuch am Sonntag im Kühlschrank stand. So wunderbar es war, dass sie endlich in Zürich eine einigermaßen bezahlbare Mietwohnung gefunden hatte, so fehlte ihr doch einiges aus der Wohngemeinschaft mit Anna, vor allem die einfühlsamen Gespräche abends in der Küche beim gemeinsamen Kochen. Natürlich war Anna jetzt nicht aus der Welt, sie wohnte im Kreis 3, auf der anderen Seite der Badenerstraße, aber es war etwas anderes, wenn man einfach nur an die benachbarte Zimmertür klopfen musste, um mit jemandem zu sprechen. Heute hätte sie das gut gebrauchen können. Das war nicht zu ändern, immerhin gab es eine halbe Flasche Wein, die sollte nicht schlecht werden. Dazu ein bisschen klassische Musik, und sie würde sich wieder wie ein normaler Mensch fühlen.
Zu den Klängen von Scarlatti ließ sie sich auf das Sofa zurücksinken, ein Glas Rotwein in der Hand. So fühlte sich der Abend schon besser an.
Irgendwann musste sie eingenickt sein, denn sie fuhr erschreckt und orientierungslos hoch, als es laut und andauernd an ihrer Wohnungstür läutete.
Die Glocke an der Wohnungstür schrillte ununterbrochen. Cressida stellte das leere Rotweinglas ab, rieb sich die Augen und sah auf die Uhr. 2 Uhr morgens! Welcher Idiot kam auf die Idee, um diese Zeit bei ihr Sturm zu klingeln? Wahrscheinlich ein Dummejungenstreich von einem Betrunkenen, aber es half nichts, sie musste aufstehen und nachschauen. Mühsam erhob sie sich vom Sofa. Richtig wach war sie jedenfalls nicht.
Durch den Spion in der Tür sah sie zwei blau gekleidete Männer im Flur stehen. Auf den dunkelblauen Overalls stand in weißer Schrift »Polizei«. Irgendetwas musste passiert sein. Sie öffnete die Tür.
»Frau Kandel?« Einer der Beamten kam auf sie zu und hielt seine Dienstmarke hoch. »Guten Tag. Mein Name ist Beat Bircher, Kommissar bei der Kantonspolizei Zürich, dies ist mein Kollege Kommissar Werner Wille. Im Rahmen einer polizeilichen Ermittlung müssen wir einige Fragen an Sie richten. Dürfen wir Sie bitten, uns zu unserer Dienststelle zu begleiten?«
Wie in einem schlechten Film, dachte Cressida.
»Es hat wahrscheinlich keinen Sinn, Sie zu fragen, worum es sich genau handelt?«
»Das wird Ihnen der Hauptkommissar bei der Befragung genau auseinandersetzen. Am besten kommen Sie gleich mit, dann können wir die Angelegenheit schnellstmöglich klären.«
»Dann werde ich mich kurz frisch machen, wenn es Ihnen recht ist. Möchten Sie so lange hereinkommen?«
Der forschende Blick von Herrn Bircher schweifte kurz von Cressida zu den offenen Türen ihres Apartments. »Danke, wir warten gern draußen.« Dann sah er auf die Garderobe. »Diese beiden Mäntel würden wir gern für eine forensische Untersuchung mitnehmen. Gestatten Sie?«
»Bitte, bedienen Sie sich.«
Immerhin, er hatte ihr nicht unterstellt, dass sie sich heimlich mit einem Betttuch abseilen oder über die Dächer fliehen wollte, also konnte es so ernst nicht sein. Aber immerhin ernst genug, um sie vorzuladen. Sie versuchte, ihre Gedanken zu sammeln, soweit sie die unter Rotwein- und Grappawolken wiederfinden konnte. Ob es etwas mit dem blutigen Schal zu tun hatte? Da ihre Mäntel konfisziert waren, nahm sie ihre neue burgunderfarbene Lederjacke aus dem Schrank. Hoffentlich war es dafür noch warum genug draußen, im Oktober konnte man da nicht sicher sein. Aber sie würde ja mit dem Auto gebracht, also kam es nicht so darauf an.
Die Autofahrt zum Gebäude der Kantonspolizei an der Sihl verlief schweigend. In diesem Haus war Cressida schon mehrmals gewesen. Es schüchterte sie nicht ein, obwohl es wie eine Trutzburg gebaut war. Irgendwie freute sie sich fast darauf, Hauptkommissar Graber wiederzusehen. Bei ihrer letzten Begegnung, einer hässlichen Sache im letzten Jahr, hatte sie ihn als sehr kompetent und pragmatisch erlebt. Das war genau der richtige Mann, um Ordnung in einen schwierigen Fall zu bringen.
Aber in dem Büro, in das Kommissar Bircher sie führte, saß nicht Hauptkommissar Graber, sondern ein wohlgenährter Mann Mitte 40 mit dichtem brünettem Haar, einem ordentlichen Scheitel und einer dicken Hornbrille.
»Frau Kandel? Schön, dass Sie gleich kommen konnten. Ich bin Hauptkommissar Bruno Grimm. Setzen Sie sich doch bitte.«
Als ob sie eine Wahl gehabt hätte. Hauptkommissar Bruno Grimm, stellte sie fest, sah genauso aus, wie man sich einen verbeamteten Familienvater vorstellte. Sein kleinkariertes Hemd – mit halben Ärmeln, wer trug denn heute noch so etwas – spannte etwas über dem Bauch. Vor zehn Jahren musste er ein attraktiver Mann gewesen sein, mit regelmäßigen Besuchen im Fitnessstudio würde er das wieder hinbekommen. Aber das ging sie schließlich nichts an. Der Ehering an seiner rechten Hand hatte sich tief in den Finger gegraben. Auf seinem Schreibtisch stand ein Foto in einem Silberrahmen. Leider konnte sie nicht erkennen, was dort abgebildet war. Der Eingangskorb auf dem Schreibtisch war leer, das konnte vieles bedeuten: Entweder gab es nichts zu tun, oder Hauptkommissar Grimm war sehr fleißig, oder heutzutage wurde alles elektronisch abgearbeitet. Das wäre irgendwie schade, dachte sie, diese Aktendeckel mit den weichen, abgegriffenen Eselsohren hatte sie immer sehr romantisch gefunden, man vermutete darin gleich übersehene Hinweise oder aus schlimmen Gründen versandete Fälle. Die elektronischen Daten gaben krimitechnisch nicht so viel her, außer der ganz offensichtlichen Möglichkeit der absichtlichen Datenfälschung. Woher sollte sie künftig ihre Ideen nehmen? Die Computertechnik in diesem Büro wirkte zumindest äußerlich sehr up to date und eindrücklich: drei große Bildschirme allein auf dem Schreibtisch von Herrn Grimm, jeweils zwei auf den Schreibtischen, an denen Herr Bircher und Herr Wille gerade Platz genommen hatten. Außerdem entdeckte sie da sehr schöne ergonomische Tastaturen und Scanner und Drucker in Griffnähe.
Herrn Grimm kannte Cressida noch nicht, aber er sah nicht sehr zugänglich aus. Nicht, dass das im Moment irgendeine Rolle gespielt hätte. Es ging sicher um den blutigen Schal und um schlimme Vermutungen.
»Ist Hauptkommissar Graber gar nicht mehr hier?«, fragte sie. »Letztes Jahr habe ich sehr gut mit ihm zusammengearbeitet.«
Hauptkommissar Grimm lachte herzlich. Überhaupt sah er angesichts der späten Stunde unnatürlich munter aus.
»Zusammengearbeitet, ja, das kann ich mir vorstellen! Wir bieten mehrmals im Jahr Kurse für Kriminalschriftsteller an, damit wenigstens die wesentlichen Grundlagen der Polizeiarbeit in ihren Romanen einigermaßen korrekt dargestellt werden. Wahrscheinlich meinen Sie so etwas.«
Cressida erkannte gleich, dass es keinen Sinn haben würde, mit ihm zu diskutieren. »Also arbeitet Herr Graber nicht mehr hier?«
»Nein.« Aha, da war anscheinend nicht mehr Information zu erwarten. Herr Grimm gab etwas in seinen Computer ein, wahrscheinlich suchte er nach dem korrekten Formular für die bevorstehende Befragung, sicher so ein Formblatt KPK17-225 für das Protokoll eines Verhörs einer Verdächtigten ersten Grades zu einem Gewaltverbrechen. Jetzt durfte sie ihn nicht drängen, sonst würde sie gar nichts erfahren, das war ihr klar. Etwas jedoch musste sie doch noch fragen, bevor es losging.
»Woher wussten Sie, dass ich Kriminalschriftstellerin bin?«
Er lachte schon wieder, das tat er anscheinend gern, aber es hörte sich etwas angestrengt an.
»Dazu muss man wirklich nicht bei der Polizei sein!«
Klar, er hatte sie gegoogelt, was auch sonst.
Jetzt wandte er sich vom Bildschirm ab und ihr zu.
»Frau Kandel, für das Protokoll: Sagen Sie mir bitte genau, wo Sie sich heute Abend zwischen 20 und 23 Uhr aufgehalten haben.«
Es hatte ganz bestimmt etwas mit dem blutigen Schal zu tun.
»Um kurz nach 20 Uhr bin ich von zu Hause losgegangen, um 20.30 Uhr war ich im Filmpodium und habe meine reservierten Karten für den Film in der Abendvorstellung an der Kasse abgeholt. Bis 20.55 Uhr habe ich vor der Tür gewartet, auf eine Verabredung. Dann bin ich in den Kinosaal gegangen und habe in Reihe 3 Platz genommen.«
Sie hielt inne. Herr Grimm, der bisher mitgeschrieben hatte, blickte auf.
»Und dann?«
Wie weit sollte sie ins Detail gehen? Ihre Hirngespinste gingen ihn wirklich nichts an. Am besten blieb sie bei den beweisbaren Tatsachen.
»Ich hatte den Anfang des Films verpasst und konnte nicht richtig folgen, obwohl ich versucht habe, mir den bisherigen Verlauf der Geschichte zusammenzureimen. Aber mir blieb das meiste unklar. Deshalb bin ich gegen 21.30 Uhr gegangen. Auf dem Weg nach draußen, als ich durch die Sitzreihe 3 ging, habe ich zufällig einen Schal vor einem unbesetzten Sitzplatz gefunden. Bei Licht besehen stellte ich fest, dass er voller Blut war. Ich habe ihn an der Kasse abgegeben. Danach bin ich mit dem Tram nach Hause gefahren. Gegen 22 Uhr war ich in meiner Wohnung, und dort habe ich mich aufgehalten, bis Ihre Kollegen mich abgeholt haben.«
Er tippte schnell und eifrig, mit zehn Fingern, wie sie erfreut feststellte, sehr professionell.
»Sie sind also von einer Verabredung versetzt worden«, stellte er fest. »Geben Sie mir bitte Namen und Anschrift dieser Person.«
Versetzt war so ein hässliches Wort, sie hörte es nicht gern, wenn es so deutlich ausgesprochen wurde. Es erinnerte zu sehr an Herzschmerz aus der Teenagerzeit, von dem sie sich wohl nie richtig erholt hatte. Aber es stimmte natürlich: versetzt. Und jetzt fing der wirklich peinliche Teil dieser Unterredung an.
»Der Mann, mit dem ich verabredet war, heißt Detlef.«
»Hat er auch einen Nachnamen?«
»Davon gehe ich aus. Er hat ihn mir nicht anvertraut. Es ergab sich nicht im Gespräch.«
Herr Grimm hatte seine Finger auf der Tastatur. Er wartete auf Input.
»Detlefs Adresse habe ich nicht, aber seine Telefonnummer. Moment.« Sie kramte ihr Smartphone aus der Tasche und las ihm die Nummer vor. »Er sagte, er sei erst vor Kurzem aus London nach Zürich gezogen. Und Zürich sei seine Heimatstadt.«
»Mehr wissen Sie nicht über ihn?«
Diese Frage war ja vorherzusehen gewesen.
»Nein«, sagte sie, wütend darüber, so sehr in die Defensive gedrängt worden zu sein. »Aber ich kann Ihnen aufzeichnen, wie er aussieht!«
Sie nahm einen Bleistift und ein Stück Papier vom Schreibtisch und fing an zu skizzieren: den länglichen Kopf, die schmalen Lippen, die buschigen Augenbrauen, die tief liegenden Augen. »Brünett, grüne Augen, Größe etwa ein Meter 80«, sagte sie und reichte Herrn Grimm das Blatt.
»Schöne Zeichnung.« Er nickte anerkennend. »Hatten Sie in der Zwischenzeit Kontakt mit diesem Detlef?«
»Ich habe seine Nummer angerufen, aber es meldete sich nur der Anrufbeantworter.«
»Und woher kannten Sie ihn?«
Nun war es auch egal, peinlicher konnte die Unterredung nicht werden.
»Ich habe ihn im Kasernenareal kennengelernt, bei einer Filmvorführung. Es gab einen Stummfilm mit Live-Musik-Begleitung. Danach sind wir noch in der Langstraße in die Lotusbar gegangen und haben uns über Stummfilme unterhalten. Das war das einzige Mal, dass ich ihn getroffen habe.«
Herr Grimm nickte, dann sah er auf die Uhr.
»So, das haben wir schon mal. Also fangen wir noch einmal von vorn an, und Sie erzählen mir all die Dinge, die Sie vorher ausgelassen haben.«
Nein, natürlich war der Mann kein Hellseher, so leicht ließ Cressida sich nicht beeindrucken. Wahrscheinlich war das ein Standardsatz aus seinem üblichen Verhör-Repertoire.
»Es ist schon spät«, fuhr Herr Grimm fort. »Tun Sie uns beiden einen Gefallen und erzählen Sie mir den Rest.«
So schnell wollte sie nicht nachgeben, jedenfalls nicht, bevor er ihr erzählte, warum sie überhaupt hier war. »Welchen Rest?«
»Also gut, Schritt für Schritt, und sagen Sie mir bitte die ungeschminkte Wahrheit. Welchen Sitzplatz hatten Sie im Kino?«
»Reihe 3, Platz 7. Ich hatte Platz 7 und 8 gebucht, das haben Sie doch sicher im Buchungssystem des Kinos gesehen.«
»Und haben Sie auf Platz 7 gesessen?«
Wenn sie sich nicht vollkommen lächerlich machen wollte, musste sie jetzt mit ihren gesammelten Eindrücken und Vermutungen herausrücken.
»Ich hatte mich auf Platz 11 gesetzt, weil ich sah, dass Platz 8 schon besetzt war, allerdings nicht mit meiner Verabredung. Ich wollte mich nicht direkt daneben setzen. Und ja, das werden Sie sicher gleich fragen, ich habe mir den Besucher auf Platz 8 angesehen und gedacht, ihn zu erkennen. Ich wollte ihn nach dem Kinobesuch ansprechen. Als ich dann eine halbe Stunde später vorzeitig aufstand, um zu gehen, bin ich absichtlich an diesem Platz vorbeigelaufen. Dort saß niemand mehr. An genau dieser Stelle habe ich den blutigen Schal gefunden.«
»Bitte, machen Sie es nicht so spannend.« Aha, seine Ruhe war doch nicht so unerschütterlich, gut zu wissen. Seinen Kommentar könnte sie gleich unverändert zurückgeben, aber sie wollte ihn nicht zu sehr ärgern.
»Der Mann, den ich auf Sitz 8 zu erkennen glaubte, war Moritz Stemming, freiberuflicher Journalist. Soweit ich weiß, lebt er in London. Ich hatte keine Ahnung, dass er sich in Zürich aufhält – wenn er es denn tatsächlich war.«
»War – das ist die richtige Zeitform.« Herr Grimm sah sie forschend an. »Herr Stemming wurde nach der Abendvorstellung im Zuschauerraum des Filmpodiums tot aufgefunden.«
Sie hatte so etwas insgeheim befürchtet, aber die Gewissheit seines Todes erschütterte sie.
»Wie kann das sein? Ich hätte ihn doch sehen müssen! Er war einfach verschwunden. War das sein Blut an dem Schal, den ich gefunden habe?«
»Ist Ihnen vielleicht aufgefallen, dass auf der Sitzreihe vor Platz 8 ein Mantel über der Sitzlehne hing?«
Cressida nickte.
»Das war nicht einfach ein Mantel. Das war Herr Stemming im Mantel.«
Verdammt. Das mochte sie sich nicht bildlich vorstellen. Obwohl sie ihn ein paar Jahre nicht gesehen hatte, lebte er in ihren Erinnerungen, in verschiedenen Szenen. Sie hatte sich an einem umfangreichen Mantelbündel vorbeigedrängt, erinnerte sie sich jetzt, während auf der Kinoleinwand die Rhätische Bahn um eine Kurve fuhr. Moritz war schon immer sehr schmal gewesen, und für einen Mann von kleiner Statur. Er war genauso groß wie sie selbst, wenn sie keine hochhackigen Schuhe trug. Es prickelte in ihrem Nacken. Gleich würde ihr übel werden. Aber das war auch keine Lösung.
»Weiß man schon, wie er gestorben ist?«, fragte sie.
»Die Rechtsmediziner werden die Untersuchung morgen abschließen. Wie es aussieht, hat man ihm mit einer scharfen Klinge die Kehle durchgeschnitten. Keine sehr beliebte Art, jemanden zu töten, das lässt eine Tat aus Leidenschaft vermuten.«
Eine durchgeschnittene Kehle! Daher also das viele Blut.
»Wie gut kannten Sie ihn?«, fragte Herr Grimm.
»Wir haben uns vor einigen Jahren bei einer Konferenz über das organisierte Verbrechen in Westeuropa kennengelernt, die in London stattfand. Er war einer der Gastredner, und so kamen wir ins Gespräch. Er hat mich dann zum Essen eingeladen, und wir haben uns in London noch ein paar Mal getroffen.«
»Dann sind Sie sich also nähergekommen?«
Das war sehr vorsichtig formuliert, aber ihr war schon klar, was Herr Grimm wissen wollte. »Er hat mich nicht wegen meiner schönen Augen eingeladen, sondern weil er etwas über die Situation in der Schweiz wissen wollte, da hatte ich gerade für meinen damals aktuellen Krimi recherchiert. Beziehungsmäßig war er an Männern interessiert. Daraus hat er auch überhaupt kein Geheimnis gemacht, da können Sie jeden fragen.« Mehr brauchte Herr Grimm wirklich nicht zu wissen.
»Und seit dieser Zeit in London hatten Sie keinen Kontakt mehr zu ihm?«
Jetzt musste sie mit noch einer Geschichte auspacken.
»Ich hatte ihm damals viel von meinen Recherchen erzählt, vertraulich. Er hat eine Reportage dazu veröffentlicht, in der er meinen Namen genannt hat, ohne meine Erlaubnis. Als ich mich daraufhin bei ihm beschwert habe, hat er sich entschuldigt und mir einen Teil seines Honorars überwiesen. Für ihn war die Sache damit ehrenhaft erledigt. Aber ich hatte kein Vertrauen mehr zu ihm und habe auf seine Mails immer nur sehr kurz geantwortet.«
Herr Grimm hob von seinem Schreibtisch einen beigefarbenen DIN-A4-Umschlag hoch, mit der Miene eines Zauberers, der ein Kaninchen aus dem Hut zieht.
»Wenn Sie mit Herrn Stemming näher bekannt waren, wissen Sie vielleicht, warum er ein Manuskript bei sich trug?« Er ließ ein zusammengeheftetes Bündel Papier aus dem Umschlag gleiten und zeigte es ihr. Die gedruckten Seiten hatten rostrote Flecken. Vorn klebte ein großes Post-it mit der Aufschrift »Zur Verwendung«. Der Ausdruck trug den Titel Die Filmwirtschaft in der Schweiz und war 23 Seiten lang, ein Fließtext mit einigen wenigen Säulendiagrammen zwischendrin. »Er trug es in der Innentasche seines Mantels, das muss sehr unbequem für ihn gewesen sein. Für uns sieht das so aus, als ob er es im Kino jemandem geben wollte. Denn weshalb hätte er es sonst in die Vorführung mitnehmen sollen?«
»Ich habe keine Ahnung, was er vorhatte. Wie gesagt, wir haben seit Ewigkeiten nicht mehr miteinander gesprochen. Und das Thema des Textes sagt mir auch nichts. Dass Moritz die Schweizer Filmwirtschaft recherchiert haben soll, ist mir vollkommen neu. Er hat sich gern Filme angeschaut, aber für die finanziellen Aspekte hat er sich, soweit ich weiß, nicht besonders interessiert.«
Herr Grimm wollte die Papiere gerade wieder in den Umschlag zurücklegen, da räusperte sich Herr Bircher im Hintergrund.
»Ich denke, es kann nicht schaden, wenn wir Frau Kandel eine Kopie mitgeben«, sagte er. »Schließlich hat sie Erfahrung mit seinem Schreibstil und seiner Art zu arbeiten, vielleicht entdeckt sie im Text einen Hinweis, der uns bisher entgangen ist.«
Cressida sah ihn dankbar an. Endlich einmal ein Beamter, der imstande war, pragmatisch zu denken! Es waren nicht alle Polizisten solche Stiesel wie dieser Herr Grimm. Der grimmige Herr Grimm, dachte sie.
»Meinetwegen, vielleicht ist das eine Chance, wenn auch nur eine ganz geringe«, sagte Herr Grimm. »Also, Frau Kandel, wir haben die forensischen Daten erhoben, aber noch nicht ausgewertet, deshalb müssen wir das Original hierbehalten. Wir haben jedoch eine vollständige Kopie des Artikels hergestellt, die können Sie mitnehmen, wenn Sie möchten. Haben Sie eine Vorstellung davon, was Herr Stemming mit diesem Papier anfangen wollte? Ist Ihnen das Thema vertraut?«
Cressida blätterte in den Text hinein, die letzten Seiten ließ sie über den Daumen laufen. Es ging anscheinend in erster Linie um Einflussfaktoren auf den Filmkonsum der Schweizer Bevölkerung und wie diese gesamtgesellschaftlich zu interpretieren seien. Unter dem Text, auf der letzten Seite, stand »Copyright Moritz S. 1992«.
»Das ist ja ein ganz alter Artikel!«, sagte sie. »Und ehrlich gesagt, mit der Filmwirtschaft habe ich mich noch nicht eingehend beschäftigt. Ich kann mir nicht vorstellen, wem Moritz diesen Text zukommen lassen wollte, oder aus welchem Grund. Wirklich seltsam. Ich schaue ihn gern in Ruhe durch, vielleicht fällt mir ja dann etwas dazu ein. Sonst lag nichts weiter dabei?«
»Nein, nichts. Wenn Sie etwas im Text entdecken sollten, melden Sie sich bitte sofort bei mir, hier ist meine Karte.«
Cressida nahm die Karte, gab ihm ihre eigene und überlegte einen Augenblick.
»Ich würde den Toten gern sehen. Ist es möglich, dass ich zur Rechtsmedizin gehe und einen Blick auf ihn werfe?«
»Sie brauchen das nicht zu tun. Wir haben seinen Pass bei ihm gefunden, er ist eindeutig identifiziert.«
»Ich möchte nur sicher sein, dass er tatsächlich derjenige ist, den ich im Kino gesehen habe. Um auszuschließen, dass der Fall noch mehr Komplikationen hat als bisher angenommen.«
Hauptkommissar Grimm lachte schon wieder. Diesmal hatte er natürlich guten Grund dazu, denn ihre Begründung hörte sich wirklich hirnrissig an.
»Bitte, wenn Sie darauf bestehen. Wir können uns morgen um 17 Uhr in der Rechtsmedizin treffen, bis dahin sollte die Autopsie abgeschlossen sein.« Er überlegte einen Moment. »Etwas wollte ich Sie noch fragen. Der Kinobetreiber hat angegeben, dass Sie heute Abend einen langen Mantel getragen haben. War das einer der Mäntel, die meine Kollegen eben aus ihrer Wohnung mitgenommen haben?«
»Ja, genau, ich hatte ihn gleich neben die Tür gehängt.« Sie zögerte. »Vielleicht sind sogar Blutspuren daran, Schmierspuren von dem Schal, den ich aufgehoben habe.«