Mord unter Brüdern - Jean G. Goodhind - E-Book
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Mord unter Brüdern E-Book

Jean G. Goodhind

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Beschreibung

»Very British, very witzig – very spannend.« Kieler Nachrichten Hotelbesitzerin Honey Driver liest in der Zeitung, dass Casper St John Gervais, Vorsitzender des Hotelfachverbands von Bath, tot aufgefunden wurde. Doch Casper lebt! Die Leiche ist sein Halbbruder. Casper bittet Honey zu ermitteln. Aber ihr Freund Detective Chiefinspector Steve Doherty ist entschieden dagegen. Er hält die Sache, auf die sich Honey da einlassen will, für viel zu gefährlich. Und den blonden Schönling, der neuerdings immer mal in ihrer Nähe auftaucht, mag er gar nicht. Der neue Bestseller von Jean Goodhind – der Meisterin des britischen Kriminalromans.

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Informationen zum Buch

»Very British, very witzig – very spannend.« Kieler Nachrichten

Hotelbesitzerin Honey Driver liest in der Zeitung, dass Casper St John Gervais, Vorsitzender des Hotelfachverbands von Bath, tot aufgefunden wurde. Doch Casper lebt! Die Leiche ist sein Halbbruder. Casper bittet Honey zu ermitteln. Aber ihr Freund Detective Chiefinspector Steve Doherty ist entschieden dagegen. Er hält die Sache, auf die sich Honey da einlassen will, für viel zu gefährlich. Und den blonden Schönling, der neuerdings immer mal in ihrer Nähe auftaucht, mag er gar nicht.

Der neue Bestseller von Jean Goodhind – der Meisterin des britischen Kriminalromans.

Jean G. Goodhind

Mord unter Brüdern

Honey Driver ermittelt

Kriminalroman

Aus dem Englischenvon Ulrike Seeberger

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Sechs Monate später

Über Jean G. Goodhind

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Kapitel1

VERDÄCHTIGER TODESFALL –

MÄNNLICHE LEICHE AM BAHNDAMM

»Die männliche Leiche, die in Bradford on Avon am Bahndamm im Schlamm gefunden wurde, ist Casper St John Gervais, Besitzer des La Reine Rouge Hotels in Bath…«

Nein! Das konnte doch nicht stimmen!

Während Honey Driver die Zeitungsmeldung zum zweiten Mal durchlas–beim ersten Mal wäre sie vor Schreck fast vom Stuhl gefallen–, stolperte sie über eine Katze. Wo diese Katze herkam, wusste Honey nicht, und sie hatte auch keine Ahnung, was das Tier auf dem Flur ihrer Privatwohnung zu suchen hatte. Aber eine streunende Katze, die ins Haus gestromert war, eine solche Nebensächlichkeit konnte sie nicht von dem Zeitungsartikel ablenken. Casper war tot? Wie? Warum?

Noch ganz benommen ließ Honey die Hände sinken. Wäre ein Fotograf zur Stelle gewesen, er hätte ihr Gesicht sofort geknipst, die kugelrunden Augen, das vollkommene »O« ihres Mundes. Ein tolles Bild, aber gruselig, ein bisschen wie »Der Schrei« von Edvard Munch, nur ohne den künstlerischen Anspruch.

Honey Driver, Besitzerin des Green River Hotels und Verbindungsperson des Hotelfachverbands von Bath zur Kripo, riss die Titelseite vom Rest der Zeitung ab. Sie ging in die Ecke des Flurs, in die sie ihre Sportschuhe geschleudert hatte. Aus irgendeinem geheimnisvollen Grund schien die Katze die Turnschuhe für ihren persönlichen Besitz zu halten, der um jeden Preis gegen alle Ansprüche anderer zu verteidigen war.

Fauchend und knurrend saß sie zwischen Honey und den Turnschuhen, die diese dort nach ihrer Rückkehr von einem Einmeilenlauf, der eigentlich ein Lauf über zwei Meilen hätte werden sollen, einfach von den Füßen gestreift und liegen gelassen hatte. Das Laufpensum war wegen eines plötzlichen Gelüstes nach einem Schokokeks so drastisch verkürzt worden. Eine Nanosekunde lang hatten noch der Fitnessdrang und der Bärenhunger miteinander gerungen. Dann hatte der Schokokeks gesiegt.

Wäre Honey nicht so schockiert gewesen, sie hätte der Katze gründlich die Meinung gesagt und ihr einen kleinen Tritt versetzt. Aber die Nachricht war zu schrecklich. Casper St John Gervais, der Vorsitzende des Hotelverbands von Bath, war der Mann, der ihr den Job der Verbindungsperson zur Kripo angeboten hatte. Damals hatte sie den Giftkelch nur zögerlich akzeptiert–niemand sonst wollte die Aufgabe übernehmen–, weil Casper ihr versprochen hatte, auch im Winter für gute Belegungszahlen in ihrem Hotel zu sorgen.

Zu diesem Zeitpunkt waren ihre Geschäfte nicht gerade blendend gelaufen, also waren die zusätzlichen Gäste und das damit verbundene Einkommen nicht zu verachten.

Der Job hatte sich in mehrerlei Hinsicht als sehr interessant herausgestellt. Erstens kam Honey beim Kampf gegen das Verbrechen auch mal aus dem Hotel raus und in die große weite Welt. Und zweitens hätte sie sonst niemals Steve Doherty, ihren Kontaktmann bei der Kripo, kennengelernt.

Der Job war allerdings beileibe nicht nur eitel Sonnenschein gewesen. Wenn ein schweres Verbrechen geschehen war, lag ihr Casper ständig in den Ohren, bis es endlich aufgeklärt war.

»Wir dürfen nicht zulassen, dass die Kriminalität unsere wunderschöne Stadt und ihr einzigartiges Erbe zerstört«, hatte er immer wieder zu ihr gesagt.

Er hatte nicht hinzugefügt, dass sich das Verbrechen auch sehr ungünstig auf die Einnahmen der Hotels auswirken könnte, aber das wusste sie ohnehin.

Und jetzt war er tot. Na gut, wir müssen alle irgendwann sterben, aber Casper war nicht der Typ Mann, der tot an einem Bahndamm aufgefunden wurde. Er war ein Mann der großartigen Auftritte, also war es doch nur vernünftig, von ihm einen mindestens ebenbürtigen Abgang zu erwarten. Honey konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass Casper tot war. Der Zeitungsartikel enthielt auch keine näheren Angaben über die Todesart. Selbstmord? Ein Unfall? Mord? In Schlamm begraben. War er ausgerutscht? Das kam ihr alles sehr vage vor.

Nachdem die Katze die Turnschuhe endgültig zu ihrem Bett umfunktioniert hatte, zog Honey resigniert ein Paar Stiefeletten in zwei Brauntönen aus dem Schrank. Das Haar stand ihr in alle Richtungen vom Kopf ab, und sie hatte keine Spur Make-up auf dem Gesicht, als sie die Haustür hinter sich zuschlug und über die Steinplatten zum Hintereingang des Hotels eilte.

Smudger Smith, ihr Chefkoch, war bereits in der Küche. Sein Gesicht war rosig vor Anstrengung und der Hitze des Herdes. Der Duft von gebratenem Speck stieg Honey in die Nase und ließ ihren Magen knurren. Normalerweise hätte sie sich ein paar knusprige Scheiben mit Rührei und Toast gegönnt. Doch Caspers Tod hatte ihr völlig den Appetit verdorben.

»Chefin«, rief Smudger, eine Hand zum Gruß erhoben. Aus dieser Geste schloss sie, dass er Redebedarf hatte.

Sie hob ihrerseits die Hand zum universalen »Stopp«-Zeichen– mit der Handfläche nach außen. »Jetzt nicht. Alle Probleme müssen warten, bis ich zurück bin. Es ist was Schlimmes passiert. Was sehr Schlimmes.«

»Es gibt keine Probleme. Na ja, zumindest keine, mit denen ich nicht fertig werde. Ich dachte nur, du siehst irgendwie…«

Sie vermutete, dass er sagen wollte, sie sähe ziemlich bleich aus, beinahe als wäre ihr ein Gespenst begegnet. Er hatte sich diese Bemerkung aber gerade noch verkneifen können. Leute, die in Bath leben, erblicken ja dauernd irgendwelche Gespenster.

»Ich erkläre es dir später«, rief sie ihm noch zu.

Und damit war sie weg.

Smudger schüttelte den Kopf. »Ich wollte doch nur fragen, ob sie was dagegen hat, dass meine Katze hier einzieht«, sagte er zu Lester, seinem Jungkoch. »Die hat ganz schön verstört ausgesehen, was?«

Lester schnitt mit atemberaubender Geschwindigkeit und großem Schwung eine Gurke– wie ein Scharfrichter im Akkord.

»Vielleicht ist einem Familienmitglied was zugestoßen?«

Smudger schüttelte den Kopf. »Da fällt mir niemand ein. Ihre Mutter ist nicht mehr die Jüngste, aber die hat viel zu viel zu tun, um zu sterben.«

Das La Reine Rouge wirkte fröhlich und sommerlich mit den Hängekörben voller Lobelien, Geranien und anderen leuchtend bunten Blumen, die in gleichmäßigen Abständen an der ganzen eleganten Fassade entlang prangten.

Von der Schreckensnachricht und von ihrem gehetzten Lauf in Winterstiefeln über die sommerlichen Straßen von Bath hatte Honey so weiche Knie, dass sie vor dem Rezeptionstresen aus weißem Eichenholz beinahe zusammengeklappt wäre.

Kevin, der sommersprossige Rezeptionist, schaute auf sie herab. Seine Nase bebte über dem eierschalenfarbenen Halstuch. Sein Gesichtsausdruck war von übertriebener Fadheit. Die sandfarbenen Brauen waren bis fast zum Haaransatz hochgezogen. »Stimmt was nicht?«

Honey stand der Mund offen vor Staunen. Wie konnte der junge Mann in Zeiten wie diesen so sorglos daherreden?

Ihr Mund war zu trocken, als dass sie eine detaillierte Erklärung hätte abgeben können, also reichte sie ihm die Zeitungsseite und tippte auf die Schlagzeile.

»Das hier!«

Kevin nahm die Zeitungsseite vorsichtig mit den Fingerspitzen, als wäre sie mit irgendwas höchst Ansteckendem infiziert, zum Beispiel mit der Wirklichkeit.

Als er die Schlagzeile gelesen hatte, stand auch ihm der Mund offen vor Staunen, und seine Finger umklammerten das Papier fester.

Honey nutzte den Augenblick. »Sagen Sie mir, dass das nicht stimmt!«

Kevins Kopf ruckte so plötzlich nach oben, dass man beinahe fürchten könnte, er würde vom Hals abbrechen.

»Es stimmt auf gar keinen Fall. Ich habe ihm gerade eine Tasse Kaffee gebracht– stark und schwarz, genau wie er ihn mag.«

Honey schnappte sich den Artikel wieder, bat nicht darum, vorab angemeldet zu werden, sondern rannte gleich die Treppe hinunter, die in Caspers Büro im Souterrain führte.

In voller Lebensgröße–und wie immer mit farblich bestens koordiniertem Outfit, diesmal in blassgelben Tönen– saß Casper an seinem Schreibtisch und schaute auf den Bildschirm seines Computers. Ein kühler Windhauch strich durch eine neu eingebaute doppelflügelige Verandatür von einem Innenhof herein, der im japanischen Stil bepflanzt war. Caspers Lebensgefährte war Japaner. Er war in den letzten fünf Jahren immer wieder mal hier auf der Bildfläche erschienen. Caspers Leidenschaft waren Uhren. Takardos Leidenschaft war das Gartendesign.

Ein Medley aus verschiedenen Glockenschlägen läutete elf Uhr, als Casper endlich lange genug aufschaute, um Honeys Gesichtsausdruck wahrzunehmen.

»Du liebe Güte. Ihr Teint ist weiß wie der Schnee. Entweder haben Sie ein Gespenst gesehen, oder Ihre Mutter ist bei Ihnen im Hotel eingezogen.«

»Nein zur ersten Vermutung und zum Glück auch zur zweiten.«

Sie konnte ein Schaudern kaum unterdrücken. Wenn ihre Mutter bei ihr einziehen würde, so wäre das eine schlimme Anfechtung, aber nicht annähernd so schrecklich wie das hier.

Sie hielt Casper die Schlagzeile unter die Nase.

»Dieser Meldung zufolge sind Sie tot!«

Caspers ruhige Haltung veränderte sich kein bisschen, als seine Augen auf die Zeitungsmeldung fielen.

»Der erste Absatz«, sagte Honey und tippte mit dem Finger auf die fürchterlichen Worte.

Nun versteifte sich der ruhige Gesichtsausdruck zu wächserner Blässe. Casper dachte darüber nach, und seine Haltung blieb steif. Er ließ sich so leicht nicht aus der Ruhe bringen.

»Ich will sofort die Telefonnummer dieses Reporters! Die Telefonnummer seines Chefredakteurs! Das ist alles sehr bedauerlich.« Ein hervorragend manikürter Fingernagel deutete auf die Zeitungsseite. »Wo steht die wohl?«

»Auf der zweiten Seite?«, vermutete Honey.

Casper schaute nach. Honey hatte recht. Nachdem Casper die Telefonnummer der Zeitung gefunden hatte, langte er nach seinem Telefon.

Rasch hatte er die üblichen Hürden–tippen Sie1 für diese Abteilung, 2 für die Anzeigenabteilung und3 für Familiennachrichten– überwunden. Nachdem man ihn ein bisschen in der Redaktion herumgereicht hatte, hatte er endlich den Verantwortlichen–den Chefredakteur– am Apparat.

»Hören Sie mal, Sie Dämlack. Das bin nicht ich. Ich bin nicht tot. Ich lebe. Sie können mich hören, oder nicht? Ich lebe!«

Casper stürmte im Zimmer auf und ab, hielt mit der einen Hand das Telefon umklammert, mit der anderen die zerknüllte Zeitungsseite.

»Tot? Dem gebe ich tot!«

»Vielleicht war es ein Versehen…«

»Das nenne ich fahrlässig. Er hätte doch hier anrufen und nachfragen können.«

»Ja, aber wenn Sie doch tot sind…?«

»ICHBINNICHTTOT!«

Seine Stimme war lauter als sonst, aber Casper verlor die Beherrschung nicht. Sein Tonfall war eiskalt und ausgesprochen präzise.

So cool würde ich nicht reagieren, dachte Honey. Ich wäre stocksauer. Ich würde verlangen, dass Köpfe rollen, und natürlich eine schriftliche Entschuldigung in der nächsten Ausgabe fordern.

»Ich würde eine Entschuldigung verlangen«, flüsterte sie. »Casper, Sie sind so cool.«

Was immer es an ihrem Kommentar gewesen war, jedenfalls reagierte Casper darauf. Plötzlich fluchte er unheimlich, und sein Gesicht spiegelte so viel ungeheure Wut, dass er kaum reden konnte. Er begann heftig zu stottern, so dass er Honey das Telefon reichen musste.

»Sagen Sie es ihm?«

Das erwischte Honey auf dem falschen Fuß.

Casper bekam einen Hustenanfall und trommelte sich mit den Fäusten auf den Brustkorb. »Hab den verdammten Kaffee in den falschen Hals bekommen…«

Honey erklärte dem Chefredakteur, was geschehen war und dass Casper St John Gervais nun beinahe vor Wut erstickte. Sie bestätigte auch, dass die Identität, die man in dem Artikel dem Toten zugeordnet hatte, keineswegs korrekt sei. Casper St John Gervais sei quicklebendig. »Und es kann unmöglich zwei Personen geben, die so heißen. Ich meine, Casper St John Gervais ist ja nicht gerade ein gewöhnlicher Name.«

Caspers Augen funkelten beim bloßen Gedanken wütend.

Der Chefredakteur entschuldigte sich. »Schauen Sie. Es tut mir leid, aber wir haben den Bericht über seinen Tod, Verzeihung, über diesen Tod aus einer zuverlässigen Quelle.«

»Dann hat sich Ihre Quelle eben geirrt.«

Casper mischte sich wieder ein, riss ihr das Telefon aus der Hand und schaltete auf Lautsprecher.

»Ich will wissen, wer oder was diese Quelle war. Ich will die Adresse. Jetzt sofort!«

»Es tut mir leid, aber wir können keine Angaben zu unseren Quellen und Mitarbeitern an die Öffentlichkeit…«

»Ich bin nicht die Öffentlichkeit. Ich bin ich. Ich habe Verbindungen zu den höchsten Kreisen. Zum Adel. Und jetzt machen Sie schon. Nennen Sie mir Namen.«

»Ich möchte Sie darauf hinweisen, Mr Gervais, dass der Name des Autors unter dem Artikel steht.«

Honey und Casper schauten erneut auf die Zeitungsseite. Geoffrey Monmouth.

Honey deutete darauf. »Ah ja. Da steht er.«

Casper war gewöhnlich nicht so unaufmerksam, aber der Artikel hatte ihn aus der Fassung gebracht. Schließlich las man nicht jeden Tag eine Nachricht über den eigenen Tod in der Zeitung, noch dazu eine, die viele Fragen über die Einzelheiten offenließ.

Der Chefredakteur war wenig einsichtig. »Wir können Ihnen die Adresse des Verfassers nicht geben. Tut mir leid.«

»Ist er in der Redaktion? Dann komme ich.«

»Er ist nicht hier.«

Honey bemerkte, dass sich Panik in die Stimme des Chefredakteurs schlich. »Er ist freier Mitarbeiter. Wir setzen ihn nur gelegentlich ein.«

Honey konnte es dem Mann nicht verübeln, dass er den Vorstand des Hotelverbands von Bath nicht in seinem Büro haben wollte. Doch wenn Casper sich eine Sache in den Kopf gesetzt hatte–wie zum Beispiel jetzt–, dann war er wie ein Schlitten, der ohne Bremse einen Hügel hinunterdonnerte.

Honey strich das Zeitungsblatt wieder glatt, so dass alles wieder deutlich lesbar war.

Casper warf erneut einen Blick auf die Titelseite. »Ich entnehme der ersten Seite, dass er einen weiteren Artikel für Sie geschrieben hat, und zwar über eine zweitausend Jahre alte Leiche, die man vor einiger Zeit auf dem Anwesen von Lord Torrington ausgegraben hat. Der steht auf derselben Seite. Sind Sie sicher, dass wenigstens diese Leiche wirklich tot war? Und nicht irgendwo wach im Bett sitzt?«

»Ihre Ironie können Sie sich sparen.« Die Stimme des Chefredakteurs klang pikiert.

»Ich könnte Sie dafür verklagen. Ja, ich werde mich mit meinem Rechtsanwalt in Verbindung setzen, sobald ich dieses Gespräch beendet habe.«

Die Entschuldigung des Chefredakteurs und sein Versprechen, die Sache wieder in Ordnung zu bringen, kamen nun sehr schnell und aus tiefstem Herzen. »Hören Sie. Wir drucken einen Widerruf. Und eine Entschuldigung, die erklärt, dass es ein Irrtum war. Was würden Sie davon halten? Schließlich ist ja kein Schaden entstanden. Sie leben doch noch.«

»Allerdings.« Caspers Augen verengten sich bösartig, als er Honey anschaute. »Wer war es also wirklich, diese Leiche, die Sie für meine gehalten haben?«

»Ich weiß es nicht. Ich werde Monmouth bitten, sich mit seinem Kontaktmann bei der Polizei in Verbindung zu setzen. Der weiß vielleicht mehr.«

»Da bin ich mir sicher«, antwortete Casper.

Das Gespräch wurde nun rasch beendet.

Honey kannte diesen Ausdruck auf Caspers Gesicht. Sie sah, dass er sich beunruhigend aufblähte, als hätte er es Alice im Wunderland nachgetan und den kleinen Kuchen mit der Aufschrift »Iss mich« gegessen und würde nächstens zu groß für dieses Zimmer werden.

Sie ahnte, was jetzt kommen würde.

»Bis zum jetzigen Zeitpunkt habe ich es stets vermieden, mich mit der weniger schönen Seite des Lebens zu befassen. Derlei liegt nicht in meiner Natur. Das habe ich immer Ihnen überlassen.«

»Tausend Dank«, murmelte Honey.

Casper schien gar nicht zu bemerken, dass er eine Spur beleidigend gewesen war.

»Ich würde selbstverständlich liebend gern diesen Monmouth besuchen und ihn wissen lassen, wie sehr mich sein Artikel gekränkt hat. Ich werde auch eine Wiedergutmachung fordern. Ich werde mich daranmachen, den Chefredakteur schriftlich wissen zu lassen, dass ich die Absicht habe, die Zeitung zu verklagen.«

»Es war wahrscheinlich ein echtes Versehen. Allerdings frage ich mich, wie man sich so irren konnte. Schließlich ist die Wissenschaft inzwischen weit gediehen, mit all dem DNA-Zeug und so. Ich wüsste zu gern, wer die Leiche wirklich ist.«

Casper legte den Kopf in den Nacken. Er musterte die Zimmerdecke, als hinge dort oben eine Entscheidung, die er nur noch herunterpflücken müsste.

Honey hatte eine ungute Vorahnung. Sie konnte sich nur zu genau vorstellen, was nun kommen würde. Und da war es auch schon.

»Ja. Das halte ich für angemessen. Ja. Ich brauche Klarheit. Ich will wissen, wer dieser Mann ist. Lassen Sie alles andere stehen und liegen. Ich möchte, dass Sie gründliche Erkundigungen einziehen.«

»Ich habe ein Hotel zu führen…«

»Das ist jetzt nicht wichtig. Nehmen Sie sich eine Auszeit. Stellen Sie Nachforschungen an. Wenn es im Green River Probleme gibt, schicke ich jemanden rüber, der dort aushelfen kann.«

Honey wusste, dass er dieses Versprechen halten würde. Die Aussicht auf die Ermittlung war schon ziemlich aufregend. Womöglich würde sich der Fall als recht interessant erweisen. Zunächst musste sie herausfinden, wie genau der Mann ums Leben gekommen war. Wieso Schlamm? Es konnte doch gewiss niemand im Schlamm Selbstmord begehen? Sie witterte bereits ein Verbrechen. Ihre Gedanken wirbelten bei der bloßen Überlegung, was als Nächstes zu tun wäre.

»Doherty weiß bestimmt was davon. Und mit dem treffe ich mich später…«

»Nein! Nicht später. Jetzt gleich. Ich möchte, dass Sie sich so schnell wie möglich mit dieser Angelegenheit befassen. Gehen Sie da hin, wo dieser Mann gestorben ist, und verschaffen Sie sich einen Eindruck. Wir haben keine Sekunde zu verlieren. Ich bin zutiefst verstört. Ich brauche Klarheit. Und zwar jetzt. Machen Sie sich gleich an die Arbeit!«

Casper war immer brüsk, aber diesmal war sein Tonfall so scharf, dass er Honey gut und gern den Kopf hätte abtrennen können. Na ja, so war er eben. Es gab nur einen Casper St John Gervais, für zwei war auf dieser Erde ganz entschieden kein Platz.

Kapitel2

Nachdem sich Honey ein wenig von dem Schreck erholt hatte, den ihr die Nachricht von Caspers Tod eingejagt hatte, marschierte sie zu ihrem Hotel zurück, drängelte sich auf den Bürgersteigen durch die bunte Schar der Einkäufer, der Touristen und der Leute, die unter den von den Laternenmasten herabhängenden Blumenkörben Selfies aufnahmen.

Doherty, ihr Verbindungsmann bei der Polizei, mit dem sie auch gelegentlich das Bett teilte, ging nicht ans Telefon. Verärgert versuchte sie es weiter. Immer noch keine Antwort. Sie wusste, dass er bald zu einem Teambildungskurs aufbrechen würde, war sich aber ziemlich sicher, dass er noch nicht weggefahren war.

Sie probierte es noch einmal zähneknirschend und grummelte: »Wo bist du, Steve Doherty?«

»Versuchst du mich zu erreichen?«

Sie zuckte zusammen, als sie seine Stimme hörte. In Bath konnte man leicht jemanden übersehen, besonders in der Hochsaison, wenn die Stadt von Touristen nur so wimmelte.

Sie blieb stehen, kam zu dem logischen Schluss, dass er, da er nicht vor ihr stand, wohl hinter ihr sein musste. Sie drehte sich so unvermittelt um, dass sie erfreulicherweise gleich mit ihm zusammenstieß und mit seinem üblichen schwarzen T-Shirt und den abgewetzten Jeans auf Tuchfühlung ging. Er hatte ganz lässig einen Zeigefinger in den Aufhänger seiner schwarzen Lederjacke gehakt und sie sich über die Schulter geworfen.

Mit dem anderen Arm umfing er sie warm. Seine Lippen waren kühl. Sie schloss die Augen. Ihr war, als ertrinke sie in duftendem Wasser.

»Ich muss dich was fragen«, sagte sie mit leiser, rauchiger Stimme.

Er zog die Augenbrauen in die Höhe, grinste frech und hatte jede Menge Versprechungen im Blick.

»Ein intimes Geheimnis nur für zwei?«

»Keine Spur. Überregionale Nachrichten– gewissermaßen. Es geht um Casper. Die Western Daily Press hat behauptet, er wäre tot.«

Aus dem frechen Grinsen wurde beinahe lautes Gelächter.

Ehe Doherty einen völlig unpassenden Kommentar abgeben konnte, fügte Honey rasch hinzu: »Die haben behauptet, er wäre die Leiche, die man am Bahndamm in Bradford on Avon im Schlamm gefunden hat. War das ein Unfall? Selbstmord oder Mord?«

Er zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Nach dem bisschen, was ich über den Fall weiß, wäre Selbstmord eine echte Überraschung. Ich nehme an, der Mann ist vielleicht im Schlamm ausgerutscht und dann von der einstürzenden Böschung verschüttet worden. Vielleicht war er betrunken und konnte sich nicht mehr befreien. Oder jemand hat nachgeholfen. Das können nur die Jungs im Labor genau rausfinden. Was weißt du denn bisher?«

»Nur eines. Es war nicht Casper. Der steht unter Schock– soweit das bei ihm überhaupt möglich ist, wenn man bedenkt, wie er sonst so drauf ist. Ich war auch schockiert. Erst die Zeitungsmeldung, die seinen Tod verkündet, und dann sitzt er da seelenruhig am Schreibtisch und nippt am Kaffee.«

»Hm.« Doherty setzte eine ernste Miene auf und schüttelte den Kopf. »Hat leider nichts mit mir zu tun.«

Sie deutete das so, dass ein anderer Kripobeamter sich damit beschäftigte.

»Aber du kannst es doch rausfinden?«

»Könnte ich. Wenn ich wollte.«

»Ich denke, das ist verständlich. Du hast jetzt Freizeit, bist wahrscheinlich viel zu entspannt. Wie war’s denn beim Drachenfliegen?«

Er zuckte die Achseln. »So lala.«

»Wann geht’s zu deinem Teambildungskurs?«

»In Kürze.«

Sie hatten sich vor kurzer Zeit einvernehmlich darauf geeinigt, ihre Beziehung ein wenig langsamer anzugehen. Will sagen, sie wollten herausfinden, ob sie länger als ein paar Tage ohne einander auskommen konnten. Honey hatte Doherty vermisst, würde das aber niemals zugeben– nicht, ehe er es zuerst gesagt hatte. Die Alternative wäre gewesen, mit ihm zum Drachenfliegen zu gehen, und das war wirklich nichts für sie, denn sie war nicht schwindelfrei.

»Kann ich mitkommen?«

»Du bist doch nicht im Team.«

»Das habe ich nicht gemeint. Zum Polizeirevier. Casper ist völlig versessen darauf, die Sache so schnell wie möglich aufzuklären, und er wüsste gern, wer die Leiche da draußen wirklich war. Ich nehme an, du erfährst auf der Wache die Einzelheiten bei der Teambesprechung.«

Er schüttelte den Kopf. »Der Vorfall hat sich in Bradford on Avon ereignet. Das liegt in Wiltshire, falls dir das entfallen ist, und ist somit außerhalb unseres Zuständigkeitsbereiches Avon und Somerset.«

Honey klatschte sich mit der Hand an die Stirn. »Natürlich! Verdammt!« Polizeibehörden wachten eifersüchtig über ihr Terrain.

»Da kann ich nicht dazwischentrampeln.«

Honey sog zischend Luft ein. »Echt schade. Casper war ziemlich schockiert, als ich ihm den Artikel gebracht habe.«

Doherty grinste. »Ja, klar doch.«

»Das ist nicht komisch.«

Er setzte wieder eine ernste Miene auf, aber in seinen Augen blitzte das Lachen. »Natürlich nicht.« Um seine Lippen spielte noch ein Lächeln.

»Ich würde total ausrasten, wenn ich irgendwo lesen müsste, dass ich tot bin«, sagte Honey pikiert.

»Also hat dich Casper angewiesen, dir die Angelegenheit anzuschauen. Das ist eigentlich seltsam, denn die Sache ist ja nicht in Bath passiert.«

Sie nickte. »Na ja, angewiesen hat er mich nicht gerade…«

Doherty schaute ungläubig. »Ich vermute mal, er nimmt die Sache persönlich, seit er seinen Namen in der Zeitung gelesen hat.«

Honey schaute ihn flehentlich an. »Kannst du mir da nicht doch helfen?«

Doherty pfiff leise vor sich hin und schüttelte den Kopf. »Das würde denen in Bradford gar nicht gefallen. Ich würde da einigen Leuten auf die Füße treten. Es ist wirklich nicht mein Bezirk.«

»Okay«, sagte sie und nickte bedächtig. »Ich verstehe. Es wäre unprofessionell, wenn du Erkundigungen einziehen würdest. Aber du kennst doch bestimmt jemanden bei der Polizei in Wiltshire, der helfen könnte? Jemand, an den ich mich wenden könnte?«

Er kniff ein Auge zu, wie immer, wenn er angestrengt nachdachte oder vermutete, dass Honey einen Gefallen von ihm erbat, den er ihr nicht erfüllen konnte.

»Sefton Goudge. Der könnte dir vielleicht helfen– mir zuliebe. Der hat früher bei uns in Bath gearbeitet, hat sich dann aber vom Außendienst in Bath auf einen Schreibtischjob in Wiltshire versetzen lassen. Jetzt ist er einer von den Jungs im Hinterzimmer.«

Honey strahlte, küsste ihn und legte ihm die Arme um die Taille, nicht so sehr zu seinem wie zu ihrem eigenen Vergnügen. Er fühlte sich so wunderbar fest an!

Doherty murmelte begeistert und sagte dann: »Mir gefallen deine Argumente. Im Hinblick auf eine mögliche Wiederholung ziehe ich gern vorab ein paar Erkundigungen ein.«

Honey lehnte sich noch näher zu ihm hin und küsste ihn. »Diese Hilfe würde sicherlich eine Wiederholung meiner Argumente verdienen, vielleicht in einem intimeren Rahmen.«

Doherty lächelte. »Genau das wollte ich hören. Und inzwischen geh du und schnüffle schon mal rum, wo du kannst.«

»Kein Problem. Heute ist ein schöner Tag«, sagte sie und schaute auf die Passanten, die kurzärmelige Tops, manche sogar Shorts trugen. »Ich glaube, ich mache einen Ausflug und gehe da ein bisschen am Fluss spazieren.«

Doherty nickte. »Ah ja. In Bradford on Avon.«

»Scheint mir eine gute Idee zu sein. Schade, dass du nicht mitkommen kannst.« Das hätte sie wirklich gern gehabt.

»Pass auf dich auf«, sagte er, nahm sie bei den Schultern und küsste sie auf die Stirn. »Und komm niemandem in den Weg.«

Er pfiff vor sich hin, als er davonstapfte, die Lederjacke noch immer lässig über die Schulter geworfen. Wie konnte der Kerl schon so sagenhaft verführerisch aussehen, wenn er nur über den Fußweg spazierte? Aber träumen hatte jetzt keinen Zweck. Ein Bürgersteig in der Stadt war ohnehin für das, was ihr vorschwebte, ein viel zu öffentlicher Ort.

Es war wirklich ein schöner Tag, und es würde interessant sein, sich die Fundstelle der Leiche anzusehen. Dort war ja bestimmt noch einiges los. Irgendwie war diese Verwechslung der Identität seltsam. Wieso Casper? Ja, komisch war es, aber auch rätselhaft.

Honey stellte ihren kanariengelben Citroën auf dem Parkplatz ab, der gleich beim Spazierweg am Fluss und in bequemer Nähe der öffentlichen Toiletten lag. Sie nahm an, dass man die Leiche ein Stück flussabwärts von der berühmten mittelalterlichen Brücke gefunden hatte, die im Zentrum der hübschen kleinen Stadt den Fluss überquerte. Sie erinnerte sich daran, dass die Wiesen sanft von einer Baumreihe und den Weberhäuschen abfielen, während ein schmaler Pfad vom Fluss aufwärts und in dichtere Vegetation und zum Fußgängerüberweg über die Bahnlinie führte. Furchterregend, dass ein Bahngleis so leicht für Fußgänger zu erreichen war.

Der Park, in dem Leute spazieren gingen und ihre Hunde ausführten, wich allmählich einem unwegsameren Gelände; und zwar gleich nach der Stelle, wo der Pfad zur Bahnlinie hochführte. Genau da flatterte auch das blaue Tatortband, war über den Weg gespannt und hinderte alle am Weitergehen. Nach dem nassen Wetter der letzten Zeit und dem Schnitt der dichteren Büsche und Bäume war ziemlich viel Schlamm ins Rutschen geraten.

Zwei uniformierte Polizisten hatten Dienst, diskutierten gerade mit einer besonders erzürnten Hundebesitzerin, die meinte, es würde ihre Hunde außerordentlich verstören, wenn sie nicht genau bei ihrer Routine blieben und wie jeden Tag auf diesem Pfad Gassi gingen. Wie sehr sich die Polizisten auch bemühten, ihr klarzumachen, dass am Bahngleis etwas wirklich Furchtbares passiert war, so schien doch zumindest dieser Dame die Routine ihrer Hunde wesentlich wichtiger zu sein als derart nebensächliche Dinge wie der Tod eines Menschen.

»Es hat dort einen Zwischenfall gegeben, Madam.«

»Das ist Tage her. Und außerdem haben Sie gerade ein Auto da hinfahren lassen. Was ist damit? Das hinterlässt wesentlich mehr Spuren auf dem Gelände als ich und meine Hunde, meinen Sie nicht?«

»Es tut mir leid, aber…«

»Es werfen sich doch dauernd irgendwelche Leute vor den Zug. Es war doch wohl kein Mord, oder?«

»Madam, dazu können wir wirklich keinen Kommentar abgeben.«

Honey hörte das Zögern in der Stimme des Polizisten und dachte sofort wieder an die Zeitungsmeldung. Verdächtiger Todesfall. Wieso verdächtig? Wenn es, wie die Hundedame angedeutet hatte, tatsächlich ein Selbstmord war, dann war daran nichts Verdächtiges. Die Wahrheit würde sich ohnehin erst nach einer Obduktion herausstellen.

Neugier überfiel Honey. Wie sich doch die Dinge von einem Augenblick zum anderen ändern konnten. Hier ging es nicht nur darum herauszufinden, warum man Caspers Namen dieser Leiche zugeordnet hatte.

Während die Hundedame immer noch auf die Polizisten einschimpfte und sich über deren mangelndes Einfühlungsvermögen beschwerte, duckte sich Honey unter dem Absperrband hindurch. Hier standen die Büsche dicht am Weg, den ganzen Hang hinauf.

Ein weißer Tatortwagen parkte dort. Die hinteren Türen waren geöffnet, damit man die benutzten Schutzanzüge und dickbauchigen Tatortkoffer leichter hineinwerfen konnte. Wegen des warmen Wetters und der Anzüge, die einen leicht zum Schwitzen brachten, wischten sich die beiden Beamten den Schweiß von der Stirn und reckten erleichtert die Arme, ehe sie in den Wagen stiegen und losfuhren.

Ein zweites Auto blieb übrig– ein auf Hochglanz polierter schwarzer BMW mit getönten Scheiben und Leichtmetallfelgen.

Honey schoss der Gedanke durch den Kopf, dass das für einen Polizisten ein ziemlich nobles Auto war. Denn wer hier stand, musste ein Polizist sein. Sonst hätte er nicht neben dem flatternden Tatortband parken dürfen. Allerdings schien er im Augenblick abwesend zu sein. Der Ort war menschenleer, die glänzenden Bahngleise erstreckten sich in beide Richtungen, von einem Zug war nichts zu hören oder zu sehen.

Honey schaute sich rasch um, um sicher zu sein, dass niemand sie beobachtete, und näherte sich dann vorsichtig dem Tatort am Bahngleis. Sie beugte sich hinunter, um sich die Stelle näher anzusehen, an der Kreidestriche und eine Spraydose mit weißer Farbe markiert hatten, wo man die Leiche gefunden hatte, wenn auch wegen des unwegsamen Geländes nur in groben Umrissen. Außer den Markierungen waren bloß noch ein paar dunklere Flecken auf dem Schotter zwischen den Gleisen und ein paar auf den hölzernen Schwellen übrig.

Honey war überrascht, als sie bemerkte, dass sie offensichtlich nicht die erste Zivilistin am Tatort war. Jemand hatte hier ein atemberaubendes Bouquet aus orangen, blauen und violetten Blumen niedergelegt. Nähere Betrachtung brachte jedoch keine Karte mit liebevollen Abschiedsworten zum Vorschein, die jemand hastig hingeschrieben hatte und die ihr Aufschluss über den Namen des Opfers oder den der Person erlaubt hätte, die diese Blumen hergebracht hatte.

Sie beugte sich tiefer hinunter, schnupperte an den Blüten, entdeckte aber sonst nichts– außer einer Spielkarte, die zwischen die Blumen gesteckt war. Zuerst dachte sie, es wäre eine ganz normale Spielkarte, doch dann erkannte sie, dass es eine Tarotkarte war– der Gehenkte, der an einem Fuß von einem Baum hing.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Ein Schatten fiel über sie. Der Mann hatte sich mit so leisen Schritten genähert, dass sie nichts gehört hatte.

Erschrocken stopfte sie sich hastig die Tarotkarte in den BH. Sie passte geradeso dort hinein.

Honey fuhr herum und rechnete damit, irgendeinem hochnäsigen Polizeibeamten gegenüberzustehen, der eine hochoffizielle Miene aufgesetzt hatte und ihr gleich sagen würde, sie solle sich hier schnellstens verziehen.

Zunächst war der Mann kaum mehr als eine Silhouette, und die hinter ihm stehende Sonne ließ einen Heiligenschein um seinen Kopf leuchten. Seine Gesichtszüge blieben undeutlich, bis er auf ebeneres Gelände trat und aus der Sonne ging.

Honey nahm begeistert alle Einzelheiten auf. Er war groß und sehr gut angezogen; sein Haar war weißblond, lag ihm flach und glänzend am Kopf und umspielte weich seinen Kragen.

Er erinnerte sie sofort an einen mittelalterlichen Ritter mit schimmerndem Haar, fein gemeißelten Gesichtszügen, porzellanblauen Augen. Er sah nicht aus, als hätte er je eine Polizeiuniform getragen und den Verkehr geregelt, wenn sie sich auch sehr gut alle möglichen anderen Uniformen an ihm vorstellen konnte.

Sie lächelte entwaffnend, aber geschäftsmäßig und streckte ihm die Hand entgegen. »Guten Tag. Ich bin die Verbindungsperson des Hotelverbands von Bath zur Kripo. Mein Name ist Honey Driver. Normalerweise ist mein Verbindungsmann Detective Chief Inspector Steve Doherty in Manvers Street in Bath, wenn sich schwere Vergehen auf den internationalen Tourismus in Bath auswirken könnten. Ich bin mir darüber im Klaren, dass dieser Mann in Wiltshire gestorben ist, aber ich beschäftige mich gerade mit einem Fall von Personenverwechslung. Eine Zeitung hat irrtümlich die Identität des Opfers falsch angegeben, allen Ernstes den Namen eines meiner Freunde genannt. Das hat ihn ziemlich verstört.«

Der Handschlag des Mannes war fest. Und warm. Und er zog sich hin. Sein Lächeln war so verführerisch, dass Honey weiche Knie bekam.

»Darf ich Sie Honey nennen?«, fragte er.

Honey lächelte. Hilflos. Hingerissen. »Aber bitte gern.«

»Sie interessieren sich also für diesen Fall?«

Er legte den Kopf leicht schief und musterte sie vom Scheitel bis zur Sohle, als könne er sie mit nichts als einem raschen Blick nach Länge, Breite und Höhe vermessen. Ihr schoss der Gedanke durch den Kopf, dass er vielleicht mit diesem Röntgenblick sogar die Farbe ihrer Unterwäsche bestimmen könnte. Schon der Gedanke daran trieb ihr die Röte ins Gesicht.

»Ich heiße Dominic Christiansen. Aber nennen Sie mich bitte Dominic. Freut mich, Sie kennenzulernen. Also, der Name Ihres Freundes wurde in einem Zeitungsartikel erwähnt?«

Er artikulierte äußerst sorgfältig, seine Augen blinzelten nicht, und er verströmte das Selbstbewusstsein eines Mannes, der schon mit Geld und Privilegien auf die Welt gekommen war, das Produkt von Schulen wie Eton oder Harrow.

Honey raffte ihr ganzes Selbstwertgefühl zusammen. »Ja. Es hat ihn sehr verstört. Wie es dazu kommen konnte, wissen wir nicht genau. Wahrscheinlich hat ein Journalist voreilige Schlüsse gezogen.«

»Wahrscheinlich. Der arme Kerl. Niemand will ja die eigene Todesnachricht in der Zeitung lesen. Das ist beinahe so schlimm wie wirklich sterben!«

Wie entspannt der Typ war! Honeys Hormone vollführten einen kleinen Bauchtanz.

»Ja. Ich habe es gelesen und gedacht, der Artikel bezöge sich auf meinen Freund. Da stand sein Name. Ich bin ihn besuchen gegangen, und da saß er in voller Lebensgröße in seinem Büro. Es ist alles sehr seltsam.«

»Und wie heißt Ihr Freund?«

»Casper St John Gervais. Er ist der Vorsitzende des Hotelverbands von Bath. Nachdem ich die kleine Meldung gelesen hatte, bin ich gleich losgerannt, um nachzusehen, ob das stimmte. Er hat ein Hotel in Bath. Es war ein ziemlicher Schock, ihn dann in seinem Büro anzutreffen, wo er friedlich Kaffee trank, das kann ich Ihnen versichern.«

Plötzlich und so kurz, dass sie meinte, es sich vielleicht nur eingebildet zu haben, sah sie ein Aufleuchten in den Augen des Mannes, als hätte er Caspers Namen nicht zum ersten Mal gehört.

»Kennen Sie ihn?«

Er schüttelte den Kopf. »Kann ich nicht behaupten.«

»Nun, ich hoffe, wir können das aufklären.«

»Ich auch.« Wahrscheinlich hatte sie sich das Aufleuchten wirklich nur eingebildet. Bei seinem Lächeln lief ihr das Wasser im Mund zusammen.

»Ich werde die Ermittlungen leiten. Hier ist meine Karte. Meine Handy-Nummer steht drauf. Die gebe ich nicht jedem, also behalten Sie sie bitte für sich, sonst rufen mich Krethi und Plethi Besserwisser ständig an.«

Er lachte über seinen eigenen Witz. Honey lachte auch und gab sich redlich Mühe, ihn sich nicht in allen möglichen anderen Lebenslagen vorzustellen. Mann, war dieser Typ eine Sahneschnitte! Sie schaute kaum auf die Visitenkarte, obwohl sie schon beinahe versucht gewesen war, sie auch im BH verschwinden zu lassen. Sie wollte aber keinen falschen Eindruck erwecken, und eine Karte im Ausschnitt reichte auch.

Nicht dass sie ihn nur deswegen beeindrucken wollte, weil er so unverschämt gut aussah. O nein, das wäre ja viel zu seicht und oberflächlich. Aber sie musste ihn einfach taxieren. Bei seiner Körpergröße würde er die gesamte Länge eines Bettes einnehmen, ohne auch nur einen Zentimeter Luft!

Er sagte nichts.

Sie sagte nichts.

Sie standen nur da und musterten einander vom Scheitel bis zur Sohle, und beide hegten keinerlei Zweifel an den Gedanken, die gerade ihrem Gegenüber durch den Kopf gingen. Es war Honey, als stünde sie am Rand einer Klippe, vom Ausblick verzaubert, und wollte unbedingt in den Abgrund springen. Nur die Vorstellung von Doherty, wie er mit seiner über die Schulter geworfenen Lederjacke davongeschlendert war, hinderte sie daran, sich in die Schlucht zu stürzen. Und jetzt würde sie höfliche Konversation machen, mit anderen Worten: Informationen aus dem Mann herausquetschen, die sie normalerweise nicht bekommen würde.

»Also! Können Sie mir schon irgendwas zu dem Fall sagen? Ich meine, wissen Sie, wer der Tote wirklich ist?«

Einen Moment lang sah er sie nur mit stählernem Blick an– wie ihn die heißblütigen Helden in den Kitschromanen draufhatten, die ihre Mutter immer las. Würde er ihr was sagen oder nicht?

Plötzlich schaute er über ihren Kopf hinweg, als wägte er seine Optionen ab.

Endlich wandte er sich wieder ihr zu. »Nun gut. Da Ihr Freund ja unter dieser falschen Identifizierung gelitten hat. Selbstverständlich ist das alles streng vertraulich.«

Sie nickte. »Selbstverständlich.«

Sein Blick wich nicht von ihr. »Was wollen Sie wissen?«

»War es Selbstmord, ein Unfall oder Mord?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Er war tot. Das muss fürs Erste reichen. Wir stellen noch Ermittlungen bezüglich seiner Identität an und prüfen die genauen Todesumstände. Es tut mir leid, dass Ihr Freund in diese Sache mit hineingezogen wurde. Ich kann mir nicht vorstellen, wer der Zeitung seinen Namen genannt haben soll.«

»Er wird es verkraften. Aber ich bin mir nicht sicher, ob der Chefredakteur der Zeitung es verkraften wird. Casper vergibt Leuten, die seinen Namen missbrauchen, so leicht nicht. Und dazu gehört auch die Erwähnung in einer Zeitungsmeldung.«

»Das klingt ganz so, als wäre Ihr Freund ein ziemliches Unikum. Ich würde ihn gern kennenlernen– nur falls seine Person irgendwie ein Licht auf das wahre Opfer werfen könnte.«

»Oh, ich bezweifle, dass er das Opfer gekannt hat«, sagte Honey und schüttelte den Kopf.

Die Stirn des Mannes umwölkte sich. »Vielleicht sind Sie doch nicht so eng mit ihm befreundet, wie Sie dachten?«

»Devizes kommt auf seinem Radar nicht vor«, platzte Honey heraus.

Christiansen runzelte die Stirn. »Devizes?«

»Das Hauptquartier der Polizei von Wiltshire. Ich habe mir sagen lassen, das ist in Devizes.«

»Ah ja! Natürlich!« Er nickte zur Bestätigung, aber irgendwie hatte Honey den Eindruck, als hätte er keine Ahnung gehabt, wovon sie sprach. Wenn er für die Polizei von Wiltshire arbeitete, würde er doch wissen, dass die Zentrale für diesen Landkreis in Devizes war?

Er bot ihr jedoch ein Krümelchen Trost an. »Er bräuchte ja nicht nach Devizes zu kommen. Ich kann ihn aufsuchen.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

»Kein Problem.«

»Hören Sie. Wenn Sie mich kontaktieren müssen…«

Sie verteilte sonst nicht viele Visitenkarten. Die lagen normalerweise in ihrem Schreibtisch und staubten allmählich ein oder steckten in irgendeiner Hosentasche oder Handtasche und bekamen Eselsohren. Sie hatte trotzdem immer welche dabei, falls sich ein ganz besonderer Anlass bot. Dominic Christiansen war so ein besonderer Anlass.

Einen Moment lang schaute er sie nachdenklich an, und sie erwiderte diesen Blick. Es war ein explosiver Moment, und es fiel ihr schwer, sich loszureißen.

»Haben Sie Zeit für eine Tasse Kaffee?«, fragte er.

Seine Einladung überraschte sie. »Nun… jaaaa.«

Okay, die Antwort war zwar gestottert gewesen, aber schnell gekommen. Er hatte sie auf dem falschen Fuß erwischt. Sie war Wachs in seinen Händen.

»Steigen Sie ein. Der Swan scheint ein gutes Restaurant zu sein, und ich kann meinen Wagen auf dem Hof dahinter parken.«

»Es gibt noch andere…«

»Mit Parkplätzen?«

»Na ja, bei einigen müssten Sie auf einem öffentlichen Parkplatz oder an der Straße parken.«

»Ich stelle meinen Wagen nie an der Straße ab. Kommen Sie schon. Steigen Sie ein.«

Sie widersprach ihm nicht. Er war nicht der Typ Mann, dem man widersprach. Dominic Christiansen war ein Alphatier in all seiner Pracht.

Das Innere des Autos roch nach teurem Aftershave und warmem Leder. Während der kurzen Fahrt zum Parkplatz des Swan betrachtete Honey verstohlen Christiansens Profil.

Was als Kaffeetrinken angefangen hatte, entwickelte sich zu einem ausgewachsenen Mittagessen, so dass aus dem kurzen Zwischenstopp zwei Stunden wurden, in denen er ihr erzählte, dass der Tote ziemlich verlottert und wahrscheinlich obdachlos gewesen war.

Das war der einzige Augenblick während des Essens, in dem ihre Gedanken wieder zum Anlass des Treffens zurückwanderten.

»Großer Gott! Warum sollte dann irgendjemand annehmen, dass es Casper war? Ich meine, der ist so ungefähr das genaue Gegenteil von verlottert. Pingelig bis zum Abwinken sogar.«

»Vielleicht habe ich da etwas missverstanden. Ich überprüfe das noch mal«, sagte er. »Er war ja unter ziemlich viel Schlamm begraben, also hat seine Kleidung sicherlich gelitten. Aber wir werden uns das genauer ansehen.«

Sein Lächeln löschte all ihre Wissbegierde aus.

Von der Begegnung mit ihm war ihr noch eine ganze Weile später schwummrig im Kopf. Fetzen ihres Gesprächs kamen ihrin Erinnerung, wurden aber von seiner Präsenz, seinem guten Aussehen, seinem glatten Haar und seiner tiefen Stimme völlig überstrahlt. Er hatte ihr viele Fragen zu ihrer Person, zu ihrem Hotel, ihrer Familie und zu den Gründen gestellt, warum sie den Job der Verbindungsperson zur Kripo übernommen hatte.

Vor dem Green River Hotel verabschiedeten sie sich von einander, und Honey war zumute, als schwebte sie auf Wolken. Leichtfüßig hüpfte sie in den Empfangsbereich und pfiff As Time Goes By vor sich hin– kitschig und altmodisch romantisch, aber sie war eben mal in so einer Stimmung.

»Wer war das denn?«

Zwei braune Augen musterten sie aufmerksam. Ihre Tochter Lindsey war die Unterstützung, auf die Honey sich stets verlassen konnte. Für eine so junge Person war sie eine außergewöhnlich genaue Beobachterin, und sie führte das Green River Hotel besser als Honey, auch wenn diese das nur ungern zugab.

Honey stützte die verschränkten Arme auf dem Empfangstresen ab. »Er ist bei der Polizei. Sieht der nicht umwerfend aus?«

»Sehr ansprechend– was ich so von ihm gesehen habe. Und ein tolles Auto hat er. Wo hast du den aufgegabelt?«

»Bradford on Avon.« Honey seufzte.

»Und der hat dich mit zurück nach Bath genommen?«

Honey warf den Kopf in den Nacken, schloss verzückt die Augen bei der Erinnerung an seine Nähe, seinen Duft und seine verführerisch tanzenden Augen. »Ja, ja, JA!«

»Und wo ist dein Auto?«

Eine kurze Frage, und Honeys Seifenblase war zerplatzt. Sie stöhnte auf.

»Verdammt!«

Jetzt war die Wahrheit ans Licht gekommen, wie sie das in den Akte X immer zu sagen pflegten. Honey war hier im Green River Hotel. Ihr Auto stand noch in Bradford on Avon…

»Honey! Ich hab dich den ganzen Tag nicht gesehen, und jetzt bekomme ich dich endlich zu Gesicht, und du hast eine Aura um dich, die von Gold nach Rosa und Scharlachrot changiert. Hat dich irgendein Karma gepackt, das was mit deinen innigsten Wünschen zu tun hat?«

Mary Jane, Langzeitgast im Green River Hotel und Professorin für das Paranormale, trug eine Art Hosenanzug aus Baumwolle, auf dem überall Hawaii-Palmen sprossen. Sie lehnte sich über den Empfangstresen, überragte trotzdem noch Mutter und Tochter, und ihre strahlend blauen Augen tanzten von einer zur anderen.

»Weniger Karma als Auto.« Lindsey feixte. »Dank des unverhofften Erscheinens eines wunderschönen Prinzen hat Mum ihr Auto in Bradford on Avon vergessen.« Lindseys Grinsen war breiter als das der Cheshire-Katze aus Alice im Wunderland.

Honey verzog das Gesicht. Es gab Zeiten, in denen sie Mary Jane gern ins Gespräch mit einbezog, und es gab Zeiten, in denen sie am liebsten wortlos an ihr vorüberging. Dies hier war jedenfalls ein Fall fürs Vorübergehen.

»Nicht schlimm«, sagte Honey fröhlich, weil sie auf keinen Fall wollte, dass Mary Jane ihr anbot, sie dort hinzufahren. »Ich kann den Bus nehmen und den Wagen abholen.«

Zu spät!

Mary Jane sprudelte nur so über vor Hilfsbereitschaft. »Kein Problem. Ich kann dich nach Bradford on Avon fahren.« Ihre Stimme schallte laut durch den Empfangsbereich. Alle Gäste, die sich gerade hier aufhielten, würden denken, was das doch für ein freundliches Angebot sei. Das beruhte allerdings auf völliger Unkenntnis der Sachlage. Denn die Leute konnten ja nicht wissen, wie es um Mary Janes Fahrkünste stand.

»Großmutter hat mich gebeten, dir zu sagen, dass sie und Stewart um neun kommen. Bis dahin bist du längst wieder hier«, fügte Lindsey noch lächelnd hinzu, und ihre Augen funkelten schelmisch.

»Genau, ich fahre doppelt so schnell wie sonst«, konstatierte Mary Jane.

»Das hatte ich befürchtet«, murmelte Honey.

Dominic Christiansen beglückwünschte sich innerlich. Honey Driver war schnurgerade in die Falle gelaufen, wenn sie das auch nicht wissen konnte. Er hatte es gleichfalls zunächst nicht gewusst, bis er die Nachricht bekommen hatte, die all seine schlimmsten Befürchtungen bestätigte. Der Tarotmann war im Land, und die Geheimdienste wollten ihn um jeden Preis dingfest machen.

Honey Driver hatte natürlich bestimmt noch nie etwas von ihm gehört. Aber dessen und ihre Familie hatten eine gemeinsame Geschichte, eine blutige, grausame Geschichte, die sich vom Vater auf den Sohn vererbt hatte.

Die Geheimdienste waren sich ziemlich sicher, dass der Tarotmann gekommen war, um Rache zu nehmen. Seine Arbeitsweise war ihnen bereits bekannt. Man wusste um seine Vorliebe, junge Frauen zu töten, indem er sie bei lebendigem Leib begrub. Mord war sein Hobby; die Rache an denen, die er für das Schicksal seines Vaters verantwortlich machte, war ihm zur Besessenheit geworden.

Ihn zu fangen, das war das große Problem. Sie konnten ihn nicht daran hindern, weiterhin junge Frauen zu ermorden, denn man konnte nie wissen, auf welches Opfer er sich als Nächstes stürzen würde. Aber man wusste, wen er in seiner professionellen Rachekampagne im Visier hatte. Es hatte sich für ihn eine Gelegenheit ergeben, nach England zu kommen, und er hatte sie ergriffen. Nun warteten alle darauf, dass er erneut zuschlug. Der Mann am Bahndamm war nur ein Probelauf. Aber die Dienste hatten nicht schnell genug gehandelt, um den Mörder zu ergreifen. Also musste man einen weiteren Versuch unternehmen.

Und hier kam Honey Driver ins Spiel. Das wusste sie natürlich nicht. Man würde es ihr auch nicht sagen. Das würde den Diensten ihre Aufgabe erleichtern. Da war man sich einig. Honey war der Köder, und die Falle war gestellt. Jetzt musste man nur noch abwarten, dass der Tarotmann in die Falle ging.

Kapitel3

Honey hatte schon immer ein strahlend gelbes Auto haben wollen. Nachdem ihr alter Citroën das Zeitliche gesegnet hatte, kaufte sie sich also sofort einen neuen. Einen gelben. Immer noch einen Citroën, aber wesentlich schnittiger als das alte Modell.

Sie liebte dieses Auto. Sie würde es noch mehr lieben, sobald sie wieder sicher am Steuer ihres eigenen Wagens saß.

Die Fahrt von Bath nach Bradford on Avon verflog in einem Wirbel der Geschwindigkeit, mit haarsträubendem Schalten und noch haarsträubenderen Bremsmanövern, jeweils begleitet vom Quietschen der Reifen.

»Soll ich noch bleiben, damit wir sicher sind, dass er auch wirklich anspringt?« Mary Jane verströmte aus allen Poren Aufrichtigkeit. Sie hatte absolut keine Ahnung von der verheerenden Wirkung, die ihre Fahrkünste auf den Rest der Menschheit hatten.

Honey hielt sich am Chassis des Caddys fest, bis sie ihre wackeligen Beine wieder halbwegs unter Kontrolle hatte, und lehnte dieses Angebot dankend ab. »Der Wagen ist neu. Das geht schon.«

Und selbst wenn der Wagen nicht anspringen sollte, würde sie lieber in einen Bus steigen oder sogar zu Fuß gehen, als noch eine Fahrt in Mary Janes rosa Cadillac Coupé durchzustehen. Mary Jane hatte ihr einmal erklärt, das Wort Cadillac und übrigens auch das Wort Pontiac seien Namen von Indianerhäuptlingen gewesen.

»Von richtig wilden Kerlen«, hatte Mary Jane ihr versichert. »Ich wünschte, ich hätte die kennenlernen können. Was meinst du, wie gefällt es denen wohl, dass Autos nach ihnen benannt sind?«

Honey hatte die wohlüberlegte Ansicht geäußert, die beiden tapferen Indianerhäuptlinge hätten das wahrscheinlich nicht schlecht gefunden. Das Erlebnis, von Mary Jane im Auto mitgenommen zu werden, war eine ganz andere Sache, und wahrscheinlich hätte sie auch die beiden Häuptlinge an den Rand des Nervenzusammenbruchs gebracht.

Als Honey auf dem Fahrersitz ihres Wagens Platz genommen hatte, schloss sie erst einmal die Augen und holte tief Luft. Dann schlug sie sie vorsichtig auf, um sich wieder ans Sehen zu gewöhnen. Denn wenn man mit Mary Jane fuhr, kniff man besser die Augen fest zu.

Sobald Honey das Auto wohlbehalten in die Stadt zurückgefahren und an seinem angestammten Platz im Parkhaus abgestellt hatte, verspürte sie ungeheure Erleichterung und gleich darauf die Verpflichtung, bei Casper vorbeizuschauen und sich zu erkundigen, wie es ihm ging, jetzt da alle wussten, dass er nicht tot war.

Er saß auf einem schönen, in einem weichen Kornblumenblau bezogenen Lehnstuhl an seinem Schreibtisch. Er sah noch ziemlich käsig aus, beinahe als hätte auch er ein Gespenst gesehen.

»Ich bin gerade aus Bradford on Avon zurück und habe mir gedacht, ich spring mal schnell vorbei und schaue nach Ihnen. Soll ich lieber später wiederkommen?«

Er schüttelte den Kopf. Ohne auf eine Einladung zu warten, setzte sie sich hin.

Casper holte tief Luft und schien mühsam seine Selbstbeherrschung wiederzuerlangen. Er musterte sie mit seinen schlauen Augen so intensiv, dass sie das Gefühl hatte, zwei Stahlzangen hätten sie im Griff.

»Was haben Sie rausgefunden?«

Sie sammelte ihre Gedanken.

»Ich bin dahin gegangen, wo man den Mann entdeckt hat. An der Stelle verläuft die Gleisstrecke beinahe parallel zum Fluss, und es gibt weder einen Zaun noch einen beschrankten Bahnübergang. Da überquert jeder einfach irgendwie die Gleise. Allerdings hat es der Tote, den sie da gefunden haben, nicht bis auf die andere Seite geschafft. Er lag im Schlamm begraben. Ich weiß nicht, wann das passiert ist, aber es hat in letzter Zeit sehr viel geregnet, und dann hatte man dort die Büsche und Bäume sehr stark beschnitten, also ist offenbar die Böschung unterspült worden und er abgerutscht. So wie ich es sehe, hat ihn der Schlamm erwischt und mitgeschleift.«

»Es freut mich, dass Ihr Freund bei der Polizei von Wiltshire so hilfreich gewesen ist.«

Honey spürte, wie sie errötete. Sie würde jetzt auf keinen Fall erklären, dass es nicht Dohertys alter Freund war, der ihr die Einzelheiten berichtet hatte. Dominic war beim Mittagessen im Swan recht mitteilsam gewesen.