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Mord auf dem Wunschzettel? Wenige Tage vor Weihnachten wird der Besitzer eines kleinen Verlags tot aufgefunden, erstochen mit dem eigenen Brieföffner. Zur großen Weihnachtsparty, die er für seine Angestellten in Honeys Hotel ausrichten ließ, ist er schon nicht mehr erschienen. Aber wer hatte ein Motiv, den eigenbrötlerischen Verleger zu töten? Ausgerechnet mitten in den Vorbereitungen für die Feiertage müssen Honey Driver und Chief Inspector Steve Doherty nun ermitteln. „Skurrile Handlung und viel britischer Humor.“ Brigitte „Eine moderne Miss Marple in bester britischer Krimitradition.“ Für Sie
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Seitenzahl: 407
Jean G. Goodhind
Mord zur Bescherung
Honey Driver ermittelt
Kriminalroman
Aus dem Englischenvon Ulrike Seeberger
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
The Ghost of Christmas Past
Mit einer Nachbemerkung über
Weihnachten in England
von Ulrike Seeberger
ISBN 978-3-8412-0484-4
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Oktober 2012
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die deutsche Erstausgabe erschien 2012 bei Aufbau
Taschenbuch, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
Copyright © by Jean Goodhind 2011
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Maine, USA.
Die Lautsprecher im Gefängnis plärrten Weihnachtslieder, und zwei Wärter waren damit beschäftigt, einen aufblasbaren Weihnachtsmann hinter einem eisernen Gitter aufzustellen.
Professor Jake Truebody hüstelte, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Widerwillig kam einer der beiden über den Hof auf ihn zu.
»Was ist los, Doc?«
»Einer meiner Aktenordner ist verschwunden.«
»Das tut mir leid, Professor. War was Wichtiges drin?«
Auf einer Skala von eins bis zehn hatte die Reaktion des Wärters eine dicke fette Null erreicht. Waffen – das heißt alle scharfen Gegenstände mit einer Spitze, die brachten acht bis zehn. Hereingeschmuggelte Dinge wie Drogen, Mobiltelefone oder Schnaps irgendwas zwischen sechs und sieben. Die Unterlagen eines Professors, der nur ab und zu hier auftauchte, erzielten etwa den gleichen Wert wie ein Paar sechs Jahre alte Sportschuhe oder ein ausgeleierter Slip. Null.
Der Professor versuchte seine Ungeduld zu zähmen. »Für mich schon. Es war ein wichtiger privater Brief drin, der auf die Post muss, und dann waren da noch einige Notizen für den Geschichtskurs. Die Gefangenen haben sich darauf gefreut.«
Die Miene des Wärters verzog sich leicht. Ernsthaftes Interesse kämpfte mit Belustigung. Die Belustigung siegte.
Grinsend sagte er: »Ich hoffe, es ist nichts zu Blutrünstiges, Professor. Sie wissen doch, wie sehr der Direktor darauf bedacht ist, unsere Insassen vor zu viel Blut und Horror zu beschützen. Tom und Jerry stehen schon auf der schwarzen Liste, und im Augenblick überlegt er, ob bei Schneewittchen und den Sieben Zwergen nicht zu viele sexuelle Untertöne mitschwingen.«
Der Wärter schaute zu seinem Kollegen und zwinkerte ihm listig zu. Beide grinsten.
Jake Truebody blinzelte nervös, ehe er kapierte, dass der Mann nur Witze machte. Scherze gehörten in dem großen Gefängnis, wo der Professor einen Geschichtskurs abhielt, einfach dazu. Jeder machte Witze; die Gefangenen, die Wärter, die Lehrkräfte, die allesamt von draußen kamen, das medizinische Personal, sogar der Direktor. So wurden sie besser damit fertig, immer mit den gleichen Gefangenen zu tun zu haben, mit der gleichen Hoffnungslosigkeit, jahrein, jahraus.
Sobald er begriffen hatte, dass der Wärter nur gescherzt hatte, rang sich Professor Jake Truebody ein kleines, schmallippiges Lächeln ab. Die Gefängnisumgebung war ohnehin deprimierend, und der hemdsärmelige Humor der Bewacher half ihm auch nicht darüber hinweg. Er war ein Mann mit einem ausgeprägten sozialen Gewissen und nahm alles, was er hier tat, sehr ernst. Indem er einen Geschichtskurs für eine Gruppe Lebenslänglicher abhielt, leistete er seiner Meinung nach etwas Wichtiges für die Gesellschaft. Zwei Stunden pro Woche, mehr waren bei seinem Vorlesungsprogramm an der Uni und seinem vollen Terminkalender nicht drin. Die Wärter waren jeden Tag hier; ein wenig Spaß und Leichtherzigkeit half ihnen, das auszuhalten. Dem Professor lagen Witze nicht. Ihm war auch nicht immer klar, ob jemand einen Scherz gemacht hatte oder nicht.
Er nahm den Kommentar des Wärters ernster, als er gemeint gewesen war.
»Ich habe mir große Mühe bei der Auswahl der Themen gegeben. Keine blutigen Sachen, nur spannende Einzelheiten zu interessanten Epochen. Kürzlich haben wir uns herausragende Frauen in der Geschichte vorgenommen«, erklärte der Professor mit seiner üblichen Begeisterung für das Thema, das er liebte.
»Sie haben sich die Damen vorgenommen?«
»Natürlich im übertragenen Wortsinn«, erwiderte Truebody und errötete vom Hals bis zu den Haarwurzeln.
Der Wärter, der zweideutige Bemerkungen liebte, aber Geschichte für Blödsinn hielt, zog die buschigen Augenbrauen in gespielter Besorgnis in die Höhe. »Ich hoffe, das war nicht zu sexy, Professor. Der Direktor hat sehr …«
»Ja, ja, ich weiß, der Direktor hat etwas gegen einen Lehrplan mit zu viel Sex. Daran halte ich mich natürlich. Es waren übrigens auch einige persönliche Unterlagen bei meinen Vorlesungsnotizen in dem Ordner. Ich habe einen kurzen Abriss meines Lebens verfasst und einen Familienstammbaum aufgezeichnet. Dabei sind einige Überraschungen aufgetaucht, die weitere Nachforschung verdienen würden. Ich hätte also die Papiere wirklich sehr gern zurück. Sie halten also bitte die Augen offen?«
»Darauf können Sie wetten.«
Sobald der Professor ihm den Rücken zugewandt hatte, verzog der Wärter den Mund zu einem zynischen Grinsen. Warum um alles in der Welt sollte es sich ein Gefangener antun, die Unterlagen eines Professors zu klauen, der hier Kurse abhielt?
»Sind ja keine Aktien oder ein Mobiltelefon«, erzählte er später einem Kollegen, als sie zusammen Dienst taten. »Seid ihr mit dem Weihnachtsmann fertig?«
Sein Kollege versicherte ihm, der Weihnachtsmann sitze fest hinter den nachgebildeten Fenstergittern. »Der kommt da so schnell nicht wieder raus. Aber jetzt machen wir besser hier weiter.«
Lametta und Weihnachtskugeln wurden zur Seite geräumt, und es ging an die Schreibarbeit. Heute durften gleich zwei Gefangene in die Freiheit, weil es nicht mehr lange bis Weihnachten war. Einer von ihnen hatte mit irgendeinem juristischen Trick seine vorzeitige Freilassung erwirkt. Er war der zweite an diesem Tag. Der erste hatte bereits vor zwei Stunden gehen dürfen. Es war keine gute Idee, die Leute in Gruppen aus dem Gefängnis zu entlassen. Zwei bildeten bereits ein Team. Gleich und gleich gesellt sich gern, aber wenn gleich und gleich zwei Ex-Knackis waren, dann barg das gewisse Gefahren, fand jedenfalls der Gefängnisdirektor, der sich für supergescheit hielt, wenn es um die Einschätzung Krimineller ging.
»Frohe Weihnachten«, riefen die Wärter hinter dem zweiten entlassenen Häftling dieses Tages her.
Der drehte sich nur um und zeigte ihnen den Stinkefinger.
Die Wärter lachten.
Sie bildeten sich beide ein, ihre Schützlinge gut zu kennen, sogar sehr gut.
»Unterlagen über Geschichte. Welcher Trottel würde denn Notizen zur Geschichte oder den Stammbaum des Professors haben wollen? Ein bisschen Heroin oder eine Flasche Schnaps, okay, das ist schon was anderes.«
Die beiden lachten über die Naivität des Mannes und wandten sich wieder ihren Aufgaben zu, in dem sicheren Wissen, dass sie die Menschen und ihr Verhalten besser kannten.
Es hatte den ganzen Tag nach Schnee ausgesehen. Nun wehte das atlantische Tief einen eisigen Regen, der frisch und beißend nach Meer und Salz roch, vor sich her an die Küste. Es war früh dunkel geworden. Beladen mit dem verbliebenen Rest seiner Papiere, privater und nicht privater, rannte Professor Truebody zu seinem Auto, stapelte alles auf den Beifahrersitz und ließ heulend den Motor an.
Alle vernünftigen Leute waren auf dem Heimweg, froh, dass es nur noch zwei Wochen bis Weihnachten waren. Die ganz Vernünftigen waren schon zu Hause, geschützt vor dem aufziehenden Schneesturm und der frühen Dunkelheit. Die Nacht war finster, und die Straßen waren nass. Er fuhr also schön langsam, während er über seine Reise nach Europa nachdachte.
Er lächelte vor sich hin. »Jake, du bist ein Glückspilz.«
Das Licht seiner Scheinwerfer fiel auf eine einsame Gestalt, die an der Bushaltestelle nur etwa zweihundert Meter vom Gefängnis entfernt stand. Es war ein hoch aufgeschossener Mann, der ein Bündel unter dem Arm trug. Das Gesicht, das geradewegs ins Licht blinzelte, kam Jake bekannt vor. Der Mann war ein Gefangener und eifriger Besucher seines Geschichtskurses gewesen.
Jake summte »God Rest Ye Merry Gentlemen« und fühlte sich gut. Richtig gut.
Er hielt an und fragte den Ex-Knacki, ob er ihn irgendwohin mitnehmen könnte.
»Ich glaube, ich weiß, wohin Sie wollen. Ich fahre Sie dahin. Dann müssen Sie nicht hier an der Haltestelle bis auf die Haut nass werden«, sagte er und verströmte aus jeder Pore Menschenfreundlichkeit.
Eine Bö fuhr zur offenen Wagentür herein, als der Mann einstieg, und wirbelte die Papiere im Auto herum.
Dahin – das war das Rehabilitationszentrum, in dem die meisten Ex-Gefangenen landeten, während sie noch auf Bewährung frei waren. Er überlegte, dass dieser Typ keine Ausnahme bildete, obwohl er den Anschein vermittelte, sich wirklich gebessert zu haben.
»Was für ein Mistwetter«, fügte er noch hinzu.
Der eben entlassene Sträfling nickte nur mit weit aufgerissenen Augen und seinem bleichen Gefängnisgesicht, das ab und zu von den Scheinwerfern der entgegenkommenden Autos in ein gespenstisches Licht getaucht wurde.
Der Professor verspürte zu gleichen Teilen Mitleid und Beglückung, während er beobachtete, wie der Mann auf die bunten Weihnachtslichter, die Plastikschneemänner und beleuchteten Rentiere schaute, die vom Wind und Regen gepeitscht wurden – bisher war keine einzige Schneeflocke in Sicht.
Jakes Begeisterung für sein Fach und seine Besorgnis um die weniger vom Glück begünstigten Menschen gingen mit ihm durch.
»Sehen Sie mal, ich habe bemerkt, dass Sie in den meisten meiner Geschichtskurse waren und dass Sie sich sehr für Ahnenforschung interessieren.«
»Klar doch. Gut zu wissen, wo du herkommst, wer dein Papa war und so Zeugs.«
»Das ist es ganz bestimmt«, sagte der Professor. Er hielt inne, und seine Gedanken wanderten wieder zu den Forschungen, die er zu seiner eigenen Familiengeschichte betrieben hatte.
»Wissen Sie, wo Sie herkommen, Professor?«
»Ja. Es hat mich einige Anstrengungen gekostet, aber es hat sich gelohnt. Wenn Sie sich auch draußen weiter mit diesem Thema beschäftigen möchten, vielleicht sogar studieren und einen Abschluss machen …?«
Der Mann hieß Wes Patterson, meinte sich Jake zu erinnern. Jetzt schaute er ihn an.
»Vielleicht schon.«
»Nun, wenn Sie sonst nichts vorhaben …«
Jetzt tobte der Sturm noch wilder, peitschte Wasser und von den Bäumen gerissene Äste über die Straße. Inzwischen war der Regen in einen heftigen Schneeregen übergegangen, und die Graupeln prasselten gegen die Windschutzscheibe.
Der Wagen kam ins Schleudern.
»O Gott, das war knapp«, japste der Professor atemlos. Das Herz pochte ihm in der Brust, und ihm stand der Schweiß auf der Stirn.
Vor ihnen war die Straße gesperrt, und die Polizei hielt den Verkehr an, leitete die wenigen Autos, die noch unterwegs waren, nach rechts um. Das Rehabilitationszentrum für Ex-Strafgefangene lag geradeaus. Jake Truebody bog ab, wie die Polizei ihn angewiesen hatte.
»Mistwetter für die Jahreszeit. Weihnachten sollten wir richtigen Schnee haben«, sagte er, sobald er sich wieder ein bisschen beruhigt hatte.
Wes Patterson stimmte ihm zu. »Wirklich schlimm, dieser Sturm. Soll wohl noch schlimmer werden, habe ich gehört.«
Diese Aussicht schien ihn zu erfreuen. Der Professor meinte festzustellen, dass der ehemalige Gast der staatlichen Gefängnisbehörde langsam etwas auftaute. Es war ja keine Überraschung, dass Leute, die lange eingesperrt waren, zunächst nach der Freilassung ein wenig schüchtern waren. Bisher hatte das Gefängnis alles für sie gemacht. Sich wieder ans freie Leben zu gewöhnen, das war keine leichte Aufgabe. Es war, als hätte man eine schützende Decke verloren. Plötzlich musste man wieder selbst denken und sich unter die anständigen Menschen mischen.
»Ich glaube, wir schaffen es heute nicht, Sie ins Rehabilitationszentrum zu bringen«, sagte der Professor. »Es wird wohl das Beste sein, wenn wir jetzt zu mir nach Hause fahren. Sie können da übernachten. Ich rufe noch heute Abend oder morgen früh im Reha-Zentrum an und erkläre, was das Problem war – obwohl die das eigentlich selbst sehen müssten, wenn sie aus dem Fenster schauen«, fügte er trocken hinzu.
Der athletische Mann, der neben ihm saß, schien vor Erleichterung zu seufzen. »Wie Sie meinen, Professor. Ich bin mir sicher, dass wir es bei Ihnen zu Hause sehr bequem haben werden.«
»Vielleicht können wir über Ihre weiteren Pläne bezüglich Ihrer Geschichtsstudien sprechen«, sagte Jake fröhlich und bemerkte, dass der Mann gesagt hatte, dass »wir es bei Ihnen zu Hause sehr bequem haben werden«.
»Ganz bestimmt können wir das«, sagte Wes. »Und Ihr Interesse weiß ich wirklich sehr zu schätzen. Ich glaube, mir würde am besten frühe amerikanische Geschichte gefallen. Ich interessiere mich besonders für die ersten Siedler und ihre Beziehung zu den Indianern, auf die sie trafen.«
Der Professor nickte. Der Mann fand sich zurecht, gewann sein Selbstbewusstsein zurück.
»Eine gute Wahl. Eine sehr gute Wahl.«
Jake Truebody schwoll vor Zufriedenheit an. Im Gefängnis hatten sie Wes Patterson »Die Legende« genannt. Andere hatten gedacht, dass es etwas mit seinem Verbrechen und der Art und Weise zu tun hatte, wie er die juristischen Aspekte seines Falls gehandhabt hatte. Er hatte einen Verfahrensfehler gefunden, der nicht einmal seinem Verteidiger aufgefallen war.
Jake hing eher der Ansicht an, dass der Spitzname von dem Interesse herrührte, das Wes der Geschichte entgegenbrachte.
»Sie werden damit wunderbar klarkommen, Wes.«
»Wirklich?«
»Ich garantiere Ihnen, Sie werden nicht mehr rückfällig werden.«
»Ach ja?«
Der Mann schien ihm nicht zu glauben. Aber Jake war sich sicher. Wes Patterson würde nie wieder ein Verbrechen begehen.
Wes Patterson jedenfalls war klar, dass er das richtige Thema angesprochen hatte. Sein Freund Sheldon hatte ihm das geraten. Sheldon wusste sehr viel über Geschichte, obwohl er nicht ganz richtig im Kopf war. Jeder, der sich für die Reinkarnation eines längst verstorbenen Indianers hielt, musste doch eine Schraube locker haben, oder nicht? Na ja, es war nicht immer ein Indianer. Manchmal waren es andere Leute, historische Persönlichkeiten, von denen Wes noch nie etwas gehört hatte. Manchmal war Sheldon auch ein Vampir oder ein Gespenst; er interessierte sich zudem für das Paranormale, nicht nur für Geschichte, und sie waren prima Kumpels gewesen. Das war das Beste daran.
Das Wetter wurde nicht besser. Äste und rollende Mülleimer wurden vom Sturm die Straßen entlanggetrieben, als wären es Papierschnitzel. Keine Menschenseele war zu sehen, kein Hund, keine Katze, kein Vogel.
Professor Truebody schaute vorsichtig durch die Windschutzscheibe seines japanischen Autos, war auf alles gefasst, würde jedes Problem angehen, das sich ihm auf der Fahrbahn entgegenstellte. In der Straße, wo er wohnte, war nirgends Licht.
»Sieht ganz so aus, als hätten wir keinen Strom«, sagte der Professor überflüssigerweise, während er in seine Einfahrt einbog.
Er hielt eine Sekunde inne, die Hand schon am Türgriff, während er auf den dunklen Umriss seines Hauses schaute. Plötzlich blitzte in einem Fenster eine Taschenlampe auf und war sofort wieder verschwunden.
»Stimmt was nicht, Professor?«
Jake kniff die Augen zusammen. Jetzt war kein Licht mehr zu sehen. Alles war dunkel.
»Ich dachte, ich hätte drinnen Licht gesehen. Das muss ich mir eingebildet haben.«
Seine Papiere fest unter den Arm geklemmt, während die dicke Aktentasche ihm gegen das Bein schlug, machte sich Jake Truebody auf den Weg zu seiner Haustür, schloss sie auf und trat ins Dunkel. Wes Patterson folgte ihm und konnte sein Glück nicht fassen.
Auf der anderen Seite des Atlantiks in der Stadt Bath war das Wetter eiskalt. Der Raureif hatte sich wie Zuckerguss auf die Mansardendächer der Gebäude aus dem 18. Jahrhundert gelegt. Jede Nacht wurde die Schicht, die tagsüber nicht abtaute, ein kleines bisschen dicker. Es sah nach Schnee aus.
Honey Driver kaufte ein und war nur mit sich und ihrer Geschenkeliste beschäftigt. Aber das sollte nicht lange so bleiben.
»Der ist es! Der war’s, der den Rentieren die roten Nasen angeklebt hat! Ich habe eine in seiner Tasche gesehen!«, rief jemand.
Überraschte Aufschreie ringsum, weiße Atemwolken standen vor offenen Mündern.
»Haltet ihn!«, brüllte jemand anders.
Honey Driver wirbelte herum. Als Verbindungsperson zwischen dem Hotelfachverband und der Kripo hatte sie zwar sonst mit Vandalismus nichts zu tun, aber jetzt war sie eben zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Die Anschuldigung hatte den jungen Mann sehr erschreckt, der neben einem der Glasfaser-Rentiere stand.
»Keine Bewegung!«, brüllte Honey und bereute das, sobald sie es gesagt hatte, denn der Typ war größer als sie. Sie brauchte Unterstützung. Mit großem Schwung zog sie aus ihrer Einkaufstasche das Baguette, das sie gerade gekauft hatte, und schwenkte es wie einen Baseballschläger über dem Kopf.
Der junge Mann mit der halb geöffneten Sporttasche warf einen Blick auf sie und rannte weg.
»He! Komm sofort zurück!« Honey jagte ihm hinterher. Zum Glück trug sie flache Stiefel. Mit Absätzen hätte sie das nie im Leben geschafft.
Überall in der Stadt hatten die Leute Tag für Tag das Gleiche entdeckt: Über Nacht hatte jemand den Glasfaser-Rentieren, die man ringsum aufgestellt hatte, rote Nasen angeklebt. Schlimmer noch, sie waren mit Sekundenkleber befestigt und nur mit größter Mühe wieder zu entfernen. Die Verbreitung der roten Nasen hatte im Bath Chronicle und in der Western Daily Press Schlagzeilen gemacht. Die Rentiere waren Teil einer Spendensammelaktion. Sie waren etwas über einen Meter hoch und von VIPs und Künstlern verziert worden. Nun standen sie überall in der Stadt herum: an den Eingängen zu den Parks, an irgendwelchen Geländern und an beiden Enden des Royal Crescent.
Der Artikel auf der Titelseite des Bath Chronicle deutete an, dass jemand genau wusste, wer hinter diesen üblen Streichen steckte, und die Täter schützte.
Wenn ich ihn erwische, komme ich auch auf die Titelseite, überlegte Honey, während sie dem jungen Mann durch eine Geschäftsarkade hinterhersprintete, die eine Hauptstraße mit der anderen verband. Beim Anblick ihrer hoch über den Kopf erhobenen Baguette-Waffe gaben ihr die einkaufenden Menschen schnell die Bahn frei.
Der Verfolgte flitzte auf das elegante Wellness-Zentrum der Stadt zu, das man erst kürzlich umfassend renoviert hatte. Von dem Whirlpool oben auf dem Dach konnte man die ganze Stadt überblicken. Der junge Mann bog um eine Ecke, wo sich früher eine schmale Durchgangsgasse befunden hatte – die nun aber zu seinem Pech zur Sackgasse geworden war.
Honey prallte gegen ihn.
Das verschlug ihm den Atem, die Knie wurden ihm weich, und er sackte gegen eine Mauer.
»Nicht schlagen!«
Er hatte die Arme schützend über den Kopf gehoben. Seine Augen waren auf das Baguette gerichtet.
Das Brot blieb jedoch nur noch ein paar Sekunden aufrecht in der Luft, ehe es in der Mitte durchbrach und eine Hälfte nur noch traurig zur Seite hing.
Der junge Mann schaute überrascht. Sein Mund stand vor Staunen offen.
Honey strahlte triumphierend. »Hab ich dich erwischt, Bürschchen!«
»Nur nichts umkommen lassen«, murmelte sie vor sich hin, brach das Weißbrot endgültig in zwei Hälften und verstaute diese in ihrer Einkaufstasche.
Der junge Mann war wie versteinert.
»Was wollen Sie?«
Er hatte große braune Augen und lange Wimpern und erinnerte sie ein bisschen an einen Spaniel. Sie hatte eine Schwäche für Spaniels, konnte sich aber gerade noch zurückhalten, ehe sie ihm den Kopf tätschelte.
»Dich! Ich will dich!«
»Sie sind ja verrückt!«
Honey war außer Atem, aber auch wirklich high. Sie konnte die Schlagzeile schon vor sich sehen: »HOTELBESITZERIN SCHNAPPT DEN VANDALEN MIT DEN ROTEN NASEN.«
Erst einmal brauchte sie sein Geständnis. Jemand hatte doch gerufen, dass er eine rote Plastiknase in der Sporttasche gesehen hatte, die der junge Mann bei sich trug. Außerdem hatte er sich mit einem Arm lässig an eines der Rentiere gelehnt, ehe er – zweifellos – seine üble Tat begehen wollte. Die Tasche mit dem Beweisstück lag zu seinen Füßen.
»Zeig’s mir«, forderte sie ihn auf und drückte ihn mit einem Arm an die Wand.
Er starrte sie an. »Keine Chance! Von Frauen wie Ihnen habe ich schon gehört.«
»Ach ja?«
»O ja. Alte Mädels, die hinter jungen Männern herrennen und scharf auf ihren Körper sind. Pervers, das sind Sie!«
Da war endlich der Groschen gefallen. Der Idiot glaubte, dass sie einen Blick auf sein bestes Stück werfen wollte!
»Träum weiter! Und das mit dem alten Mädel kannst du auch vergessen. Ich hab dich eingeholt, oder nicht? Also, jetzt zur Sache! Du hast eine rote Nase in deiner Tasche da unten. Ein Passant hat sie gesehen.«
»Nein, das ist keine rote Nase!«
»Ich nehme an, jetzt willst du mir gleich weismachen, dass du nicht der Mistkerl bist, der rote Nasen an all die Rentiere geklebt hat, Rentiere, die übrigens verkauft werden sollen, um Geld für wohltätige Zwecke einzubringen!«
»Nein, das bin ich wirklich nicht. Ich bin Installateur.«
»Beweis es mir!«
Er schaute sie misstrauisch an, beugte sich nach unten, zog den Reißverschluss seiner Tasche auf und brachte einen Schwimmer zum Vorschein, eines dieser kugelförmigen Dinger, die an einer Stange hängen und im Wasserkasten einer Toilette die Wasserzufuhr steuern. Es war ein roter Schwimmer.
In der Tasche befanden sich auch noch Werkzeuge, Klebeband, Messingteile, alles Dinge, die ein Installateur benutzte. Von roten Nasen keine Spur.
Honey kaute auf der Unterlippe herum. Mein Gott, wie peinlich! Das Ding war eindeutig ein Schwimmer und keine rote Nase. Sie fühlte sich zu Wiedergutmachung verpflichtet.
»Ähm«, begann sie mit leichtem Zögern. »Also. Ich habe in der Damentoilette in meinem Hotel ein Klo, das ein kleines Leck hat. Könnten Sie vielleicht mal bei mir vorbeischauen? Ich zahle Spitzensätze.« Das war das mindeste, was sie tun konnte.
Der junge Installateur zog rasch den Reißverschluss seiner Tasche wieder zu. Was er als Nächstes sagte, war kurz und knapp und kam von Herzen. Und mit diesem kernigen Fluch war er auch schon verschwunden.
Honey erzählte all das Mary Jane, die ihr gerade die Haare mit Colorierung in einer subtilen Schattierung von Kastanienbraun einstrich. Zumindest hatte Mary Jane ihr versichert, dass es Kastanienbraun war, ob es auch subtil war, würde sich noch herausstellen.
Als Dauergast im Green River Hotel gehörte die alte Dame, die in Kalifornien Professorin für das Paranormale gewesen war, inzwischen beinahe zur Familie. Über ihre Zwiegespräche mit Gespenstern, ihr rosa Cadillac-Coupé und ihre schrillbunte Kleidung wunderte sich schon längst niemand mehr.
Mary Jane war der Meinung, dass die roten Nasen den Rentieren ein gewisses Etwas verliehen.
»Die hätten ohnehin rote Nasen haben sollen. Um diese Jahreszeit sollten das alle Rentiere haben.«
»Ich frage mich, wo er die herkriegt. Der muss doch ein ganzes Lager voll besitzen.«
»Völlig egal, wo er die herkriegt. Meiner Meinung nach befestigt er sie an der richtigen Stelle.«
Honey fing an, das Lied von Rudolf Rotnase zu trällern. Sie war in bester Feststimmung – bis Mary Jane ihr das Handtuch vom Kopf nahm.
»Arrgh!«
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