Mörderdorf - Marc Palmer - E-Book

Mörderdorf E-Book

Marc Palmer

4,5

Beschreibung

"Hintersee", ein idyllisches Alpendorf, Ende der 90er-Jahre. Hier gab es noch nie ein schlimmes Verbrechen, bis eine alte Frau ermordet wird. Um den jungen Dorfpolizisten zu unterstützen, quartiert sich eine Soko der Kripo Kempten im Dorf ein. Doch das Morden geht weiter, scheinbar ohne Motiv. Und auch der Soko-Leiter, Hauptkommissar Höness, steht auf der Abschussliste. Er gerät in einen Strudel aus Verrat, Wahnsinn und Bösartigkeit, denn einige Bewohner hüten ein furchtbares Geheimnis.

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Zum Autor:

„Marc Palmer“ ist das Pseudonym eines Allgäuer Autors. Er hat in den letzten vier Jahren, drei Wanderbücher und mehrere Krimis veröffentlicht. „Mörderdorf“ ist sein aktuellster Thriller. Für Sommer 2016 ist ein weiteres Wanderbuch geplant, mit dem Titel „Magische Moore“. Anfang 2017 ein weiterer Kriminalroman (nach wahren Begebenheiten), mit dem Titel „Kinderschänder“.

Bisherige Titel von ihm:

Spurlos, Höllentrip nach Prag, Teufel im Kopf, Kalinka - das tote Mädchen vom Bodensee, Zürich außer Kontrolle.

Unter seinem richtigen Namen:

Zauberhafte Bergseen (1 +2), Barfuss durch das Allgäu, Blutroter Chiemsee, Verfluchter Schrecksee, Paranoid.

Vorwort zum Roman:

„Mörderdorf“ ist ein fiktiver Thriller. Die Geschichte und die Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen wären rein zufällig. Die Gemeinde „Hintersee“ gibt es im Allgäu nicht. Sie wurde aber „angesiedelt“ im Oberallgäu. Einer der Ortsteile von Bad Hindelang heißt Hinterstein, in dem es gewisse Parallelen zu „Hintersee“ gibt. In dem Kurort Bad Hindelang gibt es schon seit vielen Jahren keine Polizeistation mehr, geschweige denn einen Polizeiposten. Einige Verlage, Orts- und Straßennamen, Zeitungstitel und Kliniken sind ebenfalls erfunden oder wurden umbenannt. In Neutrauchburg, einem Ortsteil der Stadt Isny, gibt es mehrere Kliniken, unter anderem auch eine psychosomatische, die ebenfalls umbenannt wurde. Der Roman spielt ausschließlich in „Hintersee“ und der näheren Umgebung des Allgäus.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Sie hat`s gewusst!

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

PROLOG

Hintersee, Ende der Neunzigerjahre.

Brunhilde Besler erwachte von dem gleißend hellen Lichtstrahl, den sie seit Jahren mit Furcht aber auch mit einer gewissen Sehnsucht erwartet hatte.

Endlich, dachte sie, ich sterbe. Und Tränen der Trauer mischten sich auf ihren Wangen mit Freudentränen. Seit ihrem Sturz hatte sie hier - oder an einem ganz ähnlichen Ort - schlaff und bewegungsunfähig gelegen und war selbst für ihre grundlegendsten Bedürfnisse auf andere angewiesen. Nahrung, Wasser, Wärme. Die Toilette - etwas, das die Schwestern handhabten, als sei Brunhildes Würde gelähmt und gefühllos, nicht ihr Körper. Gesellschaft… Die Schwestern gaben sich redlich Mühe.

„Guten Morgen, Brunhilde! Was für ein schöner Tag!“

„Guten Morgen, Brunhilde! Gut geschlafen?“

„Guten Morgen, Brunhilde! Es regnet schon wieder!“

Und dann ging ihnen entweder jeglicher Gesprächsstoff aus, oder sie plapperten munter weiter. Wie sie neulich abends unterwegs gewesen seien und zu tief ins Glas geschaut hätten, oder welche endlosen Heldentaten ihre Kinder in der Schule vollbrächten. Ein erbarmungsloser Reigen fröhlicher Geschäftigkeit mit großem Busen und schwabbeligen Oberarmen. Zuerst hatte sie sich darüber gefreut, dass das Schweigen hin und wieder gebrochen wurde, doch angesichts dümmlicher Nichtigkeiten sehnte Brunhilde sich schon sehr bald danach, allein zu sein. Sie war dankbar. Selbstverständlich war sie dankbar. Dankbar und höflich - wie es eine höfliche, ältere Dame unter solchen Umständen sein sollte. Natürlich wussten sie nichts von ihrer Dankbarkeit, doch sie versuchte, sie mit den Augen auszudrücken, und sie glaubte, dass ein paar von ihnen sie verstanden. Walter, der Pfleger, verstand sie, aber die anderen schauten oft ratlos.

Jetzt - als das Licht ihr in den Augen brannte - dachte Brunhilde Besler an ihren Sohn, und die Tränen der Trauer gewannen die Oberhand. Robert war schon sechsundvierzig, doch in ihren Gedanken war er noch immer der Vierjährige, der in braunen Shorts und einem Spiderman-T-Shirt dem Nachbarn bei der Ernte in Hintersee half. Sie ließ ihren Kleinen oft allein zurück, wenn sie in die Schule ging. Jetzt wurde ihr bewusst, dass das oft töricht war, aber die Reue kam zu spät. Und jetzt? Sie starb, und er würde wieder ganz allein sein. Aber wie dem auch sei, sie starb tatsächlich. Endlich. Und es war genau so, wie sie gedacht hatte - weiß, wunderbar und schmerzfrei.

Erst als sie die Last auf dem Bett erahnte, begriff sie, dass dies nicht der Beginn ihrer Reise ins Jenseits war, sondern dass sich jemand im Zimmer befand, mit einer Taschenlampe. Jemand Ungebetenes, der sich unerlaubt Zutritt zu ihrem Heim verschaffte, zu ihrem Zimmer, zu ihrem Bett, sogar zu der Luft vor ihrem Gesicht… Jede Faser von Brunhilde Beslers Wesen schrie sie an, auf die Gefahr zu reagieren. Unglücklicherweise war jede Faser ihres Wesens unterhalb des Halses vor zwei Jahren endgültig von ihrem Gehirn abgekoppelt worden, als die alte Elsa - das zuverlässigste Pferd, das sie je gekannt hatte - auf einer Eisplatte ausgerutscht war und sie mit dem Kopf voran gegen einen Telefonmast geschleudert hatte. Anstatt also zu schreien, um sich zu schlagen und um das zu kämpfen, was von ihrem Leben noch übrig war, konnte sie nur entsetzt mit den Augen blinzeln, als der Mörder ihr ein Kissen aufs Gesicht drückte.

Der Mörder wollte ihr nicht wehtun. Sie sollte nur tot sein.

Während er Brunhilde Besler mit ihrem eigenen, sorgsam aufgeschüttelten Kopfkissen erstickte, spürte er, wie sich alle Spannung schlagartig löste. Als berste eine alte Uhr plötzlich auseinander, verstreue Tausende von komplizierten Einzelteilen überall und lasse gespannte Federn im Nirgendwo davonspringen, während das beengende Gehäuse um ihn herum wegbrach. Er schluchzte vor jäher Erleichterung auf. Der Kopf der alten Frau fühlte sich durch das Kissen hindurch beruhigend fern und undeutlich an. Die unnatürliche Reglosigkeit ihres Körpers erschien ihm wie die Erlaubnis weiterzumachen, also machte er weiter. Er lehnte sich sehr viel länger mit seinem ganzen Gewicht auf das Kissen, als es nötig gewesen wäre, das wusste er.

Als er es schließlich wegnahm und ihr mit der Taschenlampe ins Gesicht leuchtete, bestand die einzig erkennbare Veränderung in Brunhilde Besler darin, dass das Licht in ihren Augen erloschen war.

„So“, meinte der Mörder anschließend. „Das war doch gar nicht so schlimm.“ Er war auch für ihren Unfall vor zwei Jahren mitverantwortlich gewesen.

1

„Verdammt, das kann doch nicht wahr sein“, murmelte Peter Kelly, der Letzte und Einzige Polizeiposten in Hintersee. Er lehnte sich an die Wand und nahm seine grüne Polizeimütze ab, damit ein wenig Luft an seine dunklen Haare kam, die sich plötzlich klamm und feucht anfühlten.

Die Tote auf dem Bett hatte bei seiner Hochzeit ein Gedicht aufgesagt. Er kannte sie seit seiner Kindheit. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er klein genug gewesen war, um nicht zu wissen, dass es nicht cool war, sich von irgendetwas beeindrucken zu lassen; und wie er Frau Besler zugewinkt hatte, wenn sie auf diesem aberwitzig großen braunen Pferd vorbeigeritten kam. Und wie sie immer zurückgewinkt hatte. Im Laufe der nächsten zwanzig Jahre hatte sich diese Szene Dutzende von Malen wiederholt, während alle Beteiligten sich weiterentwickelten. Frau Besler wurde älter, war aber stets quicklebendig; er wuchs und reckte sich, kam und ging - aufs Gymnasium, zur Ausbildung nach München, nach Hause, um seine Eltern zu besuchen, als diese, während er noch auf der Polizeischule war, wieder nach Biberach zurückkehrten, in ihre alte Heimat. Zwanzig Jahre Hintersee hatten ihnen gereicht, und als sein Vater in Pension ging, drängte seine Mutter, dass sie diesen langweiligen Ort wieder verließen, zumal auch beide immer kränker wurden. Er stimmte sofort zu, und mit vier Freunden blieben sie weiter in Kontakt, die sie ein - bis zweimal im Jahr besuchten, vor allem wenn Weihnachtsmarkt in Bad Hindelang oder Viehscheid im Herbst war.

Und jetzt war er der Einzige Dorfpolizist in Hintersee, der noch für Ruhe und Ordnung sorgte. Als er seine Polizeischule letztes Jahr beendete, stand Hermann Bucher gerade vor seiner Pensionierung, und Dienststellenleiter Gogl aus Sonthofen, bot Peter sofort den Posten an, schließlich kenne er ja die Bevölkerung in - und auswendig, meinte er. Peter stimmte sofort zu, schließlich mochte er diesen idyllischen Ort. Nie gab es hier ein schlimmes Verbrechen im Dorf, dass betonte sein Vorgänger Bucher immer mit großem Stolz am Stammtisch. Und nun war Brunhilde Besler tot, vermutlich erstickt mit einem großen Kissen. Eigentlich war es ja ein Segen - die Arme. Im Augenblick jedoch war Peter Kelly bloß völlig durcheinander, und ihm war übel bei dem Gedanken, dass nachts irgendeine seltsame Magie am Werke gewesen war und Leben in Tod verwandelt hatte, Wärme in Kälte, das Diesseits ins Jenseits.

Was auch immer das Jenseits war. Peter hatte lediglich eine vage religiöse Vorstellung, dass es dort wahrscheinlich ganz schön war. Als Dorfpolizist hatte er in den wenigen Monaten die er nun im Dienst war, schon einiges zu sehen bekommen, aber meistens waren es Unfälle, wie zuletzt als ein Bauer mit dem Traktor einen Radler streifte. Was hatte der dämliche Mountainbiker auch auf diesem Feldweg zu suchen gehabt, eigentlich war es ein Wanderweg. Manche bekamen nur dass, was sie auch verdienten, und dann klagte dieser Biker auch noch. Er meinte, er wäre im Recht gewesen, und wollte auch Schadersatz für sein Bike, und Schmerzensgeld für sein gebrochenes Schlüsselbein. So waren sie halt die Leute von heute, jeder glaubte, er sei ihm Recht, aber meistens hatten sie bloß keine Ahnung, oder noch schlimmer; Ignoranz und Tomaten auf den Augen.

Aber dass, was er hier zu sehen bekam, war die erste Leiche die mit Sicherheit in Hintersee ermordet wurde, dass erkannte auch ein Blinder. Doch Brunhilde Besler dort liegen zu sehen hatte ihn unerwartet hart getroffen. Er hörte die Krankenschwester die Treppe heraufkommen und setzte die Mütze wieder auf, wischte sich hastig das Gesicht mit den Ärmeln ab und hoffte, dass er nicht so käsig aussah, wie ihm zumute war. Er war eins vierundneunzig, und anscheinend dachten die Leute, dass man umso mehr Rückgrat besitzen sollte, je größer man war.

Die Schwester lächelte ihn an und hielt die Tür für Dr. Hiddler auf, der stets Cordhosen und ein weißes Polohemd trug.

„Hallo, Peter“, sagte er.

„Hallo, Dr. Hiddler.“

„Wie geht’s Julia?“

„Okay, danke…“

„Gut.“

Peter hatte Dr. Hiddler einmal nach einer Beerdigung in einen Bierhumpen kotzen sehen, im Augenblick jedoch gab sich der geschiedene Dorfarzt ganz geschäftsmäßig. Er war hager und Anfang fünfzig. Seine ebenmäßigen, gebräunten Züge waren eine Maske professionellen Mitgefühls. Er ging zum Bett hinüber und untersuchte Brunhilde Besler.

„Tapfere Lady“, meinte er, nur um etwas zu sagen.

„Tapferer geht’s gar nicht“, pflichtete Peter ihm bei. „Ist wahrscheinlich ein Segen, dass sie tot ist.“

Die Schwester lächelte und nickte ihm bestätigend zu, doch Bernd Hiddler antwortete nicht. Er schien sich sehr für das Gesicht der Toten zu interessieren.

Peter sah sich im Zimmer um. Irgendjemand hatte einen billigen Engel aus Silberfolie über das Bett gehängt, der sich ganz langsam drehte. Auf der Kommode war ein halbes Dutzend Weihnachtskarten achtlos beiseitegeschoben worden, um Platz für praktischere Dinge zu schaffen. Eine der Karten war umgefallen, und es juckte Peter in den Fingern, sie wieder richtig hinzustellen. Stattdessen zwang er sich, den Leichnam der alten Frau anzusehen. So alt war sie gar nicht, erinnerte er sich, maximal Ende sechzig. Doch die Bettlägerigkeit hatte sie älter und sehr viel gebrechlicher erscheinen lassen. Kein Wunder nach diesem grauenvollen Unfall mit ihrem Pferd. Er dachte daran, dass Julia eines Tages auch so gebrechlich sein würde und versuchte, sich darauf zu konzentrieren, dass Frau Besler auf diesem Bett lag, nicht seine hübsche Frau. Galle und durchweichte Schmerztabletten auf ihren Lippen…

Peter verdrängte das Bild mit aller Kraft und atmete tief durch. Er sammelte seine Gedanken und überlegte, was wohl Frau Beslers letzte Worte gewesen waren, ehe bei dem Unfall ihr Kehlkopf und ihre Halswirbelsäule mit einem einzigen knirschenden Schlag zerschmettert worden waren.

„Ich bin froh, dass Sie hier sind, Peter“, sagte Dr. Hiddler - und als er sich umdrehte und ihn ansah, konnte Peter Kelly Betroffenheit auf dem Gesicht des Arztes lesen. Seine Instinkte regten sich unruhig.

„Ihre Nase ist gebrochen.“

Beide sahen die Krankenschwester an, deren Lächeln augenblicklich verschwand. Sie eilte herbei und stand neben dem Arzt, als dieser ihre Finger an Brunhilde Beslers Nasenrücken führte.

„Sehen Sie?“

Sie nickte; das Stirnrunzeln machte sie hässlich.

„Es liegt keine Verletzung der Haut vor, und keine offensichtliche Quetschung oder Prellung“, bemerkte Dr. Hiddler auf seine typische nachdenkliche Art. „Ich bin zwar kein Gerichtsmediziner, aber ich würde sagen, ein Schlag war nicht die Ursache. Wollen Sie mal fühlen, Peter?“

Eigentlich nicht. Aber trotzdem, er war Polizist, und er sollte doch… Er schluckte hörbar und berührte die Nase der Toten. Bernd Hiddler führte ihm die Hand, und Peter fühlte, wie die Fraktur in Frau Beslers Nasenbein unter seinen Fingern knirschte. Jäh überzog Gänsehaut seine Schultern; er ließ los und trat zurück. Unbewusst wischte er sich die Hand am grünen Stoff seiner Uniformhose ab, ehe ihm klar wurde, dass das Schweigen - kombiniert mit zwei Augenpaaren, die ihn fragend ansahen - bedeutete, dass er das Heft in die Hand nehmen sollte. Dass er etwas Professionelles, Polizeiliches tun sollte.

„Furchtbar“, sagte er aber nur mit zitternder Stimme.

2

Die Polizisten aus Sonthofen sahen sich bestimmt auch jede Menge Krimis im Fernsehen an, dachte Peter, während er zusah, wie sie durch Brunhilde Beslers winziges Zuhause schritten, gegen alte Möbel stießen, sich im Flur drängten und die Treppe hinauf - und hinunterpolterten wie eine Horde Kühe, die von einem Wolf aufgeschreckt wurde. Trotz ihrer Fachkenntnisse auf dem Gebiet „mysteriöser Todesfälle“ wünschte Peter sich insgeheim, er hätte sie nicht hinzugezogen. Natürlich war es gar nicht möglich gewesen, sie nicht hinzuziehen, aber trotzdem…

Peter war nicht dafür ausgerüstet, sich mit mehr als dem Alltäglichen auseinanderzusetzen. Er war als einziger Vertreter der Dorfpolizei, die bis vor fünf Jahren noch Vier-Mann stark war, übriggeblieben. Es war nur eine Frage der Zeit, wenn auch er seinen Posten verlor, und alles von dem zehn Kilometer entfernten Sonthofen aus gesteuert werden würde. Und jetzt kam sogar noch die Kriminalpolizei aus Kempten, weil es in Sonthofen nur eine „normale“ Polizeiinspektion gab, die mehr auf Wirtshausschlägereien und Vandalismus spezialisiert war. Die Idylle war hinüber, und das in einem aufstrebenden Tourismus-Ort im Oberallgäu, der immer mehr Gäste in den letzten Jahrzehnten anlockte.

Peter hatte in Erfahrung gebracht, dass die Krankenschwester - eine korpulente Fünfzigjährige namens Heidi Neuner - um zwei Uhr früh nach Frau Besler gesehen hatte, ohne etwas Ungewöhnliches festzustellen, ehe sie sie um Viertel nach sechs tot aufgefunden hatte. Trotz der offenkundigen Antwort hatte er Dr. Hiddler gefragt, ob es möglich sei, dass sich eine Frau im Schlaf irgendwie selbst die Nase brechen könnte, wenn sie zudem noch vom Hals abwärts gelähmt war. Er hatte Hiddler und Heidi Neuner zur Tür gebracht und sich dabei alle Mühe gegeben, den Zugangskorridor zum Tatort einzuhalten. Dann hatte Peter das Schlafzimmer untersucht und rasch Kratzspuren um den Riegel herum entdeckt. Vom Fenstersims ging es nur anderthalb Meter hinunter bis auf das Flachdach des angrenzenden Schuppens. Er hatte den Tatort gesichert. Was hier in Hintersee bedeutete, die Haustür zu schließen und einen Zettel daran zu heften, der er aus seinem Notizbuch gerissen hatte. Über das, was auf dem Zettel stand, hatte er sich gründlich Gedanken gemacht. Von „Potenzieller Tatort“ (was auf einem linierten Papierfetzen lächerlich wirkte) über „Polizeieinsatz! Kein Zutritt!“ (zu herrisch) und „Zutritt verboten!“ (zu unbestimmt) war er schließlich bei „Bitte nicht stören!“ angelangt. Das appellierte an den Anstand der Leute. Er war zuversichtlich, dass es funktionieren würde. Und so war es auch. Er hatte nach Sonthofen gemeldet, dass beim Tod von Brunhilde Besler, wohnhaft in Hintersee bei Hindelang, möglicherweise nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sei, und Sonthofen hatte die Kriminalpolizei in Kempten davon unterrichtet. Und jetzt sprangen hier über zehn Leute wie eine aufgescheuchte Herde umher, davon vier in weißen Overalls. Das waren die Typen von der Spurensicherung, die kamen sich besonders wichtig vor. Er wusste auch, dass seine Jugend (er war gerade erst vierundzwanzig geworden) gegen ihn sprach. Jeder Polizeibeamte in seinem Alter, der sein Geld wert war, sollte eigentlich an vorderster Front stehen. Sollte in kugelsicherer Weste bei der Verfolgung krimineller Bankräuber oder wahnsinniger Bombenleger jedes Hindernis überwinden und nicht Streife gehen, Kindern Standpauken halten und in irgendeinem Dorf verirrte Schafe einsammeln. Das war eigentlich ein Job für einen alten Mann, wie zuletzt Hermann, der kaum noch aufrecht gehen konnte bevor er seine wohlverdiente Pensionierung antrat. Ein Mann, Ende fünfzig, kam auf ihn zu. Er hatte volles, silbergraues Haar und einen deutlich sichtbaren Bauchansatz. Er trug eine rechteckige Brille mit dunkelblauem Rahmen und musterte ihn skeptisch. Alle am Tatort wussten wer er war: Helmut Höness, der Kriminalhauptkommissar aus Kempten.

„Haben Sie sie angefasst?“, fragte er und wies mit seiner rechten Hand auf die Tote.

Peter blinzelte, dann nickte er - und lief gleichzeitig rot an.

Höness verengte seine Augenschlitze. „Wo?“

„An der Nase. Dr. Hiddler hat gesagt, sie wäre gebrochen, und ich habe sie abgetastet.“

„Warum?“

Peter fühlte, wie sein Gesicht brannte. Alle im Zimmer schienen innegehalten zu haben, um zuzusehen, wie er durch den Wolf gedreht wurde.

„Ich weiß nicht. Nur so. Vielleicht, weil es der Arzt sagte.“

„Nur so aus Spaß?“

„Nein, Dr. Hiddler hat gesagt, sie wäre gebrochen, und ich habe das überprüft.“

„Weil Sie seine Diagnose bestätigen mussten? Sind Sie qualifizierter als er? Im medizinischen Sinne?“ Der Sarkasmus drang Höness aus jeder Pore, und aus dem Augenwinkel sah Peter, wie die Polizisten aus Sonthofen und Kempten die Augen verdrehten und aneinander angrinsten.

„Nein, bestimmt nicht“, antwortete Peter.

„Hat sie sonst noch jemand angefasst?“

„Die Krankenschwester.“

„War die etwa qualifizierter als Dr. Hiddler?“

„Nein, bestimmt auch nicht.“

Höness seufzte und hob und senkte hilflos die Arme, wie ein Mann, der die Jagd nach einem Handtaschenräuber aufgibt. „Weitere Mühe zwecklos“, sagte die Geste.

„Also der Doktor hat sie angefasst. Dann haben Sie sie angefasst, und dann die Krankenschwester.“

Peter wies Höness nicht auf die falsche Reihenfolge hin.

„Ja, so wars.“

„Niemand sonst?“

„Nein, bestimmt nicht.“

„Bestimmt nicht? Auch nicht der Postbote oder vielleicht der Milchmann? Oder sonst jemand?“

„Bestimmt nicht.“

Höness räusperte sich. „Wie heißen Sie, Polizist?“

„Peter Kelly. Ich bin hier der Dorfpolizist.“

„Haben Sie schon mal was von einem Tatort gehört, Kelly?“

„Ja, sicher.“ Jetzt hasste Peter Höness. Der Mann wollte bei seinem Team Eindruck schinden, und Peter hätte Beslers Nase nicht anfassen dürfen, aber trotzdem…

„Haben Sie schon mal etwas davon gehört, dass man einen Tatort kontaminieren kann, Kelly?“

„Ja, hab ich.“ Die Hitze der Verlegenheit wich allmählich aus Peter und machte einem kühlen, distanzierten Zorn Platz. Er fand es leicht, sich diesen Zorn nicht anmerken zu lassen, doch er wusste, dass er ihn für alle Zeit in jenem sehr kleinen, steinernen Winkel seines Herzens hegen würde, wo er alles aufbewahrte, was nicht freundlich, rücksichtsvoll und selbstlos war.

„Und warum haben Sie es dann nicht getan? Okay, Ihnen ist verziehen, weil Sie erst von der Polizeischule kamen, da lernt man als einfacher Streifenbeamter auch noch nicht alles. Aber dass man Getötete nicht anfassen soll, weiß jeder, außer anscheinend Ihnen.“

Peter verkniff sich seinen Drang auf Höness einzudreschen, und sah über sein graues Haar hinweg.

„Es tut mir leid.“

Höness betrachtete den hochgewachsenen jungen Polizisten ein wenig enttäuscht. Es wäre ihm wirklich lieber gewesen, wenn der Dorftrottel wütend geworden wäre und sich verteidigt hätte. Ein schöner Streit, so etwas gefiel Höness. Stattdessen hatte sich Kelly wie ein Welpe auf den Rücken gerollt und dem Rest der Truppe seinen Bauch gezeigt. Wie schade. Höness wandte sich ab, bevor er antwortete. „Sie können gehen, Kelly.“

In einer kleinen Geste des Trotzes verbiss sich Peter ein „Jawohl“ und ging wortlos hinaus. Auf halbem Weg die Treppe hinunter hörte er Höness noch etwas sagen, dass er aber nicht verstand. Nur das Gelächter der anderen Polizisten schallte in seinen Ohren.

3

Toller Fall, dachte Helmut Höness, als das Gelächter verstummte. Eine tote alte Frau mit gebrochener Nase. Super, und da holte man ihn extra aus Kempten. Er, der schon einen Mafia-Clan auffliegen ließ, einen Serien-Vergewaltiger schnappte, der sich an einem Dutzend Frauen verging, und einen Irren, der erst vor kurzem den Hauptbahnhof in Kempten sprengen wollte, aus Hass über verspätete Züge. Nicht zu vergessen, die Kollegen in den eigenen Reihen, die mit Drogen handelten und den gestörten Pfleger, der für den Tod von über dreißig Patienten im Marienheim verantwortlich war. Die Liste seiner Erfolge war lang, und jetzt war er in diesem Scheißkaff an den Alpen, fünf Kilometer von Hindelang entfernt. Aber verdächtige Todesumstände waren verdächtige Todesumstände, und solche Fälle rechtfertigten die Bildung einer Sonderheit, kurz Soko genannt. Wobei sein Chef, Polizeipräsident Nussbaumer, seines Erachtens etwas zu voreilig gehandelt hatte. In der Vergangenheit wurde erst dann eine Soko gebildet, nachdem die Ermittler Wochen - oder Monatelang vergeblich nach dem oder die Täter gefahndet hatten. Hier lag ein relativ harmloses Tötungsdelikt vor, aber vielleicht wollte sich sein Chef auch nur unnötig wichtigmachen, bevor die lästige Presse wieder alles aufblähte. Wenn sie also verdächtige Todesumstände zu einem Mord „aufbauen“ konnten, dann war das schon mal schön und gut. Höness war seit neunundzwanzig Jahren bei der Kripo in Kempten. Sein halbes Leben. In dieser Zeit gab es eigentlich nur dreizehn „echte“ Morde in denen er ermittelte, und das immer erfolgreich. Also hundert Prozent Erfolgsquote, wer hatte ihn Bayern schon solch eine exzellente Bilanz? Niemand, und so sollte es auch bleiben. Zumindest die nächsten sechs Jahre bis er in Pension ging. Trotz seiner Erfahrung, war er bei jedem Todesfall immer aufgewühlt. Früher oder später. Sogar bei einem Fall wie diesem, das wusste er, würde er aufgewühlt sein, wenn erst ein gewaltsamer Tod bestätigt worden war. Er musste sozusagen langsam auf Touren kommen. Bis dahin ödete ihn das Ganze noch etwas an. Höness mochte die ländliche Bevölkerung nicht besonders, nur wegen seiner Frau, oder vor dreißig Jahren noch Verlobten, hatte er sich versetzen lassen von München nach Kempten. Wobei Kempten, eine kleine Stadt mit sechzigtausend Einwohnern, noch eine Weltstadt gegen Hintersee war, mit höchstens achthundert Bewohnern. Und in diesem Dorf sprang glatt noch ein Dorfpolizist rum, und was für ein Vertrottelter, dieser Peter Kelly. Den konnten sie vielleicht in Sonthofen noch besser brauchen, Brotzeit für die Kollegen zu holen, zum Beispiel. Jetzt saß er hier in diesem Scheißkaff mitten in der Prärie, von hohen Bergen umgeben und musste womöglich noch einige Zeit an diesem Mordfall seine Zeit verbringen. Anstelle von vernünftigen Einrichtungen wie Tankstellen mit Selbstbedienung, verständlichen Straßenschildern und Menschen, gab es hier nur Landeier, Ginster und überall Pferdescheiße. Also galt es den Fall zügig aufzuklären, damit er hier schnellstmöglich wieder wegkam. Der Arzt hatte bereits Abschürfungen und Quetschungen im Innern von Brunhilde Besler festgestellt, wo ihre Lippen gegen die Zähne gedrückt worden waren, und der Pathologe würde vielleicht noch mehr finden. Jetzt brauchte das Labor in München nur noch zu bestätigen, dass Speichel und Nasensekret auf dem ordentlich aufgeschüttelten Kissen, das neben Brunhilde Besler gefunden worden war, von dem Opfer stammten, dann hätten sie ihre Beförderung zum Mord und die Mordwaffe gleich noch dazu. Alles in ein und demselben ordentlichen forensischen Paket.

Höness schaute zu dem mittlerweile leeren Bett hinüber, über das sich drei Spurensicherungsbeamte in weißen Papieroveralls beugten, wie Faschingsgäste, die sich als Spermien verkleidet hatten.

„Was habt ihr alles gefunden?“, fragte er.

„Bis jetzt?“, antwortete der dickste der Dreien. „Ein paar Haare, Körperflüssigkeiten…“

„Sperma?“

„Sieht nicht so aus. Nur das, was auf dem Kissen war, und Urin.“

„Ich dachte, sie hätte einen Katheter gehabt?“

„Ich glaube, der Beutel ist geplatzt.“

„Dann könnte der Täter also von oben bis unten voll Pisse sein.“

„Ja, sehr gut möglich.“

„Super. Fehlt irgendwas?“

„Sieht nicht nach einem Einbruch aus. Wenn irgendwas geklaut worden ist, dann hat der Mörder genau gewusst, was er wollte und wo er es findet.“

Höness sah sich in dem Zimmer mit den alten dunklen Möbeln um. Die Abnutzungsspuren rund um die blinden Messinggriffe der Kommode zeugten von lebenslangem Gebrauch. Nichts sah aus, als hätte sich jemand daran zu schaffen gemacht; sogar das Spitzendeckchen auf der Kommode war glatt und faltenlos.

„Ich will die Namen von sämtlichen Pflegern und Krankenschwestern, und Haarproben von allen, die hier am Tatort waren.“

„Jawohl, Chef.“

„Fingerabdrücke?“

„Bis jetzt keine.“

Es war März und noch bitterkalt, allein schon aus diesem Grund könnte der Mörder Handschuhe getragen haben. Doch Höness hoffte, dass es sich um einen opportunistischen Einbrecher handelte, der überreagiert hatte, als er merkte, dass ihn in einem Zimmer, das er für leer gehalten hatte, eine Frau schweigend vom Bett aus beobachtete. Höness hoffte, dass der Täter vorausgeplant hatte. Ob er einen Einbruch oder einen Mord vorausgeplant hatte, war fraglich, doch die Tatsache, dass sie wahrscheinlich keine Fingerabdrücke finden würden, machte den Fall für Höness interessanter. Er verschwendete sein Talent nur höchst ungern an die Niederen und Dummen, und seit er ins Allgäu gekommen war, hatte er die ungeschickten Säufer allmählich satt, die durch das unglückliche Zusammentreffen von Köpfen und Bordsteinkanten zu Totschlägern wurden. Und die zugedröhnten Jugendlichen, deren großzügige Bereitschaft, Besteck zu verleihen, dadurch vergolten wurde, dass ihre undankbaren Freunde neben irgendwelchen Toiletten abkratzten, mit Scheiße in der Hose und Dreck in den Venen. Nein, die Handschuhe machten den Mörder in seinen Augen zu einer lohnenderen Beute. Wie lohnend, würde sich hoffentlich bald herausstellen.

4

Dreihundert Meter vor dem Schild „Bitte fahren Sie in Hintersee langsam“ stand das Haus, in dem Peter Kelly aufgewachsen war. Knapp drei Jahre war er alt, als seine Eltern von Biberach hierher gezogen waren. Sein Vater bekam einen guten Posten im Landratsamt in Sonthofen und seine Mutter war als Teilzeitkraft im Edeka-Markt in Hindelang beschäftigt gewesen. Es war ein altes Bauernhaus, dass Anfang der Neunziger umgebaut wurde um es an Feriengäste zu vermieten. Da der Tourismus aber hier in Hintersee nur schleppend anlief, entschloss sich der Eigentümer es dauerhaft an Einheimische oder Zugezogene zu vermieten. Anfänglich mietete sich die Familie Kelly ein, bis Konrad Dobler, der Eigentümer, ein Kaufangebot von Martin Kelly annahm, es für 120.000 Mark im Jahr 1993 zu veräußern. Kelly steckte noch weitere 20.000 Mark in das Holzgebäude, und machte daraus ein ansehnliches Haus, in dem eine Ferienwohnung sogar fünf - sechs Monate im Jahr, dauerhaft vermietet werden konnte. Aufgrund dessen konnte Maria Kelly sich etwas aus dem Edeka-Markt zurückziehen, um die Gäste besser zu betreuen. Drei Jahre später zogen die alten Kellys zurück in ihre Geburtsstadt Biberach, da vor allem Peters Mutter, die Idylle immer depressiver werden ließ. Nicht einmal ein erfahrener Psychologe aus Sonthofen, konnte in vielen Monaten herausfinden, woran das lag. Seitdem bewohnte Peter das Haus allein mit seiner Frau Julia, die vor einem Jahr schwer erkrankte. Peters Eltern versuchten ständig ihn zu überreden auch nach Biberach zu ziehen, schon allein aufgrund der viel besseren ärztlichen Versorgung, aber Peter und auch seine Julia lehnten immer wieder ab. Und jetzt war Julia in einem Zustand, den man durchaus als „besorgniserregend“ bezeichnen konnte.

Peter parkte seinen Audi 80 mit der unübersehbaren Polizeilackierung hinter Julias Ford Fiesta, und fühlte, wie sein Herz schneller schlug. Er musste sich zusammenreißen. Musste langsam und bedächtig aussteigen und ganz normal durch die Haustür treten. Das Badezimmer putzen, die Waschmaschine anstellen, das Abendessen machen - genau so, wie Dr. Hiddler es ihm gesagt hatte.

„Julia braucht Sie. Sie dürfen nicht schlappmachen, Peter. Jetzt mehr denn je.“

Er würde nicht schlappmachen. Er würde sich zusammennehmen. Auch wenn ihm während der letzten vier Wochen jeden Tag das Herz vor Furcht bis zum Hals geschlagen hatte, wenn er den Plattenweg voller Sprünge und Unkraut hinaufgegangen war und die Hausschlüssel in seinen zitternden Händen geklimpert hatten wie ein Windspiel. Die Angst war fast übermächtig - die Angst, dass er die Tür aufstoßen und sie abermals durch den Körper seiner Frau blockiert sein würde. Oder dass er hallend ihren Namen rufen und sie schließlich in einer Wanne voll lauwarmem, rosa gefärbtem Wasser finden würde. Oder dass er in ein in winterliche Dunkelheit gehülltes Haus treten und spüren würde, wie ihre nackten Füße sein Gesicht streiften, die im Treppenhaus hingen. Aber die Befürchtungen trafen nicht ein, Gott sei Dank. Im Wohnzimmer erwartete sie ihn bereits mit fragendem Blick. Er küsste sie und wusste, dass sie die Nachricht vom Tode von Brunhilde Besler bereits erreicht hatte. Vielleicht vom Zeitungsjungen Anton oder vom Milchmann Martin, beide waren sehr redselig und heiterten Julia immer wieder mit ihren Dorfgeschichten auf. In einem kleinen Dorf mit weniger als tausend Einwohnern, waren solche Vorkommnisse in weniger als sechs Stunden bei neunundneunzig Prozent der Dorfbewohner angekommen. Vor allem wenn es sich um einen Todesfall handelte. Sie lächelte ihn an mit ihrem jungenhaften Gesicht, der sommersprossigen Stupsnase und den weit auseinanderliegenden azurblauen Augen, die fast zu groß für das zarte Gesicht waren.

„Die arme Frau Besler“, seufzte sie und streichelte dabei über sein Gesicht.

„Was hast du denn gehört?“, fragte er, denn auf dem Land wurde häufig auch viel Unsinn erzählt, Hauptsache die Leute hatten reichlich Gesprächsstoff.

„Dass jemand sie umgebracht hat.“

„Möglicherweise. Die aus Kempten sind jetzt dafür zuständig.“ Er drückte ihre Hand und spürte erleichtert, dass sie warm und ruhig war, dann drehte er sich herum und setzte sich neben sie auf die Sofakante.

„Wie geht’s dir, Julia?“ Das war eine Frage, die er seit elf Monaten zehnmal so häufig stellte als davor. Manchmal brauchte er gar nicht zu fragen. Das waren die Tage, an denen er sie beim Heimkommen zusammengekrümmt und nach Luft schnappend vorfand. Sie hatte Brustkrebs, wie auch schon ihre Mutter und Großmutter. Und keine wurde älter als vierzig, Julia war jetzt vierundzwanzig, so alt wie er. Nachdem die Krankheit vor fast zwölf Monaten, einen Monat nach der Hochzeit, diagnostiziert worden war, hatte sich alles verändert - zu Hause und bei der Arbeit. Er hatte seine Bewerbung für eine Laufbahn bei der Kriminalpolizei zurückgezogen und sich stattdessen für diesen Provinzposten beworben, wo er die Arbeit an sein Leben mit seiner kranken Frau zu Hause besser regeln konnte, anstatt es umgekehrt zu handhaben. Noch vor der Hochzeit hatten sie geplant in Isny zu bleiben, wo Julia bis zuletzt als Krankenschwester in einer Klinik in Neutrauchburg arbeitete. Dort hatte Julia seit ihrer Ausbildung eine Dreizimmerwohnung, und sie hätten sogar nach der Hochzeit in das Haus ihres Vaters ziehen können, der dort alleine lebte. Er verstand bis heute noch nicht, wie man in Hintersee sesshaft werden konnte, wo „Hund und Katz sich guad Nacht sagen“, wie sein Schwiegervater immer so abwertend meinte. Aber die niederschmetternde Diagnose änderte alles schlagartig. Manchmal - wenn er Wanderern den Weg zum Hinterseer Tal zeigte oder mit den Eltern eines Jugendlichen sprach, der mit einer halben Flasche Wodka und einer großen Klappe erwischt worden war - verspürte Peter ein fast überwältigendes Bedürfnis, ins Auto zu springen und nach Hause zu rasen, um nach Julia zu sehen. Als sich sein Herz zum ersten Mal so zusammengekrampft hatte, hatte er seinem Gefühl nachgegeben und war mit neunzig Stundenkilometer vom Schwarzenberger Haus über die Landstraße gerast, wo nur der Bus mit maximal Tempo fünfzig fahren durfte. Ansonsten war die Strecke für den öffentlichen Verkehr gesperrt. Nur er als Dorfpolizist durfte natürlich überall fahren, aber nur in Notfällen mit erhöhter Geschwindigkeit und angeschaltetem Blaulicht auf dem Dach. Aber wenn es um seine Julia ging, war ihm jegliche Vorschrift so ziemlich egal. Erst gestern hatte er sie mit weißem, verzerrtem Gesicht vorgefunden, und obgleich sie beharrlich behauptete, dass alles in Ordnung sei, hatte er Salz auf ihren Lippen geschmeckt, das ihm verriet, dass sie geweint hatte.

„Gut“, antwortete Julia und holte ihn sanft wieder in die Gegenwart zurück. „Mir geht’s gut. Ich habe Blumenzwiebeln eingepflanzt. Narzissen und Tulpen vorn vor dem Haus, und Anemonen in den Kübeln. Jetzt gibt’s ja nachts immer seltener Frost und der Frühling steht vor der Tür.“

Er betrachtete ihre Hände, sah die rotbraune Erde unter den kurzen Nägeln und wusste genau, wie viel Mühe es sie gekostet haben musste, diese Arbeit zu bewältigen. Der Sack Blumenerde, die Schaufel, die sich in den immer schwächer werdenden Gelenken wie ein Vorschlaghammer anfühlen musste, die Anstrengung, die vom Winter verhärtete Erde aufzubrechen. Fast hätte er gefragt, wie lange sie dafür gebraucht hätte, doch ihm war klar, dass es den größten Teil des Tages gedauert haben musste. Stattdessen stand er auf und ging hinaus, um sich ihr „Werk“ anzusehen. Dass sie nicht aufstand, um es ihm zu zeigen, war der Beweis dafür, wie viel Kraft sie das Ganze gekostet hatte. Lächelnd kam Peter wieder herein.

„Und dann hast du…?“ Er ließ den Satz in der Luft hängen.

„…ein bisschen geschlafen“, vollendete sie ihn pflichtschuldig, und beide lachten und sahen sich an.

Peters braune Augen standen zu weit auseinander, seine Nase war zu lang, und seine Lippen waren zu voll, als dass man ihn als auffallend gutaussehend hätte bezeichnen können. Doch Julia bekam nie genug davon, ihn anzusehen, und sie gierte nach mehr. Nachdem sie in das Haus seiner Eltern gezogen waren, hatte sie nach Kinderfotos von ihm gesucht. Als sie keine fand, hatte er herumgeblödelt, er sei „zu hässlich“ für Fotos. In ihren Augen war das alles andere als wahr.

„Wer hat dir von Frau Besler erzählt?“, erkundigte er sich, obwohl es keine Rolle spielte.

„Kilian.“

Kilian Schweighart. Der Briefträger. Natürlich. Der Postbote und der Milchmann deckten dasselbe Territorium ab wie er, nämlich einen Radius von knapp sieben Kilometer, so lang streckte sich das Hinterseer Tal mit seinen vielen Weilern. Kilian hatte Julia auch von dem „Anschiss“ von Hauptkommissar Höness erzählt, worauf sie schallend lachen musste.

„Wirst du mit ihm zusammenarbeiten müssen?“

„Zwangsläufig. Wobei ich glaube, dass die sich über meine Hilfe bestimmt nicht freuen würden.“

„Dann wären das aber ganz schöne Idioten, weil du hier als Einziger alle kennst, und weißt wie sie ticken.“

Peter ließ sie in dem Glauben, wobei es einige Dorfbewohner gab, die ihm nicht ganz geheuer waren, und dass schon seit Jahren. Vielleicht gab es doch mehr Abgründe, als viele bisher nicht für möglich gehalten hatten.

Eine Idylle, die immer mehr bröckelte.

5

Höness wusste ganz genau, dass es bald Stunk gab. Er, und die restlichen vier der Soko; Ginkel, Kraus, Gebauer und Sternkopf, waren in dermaßen primitiven Quartieren untergebracht, dass es ihn nicht gewundert hätte, wenn einer vorzeitig verschwunden wäre. Doch das war bestimmt nur eine Frage der Zeit. Höness schloss gern kleine Wetten mit sich selbst. Die Zwänge des Polizeibudgets hatten dazu geführt, dass sie in einer einfachen Pension hundertfünfzig Meter vom Ortskern entfernt, untergebracht worden waren. Vermutlich war es ein umgebauter Pferdestall mit Blumenkästen vor den Fenstern. Und die Besitzerin, Hilde Müller, eine gebeugte, arthritische Greisin, dachte offenbar, winzige Fernseher und riesige Mikrowellen rechtfertigten die Bezeichnung „Apartment“.

Scheiß-Pampa. Er sah auf die Uhr: 22.40 Uhr. Die Nacht war noch jung. Sein Team unglücklicherweise auch. Keiner über fünfunddreißig, und alle lagen schon im Bett.

Er sann über Brunhilde Besler nach. Es war ein seltsamer Fall. Seit seinem neunundzwanzigsten Lebensjahr hatte er Mordfälle bearbeitet, und seine Instinkte waren ziemlich ausgeprägt, doch man brauchte nicht besonders scharfsinnig zu sein, um zu wissen, dass es für eine behinderte, bettlägerige alte Frau schwer ist, sich Feinde zu machen. Doch er wusste auch, dass Freunde ebenso gefährlich sein konnten. Morgen früh würde er sich mit Frau Beslers Sohn Robert unterhalten. Söhne waren immer potentielle Verdächtige.

6

Nachdem er Brunhilde Besler erstickt hatte, war der Mörder nach Hause gegangen, hatte geduscht und sich ein Baguette mit Käse und Schinken gemacht. Im Fernsehen lief ein alter Film mit Humphrey Bogart; „Citizen Kane“. Den hatte er schon siebenmal gesehen, und er fand ihn immer wieder sehenswert.

Amüsiert hatte er mitbekommen, dass die Bullen gleich eine Sonderkommission aus Kempten, mit einem fünfköpfigen Team gesandt hatten. Er hatte sie heute schon unter die Lupe nehmen können, in dem Dorf passierte nichts, ohne dass er es nicht mitbekam. Soviel Aufwand für eine kranke, alte Frau. Und dann quartieren sie sich glatt noch ein im „Bergblick“, dem früheren Müller-Hof, einer stark renovierungsbedürftigen Pension, bei der alten Frau Müller, die ständig schlechte Laune hatte.

Wurde Zeit die Typen zu beschäftigen. Er machte noch einen kräftigen Biss, drückte auf die Fernbedienung, öffnete das Fenster und warf den Rest seines Snacks weg. Dann rollte er sich wie ein Fötus auf dem Sofa zusammen, schlief wie ein Baby, und als er erwachte, fühlte er sich wie ein neuer Mensch.

Gestärkt und bereit für neue Taten.

7

Ein erneuter Wintereinbruch der in den frühen Morgenstunden hereinbrach, verwandelte das ganze Dorf und Tal wieder in eine weiße Märchenlandschaft. Innerhalb weniger Stunden waren zehn Zentimeter Neuschnee gefallen, sodass zwei Räumfahrzeuge aus Hindelang die Straßen und Gehwege wieder befreien mussten.

Obwohl ihre Bekanntschaft nicht gut begonnen hatte, rief Peter Kommissar Höness an, bevor er das Haus verließ, um dem Soko-Team sein Wissen über Land und Leute anzubieten. Das war doch nur professionell. Am anderen Ende der Leitung entstand eine kurze Pause, dann erwiderte Höness: „Ich denke, wir kommen auch ohne Sie klar…“, ehe die Verbindung abbrach. Möglicherweise war er einfach aus der Leitung geworfen worden - im Dorf und Tal waren die Mobilfunknetze erst mäßig ausgebaut -, doch Peter war sich sehr sicher, dass Höness einfach aufgelegt hatte. Wütend legte er den Hörer auf, und Julia sah ihn neugierig an.

„Dann halt nicht“, meinte er achselzuckend, küsste seine Frau auf die Stirn und verließ das Haus.