Zürich außer Kontrolle - Marc Palmer - E-Book

Zürich außer Kontrolle E-Book

Marc Palmer

4,8

Beschreibung

Der Allgäuer Paul Glaser ist verzweifelt. Peter Kelly, sein bester Freund, ist angeklagt des zwölffachen Mordes! Nur Paul glaubt an seine Unschuld und versucht Beweise zu seiner Entlastung zu finden. Hinweise führen ihn in die Schweiz. Paul nimmt Urlaub und reist ins mondäne Zürich. Dort gibt es eine unheimliche Mordserie, in die er zufällig hineinschlittert. Dann überschlagen sich auf einmal die Ereignisse, und alles gerät völlig außer Kontrolle. Paul erlebt die düstersten Tage seines Lebens.

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FÜR DIE TOTEN UND

GESCHÄDIGTEN VON ALLEN

ARZNEIMITTEL - SKANDALEN

Vorwort:

„Zürich außer Kontrolle“ ist eine frei erfundene Geschichte. Namensgleichheiten mit lebenden oder toten Personen sind reiner Zufall. Die Schauplätze sind zum größten Teil real und wurden bei meinen Recherchen besucht. Am Ende des Buches sollten Sie die Seite: „Dichtung und Wahrheit“ genau lesen. Dann sehen Sie, was es für aufsehenerregende und erschreckende Skandale in den letzten Jahrzehnten in der Pharma-Industrie immer wieder gab. Weltweit.

Studien werden auch regelmäßig in mehreren Instituten in Deutschland und der Schweiz angeboten. Dort werden oft mit großem Akquiseaufwand neue „Probanden“ gesucht.

Marc Palmer, Oktober 2015

Zum Autor:

„Marc Palmer“ ist das Pseudonym eines Allgäuer Autors. „Zürich außer Kontrolle“ ist sein fünfter Krimi. Aufgrund der Liebe zur Natur und der schönen Bergwelt im Allgäu, hat er auch bereits drei Wanderführer veröffentlicht. Er ist im Allgäu geboren und lebt auch heute noch dort.

Prolog

31. März, 23.00 Uhr. Zürich (Schweiz)

Ein Temperatursturz und Wetterumschwung brachte den Winter in die größte Stadt der Schweiz zurück. Wenige Tage zuvor waren die Gastronomen noch voller Hoffnung gewesen das der Frühling kommt, aber ihre Bestuhlung und Dekoration, vor allem der vielen Lokale und Cafe`s rund um den Zürichsee, war umsonst gewesen. Seit einigen Stunden gab es Graupelschauer und Schneeregen bei gerade mal vier Grad. Vierundzwanzig Stunden vorher waren es noch siebzehn Grad mehr gewesen. Kein Frühlingserwachen lag über der Stadt, sondern eine triste, düstere und ungemütliche Atmosphäre. Aber Rudi Schlatter war das egal. Er war seit einigen Jahren das Leben auf der Straße, unter den vielen Brücken und sogar am Flughafen gewöhnt. Er war einer von ungefähr fünfzig Obdachlosen, die in der reichen Stadt versuchten, ohne einen festen Wohnsitz zu überleben. Wieder einmal hatte er es diesen Winter geschafft, obwohl es Ende Januar in der Stadt über mehrere Tage Temperaturen von bis zu minus zwanzig Grad und fünfzehn Zentimeter Schnee gegeben hatte. Er hätte wie die Jahre zuvor, auch am Flughafen übernachten können, dort wurden in entlegenen Bereichen die Obdachlosen geduldet, sofern sie die Reisenden und Passagiere in Ruhe ließen und nicht anbettelten. Doch einige seiner „Kollegen“ hielten sich nicht daran, immer häufiger gab es Streitigkeiten unter ihnen, deshalb zog er lieber die Nächte im Freien, vorwiegend entlang des Limmat-Ufers vor. Die „Limmat“ ist ein 36 Kilometer langer Fluss und bildet den Hauptzufluss des schönen Zürichsees. Sie fliesst anschließend durch das Limmattal, und mündet im sogenannten Wasserschloss bei Brugg im Kanton Aargau in die Aare.

Rudi Schlatter war vor vier Wochen sechsundsechzig geworden, und es war der vierte Winter für ihn auf der Straße gewesen. Wie viele er wohl noch überleben würde? Vor fünf Monaten hatte er seinen letzten großen Zahltag gehabt, als er bei einer Arzneimittelstudie noch Versuchskaninchen spielen durfte. Trotz seiner angegriffenen Leber und fortgeschrittener Arthrose wurde er genommen. Das war jetzt aber vorbei, über fünfundsechzig wurden so gut wie nie mehr Probanden gesucht. Er schlief am liebsten mit seinem Schlafsack auf weichem Untergrund, den es auch unter den Brücken reichlich gab. Immer noch besser als auf den steinharten Böden oder den unbequemen Holzbänken im Zürcher Flughafen zu pennen. Auch jetzt machte er sich wieder sein Schlaflager zurecht und nahm noch einen wärmenden Schluck aus seiner geliebten „Gorbatschow-Flasche“. Genüsslich spürte er das angenehme und wärmende Brennen in seiner trockenen Kehle. Mittlerweile kannnte er fast jeden Quadratmeter entlang der langen Uferstreifen. Manchmal gesellte sich sogar eine der Hauskatzen der umliegenden Anwohner zu ihm und kroch in seinen warmen Schlafsack. Aber heute war es still, gespenstisch still, nur der Regen der immer mehr in Schnee überging war zu hören.

Doch auf einmal hörte er ein Knacken, als ob jemand auf einen Ast getreten wäre. Kam doch „Sissy“, die weiße Hauskatze? Aber die war doch immer ganz lautlos, außer wenn sie vor Freude zum Miauen anfing, wenn sie ihn schon von weitem am Ufer liegen sah.

Da. Schon wieder ein Laut! Oder trübte der Schnaps seine Sinne? Nein, das konnte nicht sein. Irgendjemand trieb sich hier in unmittelbarer Nähe herum. Wollte ihm einer seiner „Kameraden“ den Platz streitig machen? Auch das hatte es schon gegeben; Revierkämpfe unter den Obdachlosen. Vor allem im Sommer führte das bereits zu einigen Polizeieinsätzen. Die Situation würde sich die nächsten Jahre bestimmt noch verschärfen, vor allem dann, wenn kein Platz mehr für die ganzen Flüchtlinge vorhanden war. Vielleicht wurde er aber auch ganz einfach nur alt, und das Gehirn spielte ihm nur einen Streich. Er musste jetzt auf jeden Fall noch zum pinkeln, bevor er sich in seinen Schlafsack einlullte. Er richtete sich unter dem Brückenpfeiler auf, der fast die ganze Nässe von seinem Platz abhielt. Die schwache Beleuchtung von der gegenüberliegenden Uferseite warf bizarre Schatten.

Wieder sah er sich nach allen Seiten um, ob sich auch niemand hier rumtrieb und ihn womöglich noch bei seinem „Geschäft“ störte. Dann trat er näher ans Ufer und zog seinen Reißverschluss nach unten. Ach, war das eine große Erleichterung für ihn, als sein gelber Strahl kam und er gegenüber auf die beleuchteten Häuser blickte.

Knack! Knack! Vor Schreck pisste er die letzten Tropfen an sein linkes Hosenbein.

Wieder riss er erschrocken den Kopf herum und spähte nervös nach allen Seiten. Er zog seinen Reisverschluß hastig wieder hoch, dann sah er endlich was.

Einen Schatten. Ein großer Schatten der sich vor ihm auftürmte. Nein, sogar zwei! Verdammte Scheiße, zwei Typen hier zu später Stunde an seinem Lieblingsplatz.

„Was wollt ihr hier?“, fragte er mit fester Stimme. Furcht durfte man hier keine zeigen, jede Schwäche konnte verhängnisvoll sein.

„Dich!“, sagte der Größere der beiden.

Trotz der Dunkelheit und des Niederschlags konnte er einen mittelgroßen und einen riesigen Typen erkennen. Aber vielleicht standen sie in der Schräge des Uferhanges auch nur so schief, dass es eine Täuschung war?

Rudi Schlatter griff reflexartig an sein Gesäß.

Verdammt, warum hatte er nur sein Taschenmesser im Schlafsack gelassen? Wenn die Typen Schläger waren, hatte er jetzt schlechte Chancen. Aber, was wollten sie von ihm? Er hatte doch nichts.

„Warum mich? Verdammt, was hab ich euch getan?“

Sie traten noch näher heran, nur noch anderthalb Meter trennte ihn von den beiden. Er lief leicht rückwärts und geriet ins Straucheln. Beinahe wäre er ausgerutscht, aber er konnte sich gerade noch fangen. Doch das reichte den beiden. Der Größere trat blitzschnell auf ihn zu und drosch ihm die Faust ins Gesicht. Obwohl er nicht mehr der Schnellste war, zuckte er mit dem Kopf instinktiv zur Seite, sodass die Faust ihn nur mit halber Wucht an der Wange traf. Er hob seine beiden Hände schützend vor sein Gesicht, aber ein weiterer Schlag war tiefer gesetzt, und traf ihn in diesmal mit voller Kraft in den Magen. Die Wucht raubte ihm den Atem.

„Hilfe!“, presste er gequält hervor, aber es war kaum mehr als ein letztes Stöhnen, dass ohne Luftholen nicht mehr zu hören war.

Es war das letzte Wort in seinem Leben.

Ein weiterer Schlag traf seinen Kopf, dann stürzte er zu Boden. Jetzt trafen ihn die Füße der beiden. Sie traten auf ihn ein bis er sich nicht mehr rührte. Als er blutüberströmt und bewegungslos am Boden lag, sahen sie sich lächelnd an. Dann hoben sie ihn auf, trugen ihn zum Ufer und warfen ihn ins eiskalte Wasser. Sie sahen sich langsam nach allen Seiten um, ob jemand was gesehen haben könnte. Aber außer den Schneeflocken war weit und breit nichts zu erkennen, dann zündeten sie sich zufrieden eine Zigarette an.

Der Erste war erledigt.

Dann stiefelten sie in der kalten Nacht davon.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

KAPITEL 43

KAPITEL 44

KAPITEL 45

DICHTUNG UND WAHRHEIT

Danksagung

Kapitel 1

1. April, 19.30 Uhr. Buchenberg (Allgäu)

Ein langes Läuten schreckte mich auf als ich halb dämmernd auf meinem Sofa im Wohnzimmer lag. Ich war erst vor zehn Minuten von der Arbeit gekommen und mir taten die Beine weh, vom fast neunstündigen Stehen und Gehen im Geschäft. Ächzend erhob ich mich und lief zum Fenster. Ich wohnte in einer fünfundsiebzig Quadratmeter großen Dreizimmerwohnung in einem Mehrfamilienhaus im Luftkurort Buchenberg. Das liegt im schönen Oberallgäu, knapp sieben Kilometer westlich von Kempten, der größten Stadt des Allgäus. Vom ersten Stock blickte ich runter auf den Eingang, und sah zwei Männer die ich bestimmt noch nie zuvor gesehen hatte. Was wollten die beiden Typen jetzt um diese Zeit noch? Wie Vertreter sahen sie nicht aus, obwohl sie beide gepflegt gekleidet waren. Ich öffnete das Fenster und rief runter: „Meine Herren, was verschafft mir die Ehre, zu so später Stunde? Etwa, Zeugen Jehovas?“

Beide sahen mich todernst an, und einer von beiden, ein schlaksiger rothaariger Typ um die dreißig, fragte: „Herr Paul Glaser?“ Der Zweite, einen halben Kopf kleiner und etwas untersetzt, hob gleichzeitig einen Ausweis in die Luft.

„Stimmt glatt. Nur Ihren Ausweis kann ich auf die Entfernung nicht erkennen, trotz meiner Adleraugen. Polizei?“

„Korrekt, Herr Glaser. Wir würden Sie gern ein paar Minuten sprechen. Es ist sehr wichtig. Mein Name ist Wiegand, und das hier ist mein Kollege Bätzing. Wir sind von der Kripo Kempten.“

„Kripo? Hoffentlich ist das kein April-Scherz?“ Dann dämmerte es mir auf einmal, und ich wusste schlagartig aus welchem Grund sie gekommen waren.

„Okay, drücken Sie in zehn Sekunden. Dann 1. Stock, links.“ Ich lief gemächlich zur Tür und drückte den Summer an der Sprechanlage. Kein neunzig Sekunden später standen sie im Angesicht vor mir.

„Kommen Sie in die gute Stube, meine Herren.“ Ich ging voraus ins Wohnzimmer und blieb vor meiner Couch-Garnitur stehen. „Setzen Sie sich“, sagte ich und deutete mit der Hand auf das Sofa. Beim kurzen Blick aus dem Fenster sah ich gegenüberliegend meinen Nachbarn, der neugierig alles von seinem Balkon aus verfolgt hatte. Auf dem Land gibt es unheimlich viele nette Leute, aber auch sehr Neugierige. Vor allem Ältere. Leider.

„Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?“

Der Rotschopf, der Reiner Bätzing hieß, antwortete: „Sorry, dass wir unangemeldet kommen. Aber wir wollten Sie nicht während Ihrer Arbeitszeit im Sportshop aufsuchen.“

„Sehr verständnisvoll.“ Sie hatten sich bestimmt schon im Vorfeld darüber informiert, dass ich als Verkäufer in einem Sportgeschäft in Buchenberg arbeitete, und das jetzt mittlerweile im zehnten Jahr.

„Es geht um Ihren Freund, Peter Kelly“, sagte der leicht übergewichtige Mann, der sich als Bernd Wiegand auswies. Sein Kollege Bätzing, sah sich derweil aufmerksam meine ganzen Pokale und Urkunden an, die überall auf den Regalen standen und an den Wänden hingen.

„Was ist mit ihm? Geht’s ihm in der Freudenberg-Klinik nicht gut?“, fragte ich.

„Doch, schon. Aber es gibt noch einige Dinge die wir gern wissen würden, und sie sind ja sein bester Freund. Das stimmt doch, oder?“

„Na, wenn Peter das sagt, stimmt es bestimmt. Wenn Sie sonst schon kaum was von seinen Aussagen glauben.“

„Er verzettelt sich leider häufig in Widersprüche. Schwer zu sagen was nun stimmt oder nicht.“

„Und Sie haben keinen anderen Verdächtigen. Stimmt`s?“

„Sie sagen es. Alle Spuren weisen nun mal auf Ihren Freund hin. Haben Sie viel gemeinsam Sport gemacht? Sie haben ja unendlich viele Preise gewonnen.“

„Die letzten Jahre immer weniger. Als er mit dem Schreiben anfing, hatte er nicht mehr so viel Zeit und kaum noch Lust. Außerdem musste er sich viel um seine Tochter Sophie kümmern, dass erfordert viel Zeit und Geduld. Alleinerziehender Vater zusein ist eine gewaltige Aufgabe.“

Wiegands Blick blieb bei meinem letzten großen Erfolg hängen. „Berglaufweltmeister. Sensationell! Sie müssen ja topfit sein?“

„War ich“, antgegnete ich. „Wenn Sie auf das Datum schauen, sehen Sie, dass es schon vier Jahre her ist. Jetzt hätte ich vermutlich keine Chance mehr, ich trainiere nicht mehr viel für Wettkämpfe. Nur bei einem kleinen Volkslauf im Tannheimer Tal mach ich dieses Jahr noch mit, dann ist aber endgültig Schluß. Ich lass es dann etwas ruhiger angehen, mit siebenunddreißig Jahren bin ich ja schließlich nicht mehr der Jüngste.“

„Wie halten Sie sich denn immer fit? Sie haben ja eine Figur wie ein Zehnkämpfer.“

„Schwimmen, Fitness, Wandern, Langlauf und Karate. Aber Sie sind doch nicht wegen mir hier, oder? Was hat das mit Kelly zu tun?“ Langsam ging mir ihre Fragerei auf den Sack. Ich bot ihnen kein Getränk an, sonst würden sie womöglich noch länger bleiben als geplant. Außerdem hatte ich eh nur Iso-Drinks und Müllermilch im Kühlschrank. Und jetzt noch Kaffee zumachen, dafür hatte ich nun wirklich keine Lust mehr. Schließlich hatte ich eine altmodische Filter-Kaffeemaschine.

„Wie lange sind Sie beide denn schon befreundet?“, fragte Wiegand und sah mich mit seinen Froschgrünen Augen an.

„Seit ungefähr fünfzehn Jahren. Wir haben uns beim Langlaufen in Eschach kennengelernt, als in Isny kaum noch Schnee lag“, antwortete ich.

Peter Kelly wohnte (bis vor zwei Monaten) in Burkwang, einem kleinen Weiler am Ortsrand von Isny, zweihundert Meter von einem idyllischen Baggersee entfernt. Als er heiratete, kauften er und seine damalige Frau Nicole, die aus der Gegend stammte, ein kleines renovierungsbedürftiges Bauernhaus und brachten es auf Vordermann. Bis sich dann mehrere Tragödien auf einmal ereigneten, kurz nach der Geburt ihrer Tochter Sophie.

Beide Polizisten sahen mich an, wie zwei Raubtiere die auf Beutefang waren. „Wann haben sie Kelly zum letzten Mal gesehen?“, fragte Bätzing und kratzte sich dabei an seiner Nase.

„Vor fünf Tagen, als ich ihn in der Klinik besuchte. Warum?“

„Was machte er für einen Eindruck auf Sie?“

„Einen ziemlich deprimierten. Verständlich bei der Anklage, oder? In Anbetracht der ganzen schrecklichen Umstände war er noch halbwegs gut beieinander.“

„Nur halbwegs?“, fragte Wiegand.

„Na, hören Sie mal. Der Mann wird vollgestopft mit Psychopharmaka und behandelt wie ein Schwerverbrecher. Seine Tochter wächst jetzt bei den Großeltern auf, musste ihren Namen ändern und sogar die Schule wechseln, aufgrund von ständigen Hänseleien und Anfeindungen. Glauben Sie, dass ist ein Leben? Das ist für die beiden die Hölle auf Erden.“

„Ist er denn ein Verbrecher?“

„Für Sie vielleicht schon, für mich nicht. Ich glaube an seine Unschuld, auch wenn ich wahrscheinlich der Einzige bin.“

Bätzing spielte mit seinen Händen und ließ seine Gelenke knacken. Dann fragte er: „Warum sollte er unschuldig sein? Die Beweislast ist erdrückend.“

„Für euch schon, weil ihr den Richtigen nicht findet.“

„Wer sollte denn sonst diese grausamen Taten begangen haben?“

„Bin ich Rasputin? Mein Gefühl sagt mir, dass er unschuldig ist. Und wir werden ja vor Gericht sehen, ob eure Beweise für eine Verurteilung ausreichen. Vielleicht wird er sogar verurteilt weil er ein Motiv hatte, zumindest für einige der Morde. Und Sie haben mich bestimmt deshalb aufgesucht, weil ich auch aussagen soll, dass er ein unberechenbarer, gestörter und psychisch kranker Irrer ist. Aber Sie täuschen sich, das werde ich ganz bestimmt nicht sagen.“

„Sondern?“

„Das ich an seine Unschuld glaube, und ihn nicht für fähig halte solche Taten zu begehen.“

„Aber er war immer allein als die Taten verübt wurden. Auch Sie, Herr Glaser, konnten ihm kein Alibi geben.“

„Klar, warum sollte ich auch lügen? Ich bin ja ein ehrlicher Mensch. Außerdem steckte ich die letzten zwei Jahre in einer Beziehung, da hatten wir nicht mehr so intensiv Kontakt wie davor“, log ich. Ich hatte nur drei Affären.

„Damit wir uns nicht falsch verstehen, Herr Glaser. Auch wir von der Kripo Kempten hegen leichte Zweifel, aber wir finden leider nichts, was Ihren Freund entlasten könnte. Hat er Ihnen bei Ihrem Klinik-Besuch vielleicht irgendwas erzählt, was er der Polizei bisher verschweigt? Kennen Sie diesen Walter Pickert, von dem er immer sprach? Er sagte ständig, dieser Mann würde noch leben und hätte was mit diesen Verbrechen zutun, aber Pickert kam bei einem sehr schweren Verkehrsunfall in Reutte ums Leben.“

„So, Sie haben also auch leichte Zweifel? Ja, ganz was Neues. Wenn man die Berichterstattung und die Medienberichte so verfolgte, könnte man meinen, die größte Bestie der Nachkriegsgeschichte ist Peter Kelly. Was diesen Pickert betrifft; Ich weiß auch nicht mehr wie Sie. Aber er scheint in diesem Fall eine große Rolle zuspielen. Und was den Unfall betrifft: Die beiden verbrannten Opfer konnten bis heute noch nicht identifiziert werden. Das könnten zwei ganz andere sein, als die, die sich bei der Auto-Vermietung das Fahrzeug geliehen haben. Pickert gilt auch bei Niemandem als vermisst. Auch diese Frau nicht, wo angeblich bei ihm war.“

Bätzing runzelte nur seine mit braunen Flecken übersäte Stirn bei meinen Vermutungen. „Sie scheinen sich ja doch intensiver mit dem Fall beschäftigt zu haben, als wir dachten“, meinte Wiegand und sah seinen Kollegen stirnrunzelnd an.

„Klar, ganz ahnungslos bin ich nicht. Ich glaube nur Peters Version mehr, als dass, was alle anderen ihm andichten wollen. Aber ansonsten kann ich Ihnen nicht mehr weiterhelfen.“

Sie merkten anscheinend, dass aus mir nichts mehr herauszukriegen war. Sie sahen sich erneut an, und standen dann plötzlich wie auf Kommando gleichzeitig auf.

„Okay, Herr Glaser. Hat uns gefreut Sie kennengelernt zu haben. Sollte Ihnen doch noch was Wichtiges einfallen was Ihrem Freund und uns helfen könnte, lassen Sie es uns wissen.“

Aber auch nur vielleicht, dachte ich.

Dann reichte mir Bätzing zum Abschied seine Visitenkarte, und beide schüttelten mir die Hand, ohne dabei in meine Augen zublicken.

Ich hatte die beiden nicht angelogen, aber ihnen auch nicht alles erzählt, das ist für mich ein Unterschied. Und Peter hatte mir sogar einen Tipp gegeben, wo ich diesen Pickert finden konnte. Ich hatte mir vorgenommen alles zu tun was Peter entlasten könnte. Ich stand in seiner Schuld, denn er hatte mir vor acht Jahren das Leben gerettet, auf einer gemeinsamen Tour am Heilbronner Weg, als ich an einer vereisten Scharte ausrutschte und er geistesgegenwärtig handelte, sonst wäre ich in die Tiefe gestürzt.

Sie sollten wissen, dass er nicht nur wegen psychischer Probleme in der Freudental-Klinik ist. In zwanzig Tagen soll ihm der Prozess gemacht werden. Wegen eines Vergehens, das wochenlang die ganze Nation in Atem hielt. Es waren grauenvolle Dinge die sich im beschaulichen Allgäu ereigneten. Dinge, für die es immer noch keine schlüssigen Erklärungen gab. Und einen Mann, der dafür am Pranger stand: Peter Kelly, mein bester Freund.

Die Anklage gegen ihn lautete: ZWÖLFFACHER MORD!

KAPITEL 2

2. April, 9.00 Uhr. Freudental-Klinik (Kempten)

„Was, die Bullen waren bei dir? Was wollten Sie alles wissen?“

Ich saß mit Peter Kelly in der Cafeteria der Nervenklinik, wo er vor zwei Monaten eingeliefert wurde. Ich hatte meinen Chef im Sportgeschäft gebeten, heute erst nachmittags anfangen zu dürfen, aufgrund brisanter Umstände. Er gab mir sofort frei, da es seit einigen Tagen sehr ruhig im Sportgeschäft war, und weil die Wintersaison endete. Auch in dem hochgelegenen Buchenberg schmolz der Schnee rapide dahin. Wir lebten im Winter vorwiegend vom Verkauf der Wintersport-Artikel und dem dazugehörigen Verleih des ganzen Equipments. Außer uns saßen nur zwei andere Personen im hintersten Eck des Raumes. Vermutlich ein anderer Patient mit seinem Besuch. Beide würdigten uns keines Blickes. Dann betrat ein Pfleger den Raum und holte sich einen Becher Kaffee am Automaten gegenüber von uns. Ich beugte mich etwas zu Peter vor und flüsterte: „Glaubst du, hier gibt’s Wanzen?“

„Möglich, denen traue ich hier alles zu. Aber erzähl mir ruhig, was die von der Kripo alles wissen wollten, das sind ja schließlich keine belastenden Angaben.“

„Auf jeden Fall gelten hier strenge Sicherheitsregeln, ich wurde am Eingang akribischer durchsucht, als letztes Jahr beim einchecken im Münchner Flughafen.“

„Kann ich verstehen. Eine Pflegerin wurde vor drei Monaten mit einem Taschenmesser bedroht, obwohl es hier nur Plastikbesteck gibt. Also können nur Besucher solche Waffen reinschmuggeln. Aber jetzt erzähl bitte, was sie so alles gefragt haben.“

„Sie fragten nach unserem „Verhältnis“, wie lang wir uns schon kennen, woher, und so weiter. Dann wollten sie wissen, ob ich diesen Walter Pickert kenne.“

Peter`s Blick war wie von einem gehetzten Wolf.

Zum Verständnis: Peter Kelly, ein früherer Journalist, besuchte 2014 einen Schreibzirkel, weil es schon immer sein Traum war ein eigenes Buch zu veröffentlichen. Über eine Anzeige stieß er auf diesen ominösen Walter Pickert, der solche Seminare für angehende Autoren veranstaltete. Pickert gelang in den 80er Jahren ein Bestseller, dann verschwand er aber für viele Jahre in der Versenkung, eher er in den 90er Jahren in Thailand beim Missbrauch mit Minderjährigen inhaftiert wurde. Nur unter großen diplomatischen Bemühungen des damaligen Außenminister Genscher, wurde er nach einem halben Jahr an Deutschland ausgeliefert. Dort kam er mit Bewährung und Geldstrafe davon. Danach verschwand er für einige Jahre von der Bildfläche, und zog auf die Schweizer Seite des Bodensees. Hier übernahm er eine kleine Druckerei, die aber drei Jahre später Insolvenz anmeldete. Dann hörte man von Pickert viele Jahre nichts mehr. Er versuchte zwar seine „Erlebnisse“ in Thailand auch über ein Buch zu verbreiten, aber das interessierte anscheinend kaum noch jemand. Es wurde ein Ladenhüter. Trotzdem versuchte er mit Mitte sechzig wieder Kohle zu machen, indem er Schreibzirkel veranstaltete, vorwiegend im Raum Ravensburg. Auch Peter meldete sich auf solch einen Workshop an, und absolvierte ihn mit durchschlagendem Erfolg. Die meisten der anderen Teilnehmer die selbiges vorhatten, kamen schlechter weg. Sie waren nämlich kurze Zeit später, tot!

Und Peter Kelly tat das, was man eigentlich tunlichst vermeiden sollte: Er „klaute“ einer anderen Teilnehmerin die Geschichte! Er war von der Story des „Schneeteufels“ so fasziniert, dass er leicht verändert diese Geschichte niederschrieb, und damit einen der größten Verkaufserfolge aller Zeiten in der Buchbranche erzielte.

Das Unheimliche an der ganzen Sache war nur, das einer nach dem anderen des Zirkels, kurze Zeit später, unter mysteriösen Umständen ums Leben kam, außer einem. Und von dem wurde Peter erpresst, dann war er kurze Zeit später auch tot. Klar, dass es in dem Fall nur einen geben konnte, der dafür verantwortlich war: Peter. Alle Motive führten natürlich zu ihm. Die Beweislast war so erdrückend, dass es für die Polizei und die Medien nur einen „wahren Täter“ gab, der diese grauenvolle Mordserie verübt haben musste:

Ein „Monster“ namens Peter Kelly.

Dazu kam noch, dass er sich seit einigen Jahren aufgrund von psychischen Problemen in therapeutischer Behandlung befand. Auch sein früherer Psychiater befand sich unter den Mordopfern. Bizarr an der mysteriösen Geschichte war auch die Tatsache, dass viele der schrecklichen Morde auch in Peters Buch so beschrieben wurden, bevor sie stattfanden!

Kein Wunder also, das er für die Medien der kranke, schizophrene Killer sein musste. Nur nicht für mich, ich traute immer das nie und nimmer zu. Aber vielleicht erlag auch ich einem fatalen Irrtum? Ich hoffte, die Wahrheit kam möglichst bald ans Licht.

„Und was hast du ihnen über mich und Pickert sonst noch erzählt?“, riss mich Peter wieder aus meinen Gedanken.

„Nur das, was ich von dir weiß. Eigentlich sogar weniger, schließlich kennen sie ja die Story schon lang und breit von dir. Und dann sagte ich, dass ich dich nicht für fähig halte, solche abscheulichen Morde zu begehen. Das ich selbstverständlich alles tun werde, um dir zu helfen. Wie diese Hilfe aussehen soll, habe ich Ihnen natürlich nicht gesagt, dass weiß ich ja selbst noch nicht so genau.“

„Paul, es gibt nur eine Chance um mir zu helfen.“

„Welche?“

„Finde Pickert. Er lebt, da bin ich mir absolut sicher.“

„Und wo soll ich ihn suchen?“

„Fahr in die Schweiz, dort wo er zuletzt wohnte. Als ich noch Zugriff auf mein Vermögen hatte, hab ich einen Privatdetektiv beauftragt, herauszufinden, wo Walter Pickert lebte. Starte dort deine Suche, vielleicht wirst du fündig. In knapp drei Wochen beginnt mein Prozess. Du bist meine letzte Chance um nicht verurteilt zu werden!“

„Und wer waren die verkohlten Leichen, die man aus dem Autowrack bei Reutte herausgezogen hat?“

„Wenn ich`s wüsste, würd ich dir`s sagen, aber mit Sicherheit nicht Pickert. Er will nur, dass man ihn für tot hält.“

Das war der Strohholm, an den sich Peter klammerte. Es konnte jetzt, fast zwei Monate nach diesem Unfall in Österreich, immer noch nicht identifiziert werden, wer sich wirklich im Fahrzeug befand. Nur bei der Autovermietung wurde ein Ausweis von Pickert vorgelegt, aber der konnte ja gefälscht gewesen sein. Oder er gab ihn jemand anderen der später das Fahrzeug fuhr, und machte sich dann aus dem Staub. Alles nur Vermutungen, aber möglich war alles. Von Peter wusste ich, dass er vor seiner Verhaftung von jemandem aus dem Schreibzirkel wegen dem Plagiatsvorwurf erpresst wurde, und der konnte auch mit Pickert unter einer Decke gesteckt haben. Und Pickert hatte diesen Mann dann beseitigt, und konnte die Tat Kelly später in die Schuhe schieben. Höchste Zeit also, endlich diesen Walter Pickert zu finden.

„Wie hieß dieser Detektiv, den du da beauftragt hast?“

„Ralf Stockhausen. Er hat seine Detektei in Ravensburg.“

„Macht es Sinn, ihn zu kontaktieren?“

„Nein, das was er herausgefunden hat, kann ich dir auch jetzt sagen. Er recherchierte den letzten Wohnsitz von Pickert in Arbon. Die Adresse teilte er mir noch mit. Dann stellte er seine Arbeit ein, weil ich vom Gefängnis keinen Zugriff mehr auf mein Geld hatte, um ihn weiter bezahlen zu können.“

Er sah sich nach den anderen im Raum um. Der Pfleger war vor wenigen Sekunden verschwunden. Er griff in seine Hosentasche. „Hier, steck das ein, und schau es dir später draußen an.“

Ich nahm einen zerknüllten Zettl aus seiner Hand, und steckte ihn in meine Hosentasche. Dann sah er sich wieder um, und flüsterte: „Auf dem Papier steht die letzte Adresse von Pickert in Arbon. Vielleicht kannst du ja einen Blick in seine ehemalige Wohnung werfen, und den Nachmieter fragen, ob er jemanden zu Gesicht bekommen hat. Als Stockhausen zuletzt vor vier Wochen in der Wohnung war, gab es dort Lebenszeichen. Und dann steht noch was anderes auf dem Papier.“

„Was?“

„Ein Versteck!“

„Welches Versteck?“

„Ein Geldversteck!“

„Was soll ich da?“

„Es holen natürlich, oder was dachtest du? Du bist der Einzige, außer meiner Tochter, dem ich noch vertraue. Aber Sophie ist noch viel zu jung um es zu holen. Außerdem beobachten meine Eltern fast jeden Schritt von ihr.“

„Was soll ich mit dem Geld? Das hättest du ja dem Detektiv geben können.“

„Paul, nur dir vertrau ich wirklich. Dieser Typ hätte sich das Geld vielleicht nur unter den Nagel gerissen, und dann nichts mehr getan.“

„Soll ich die Kohle zu deinen Eltern und Sophie bringen?“

„Nein, auf keinen Fall. Auch sie brauchen nichts davon zu wissen. Das ist für dich. Für deinen Glauben und Mut mir zu helfen. Und für die ganzen Unkosten, falls du länger in der Schweiz verweilen solltest.“

„Ich kann dort nicht ewig bleiben. Bei uns im Sportgeschäft ist jetzt bis Anfang Mai wenig los. Zwei – bis maximal drei Wochen Urlaub bekomm ich sicher, aber nicht mehr. Ich werde meinen Chef bitten, dass er mir zwei Wochen gibt. Ich hoffe, das reicht. Ich rufe ihn in einer halben Stunde an, dann kann ich vielleicht heut nachmittags noch starten. Ist eh grad tote Hose bei uns, und die Teilzeitkaft wird froh sein, wenn sie was zutun hat. Wie viel Geld ist in dem Versteck?“

„Genug, dass du dir ein gutes Top-Hotel nehmen kannst. Stockhausen erwähnte, dass laut seinen Recherchen, Pickert auch einige Zeit in Zürich gewohnt haben soll. Ähnliches erwähnte Pickert auch damals, als er sich der Gruppe beim Schreibzirkel vorstellte. Vielleicht solltest du auch dort ein paar Tage auf Spurensuche gehen. Womöglich hat er noch irgendwelche Kontakte, Freunde, Verwandte, Beziehungen oder sonst was.“