Mördergrube Herz - Lina Ståmer - E-Book

Mördergrube Herz E-Book

Lina Ståmer

0,0

Beschreibung

Sex vor der Ehe - bei den Mormonen verboten. Noch strenger ist es bei den Missionaren der Mormonenkirche: Da ist jedes unbeaufsichtigte Zusammensein mit dem anderen Geschlecht untersagt. Die junge deutsche Musikerin Hennah ist Missionarin - und in einen Missionar verliebt. Mördergrube Herz - ein emotionaler Roman, der in der Welt der Mormonen spielt - ist eine Geschichte von verlorengeglaubter Liebe, von falschen Entscheidungen, von zweiten Chancen und der Hoffnung, dass wahre Liebe nie vergeht.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 502

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Mego, meinen Fels in der Brandung

Die Handlung ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen oder Situationen sind rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Teil 1

Deutschland, Dezember 1991

Sechs Jahre zuvor: Basel, Juli 1985

Acht Jahre später: John F. Kennedy International Airport New York, September 1993

Acht Jahre zuvor: Basel, Juli 1985

Zehn Jahre später: Zu Hause in Deutschland, Oktober 1993

Zehn Jahre zuvor: Basel, Oktober 1985

Zehn Jahre später: Zu Hause in Deutschland, November 1995

Zehn Jahre zuvor: Basel, November 1985

Interlaken, November 1985

Achtzehn Jahre später: Zu Hause in Deutschland, Januar 2004

Achtzehn Jahre zuvor: Interlaken, Januar 1986

Zürich, Januar 1986

Zwanzig Jahre später: Zu Hause in Deutschland, Januar 2006

Zwanzig Jahre zuvor: Zürich, Februar 1986

Zweiundzwanzig Jahre später: Zürich, Februar 1986

Zweiundzwanzig Jahre zuvor: Zürich, März 1986

Teil 2

Zu Hause in Deutschland, Mai 1986

Zu Hause in Deutschland, Oktober 1986

Los Angeles, Oktober 1986

Provo, Utah, November 1986

San Francisco, November 1986

Acht Jahre später: Zu Hause in Deutschland, Dezember 1994

Acht Jahre zuvor: Los Angeles, California, Dezember 1986

Zu Hause in Deutschland, Februar 1987

Zollikofen / Interlaken / Tessin, Juli 1987

Zu Hause in Deutschland, August 1987

Teil 3

Zu Hause in Deutschland, Mai 1988

Eine Woche zuvor: Zu Hause in Deutschland, Mai 1988

Ein halbes Jahr später: Zu Hause in Deutschland, November 1988

Zwei Jahre später: Basel / zu Hause in Deutschland, Juli 1990

Anderthalb Jahre später: Zu Hause in Deutschland, Januar 1992

Anderthalb Jahre später: Zu Hause in Deutschland, Mai 1993

Zwei Jahre später: Nordsee, Sommer 1995

Ein halbes Jahr später: Zu Hause in Deutschland, Winter 1995

Ein halbes Jahr später: Zu Hause in Deutschland, Sommer 1996

Acht Jahre später: Zu Hause in Deutschland, September 2007

Drei Jahre später: Zu Hause in Deutschland, April 2010

Ein Jahr später: Zu Hause in Deutschland, Mai 2011

Zwei Jahre später: Zu Hause in Deutschland, Juli 2013

Ein Jahr später: Zu Hause in Deutschland, März 2015

Ein Jahr später: Zu Hause in Deutschland, Mai 2017

Zwei Jahre später: Zu Hause in Deutschland, Juni 2019

Los Angeles, Ende September 2019

Zu Hause in Los Angeles, März 2020

Deutschland, November 2020

Deutschland, Ende Dezember 2020

Ein Jahr später: Zu Hause in Deutschland, Dezember 2021

Epilog

Teil 1

Deutschland, Dezember 1991

Neben mir atmete mein Mann tief und gleichmäßig. Jetzt war der richtige Zeitpunkt.

Geräuschlos setzte ich mich im Bett auf, glitt von der Bettkante und bewegte mich langsam in Richtung Schlafzimmerkommode.

Nur kein Geräusch machen.

Durch die halb geöffneten Rollläden drang das fahle Licht einer Straßenlaterne ins Zimmer. Wie ein Indianer, der sich im Schutz der Dämmerung vor einem überlegenen Feind verbirgt, schlich ich am Fußende des Betts entlang, in Richtung Schlafzimmertür.

Nur nicht an irgendetwas stoßen oder auf etwas treten, das knistert oder kracht!

Meinen Mann in seinem Schlaf zu stören, würde seinen unbändigen Zorn schüren. Ich war so leise, dass man eine auf den Boden fallende Stecknadel hätte hören können.

Dann war ich am Ziel: die schwarze Kommode neben der Schlafzimmertür. Ich bückte mich zur untersten Schublade herab und zog sie behutsam auf. Die Lade klemmte ein wenig. Und knarrte.

Da flog ein Gegenstand vom Bett aus in meine Richtung und traf mich hart am Kopf.

»What are you doing there, damn it. I was sound asleep. You woke me up«, schrie mich mein Mann an und knipste unter weiteren Flüchen seine Nachttischlampe an.

Mein rechtes Ohr schien mir brennend heiß. Ich sagte nichts, wich auch nicht zurück oder verließ gar den Raum. Zu groß war die Befürchtung, dass ihn das noch mehr in Rage bringen und er mich tätlich angreifen würde. Das Gesicht, das ich einst so schön gefunden und das mich voller Liebe angeschaut hatte, war jetzt zu einer hässlichen Fratze geworden.

Immer noch schimpfend erhob er sich vom Bett und stapfte an mir vorbei, auf den Korridor, in Richtung WC.

Ich räumte den Birkenstockschlappen, den er nach mir geworfen hatte, beiseite und entnahm der Kommodenschublade einen Schokoladennikolaus, ein Marzipanbrot und ein Taschenbuch. Die Geschenke hatte ich am Vortag für meinen Mann gekauft. Er sollte sie erst am nächsten Morgen sehen. Deshalb hatte ich sie nicht platzieren können, bevor mein Mann sich zu Bett begeben hatte. Und sie in einem anderen Raum zu verstecken, hatte ich schlichtweg vergessen.

Das Licht im Flur war nicht eingeschaltet. Also steckte ich die Nikolausgaben in ein Paar Halbstiefel meines Mannes, die unter der Flurgarderobe standen. Er würde die kleinen Geschenke, wie geplant, erst am Folgetag vorfinden. Danach legte ich mich rasch wieder in mein Bett und deckte mich zu. Mit dem Schuhwurf und den Beschimpfungen war meine Vorfreude auf sein überraschtes Gesicht über die Nikolauspräsente verflogen. Trotzdem sollten die Gaben ihrer Bestimmung zugeführt werden.

»Entschuldige, dass ich dich geweckt hab«, sagte ich verhalten, nachdem er sich wieder neben mich gelegt hatte. »Dabei hab ich mich so bemüht, kein Geräusch zu machen.«

Gern hätte ich auch eine Entschuldigung von ihm für seinen Schuhwurf und seine Rede gehört. Vielleicht würde die ja am nächsten Tag kommen. Jetzt war er erst mal geladen.

Ich wusste, dass mein Mann nicht so sein wollte und sich nach seiner Wuttirade für sein Verhalten schämte. Tief in seinem Innern war er gut. Ich war davon überzeugt, dass er nichts für seine Ausbrüche konnte.

Die Frage war nur, ob er sich ändern konnte und wenn nicht, ob ich Wiederholungen solcher Szenarien bis an mein Lebensende – und noch länger – aushalten konnte. Ich entstammte einer Mormonenfamilie. Mein Mann und ich hatten eine »ewige Ehe« in einem Mormonentempel geschlossen, die – nach dem Glauben der Mormonen – auch über dieses Leben hinaus Bestand hat. Trennung kam für mich nicht infrage. Schließlich hatte ich bei der Eheschließung etwas versprochen.

Mein Ehemann machte es mir schwer. Aber in meinem Leben hatte ich schon so einige Probleme gemeistert. Deshalb glaubte ich fest daran, dass am Ende alles gut werden würde. Meine Ausdauer im beherrschten und nachsichtigen Ertragen stufte ich als Tugend ein.

Ich bin Mormonin, und ich bin stark. So leicht gebe ich nicht auf.

Ich war schon fast eingeschlafen, da hörte ich meinen Mann sagen:

»Manchmal wünschte ich, du wärst tot. Dann könnte ich endlich ein neues Leben anfangen.«

Sechs Jahre zuvor Basel, Juli 1985

Bei unserer ersten Begegnung, auf einem geschäftigen Bahnsteig des Baseler Bahnhofs entging mir nicht, wie Elder Cole Shelby mich mit seinen leicht schräg stehenden, sehr hellblauen Augen anschaute. Nicht gerade unauffällig musterte er meine Beine unter meinem knielangen, roten Sommerrock. Sein forschender Blick störte mich keineswegs, sondern sagte mir lediglich, dass ihm meine Beine zusagten.

Auf einem der Nachbargleise quietschten die Räder eines bremsenden Zugs, als sich bei einer knappen Begrüßung per Handschlag für wenige Sekunden unsere Blicke trafen. Dass Elder Shelby dabei nicht lächelte, war womöglich ein Spiegel meines eigenen stoischen Gesichtsausdrucks. Sicher lächelte ich für amerikanische Verhältnisse zu wenig und übertrieb es mit meiner zurückhaltenden Art.

Mormonenmissionare unterwerfen sich strengen Regeln. Eine davon heißt: »Lock your heart«. Beziehungen zum anderen Geschlecht aufzubauen, ist während der Mission tabu. Schon Flirten gilt als unpassend.

Elder Shelby war eine auffällig gut aussehende, sportliche Erscheinung. Sein dichtes, dunkelbraunes Haar trug er kurz, wie alle männlichen Mormonenmissionare. Er war der »Distriktleiter« und trug mehr Verantwortung als der Rest von uns jungen Missionaren in Basel. Neben dem geistigen Wohl des Einzelnen kümmerte er sich auch um Organisatorisches. Wenn Missionare einen Versetzungsbrief bekamen, unterstützte er sie dabei von A nach B zu kommen.

Nach sechs bewegten Monaten in der schweizerischen Museumsstadt Winterthur hatte ich nun meinen ersten Versetzungsbrief erhalten. Der Ortswechsel nach Basel war nicht meine eigene Wahl gewesen. Wer in welcher Stadt arbeitete, entschied der in Zürich ansässige Missionspräsident. Der freundliche US-Amerikaner, dessen Äußeres mich an die Hollywoodlegende Orson Welles erinnerte, war um die fünfzig und das Oberhaupt unserer Mission.

Mit einer ungezwungenen Selbstverständlichkeit trug Elder Shelby meine beiden Koffer in Richtung Ausgang. So liefen wir auf den hellgrauen Pflastersteinen des Bahnsteigs in angemessenem Abstand nebeneinander her, wobei wir uns im Schatten des noch nicht abgefahrenen Zuges hielten. Der heiße Sommertag trieb mir Schweißperlen auf die Stirn.

»Sister Maibaum, wie hat es Ihnen in Winterthur gefallen?«, fragte er höflich, während der kurzen Tramfahrt zum St. Johanns Quartier.

Dort lag die Wohnung, in der ich mit meinen zukünftigen Missionskolleginnen für mehrere Monate unterkommen sollte. Dass Shelby und ich einander siezten, wie es die Missionsregeln vorschrieben, unterstützte die gewollte Distanziertheit gegenüber Personen anderen Geschlechts.

»Die Monate in Winterthur waren einfach richtig gut«, antworte ich und fügte – obwohl ich mir nicht sicher war, dass es ihn interessierte – hinzu: »Ich war traurig, als ich von meiner Versetzung nach Basel erfahren hab. Ich hatte in Winterthur sehr gute und intensive Erlebnisse. Die Leute dort werd ich vermissen.«

Als er nichts erwiderte, schob ich rasch noch hinterher: »Aber jetzt freu ich mich auch auf Basel. Wie ist denn die Kirchengemeinde in Basel so?«

»Die Gemeinde hier ist nett. Und die Mitglieder unterstützen uns oft bei der Missionsarbeit. Ab und zu laden sie uns auch zum Essen ein.« Elder Shelby sprach fließend Deutsch mit einem nicht zu überhörenden amerikanischen Akzent.

Die Tramfahrt mit Elder Shelby kam mir sehr lang vor. Ihm schien kein weiterer Stoff für Small Talk einzufallen. Erfolglos rang auch ich nach Gesprächsthemen. Aber obwohl ich stumm blieb, schaute Elder Shelby mich an, als sprächen wir noch. Gewiss war der Tramhaltegriff, an dem meine leicht zitternde Hand haftete, allein an diesem Vormittag schon von Dutzenden schwitzenden Händen umklammert worden. Um mir den Anschein von Lockerheit zu geben, ließ ich meinen Blick über die Geschäftsleute, Hausfrauen, Touristen und sonstigen Trampassagiere schweifen. Jedoch wurde mir klar, dass ich damit kaum Lässigkeit vortäuschen konnte. Elder Shelby, der sich ebenfalls an einem der Haltegriffe in der gut gefüllten Tram festhielt, schien die Stille zwischen uns nicht zu stören. Mit einem Papiertaschentuch tupfte ich mir den Schweiß von der Stirn. Dabei fühlte ich einen unsichtbaren Stock in meinem Rücken.

Nie zuvor in meinem Leben hatte ich derart für etwas gebrannt, wie ich es seit Beginn meiner Mission für meine seelsorgerische Arbeit tat.

Als Gymnasiastin und während meines Sprachenstudiums in Deutschland hatte ich mich des Öfteren gegen bestehende Regeln aufgebäumt und war gegen den Strom geschwommen. Das hatte mir bei meinen Mitschülern Pluspunkte eingebracht. Sie respektierten mich ungeachtet meiner – in ihren Augen – merkwürdigen mormonischen Regeln (kein Alkohol, kein Nikotin oder sonstige Drogen und last not least kein Sex vor der Ehe). Das Anderssein gehörte zu mir. Es war Programm geworden.

»Kannst du dich nicht einfach von all diesen Zwängen und der Einengung befreien und dein Leben genießen?«, hatte einer meiner Klassenkameraden – Sebastian – einmal während der Schulzeit fast flehentlich zu mir gesagt.

Mein sonstiges Umfeld schien mein Anderssein zu akzeptieren.

Als Zwanzigjährige hatte ich dann allein, in aller Stille, die Entscheidung getroffen meinem Gott achtzehn Monate meines Lebens als Missionarin zu dienen – zur Überraschung aller. Denn im trauten Familien- und in meinem mormonischen Freundeskreis hatte ich meinen tief verwurzelten Gottesglauben nur bedingt nach außen gekehrt. Ja, ich war als gehorsame Mormonin aufgewachsen. Und es mag verrückt klingen, aber bis zu dem Zeitpunkt, als ich mich als Missionsanwärterin outete, wollte ich nicht, dass meine Familie wusste, wie stark mein Glaube an Gott war – und dass ich letztlich fühlte wie sie. Es mögen die Ausläufer meines pubertären Drangs nach Individualität gewesen sein, weshalb es mir regelrecht zuwider war, mit einer Gruppe konform zu gehen.

Meine Verbindung zu dem höheren Wesen, das man in unserer Gesellschaft Gott nennt, konnte ich nicht verleugnen. Allzu oft hatte ich diese Verbindung in meinem Leben gespürt. Tief in meinem Herzen. Der natürliche Drang anderen Menschen von diesem barmherzigen und liebenden Wesen zu erzählen, war in mir immer stärker geworden.

Jetzt, als Missionarin, kommunizierte ich meine religiösen Überzeugungen jeden Tag und hatte mich bewusst dem strengen Reglement der Mission unterworfen. Ich marschierte in der Herde der anderen Missionare mit. Noch nie hatte ich mich so extrovertiert gegeben. Ich wollte die Welt verbessern und Menschen helfen. Aus Liebe.

Ja, Nächstenliebe war das zentrale Thema. Nicht vorgesehen waren für uns Missionare jedoch Gefühle von Verliebtheit. Schon Vorstufen davon sollten im Keim erstickt werden. Wenn das Objekt des Begehrens innerhalb des Missionsgebiets war – also in Reichweite –, galt es, das Herz vor solchen Gefühlen zu »verschließen«. Missionare dürfen keine Liebesbeziehungen knüpfen! Sie dürfen nicht küssen, umarmen, Händchenhalten, flirten, Intimitäten austauschen oder gar tatsächlich mit jemandem in der Kiste landen. Missachtung bedeutete, dass der Missionspräsident den Betreffenden »unehrenhaft entlassen« und nach Hause schicken musste.

»Keine persönlichen Briefe oder Anrufe bei jemandem anderen Geschlechts, der innerhalb des Missionsgebiets ist, sich nicht zu zweit in einem Raum aufhalten, ohne die Tür einen Spalt offen stehen zu lassen,« – so wollte es das uns zur Verfügung gestellte kleine, weiße Regelheftchen. Diese Linie wollte ich anderthalb Jahre lang treu und hingebungsvoll fahren.

Die Missionszeit war kein Dorffest oder Scheunentanz. Sie bedeutete Arbeit, Regeln und Einschränkungen. Aber die Arbeit machte mir Freude, und unsere Belohnung war das gute Gefühl, das wir ernteten, wenn unsere Anstrengungen Früchte zu tragen schienen.

Endlich hatten Elder Shelby und ich unsere Zielhaltestelle, den Kannenfeldplatz, erreicht. Er stieg aus und ich folgte ihm, erleichtert, dass die beklemmend dialogfreie Tramfahrt vorüber war. Auch jetzt trug Elder Shelby wieder meine beiden Koffer, während ich mit einem halben Meter Abstand neben ihm herlief. Im St. Johanns Quartier, einem Viertel mit hohem Ausländeranteil im stark industrialisierten Norden von Basel, reihte sich ein Mehrparteienhaus an das andere. In der für mich vorgesehenen Unterkunft, einer Einzimmer-Altbauwohnung in der Davidsbodenstrasse, die vor mir und meinen zukünftigen Kolleginnen von anderen Missionaren bewohnt worden war, trafen Elder Shelby und ich zwei weitere Mormonen-Elders an. Diese hatten sich die Mühe gemacht, die Räumlichkeiten durchzuputzen.

Einer der Elders – er stellte sich als Brady Fitch vor – erklärte mir in freundlichem Ton: »Eigentlich ist diese Wohnung nur für zwei Missionare ausgelegt. Man hat jetzt halt eine Dreierbehausung draus gemacht.«

»Ja, extrem geräumig ist sie wirklich nicht«, gab ich mich positiv, »aber gemütlich schon«.

Der höfliche Elder Fitch mochte um die einsachtzig sein und hatte dichtes, aschblondes Haar. Nicht unbedingt schmeichelhaft, aber markant, waren an seinem unauffälligen Äußeren, seine mehr grauen als graublauen Augen und seine Gesichtsakne. Sein Kollege, dessen Gesichtszüge mich an Paul McCartney erinnerten und dessen Namensschild ihn als Elder Miller auswies, blieb stumm und nickte mir nur freundlich grüßend zu.

Die Möbel im Wohnzimmer, das zugleich auch Schlafraum war, standen dicht an dicht. Zwischen einem an der Wand, in Fensternähe, platzierten dunkelbraunen Massivholzbett, das ich als meines erkor und einem graubraunen Monstrum von Ohrensessel, war ein weiteres Bett gequetscht worden. Ein drittes befand sich an der gegenüberliegenden Wand zwischen einem Schreibtisch und einem dunklen, ausladenden Kleiderschrank, wodurch nur ein kleines mit einem verblichenen Perserteppich ausgelegtes Rechteck in der Mitte des Raumes frei blieb. Wesentlich mehr freie Fläche bot dafür die mit einer gemütlichen Essecke bestückte Wohnküche.

An diesem Punkt lechzte alles in mir danach, allein zu sein. Aber ein Mormonenmissionar ist nie allein, außer im Bad oder WC. Jeder Mormonenmissionar hat einen gleichgeschlechtlichen Missionspartner. Und weil meine Partnerin noch nicht eingetroffen war, blieben die Elders bei mir. In Basel sollte ich sogar gleich zwei Partnerinnen bekommen. Beide »Greenies«. So nannten wir ganz neue Missionare, die frisch aus der Missionarsschule in Provo, Utah, kamen, wo ihnen mehrere Wochen in Schnellkursen Sprache und Gepflogenheiten ihres Einsatzorts vermittelt wurden.

Auch Elder Shelby erwartete einen Greeny. Unsere drei Neuen waren just mit einem Zug zu uns, nach Basel, unterwegs.

»Es ist sicher das erste Mal, dass Sie in einem Dreierteam arbeiten?«, machte wieder Elder Fitch höflich Konversation. »Und dann gleich zwei Greenies auf einmal! Das kommt sicher so gut wie nie vor.«

»Ja, ich hoffe, wir werden uns nicht gegenseitig die Augen auskratzen«, gab ich zur Antwort.

In Wirklichkeit war ich jedoch stolz darauf, zwei Greenies zu bekommen, weil es bereits als Auszeichnung galt, einen ganz neuen Missionar in die Arbeit einzuführen.

Als wieder Stille eintrat, entriegelte ich – um meinen Händen etwas zu tun zu geben – die Schlösser eines meiner Koffer und begann mit dem Auspacken meiner Habseligkeiten. Da ließ der schrille Ton der Türglocke uns allesamt zusammenzucken. Froh über diese Ablenkung beeilte ich mich zu öffnen und stand Sebastian, meinem ehemaligen Mitschüler aus meiner Abschlussklasse in Deutschland, gegenüber.

»Du bist so ziemlich der Letzte, den ich hier erwartet hätte«, entfuhr es mir.

Seine aschblonde Lockenpracht hatte Sebastian unter einer blauen Schirmmütze versteckt.

Auf dem Rücken trug er einen voluminösen dunklen Reiserucksack und erzählte nun – nach Luft ringend – stoßweise: »Ich war bereits … an deiner ehemaligen Missionarswohnung … in Winterthur. Dort hat mir deine … Ex-Kollegin deine neue Adresse in Basel gegeben.«

Offensichtlich hatte Sebastian mir verziehen, dass ich seine Einladungen zu Rockkonzerten im letzten Schuljahr nie angenommen hatte. Während er sich von der Last seines schwergewichtigen Backpacks befreite, den er mit Schwung auf den alten Perserteppich im Wohnzimmer wuchtete, berichtete er – inzwischen schon etwas ruhiger atmend –, dass er auf der Durchreise in den Tessin sei. Elder Shelby, der Sebastians Auftritt neugierig interessiert beobachtet hatte, holte ihm ein Glas Leitungswasser aus der Küche.

»Was macht ihr so den ganzen Tag, wenn ihr nicht gerade Koffer auspackt?«, fragte Sebastian, nahm einen gehörigen Schluck aus dem Wasserglas und schaute mich mit seinen großen, allzeit sehr wachen Augen an.

»Die meiste Zeit sind wir unterwegs, mit Leuten reden, die Interesse an unserer Botschaft haben«, erklärte ich bewusst knapp, wohlwissend, dass Sebastian sich nicht wirklich für unsere missionarische Arbeit interessierte.

»Was ist das für eine Botschaft? Und kann die so wichtig sein, dass man dazu in einem anderen Land leben muss und das normale Leben zu Hause aufhört?«

»Wir erzählen den Menschen von Jesus Christus und seiner Lehre. Solch eine Mission dauert ja nicht ein ganzes Leben. Sie geht ja nur anderthalb Jahre«, beeilte ich mich hinzuzufügen.

»Ihr macht das, um Mitglieder für Eure Sekte zu werben, und sicher steckt auch ein finanzielles Interesse dahinter. Und wer möchte heutzutage überhaupt etwas über Jesus hören? Es wäre doch viel sinnvoller, statt zu den reichen Schweizern, an einen Ort in der Welt zu gehen, wo Menschen sind, die wirklich Hilfe brauchen. Insbesondere Länder, die von Armut und Krieg bedroht sind«, sagte Sebastian pathetisch und nahm seine Kappe ab, worauf seine lockige Mähne auf seine Schultern herabsank.

Die Elders hatten sich bis hierhin ruhig verhalten und nur zugehört.

Aber nun zwinkerte Elder Shelby mir zu und sagte in nicht ganz fehlerfreiem, amerikanisch gefärbtem Deutsch an Sebastian gewandt: »Wir suchen nach den Menschen, die mehr über Gott hören wollen und laden sie auch in unsere Kirche ein. Hier geht es nicht um Geld. Unsere Missionszeit finanzieren wir aus eigener Tasche. Ich denke, es ist sinnvoll, überall da zu helfen, wo Menschen Hilfe brauchen. Man darf aber nicht vergessen, dass Menschen nicht nur physische oder finanzielle, sondern auch Hilfe auf geistigem Gebiet brauchen.«

Ich hatte Sebastian immer als netten und offenen Menschen erlebt. Jedoch wusste ich schon aus vorausgegangenen Unterhaltungen mit ihm, dass er meine Religion als blödsinnig und unzeitgemäß einstufte.

»Ich hatte auch nicht gedacht, dass ihr euch persönlich bereichert«, ergänzte nun Sebastian und positionierte sich mit dem Rücken zu den Elders, sodass er nur noch mich im Blickfeld hatte, »aber ich gehe davon aus, dass alle Mitglieder der Sekte Geld abdrücken müssen.«

Ich verkniff mir die Frage, ob er nicht vielleicht die Mormonenkirche mit Scientology verwechselte.

Da ich mich in diesem Moment daran erinnerte, dass mein reisender Schulkamerad sich einst halbherzig mit Zenbuddhismus befasst hatte, fragte ich ihn gerade heraus: »Ausgeprägtes Interesse an Religion scheinst du nur dann als akzeptabel einzustufen, wenn man die Glaubenslehre lediglich bewertet und nicht gar zu einem zentralen Punkt des eigenen Lebens macht, stimmts?«

»Du hast mich ertappt«, lächelte Sebastian und hob einen seiner Daumen.

Im weiteren Verlauf der Unterhaltung fiel mir Elder Shelbys rasche Auffassungsgabe und offenkundige Menschenkenntnis auf. Trotz seiner erst zwanzig Jahre wirkte er auf mich sehr erwachsen. Seine Art, mit Menschen umzugehen und sich nicht aus dem Gespräch drängen zu lassen, hatte etwas Natürliches und spielerisch Humorvolles. Doch trotz all dieser positiven Attribute machte er gleichzeitig einen eingebildeten Eindruck auf mich.

Bald war es Zeit, die Greenies am Bahnhof abzuholen. Ich musste insgeheim schmunzeln, als Sebastian im Gleichschritt mit uns Missionaren zur Tramhaltestelle marschierte. Vom SBB – dem schweizerischen Bahnhof Basel – aus wollte er weiterreisen.

»Warum heißen die männlichen Missionare eigentlich alle Elder?«, fragte Sebastian während der Tramfahrt und deutete auf ein Plastiknamensschild, das Elder Fitch an seinem Revers trug.

»Es ist ein biblischer Titel im Priestertum. Zu Deutsch: Ältester«, erklärte ich ihm im Telegrammstil.

Elder Shelby und die anderen beiden Elders schienen sehr genau zu beobachten, wie mein Abschied von Sebastian in der Eingangshalle des Bahnhofs ausfiel. Deshalb geriet meine Verabschiedung mit einem kurzen Händedruck auch noch steifer, als sie sonst wohl ausgefallen wäre.

Acht Jahre später John F. Kennedy International Airport New York, September 1993

Erschöpft von neun Stunden Flug hasteten mein Mann und ich mit unserem Handgepäck in Richtung Anschlussfliegergate. L.A. war das Ziel. Die anderthalbjährige Leni, die vor Durst quengelte, trug ich auf dem Arm. Wie ich befürchtet hatte, ließ die Kleine – durchgerüttelt von meinem Dauerlauf – ihr Plastiktrinkfläschchen auf den grau melierten Steinboden der Flughafenhalle fallen. Mein Mann warf mir einen bitterbösen Blick zu und skandierte: »Ich hatte dir verboten, ihr das Fläschchen zu geben.«

Ich hob die Flasche vom Boden auf und setzte meinen Lauf fort, Leni eng an mich gedrückt. Meine Bluse klebte an meinem schweißnassen, schmerzenden Rücken. Immer bedacht unsere Geschwindigkeit nicht zu reduzieren, kämpfte unsere kleine Familie sich zwischen Scharen von Reisenden mit ihren Gepäckwägen und Ansammlungen von uniformierten Flugbegleiterinnen hindurch.

Lenis Wimmern war einem lauten Weinen gewichen, sodass ich nicht umhinkonnte, ihr das Plastikfläschchen mit dem Saft nochmals zu reichen. Das Unvermeidliche geschah. Die Flasche entglitt ihren kleinen Fingern und fiel erneut auf den Steinboden. Wutentbrannt tat mein Mann einen Schritt auf uns zu, hob das Fläschchen auf, um es mit aller Wucht nochmals auf den Boden zu schmettern. Es zersprang in drei Einzelteile.

»You fuckin‘ asshole«, schrie er jetzt aus Leibeskräften und vor allen Umstehenden, »what do you think you’re doing here!«

Als ich mich anschickte, die Einzelteile der Flasche aufzuheben, überkam mich ein Gefühl von Mattigkeit. Ich taumelte rückwärts, in Richtung eines großen Pflanzenkübels, auf dessen Rand ich mich niederließ – Leni auf meinem Schoss. Ein älterer, grauhaariger, distinguiert wirkender Herr im dunkelgrünen Lodenmantel schaute mir stumm ins Gesicht.

Du armes Wesen. Du tust mir von Herzen leid, sagte mir sein ernster und zugleich gütiger Blick.

Dann hob er bedächtig die Einzelteile der Flasche auf und schraubte sie wieder zusammen, bevor er sie mir reichte.

Mein Mann war weitergelaufen. Ich rappelte mich auf und folgte ihm, mit Leni auf dem Arm. Glücklicherweise hatte der Anschlussflieger zehn Minuten Verspätung.

Ausflüge in der Umgebung von Los Angeles und die Treffen mit den Verwandten und Freunden meines Mannes – allesamt sehr sympathische Menschen – boten viel Ablenkung. Trotzdem gelang es mir nicht, die Demütigung auf dem Flughafen so einfach wegzustecken. Die Beschimpfungen in aller Öffentlichkeit hatten meinem Herzen einen Stich versetzt.

Es waren bereits einige Tage seit unserer Ankunft in L.A. vergangen, als ich es wagte, meinen Mann zu fragen: »Können wir über die Situation am Flughafen sprechen?«

»Nein«, bekam ich zur Antwort.

Für den Moment konnte ich scheinbar nichts tun, als mich damit abzufinden. Ich entschied, mich dadurch nicht runterziehen zu lassen.

Acht Jahre zuvor Basel, Juli 1985

Meine beiden Greenies lächelten mich freundlich an, als ich sie auf dem von der hellen Mittagssonne beschienenen Bahnsteig willkommen hieß. Die lockere Herzlichkeit, die ich bei meiner ersten Begegnung mit Elder Shelby nicht hatte aufbringen können, gelang mir bei diesen beiden sympathischen jungen Frauen mühelos.

Brooke Waverly, eine drahtige, charismatische Blondine, war – so hatte mir der Missionspräsident vorab verraten – auf einer Farm aufgewachsen und hatte wilde Pferde zugeritten.

Ihre Sonnenbräune, ihr kurzes Haar im Lady Di Schnitt und ihre blauen Augen verliehen ihr ein dynamisches Aussehen. Gleichzeitig legte sie eine sympathische Lässigkeit an den Tag.

Annie Rourke, die andere neue Missionarin war, im Vergleich, eine unauffällige Erscheinung. Dass ich ihr beim ersten Kennenlernen in Gedanken das Prädikat »graue Maus mit brünetter Dauerwelle« zuordnete, hatte nichts mit ihrer Körpergröße zu tun. Annie Rourke war stämmig und größer als Brooke und ich. Aber ihre ganze Persönlichkeit wirkte so unscheinbar wie ihr dunkelgrauer, wadenlanger Baumwollrock. Wenn Annie jedoch lächelte, war man überrascht, wie sehr sie strahlen konnte.

Vogelgezwitscher drang durch das offene Fenster in unser übermöbliertes Wohnzimmer, als wir drei jungen Missionarinnen am späten Nachmittag im Schneidersitz auf Brookes Bett saßen und unsere gemeinsamen Aktivitäten planten.

»Vom Missionspräsidenten habe ich gehört, dass du in Winterthur vier Menschen zur Taufe gebracht hast«, sagte Brooke in nicht akzentfreiem, aber schon recht gutem Deutsch.

»Ja«, antwortete ich wie beiläufig und beeilte mich hinzuzufügen: »Natürlich haben sie sich selbst ihre eigene Überzeugung erarbeitet. Aber ich hab diese Leute gefunden und war einfach dankbar, ihre Bekehrung begleiten zu dürfen. Ich kann das Glücksgefühl kaum in Worte fassen, das ich dabei empfunden hab.«

»Ich möchte auch solche Erfahrungen machen«, sagte Brooke mit leuchtenden Augen, »weil ich den Menschen etwas abgeben will, von dem Guten, das ich bekommen habe«.

»Wann sehen wir die Elders wieder?«, warf nun Annie ein, deren Deutschkenntnisse noch recht mager waren und zog dabei ihre dichten, brünetten Augenbrauen fast bis zum Haaransatz hoch.

»Das wird erst gegen Ende der Woche sein«, musste ich sie enttäuschen. »Elder Shelby hat gesagt, dass wir Missionare am Samstag alle zusammen an einem Infostand am Barfüsserplatz arbeiten werden.«

Annie war mit ihrem gesteigerten Interesse, die Elders bald wiederzusehen, nicht gänzlich allein. Auch ich war gespannt auf ein Wiedersehen, insbesondere mit Elder Shelby. Aber ich hätte mich gehütet, dass irgendjemandem zu signalisieren. Schließlich war ich Missionarin und nicht auf Partnersuche.

Dann zogen wir Drei los, zu Annies und Brookes erster Interaktion mit Baseler Bürgern. Ich erinnerte mich noch gut an meine eigene »erste Tür« als neue Missionarin in Winterthur. Es war mir peinlich gewesen, in einer gutbürgerlichen, mit Zweifamilienhäusern bestückten Wohngegend einen Klingelknopf zu drücken und Menschen, die ich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen hatte, auf meine Religion anzusprechen. Meine Hände hatten gezittert und im Hals hatte ich einen Kloß gefühlt. Letztlich war meine erste Tür jedoch ein positives Erlebnis gewesen. Und genau das wünschte ich jetzt auch Brooke und Annie.

Zunächst hatten wir es jedoch mit einem aggressiven älteren Herrn mit rotem Zottelbart und abgetragenem Cordanzug zu tun, der mit erhobener Faust in einer Einfahrt zwischen zwei hellgrauen Häuserblöcken stand und drohte, unseretwegen die Polizei zu rufen. Ob er uns als Mormonenmissionarinnen erkannte oder uns eine verbrecherische Absicht zuordnete, erschloss sich uns nicht.

Wir nahmen nicht weiter Notiz von dem Bärtigen und betraten wenig später einen der großen, mehrgeschossigen Wohnblocks in der Gasstraße. Im Aufzug roch es nach Zigarettenrauch, und an den Wänden prangten Inschriften, wie ich sie von Schulklos kannte. Annie hüstelte, als sie mit einem ihrer braunen Pumps gegen eine leere Bierdose stieß, die scheppernd in eine Ecke des Lifts rollte, während wir aufwärts sausten.

Für den Bruchteil einer Sekunde tauchte vor meinem inneren Auge Elder Shelbys Gesicht auf – und wie er mich mit seinen schmalen, hellblauen Augen während der Tramfahrt angeschaut hatte.

Was ist das jetzt?, wunderte ich mich.

Es war mir doch bisher immer gelungen, mich ausschließlich auf die Missionsarbeit zu fokussieren. Außerdem war mein Herz doch längst vergeben! Diese Vision ging aber auch so rasch vorbei, wie sie gekommen war. Mit Schwung trat ich aus dem Lift, gefolgt von meinen beiden Kolleginnen.

Im obersten Stockwerk des Treppenhauses drückte Brooke beherzt auf einen der weißglänzenden Klingelknöpfe. Ein junger Mann mit dunkler Baumwollmütze und Dreitagebart steckte seinen Kopf durch den Türspalt.

Mutig legte Brooke los: »Wir sind Missionarinnen der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage und möchten gern mit Ihnen über Jesus Christus sprechen.«

Der Mann mit der Mütze hörte Brooke geduldig zu, bevor er eine abwehrende Handbewegung machte. »Dieses Haus ist die falsche Adresse für euch. Ich prophezeie euch, dass euch hier niemand zuhören wird.«

Immerhin hatte er sich, ohne zu unterbrechen oder gar vorzeitig die Tür zuzuknallen, den ellenlangen offiziellen Namen der Mormonenkirche angehört. Seine Prophezeiung beeindruckte uns nicht. Und sie traf auch nicht ein. Stattdessen wurden wir in diesem Gebäude nun an jeder Tür, an der wir klingelten, eingelassen.

»Vierhölzer« lasen wir auf dem schwarzen Plastiknamensschild mit weißen Lettern an der nächstgelegenen Wohnungstür.

»Sind Sie Mormonen? Ich habe schon lange auf Sie gewartet!«, rief eine hohe Frauenstimme durch die noch geschlossene Tür. »Sie sind nicht von der Polizei oder?«, fragte die Stimme weiter. »Können Sie mir einen Ausweis zeigen, dass Sie Mormonen sind?«.

Das konnten wir. In Frau Vierhölzers spärlich möblierter Wohnung herrschte ein heilloses Durcheinander. Überall lagen Kleidungsstücke und Pappkartons herum. Auf ihrem Sofa saß zusammengesunken, stumm und als gehörte sie zum Inventar, eine alte, runzlige Frau mit besorgtem Gesichtsausdruck. Frau Vierhölzer selbst – sie mochte um die fünfunddreißig sein und war schlank und groß von Gestalt – erzählte uns ohne jeglichen Zusammenhang, dass ihr Vater »auch« kriminell gewesen sei und sie daher nichts dafürkönne.

»Warten Sie!« Ihre Stimme klang wie ein schrilles Pfeifen.

Dann legte sie ihren Zeigefinger auf ihre Lippen, huschte ins Nebenzimmer und schloss die Tür hinter sich. Als sie sich kurz darauf wieder zu uns gesellte, überreichte sie Brooke einen zierlichen, braunen Teddybären und mir ein vergilbtes Schwarz-Weiß-Foto, auf dem ein hübsches, ernst dreinblickendes Mädchen mit großen, dunklen Augen und Pagenkopf zu sehen war.

»Das bin ich als Kind«, flötete sie. »Bitte beten Sie für mich! Und besuchen Sie mich wieder!«

Bevor wir aufbrachen, sprachen wir noch ein gemeinsames Gebet mit den beiden Frauen.

»Amen«, war das erste und einzige Wort, das wir von der hutzeligen, alten Frau auf dem Sofa hörten.

Nach dieser sonderbaren Begegnung hatten wir noch in drei weiteren Wohnungen, im selben Häuserblock, die Gelegenheit über Christus zu sprechen und gemeinsam mit den Bewohnern zu beten.

»Das war wunderbar. I love this«, schwärmte Brooke, als wir einige Stunden später mit dem Lift zurück ins Erdgeschoss fuhren.

Auch Annie stand ihre Begeisterung ins Gesicht geschrieben. Die leere Bierdose war inzwischen aus dem Lift verschwunden und alles um uns herum schien mir viel heller und schöner als bei der Aufwärtsfahrt.

Ich war dankbar und stolz, dass »meine« Greenies solch einen guten Einstand gehabt hatten. Das von Tür zu Tür gehen – wie wir es nannten – konnte dann eine effektive Methode sein, mit Menschen in Kontakt zu kommen, wenn man selbst in zuversichtlicher Verfassung war und dies nach außen strahlte.

Mein Schulfreund Sebastian hätte unsere Vorgehensweise sicherlich als Hausieren bezeichnet. Aber natürlich verkauften wir Missionare nichts.

Ich fragte mich, wie wohl Elder Shelbys erster Tag mit seinem Greeny verlaufen war. Dass Menschen ein Gespräch mit dem auffällig gutaussehenden und interessant wirkenden Elder Shelby ablehnen würden, konnte ich mir nicht vorstellen. Vor meinem geistigen Auge sah ich Elder Shelby mit seinem Greeny im sonnenbeschienenen Treppenflur eines Hochhauses und malte mir aus, dass die beiden – wie Brooke, Annie und ich – an fast jeder Tür Einlass fanden.

In der Nacht, nach unserem ersten Arbeitstag, schliefen meine beiden amerikanischen Kolleginnen und ich wie Steine. Es folgte ein weiterer ereignisreicher, gemeinschaftlicher Arbeitstag.

Schon gleich zu Beginn meiner Mission, in Winterthur, hatte ich mich rasch an die feste Tagesstruktur gewöhnt: Aufstehen um halb sieben, Mittagspause von zwölf bis zwei und dann durcharbeiten bis zum späteren Abend.

Brooke und Annie schienen sich ebenfalls leicht damit zu tun. Besonders Brooke beeindruckte mich mit ihrer Mischung aus Disziplin, natürlicher Freundlichkeit und Humor.

Kühle Abendluft strömte durch unser offenes Küchenfenster in die Wohnung. Der Himmel war übersät von rosaroten Wölkchen. Andächtig beobachtete ich, wie die untergehende Sonne den Sommertag nach und nach mit sich nahm.

Was für ein schöner Tagesausklang!

Nachdem ich eine Weile am Küchenfenster gestanden und gestaunt hatte, schickte ich mich an, an unserem betagten Gasherd einen Grießbrei für uns drei zu kochen. Dabei ließ ich in Gedanken vergnügt die Erlebnisse des Tages nochmals Revue passieren. Die inzwischen dunkelroten Wolken, die am Himmel vorbeisegelten, behielt ich dabei immer im Blick. Deshalb merkte ich gar nicht, dass ein Zipfel des Geschirrtuchs, welches mir als Topflappenersatz diente, in die bläuliche Gasflamme des Herds hing. Das Tuch fing Feuer. Vor Schreck ließ ich den Topf mit dem kochenden Brei fallen, der sich über mein rechtes Schienbein und meinen Fuß ergoss. Brooke, die zusammen mit Annie im Wohnzimmer Deutschvokabeln gepaukt hatte, reagierte auf meinen Aufschrei und war rasch zur Stelle. Sie ließ kaltes Wasser in unsere Badewanne laufen und riet mir, mit beiden Beinen in die Wanne zu steigen. Trotzdem entstand eine große Brandblase auf der Oberfläche meines Fußes.

»Das tut ganz schön weh«, jammerte ich, nachdem ich lange genug in der Badewanne ausgeharrt hatte. »Ich hab die Befürchtung, das hier wird unsere Pläne für die nächste Zeit durchkreuzen.«

Vorsichtig trocknete ich meine Beine und Füße ab.

In den folgenden beiden Wochen musste ich häufig mit dem Taxi zur Behandlung der Brandverletzung ins St. Johanns Spital fahren. Natürlich zusammen mit Brooke und Annie, weil Mormonenmissionare nicht allein sein sollen. Die übrige Zeit musste ich zunächst in der Wohnung bleiben und mein Bein hochlagern. Mangels Erfahrung trauten sich meine beiden Kolleginnen nicht alleine loszuziehen und Menschen anzusprechen. Also saßen wir Drei uns die meiste Zeit über in der Wohnung auf der Pelle. Brooke gab sich mitfühlend und hilfsbereit. Hingegen ließen gewisse Kommentare von Annie darauf schließen, dass sie mir meine Unachtsamkeit und die daraus resultierenden Einschränkungen, übelnahm.

Nachts pochte und schmerzte mein Fuß unter dem Verband, was mich am Einschlafen hinderte.

Während die Elders am Samstagnachmittag am Missionsinfostand in der Innenstadt arbeiteten, blieben wir drei Sisters in unserer Wohnung.

»Wann wirst du wieder rausgehen und arbeiten können, und wann planen die Elders den nächsten Infostand?«, fragte Annie, der ihre Enttäuschung ins Gesicht geschrieben stand.

»Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Ich hoffe natürlich, dass ich bald wieder einsatzfähig bin.«

Ich gab es ungern vor mir selber zu, aber ich war, abgesehen davon, dass ich darauf brannte Missionsarbeit zu tun, auch durchaus gespannt darauf gewesen, Elder Shelby am Infostand wiederzusehen.

Dass meine Verbrennung uns nun daran hinderte zu arbeiten, bedrückte mich. Aber ich bemühte mich, meine innere Unruhe nicht nach außen zu tragen und die zusätzliche Zeit in der Wohnung sinnvoll zu nutzen. Vermehrter Deutschunterricht war eine unserer Indoor-Aktivitäten. Außerdem machte ich Rollenspiele mit den beiden, in Vorbereitung auf reale Situationen mit Interessenten. Und um das Ganze aufzulockern, brachte ich ihnen zwischendurch deutsche und schweizerische Lieder bei, die wir mehrstimmig sangen. Letzteres machte mir besondere Freude. Denn der Musik gehörte meine große Liebe, auch wenn ich mich auf Anraten meiner Eltern vor der Mission, entgegen meiner Passion, für ein Sprachenstudium entschieden hatte.

»Ich finde es gut, dass wir unsere Zeit so effektiv nutzen«, baute Brooke mich auf und zwinkerte dabei mit ihren hellblauen Augen, die in ihrem sonnengebräunten Gesicht wie leuchtende Sterne hervorstachen.

»Sie Arme, was ist Ihnen denn passiert?«, begrüßte mich eine stark geschminkte, mitleidig lächelnde, ältere Dame mit dunkelgrünem Hut, als ich am Sonntag auf meinen Krücken und mit einem leuchtend weißen Mullverband um den Fuß, zusammen mit Brooke und Annie zum Gottesdienst im Baseler Gemeindehaus erschien.

Auch die übrigen Mitglieder und die anderen Missionare zeigten viel Anteilnahme an meinem nicht zu übersehenden Handicap. Auf Nachfrage musste ich mehrmals den Hergang meines Gasherdmalheurs erzählen.

Elder Shelby schüttelte mir im Foyer der Kirche freundlich die Hand und fragte: »Wie geht es Ihnen?«

Lag es an mir oder an ihm, dass ich wieder diesen Stock im Rücken fühlte und mich reserviert gab, obwohl ich gern freundlich gewesen wäre und ein paar Worte mit ihm gewechselt hätte?

Neben ihm stand sein Greeny, Elder Ghallager, dessen strahlendes Lächeln mich an meinen Zahnarzt, zu Hause in Deutschland, erinnerte. Elder Ghallager übergab mir nach dem Gottesdienst einen Briefumschlag, auf den er in kindlich anmutender Schönschrift meinen Namen geschrieben hatte.

»Das ist ein Zuschuss für Ihre Taxifahrten ins Spital«, lächelte er.

In dem Umschlag befanden sich dreißig Schweizer Franken.

»Das ist sehr großzügig von Ihnen, aber ich kann das Geld nicht annehmen«, entgegnete ich peinlich berührt.

»Bitte nehmen Sie es«, ließ Elder Ghallager nicht locker. »Ich habe noch genug Geld für diesen Monat.«

»Nur so aus Neugierde,«, fragte mich Annie, als wir drei Sisters eine Stunde später zum Mittagessen in unserer Wohnung um den Küchentisch saßen, »wann kann ich mal meine Kleidung waschen? Ich habe lauter schmutzige Wäsche in meinem Koffer.«

Ihre hochgezogenen Augenbrauen bildeten nun fast eine Linie und ähnelten einem waagerechten Ausrufungszeichen.

»Donnerstag ist P-Day. Da können wir waschen«, informierte ich sie betont langsam. »Ich hab uns schon auf der Waschliste unten im Keller eingetragen«.

Das »P« in P-Day stand für »Preparation«. Am P-Day machten wir Missionare unsere Einkäufe für die ganze Woche, wuschen unsere Wäsche, putzten die Wohnung, schrieben Briefe nach Hause. Manchmal machten wir auch Ausflüge oder Sport zusammen mit den anderen Missionaren.

»Nur so aus Neugierde«, setzte Annie zu einer weiteren Frage an, »wann machen wir mal was zusammen mit den Elders?«

Während sie sprach, verschwand ihre in Falten gelegte Stirn fast gänzlich zwischen ihren Augenbrauen und dem Haaransatz.

»Wenn ich das richtig mitbekommen habe, gehen wir am nächsten P-Day, am frühen Nachmittag, zusammen mit Elder Shelby und Elder Ghallager in den Baseler Zoo«, ließ ich freundlich lächelnd verlauten.

Brooke nickte grinsend und flüsterte mir, nachdem Annie kurz darauf im Bad verschwand, verschmitzt zu: »Ich möchte Annie gern mal fragen: nur so aus Neugierde, warum sagst du eigentlich immer »nur so aus Neugierde«?«.

An unserem ersten P-Day in Basel trafen wir drei Sisters uns also, nachdem wir morgens die üblichen »P-Day Tätigkeiten« erledigt hatten, mit Elder Shelby und Elder Ghallager am Tiergarten. Den ganzen Vormittag über hatte ich schon so etwas wie Vorfreude verspürt. Elder Shelby hatte bereits vorab in Erfahrung gebracht, dass ich an der Zoo-Kasse einen Rollstuhl ausleihen konnte.

»Es ist so entspannend mich mal nicht auf Krücken fortbewegen zu müssen«, sagte ich dankbar zu Brooke, die mich von Gehege zu Gehege schob.

Außerdem war es schön, am P-Day einfach Jeans und T-Shirt tragen zu können und somit inkognito zu sein. Der Dresscode – Anzug und Krawatte für die Elders, Kleid oder Rock und Bluse für uns Sisters, mitsamt Namensschild –, der für unsere Arbeitszeit galt, diente dazu die Wichtigkeit unserer Arbeit zu unterstreichen und uns als Respektspersonen auftreten zu lassen.

Elder Shelby, der in Jeans und T-Shirt eine genauso gute Figur abgab, wie im Anzug, schob ebenfalls einen Rollstuhl vor sich her. In diesem saß sein neuer Kollege, Elder Ghallager.

»Mir ist heute Vormittag die Spitze unseres Bügeleisens auf den Fuß gefallen. Dabei hab ich mir auch ne kleine Verbrennung geholt«, erklärte Ghallager grinsend und deutete auf seinen linken Fuß, der genau wie meiner unter einem blütenweißen Mullverband steckte.

Im nächsten Moment sah ich, wie Elder Shelby den Rollstuhl, auf dem Elder Ghallager thronte, an einer abschüssigen Stelle im Park, einfach losließ. Elder Ghallager rollte nun ungebremst einen steilen, mit Gänseblümchen übersäten Grashügel hinunter. Wie konnte Elder Shelby nur so rücksichtslos sein und jegliche Empathie vermissen lassen!

Kurz darauf merkte ich, dass mein Rollstuhl nun kraftvoller geschoben wurde. Als ich meinen Kopf nach schräg oben drehte, schaute ich in die hellblauen Augen von Elder Shelby, der mich stumm in Richtung Raubkatzenhaus rollte. Da war wieder diese Steifheit in mir und mein vergebliches Suchen nach einem passenden Gesprächsthema.

Am Fuß der Wiese konnte Elder Ghallager plötzlich problemlos laufen und wickelte die Mullbinde von seinem Fuß ab.

»Ich hatte mich einfach nur mit Ihnen solidarisch zeigen wollen«, erklärte er mir, als er wenig später – mit diesem Lächeln, das bei mir wieder unangenehme Erinnerungen an meinen Zahnarzt weckte – zu uns stieß.

Eine Woche nach dem Missgeschick am Gasherd verließen Brooke, Annie und ich unsere Wohnung schon wieder öfter, um Termine wahrzunehmen. Zwar bewirkte der Einsatz der Krücken, dass meine Hände, die mein Körpergewicht stemmen mussten, anschwollen und sich entzündeten. Jedoch entfachte der Anblick meiner Gehstützen und meines verbundenen Fußes bei manchen Leuten so viel Mitleid, dass sie uns zu sich in die Wohnung baten. Daraus ergaben sich zuweilen äußerst positive Kontakte.

Ich mochte die kurzweiligen Nachmittage, die wir an unserem Missions-Infostand verbrachten. Auch kam mir diese Sorte Arbeit entgegen, weil ich dabei nicht viel laufen musste.

Zwei bis dreimal die Woche stellten die Elders das Metallgestänge mit den Infotafeln an einem der großen Plätze in der Baseler Innenstadt auf. Dann hofften wir, dass sich Passanten durch die Infopaneelen oder das davorstehende weiße Klapptischchen mit Broschüren und Büchern Mormon angezogen fühlen würden. Diesmal war der Aeschenplatz Ort des Geschehens, ein zwischen Hauptbahnhof und Rhein gelegener Verkehrsknotenpunkt, an dem sieben Straßenbahnlinien zusammenliefen.

Organisiert wurde das Ganze immer von Elder Shelby. In seiner Eigenschaft als Distriktleiter unserer siebenköpfigen Baseler Missionarsgruppe liefen bei ihm die Fäden zusammen.

Ich hatte gerade eine intensive Unterhaltung mit einem freundlichen, jungen Kurden beendet, in die ich auch Brooke und Annie mit einbezogen hatte, als Elder Shelby sich neben mich stellte.

»Sister Maibaum, kann ich mit Ihnen sprechen, alleine?«

Er schlug vor, dass wir uns auf eine Bank, in einem nahegelegenen Park, zurückziehen sollten.

Ich überlegte, ob er womöglich in seiner Eigenschaft als Distriktleiter etwas an meiner Arbeitsweise zu bemängeln hatte. Dieser Gedanke beunruhigte mich. Mit Ausnahme des belanglosen Gesprächs in der Tram, an meinem Anreisetag, hatte ich mich noch nie länger mit ihm alleine unterhalten. Elder Shelby hatte auf mich einen intelligenten, aber auch arroganten und egoistischen Eindruck gemacht. Daher war ich mir unsicher, wie ich mich verhalten sollte.

»Wie fühlen Sie sich?«, fragte er mich, nachdem wir auf einer der wettergegerbten, dunkelbraunen Holzbänke, in dem großzügig mit Rosenbeeten angelegten Park, Platz genommen hatten.

»Interessiert Sie das wirklich?«

»Ja, es interessiert mich. Sonst hätte ich nicht gefragt.« Er lächelte nicht.

Ich ebenfalls nicht. Diesmal gab ich mir gar nicht erst Mühe, die Unterhaltung am Laufen zu halten. Dass er hören wollte, wie es in mir aussah, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.

»Ich möchte wirklich wissen, wie es Ihnen geht«, wiederholte er.

Dass ihn mein Befinden tatsächlich interessierte, musste er noch ein weiteres Mal bekräftigen, bevor es aus mir heraussprudelte: »Ich will so gern alles richtig gut machen und meinen beiden Kolleginnen viele positive und aufbauende Erlebnisse bieten. Ich fühle da eine große Verantwortung. Aber meine körperliche Verfassung bremst mich aus. Das belastet mich mehr, als ich sagen kann. Ich möchte jemand sein, der anderen etwas geben kann. Stattdessen sind jetzt andere durch mich eingeschränkt und müssen auf mich Rücksicht nehmen. So eine Rolle wollte ich nie spielen! Ich möchte kein Problem sein. Ich möchte Lösungen für Probleme bringen. Ich hab auch das Gefühl, dass wichtige Zeit verloren geht, in der ich den beiden etwas in der Praxis beibringen könnte und wir anderen Menschen etwas geben könnten. Aber stattdessen sind wir viel zu viel in unserer Wohnung.«

»Das ist alles nicht einfach.« Elder Shelby legte seinen Kopf schräg. »Eine ziemliche Herausforderung für Sie und auch für Ihre Greenies. Aber manchmal brauchen wir genau solche Situationen, um zu lernen. Versuchen Sie, herauszufinden, was es ist, was Sie in dieser Situation lernen können.«

Dann fragte er noch: »Wie fühlen Sie sich allgemein als Missionarin?«.

Ich musste nicht lange über meine Antwort nachdenken. »Ich bin einfach froh darüber, dass ich mich entschieden hab, auf Mission zu gehen. Ich lerne so vieles von den Menschen unterschiedlichster Herkunft und Religion. Man trifft Leute, wie man sie in seinem normalen Leben nie kennenlernen würde. Außerdem hab ich ab und zu den Eindruck, dass ich hier Menschen treffe, auf die ich in meinem Leben vorbereitet worden bin und denen ich etwas zu geben habe.«

Da ich Elder Shelbys uneingeschränkte Aufmerksamkeit zu haben schien, sprach ich beherzt weiter: »Nur ist es merkwürdig für mich, dass ich nicht alles, was mich zu Hause ausgemacht hat, hier auch so einsetzen kann. Ich hab manchmal das Gefühl, ich bin hier nur ein Teil meiner selbst, weil ich als Missionarin natürlich eine bestimmte Funktion ausübe. Und das Vollzeit.«

Von einem der Autos oder Busse, die rund den Park brausten, drang wiederholtes Hupen an mein Ohr. Der Park war wie eine Insel, die von mehrspurigen Fahrbahnen umkreist wurde. Aber obwohl in unmittelbarer Nähe alles in Bewegung war, stand meine kleine Welt in diesem Rosenpark für eine Weile still. Offenbar hatte Elder Shelby die richtigen Fragen gestellt.

Während dieses Gesprächs – weitab von den anderen Missionaren – wurde mir klar, dass ich ihn ganz falsch eingeschätzt hatte. Er besaß Eigenschaften, die einfach nur nett und angenehm waren. Elder Shelby ließ sich nun eine ganze Weile darüber aus, wie wichtig es sei, seine Persönlichkeit nicht zu verleugnen und ganz man selbst zu sein. Er sagte »sei selbst«, statt »sei du selbst«.

Abschließend fügte er hinzu: »Ich hatte eigentlich Angst mit Ihnen zu sprechen, weil ich gehört habe, wie erfolgreich Sie in Winterthur gewesen sind. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich Sie um Rat fragen müsste und Sie mir helfen müssten, anstatt umgekehrt. Ich habe Sie immer als Fels gesehen.«

Ein Blick auf meine Armbanduhr sagte mir, dass unser Gespräch, welches mir so kurzweilig erschienen war, gut zwei Stunden gedauert hatte.

Wieder zurück am Infostand, sprach ich einige Passanten an, die sich für die Broschüren auf dem Klapptischchen interessierten. Dabei fühlte ich neue Kraft.

Die Frage, ob Elder Shelby nur an meinem Wohlergehen interessiert war, weil er der Distriktleiter war oder vielleicht auch, weil er mich als Mensch nett fand, versuchte ich zu verdrängen.

Das spielt keine Rolle, sagte ich mir.

Eine von Brookes und meinen Gemeinsamkeiten war, dass wir vor zweiundzwanzig Jahren, am selben Tag, das Licht der Welt erblickt hatten. An unserem Ehrentag brachten uns die vier Basel Elders einen kleinen, in rosa Papier eingeschlagenen Blumenstrauß und eine Torte vorbei. Die vier Elders, meine Greenies und ich hatten uns in unserer geräumigen Wohnküche eingefunden. Unser aller Blick ruhte auf Elder Shelby, der die Blumen bedächtig von ihrer Papierverpackung befreite. Ein hübsches, in mehreren Farben leuchtendes Tulpensträußchen kam nun zum Vorschein. Als Elder Shelby seinen Arm ausstreckte, um mir den Strauß zu überreichen, spürte ich, wie mir Hitze in den Kopf schoss. Inständig hoffte ich, dass mein Gesicht nicht rot angelaufen war.

»Danke«, sagte ich rasch und mit gesenktem Kopf.

»Meinen Sie, Sie können mir die Haare schneiden, Sister Maibaum?«, fragte mich nun Elder Ghallager vertrauensvoll und zeigte aufmunternd sein Zahnarztlächeln.

Er wedelte mit einer Haarschneideschere, die er mitgebracht hatte und konnte nicht ahnen, wie dankbar ich für diese Ablenkung war.

Trotz meiner mangelnden Erfahrung im Haareschneiden fiel das Ergebnis ganz passabel aus. Jedenfalls schien Elder Ghallager mit seinem Haarschnitt zufrieden zu sein.

»Vielleicht kommen mein Partner und ich auch mal mit so einer Bitte auf Sie zu, Sister Maibaum«, lächelte nun Elder Fitch.

Womöglich habe ich auf diesem Gebiet ja ein mir bisher unbekanntes Talent, dachte ich und lächelte kopfnickend.

Bevor die Elders sich verabschiedeten, sangen wir alle noch einige Lieder zusammen. Der mehrstimmige Gesang machte Spaß und schien auch unser Gruppengefühl zu stärken.

»Lasst uns zusammen im Neuen Testament lesen und danach noch ein bisschen Deutsch üben«, schlug ich Brooke und Annie vor, als wir wieder allein in unserer Wohnung waren.

Wenn wir unsere Zeit auf diese Weise nutzten, bedrückte mich meine Einschränkung nicht so stark.

Am Abend von Brookes und meinem Geburtstag sollten wir zwei von den Elders bereits wieder sehen. Elder Shelby und Elder Ghallager holten Brooke, Annie und mich zu einem großen Fest ab, das unten am Rheinufer stattfand. An der Rheinpromenade angekommen, mutierte Elder Ghallager zum Gentleman-Superhelden: Als Brookes Kameratasche in den Fluss fiel, zog er beherzt seine Schuhe und Socken aus, krempelte seine dunkelblaue Anzughose hoch und rettete die Tasche, die schon ein Stück weit abgetrieben war, aus dem Gewässer. Für mich beeilte er sich, einen Stuhl aufzutreiben, da die mit Krücken zurückgelegte Wegstrecke mich stark erschöpft hatte.

»Look at that clown on waterskis and oh, what beautiful fireworks«, rief Annie begeistert mit glockenheller Stimme in Richtung der Elders.

Auf dem Rhein hatte ein unterhaltsames Spektakel begonnen, das mit einer beeindruckenden Pyroshow seinen Höhepunkt fand.

Auf dem Rückweg zu unserer Wohnung musste ich immer wieder Pausen einlegen, weil meine Hände vom Aufstützen auf die Gehhilfen schmerzten. Meine Kolleginnen und die Elders passten sich meinem Schneckentempo an. Mehr als die körperlichen Beschwerden schlug sich bei mir die ungewünschte Rolle des gehandicapten Bremsklotzes aufs Gemüt.

Da bildeten Elder Shelby und Elder Ghallager mit ihren Armen ein Karree, wie ich es aus Erste Hilfe Kursen kannte.

»Setzen Sie sich auf unsere Arme«, lächelte Elder Ghallager. »Wir tragen Sie nach Hause.«

Die körperliche Nähe zu den beiden männlichen Missionaren schien mir nicht richtig und die ganze Sache zunächst peinlich.

Arm’s length, schoss es mir durch den Kopf.

Das ist der Abstand, den ein Missionar von Personen anderen Geschlechts halten soll. Der traf hier so gar nicht zu. Denn, statt die Länge eines Arms Abstand zu halten, saß ich auf den Armen der Elders. Brooke und Annie schienen sich nichts dabei zu denken. Beide kicherten und Annie schoss ein Foto von unserer Hebefigur.

Schließlich entspannte auch ich mich und war einfach nur dankbar getragen zu werden. Elder Shelby und Elder Ghallager machten Witze. Laut mit allen in den sternenklaren Nachthimmel hineinzulachen fühlte sich so befreiend an.

»Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich, während meiner Missionszeit, getragen werden würde«, lachte ich.

Lediglich im Geiste ergänzte ich: noch dazu von zwei jungen so gut aussehenden Missionaren.

Obwohl es physisch eine beträchtliche Anstrengung für die beiden sein musste mich mit meinen sechsundfünfzig Kilo zu stemmen, hatte ich doch den Eindruck, dass sie es gerne taten.

Als Brooke, Annie und ich am späten Abend wieder unsere Wohnung betraten, fiel mir eine Rock/Pop-Musikkassette ein, die mir eine Freundin von zu Hause geschickt hatte und auch, dass Brooke im Besitz eines Kassettenrekorders war.

Nun besagt eine der Missionsregeln, dass man als Missionar genau diese Genres nicht hören soll. Nur Klassik und religiöse Musik sind erlaubt. Aber an diesem Abend machten wir eine Ausnahme. Brooke tanzte zur Musik. Und auch ich tanzte, wie man tanzt, wenn man nur mit einem Fuß auftreten kann.

»Ich fühle mich beschwingt«, sagte ich lächelnd zu Brooke.

Sie lächelte ebenfalls und bestätigte, leicht außer Atem: »Ja, es ist schön, einen Geburtstag so ausklingen zu lassen.«

Annie hatte sich schon vor einer Weile in ihr Bett gelegt und schien bereits im Reich der Träume. In dieser Nacht fiel ich in einen solch tiefen Schlaf, wie schon lange nicht mehr.

Am nächsten Vormittag standen wir Drei – gemäß unseren Missionarsregeln – kurz vor halb sieben auf. Es stand wieder ein Kliniktermin für mich an. Diesmal nahmen wir aber kein Taxi zum Spital, sondern liefen zur Tramhaltestelle. Als die behandelnde Krankenschwester feststellte, dass meine Brandwunde erstmals sichtlich besser aussah und die Haut sich zu regenerieren begann, fiel ein großes Stück der Frustration, die mich während der vorangegangenen Wochen begleitet hatte, von mir ab. Bald würde die Brandblase Geschichte sein und ich wieder Nylonstrümpfe und Schuh am betroffenen Fuß tragen können.

»Wir sollten in dem kleinen Coop-Markt, in der Nähe unserer Wohnung, noch etwas Gemüse einkaufen«, schlug ich Brooke und Annie auf dem Heimweg vor.

Während die beiden Greenies unsere Einkäufe im Kassenbereich in braune Papiertüten packten, hatte ich mich – auf meine Krücken gestützt – bereits in der Nähe des Ladenausgangs postiert. Da sah ich durch die Ladenfensterscheibe, in einiger Entfernung auf der abschüssigen, zu unserer Wohnung führenden Mühlhauserstrasse zwei weiße Hemden schimmern. Um bessere Sicht zu haben, begab ich mich ganz aus dem Supermarkt heraus, auf den Gehweg und erkannte nun Elder Shelby und Elder Ghallager, wie sie schnellen Schrittes die Straße heruntergelaufen kamen. Als die beiden Elders mich bemerkten, versteckten sie sich hastig hinter einem der vielen am Gehsteig geparkten Autos. Brooke und Annie erzählte ich nichts von dieser Erscheinung. Ich war gespannt, was wohl der Grund für das Versteckspiel sein mochte.

»Was riecht denn hier so gut?«, wunderte sich Brooke, als wir unsere Wohnung betraten. In der Küche fanden wir einen selbst gebackenen, noch warmen, nach Zitrone duftenden Mürbeteigkuchen vor.

Jetzt konnte ich eins und eins zusammenzählen: Die Elders waren anscheinend durch das offenstehende Wohnzimmerfenster in unser Apartment eingestiegen und hatten den Kuchen in der Küche platziert. Als ich sie durch die Ladenscheibe des Supermarkts entdeckt hatte, waren sie gerade auf dem Rückweg zur nächstgelegenen Tramhaltestelle gewesen.

Aber die Elders hatten uns nicht nur den leckeren Kuchen vorbeigebracht. Auf unseren Betten lag je einen Brief von Elder Shelby.

In seinem amerikanisch gefärbten Deutsch hatte mir Elder Shelby so nett geschrieben, dass ich es kaum fassen konnte:

Sister Maibaum,

August 1985

Es hat mir sehr gefreut mit Ihnen zu sprechen. Ich weiß, wie schwer es ist, alles auszudrücken. Aber ich wollte sagen, dass ich Ihnen achte sehr. Und es freut mich sehr, dass ich Ihr Diener (Distriktleiter) sein darf. Für Ihre Einstellung, Fleiß, Dienst und Liebe bin ich dankbar. Es hilft mir viel. Echt, (district leaders don’t lie).

Sie haben Widrigkeiten und vieles in diesem Monat ertragen. Es hat Kraft, Mut und Ausdauer gebraucht. Das kann ich jetzt verstehen. Ich bin beeindruckt, wie sie es getragen haben. Es hat mir geholfen. DANKE.

Ich freue mich, dass wir zusammen hier arbeiten dürfen. Das Evangelium ist vollkommen. Im Gegensatz zu uns. Wir haben viele Schwachheiten. Aber, ich danke Ihnen wieder für Ihr Vorbild. Ich bin stolz auf Dich. Machst Du weiter so. Und dem Geburtstagskind viel Spaß im neuen Lebensjahr.

Ihr Bruder im Dienst des Herrn Elder Cole Shelby

Der Gedanke, dass Elder Ghallager und Elder Shelby sich in unserer Abwesenheit womöglich in unserer Wohnung umgeschaut hatten, gefiel mir nicht. Sicher hatten sie die Fotografien gesehen, die ich am Vortag über mein Bett gepinnt hatte. Darauf war mein Freund Andrew zu sehen, der zeitgleich mit mir – ebenfalls als Missionar – im Ausland unterwegs war. Er war für anderthalb Jahre nach Panama berufen worden.

Andrew war Sohn eines australischen Botschaftsangestellten, der in Bonn arbeitete und einer US-amerikanischen Künstlerin. Seinerzeit hatte mein Freund mit seinen Eltern im Bonner Stadtbezirk Bad Godesberg gelebt. Aber kennengelernt hatten Andrew und ich uns ein Jahr vor Beginn der Mission, auf einer Party im Norden Deutschlands, wo er Freunde besucht hatte.

Eines meiner aufgehängten Fotos zeigte Andrew mit seinem Missionskollegen vor einem Kirchengebäude in Panama. Auf zwei älteren Fotos war mein Freund als Japan-Tourist zu sehen.

Aus dem Rahmen fiel bei Andrews südländischem Erscheinungsbild – dem dunklen Teint und den großen hellbraunen Augen – sein blondes, welliges Haar. Sein attraktives Äußeres, gepaart mit Extrovertiertheit und Charisma, hatten mich schon bei unserer ersten Begegnung magisch angezogen. Angesichts seines hinreißenden Lächelns war ich einfach nur so dahingeschmolzen. Wenn Andrew einen Raum betrat, war es, als trete er auf eine Bühne, weil er die Blicke aller auf sich zog.

Mehrere meiner Freundinnen hatten für ihn geschwärmt. Alle schienen ihn zu wollen. Aber Andrew hatte mich gewählt. Ich hatte mein Glück kaum fassen können und wollte es festhalten.

»Wir passen zueinander wie zwei Puzzleteile«, hatte er manchmal zu mir gesagt, wenn wir uns umarmten.

Zahllose lange Briefe waren zwischen ihm und mir hin und hergegangen, da wir uns nur an Wochenenden hatten treffen können und die Woche uns immer viel zu lang erschienen war.

»Ich kann mir vorstellen, dass wir irgendwann heiraten werden«, hatte mein australisch-amerikanischer Freund mir in einem seiner Briefe geschrieben. Daraufhin hatte ich mir den Brief an einer Kopiermaschine im Format verkleinert. Diesen Miniaturbrief trug ich immer bei mir, im Vorderfach meiner Handtasche.

Auch jetzt, während der Mission, gingen regelmäßig Briefe zwischen Andrew und mir hin und her. Es erschien mir wahrscheinlich, dass er tatsächlich mein zukünftiger Ehemann sein würde. Aber wir waren nicht verlobt und etwas in mir zog es vor, während der Mission als nicht liiert zu gelten.

Während Brooke, Annie und ich am Küchentisch unsere Mittagsmahlzeit einnahmen, gab ein Kurier einen Strauß mit zweiundzwanzig langstieligen roten Rosen bei uns ab. Das überraschende Blumengeschenk war für mich bestimmt und stammte von einem jungen Mann aus der Gemeinde Winterthur.

»Hoffentlich bildet der sich nicht ein, dass du ihn jetzt heiraten musst«, witzelte Brooke.

Ich verdrehte die Augen. »Der Strauß ist mir irgendwie peinlich und ich frage mich wirklich, was für Erwartungen damit verknüpft sind. Auf jeden Fall keine, die ich erfüllen werde.«

Wir lachten beide.

Die vier Elders machten große Augen, als sie am Folgetag nochmals kurz bei uns in der Wohnung waren und den riesigen Strauß mit den zweiundzwanzig roten Rosen auf unserem Küchentisch stehen sahen. Daneben stand – verschwindend klein – der hübsche Tulpenstrauß, den die Vier am Vortag für Brooke und mich mitgebracht hatten.

»Oh, wer hat Ihnen diesen Strauß geschenkt?«, fragte Elder Shelby und schien peinlich berührt von dem Größenunterschied.

»Jemand aus Winterthur, den ich kaum kenne«, entgegnete ich und wechselte dann rasch das Thema.

Tatsächlich fand ich den kleinen Strauß viel schöner als den Großen.

»Ich freue mich sehr für Dich!«, lächelte Brooke, als ich endlich wieder in der Lage war ohne Krücken zu laufen und auch wieder einen Schuh an dem Fuß mit der Verbrennung tragen konnte.

»Danke«, lächelte ich ebenfalls und hatte ein feierliches Gefühl bei dem Gedanken, dass ich Dinge jetzt wieder tun konnte, von denen ich eine Weile abgeschnitten gewesen war.

Noch in derselben Woche erreichte uns ein Versetzungsbrief aus dem Missionsbüro in Zürich. Brooke und Annie sollten Basel verlassen und als Duo in Interlaken weiterarbeiten. Unser Abschied am Bahnhof war tränenreich. Ich würde die beiden vermissen. Ganz besonders Brooke. Mir war eine nun neue Kollegin zugeteilt worden: Susan Connelly aus San Francisco, California.

»Susan kann Unterstützung und Zuwendung gebrauchen«, erzählte ich Elder Shelby und Elder Ghallager, die mit mir zusammen am Bahnhof auf Susans Ankunft warteten, vertrauensvoll. »Vom Missionspräsidenten hab ich gehört, dass Susan in ihrem Leben schon einiges durchmachen musste und auch während ihrer Mission bisher nicht viel Gutes erlebt hat.«

»Mit uns wird sie sich wohlfühlen«, prophezeite Elder Ghallager und zeigte einmal mehr sein Zahnarztlächeln.

Als Susans Zug schließlich eintraf, quittierte sie unsere herzliche Begrüßung mit einem schüchternen Lächeln. Ihre Bewegungen erinnerten an ein scheues Reh. Elder Ghallager schnappte sich einen ihrer beiden Koffer. Elder Shelby griff nach dem anderen und legte lässig Susans beigen Popeline-Sommermantel über seine Schulter. So lief er in seinem dunkelblauen Nadelstreifenanzug, aufrechten Ganges, mit leicht erhobenem Kopf, den Bahnsteig entlang. Wir anderen folgten ihm. Wer Elder Shelby nicht kannte, hätte ihn für arrogant und eingebildet halten können. Aber ich wusste inzwischen, dass er das nicht war.

Nun bewohnte ich also gemeinsam mit Susan die zusammengewürfelt eingerichtete kleine Wohnung im St. Johanns Quartier. Susan war einundzwanzig und sah hübsch aus, mit ihrem ebenmäßigen Gesicht, den ausdrucksvollen haselnussbraunen Augen und ihrem schulterlangen hellblonden Haar.

Am Ende unserer ersten gemeinsamen Arbeitswoche sagte Susan zu mir: »Mit dir, als Kollegin, bin ich einfach motiviert. Ich hab Vertrauen zu dir.«

Das rührte und freute mich.

»Ich arbeite auch gern mit dir zusammen«, versicherte ich ihr wahrheitsgemäß und fügte hinzu: »Ich mag deine ruhige und verständnisvolle Art und wie du mit den Leuten umgehst.«

Wir waren ein gutes Team und es störte mich nicht, dass ich in den Gesprächen mit Interessenten die Hauptlast der Arbeit trug. Susan war zurückhaltend und sprach manchmal nur wenig. Obwohl ihr Deutsch recht gut war, fühlte sie sich sprachlich unsicher. Aber wenn sie etwas sagte, war es wohldurchdacht, zutreffend und hilfreich.

»Kommen Sie bitte herein«, sagte Frau Vierhölzer mit ernstem Gesicht. Sie hatte Susan und mir ihre Wohnungstür sperrangelweit geöffnet, obwohl sie lediglich mit Unterhose und BH bekleidet war. »Sind Sie der Meinung, dass ich mir etwas überziehen sollte?«

»Ja, der Meinung sind wir«, beantwortete ich ihre Frage mit einem Lächeln und fragte mich, was Susan wohl von dieser ungewöhnlichen Frau denken mochte, die meine ehemaligen Greenykolleginnen und ich an unserem ersten Tag in Basel kennengelernt hatten.

Frau Vierhölzers Wohnung roch nach Kaffee und Zigaretten. Aus ihrem Radio plärrte Musik, die nach Thriller Soundtrack klang.