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Auf der Spur des Bösen Eine skalpierte Frau in der U-Bahn, ein totes Kind im Müll, zerstückelte Leichenteile im Plastiksack: Die Wirklichkeit stellt jeden Krimi in den Schatten. Wessen tägliches Geschäft es ist, sich mit Mord und Totschlag auseinanderzusetzen, muss hart im Nehmen sein. Gefragt sind Menschenkenntnis, Einfühlungsvermögen und breit gestreute Kenntnisse von Juristik bis Krisenintervention. Richard Thiess gibt Einblick in die kriminalistische Arbeit, er bezieht aber auch psychologische Aspekte ein: Wie fühlt sich ein Ermittler, wenn er den Täter endlich überführt hat, wie bringt man Eltern bei, dass ihre Tochter bestialisch getötet wurde?
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Seitenzahl: 312
Richard Thiess
Mordkommission
Wenn das Grauen zum Alltag wird
Deutscher Taschenbuch Verlag
Ungekürzte Ausgabe 2014
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
© 2010 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
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Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,
KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart
eBook ISBN 978-3-423-40238-5 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-34792-1
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www.dtv.de/ebooks
Es ist mir an dieser Stelle ein ganz besonderes Anliegen, mich herzlich bei allen Kolleginnen und Kollegen zu bedanken, die es überhaupt erst ermöglicht haben, dass unsere Mordkommission so erfolgreich arbeiten konnte; von deren Erfahrungen ich viel gelernt habe und deren Engagement und Ausdauer, deren Spürnasen und liebenswerte Eigenheiten maßgeblich dazu beigetragen haben, dass aus einer mehr oder weniger zufälligen Zusammenstellung einzelner Individuen ein echtes Team wurde, in dem sich jeder hundertprozentig auf den anderen verlassen kann.
Mit diesem Buch, verehrte Leserin, geehrter Leser, erhalten Sie Einblick in die Arbeit einer Mordkommission. Welche Qualifikationen von den Sachbearbeitern, also den Kriminalbeamten, verlangt werden, erfahren Sie ebenso wie Grundlegendes über den Aufbau und die Struktur einer Mordkommission, über ihre Aufgaben und Zuständigkeiten und über die Abläufe im Falle einer Alarmierung.
Das eigentliche Ziel dieses Buches ist es jedoch, Ihnen aus der subjektiven Sicht eines Angehörigen der Mordkommission und frei von jeglichem Pathos aufzuzeigen, was tatsächlich geschieht, wenn sich ein Tötungsdelikt ereignet hat. Sie werden weder Supermann noch Superfrau begegnen und im Gegensatz zu den Klischees in den Fernsehkrimis auch keinem Vertreter der Staatsanwaltschaft, der die Kriminalbeamten im Regen stehen lässt. Sie werden von keinem Wachtmeister lesen, der während der Vernehmung stundenlang vor der Tür im Flur wartet, um dann von den Herren oder den Damen der Mordkommission hereingerufen zu werden, um den Verdächtigen abzuführen. Stattdessen werden Sie erkennen, dass die Polizei nur in der reibungslosen und professionellen Zusammenarbeit zwischen der Schutzpolizei und der Kriminalpolizei ihren hohen Anspruch an die Sicherheit aller Bürger gewährleisten kann. Sie werden erfahren, dass es zukünftig immer wichtiger sein wird, Spezialisten auszubilden und Spezialkenntnisse zu erlangen, um die immer komplexeren und technisch aufwändigeren Anforderungen an die Ermittlungsarbeit erfüllen zu können. Sie werden hautnah erleben, was es wirklich bedeutet, es zu jeder Tages- und Nachtzeit mit Menschen in absoluten psychischen Ausnahmesituationen zu tun zu haben. Gleichgültig, ob diese Menschen Opfer, Angehörige, Zeugen, Täter oder Kollegen sind. Aber vor allem: Sie werden zu Schauplätzen blutiger Verbrechen mitgenommen und vermutlich tiefe Erleichterung verspüren, dass Sie nicht selbst zu den Betroffenen gehören. Sie sind dabei, wenn ein Verdächtiger nach monate- oder gar jahrelanger »Jagd« mit leiser Stimme flüstert: »Ja, ich war’s …!« Nicht zuletzt werden Sie sich Ihr eigenes Bild davon machen können, dass die rechtlich zulässigen Korridore ziemlich eng sind, innerhalb derer man sich bei der Aufklärung von Straftaten bewegen darf. Der Grat der polizeilich erlaubten List ist ein schmaler ...
Natürlich kann ich die Ereignisse nicht aus der Perspektive eines neutralen Berichterstatters oder eines Gutachters schildern, sondern nur aus der Sicht eines unmittelbar Betroffenen. Betroffener deshalb, da man als Mordermittler wie kaum ein anderer in vorderster Linie mit Leid und Verzweiflung, Angst und Hass konfrontiert ist. Aber auch mit den Abgründen menschlicher Psyche. Wenn man sich für eine Tätigkeit bei der Mordkommission entscheidet, denkt man nicht daran, später einmal stundenlang versuchen zu müssen, einer Mutter ihren toten Säugling wegzunehmen, einer Mutter, die den Gedanken nicht verkraften kann, dass ihr Baby bei der Obduktion zerschnitten werden soll. Es gibt auch keine Anleitung dafür, wie man ein siebenjähriges Mädchen, das sich mit verzweifelter Kraft am Hals seiner Mutter festklammert, die der Vater vor ihren Augen erstochen hat, dazu bewegen kann, die Leiche freizugeben. Und niemand hilft Ihnen zu entscheiden, was Sie sagen sollen, wenn es darum geht, Angehörigen von Unfall- oder Mordopfern die Todesnachricht zu überbringen. Solche Momente haben nichts, aber auch gar nichts mit Glamour, Heldentum, Ruhm oder gar Erfüllung und Traumberuf zu tun. Zur Bewältigung solcher Momente gibt es keine Regeln; das Leid der Angehörigen erscheint einem so erdrückend, dass man sich weigern möchte, die Realität einer Situation anzuerkennen. Man möchte die Augen öffnen und feststellen, dass alles nur ein schlimmer Alptraum war. Doch es gibt keine Flucht vor dieser Not. Man muss die eigene lähmende Hilflosigkeit überwinden.
Auch wenn der Blick hinter die Kulissen insofern beschränkt ist, als natürlich der Schutz der Persönlichkeit von Betroffenen gewahrt wird und keine ermittlungstaktischen Geheimnisse preisgegeben werden können, werden Sie doch bei den Ermittlungen direkt mit dabei sein. Sie werden miterleben, was es bedeutet, als Kriminalbeamter rund um die Uhr auf das Klingeln des Bereitschaftstelefons zu warten. Was in dem bekannten Krimi von Alfred Hitchcock – Bei Anruf Mord – der spektakuläre Höhepunkt ist, ist für uns Mordermittler dann allerdings der Beginn eines oft makabren Alltags.
Die Fälle, von denen ich berichte, haben sich während meiner Tätigkeit als Leiter der Mordkommission und stellvertretender Kommissariatsleiter im Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums München zugetragen. Wer sich dabei wundert, dass bei den geschilderten Fällen stets Männer die Täter waren, darf daraus nicht den – unzulässigen, weil falschen – Schluss ziehen, dass Frauen nicht töten. Sie tun es sehr wohl, im Schnitt wird fast jedes fünfte Tötungsdelikt durch eine Frau verübt. Frauen töten meist leise, mit Gift oder der Injektion tödlicher Dosen von Medikamenten, und sie töten oftmals aus Mitleid oder Verzweiflung. So töten junge Mütter Neugeborene aus Angst vor Schande oder weil sie sich alleingelassen und überfordert fühlen. Töchter töten ihre Mütter, um sie vor Schmerzen oder langem Siechtum zu bewahren, Altenpflegerinnen oder Krankenschwestern ertragen die Qualen ihrer Patientinnen nicht länger. Jahrelang vergewaltigte und misshandelte Frauen töten ihre Peiniger, weil sie die Fortsetzung der Gewalt und der Demütigung nicht länger ertragen können. Doch es gibt – natürlich – auch Frauen, die aus gekränkter Eitelkeit, aus Eifersucht oder Habgier töten. Es gab und gibt all diese Fälle auch bei uns – jedoch bis dato keinen, der während meiner Bereitschaft erfolgte. Fälle jedoch, an denen ich nicht direkt beteiligt war, habe ich in meinen Schilderungen bewusst ausgeklammert, wofür ich um Verständnis bitte.
Bereits mein dritter Einsatz bei der Mordkommission machte mir auf drastische Art klar, mit welch unglaublicher und menschenverachtender Brutalität ich künftig zu tun haben würde. Ein Beamter des Sittendezernates informierte uns über folgenden Sachverhalt: Die Kollegen waren zu einer Grundschule in der Innenstadt gerufen worden. Die Klassenlehrerin hatte eine Erstklässlerin bei Unterrichtsbeginn vermisst und von einer Mitschülerin erfahren, dass das Mädchen morgens von seinem Vater bis vor das Klassenzimmer begleitet worden war und sein Schulranzen im Gang stand. Die Lehrerin machte sich auf die Suche nach der Schülerin und entdeckte die Kleine schließlich in der Schülertoilette. Obwohl das Mädchen auf die Worte der Lehrerin kaum reagierte und die gesamten Umstände merkwürdig waren, dachte sich die Lehrerin nichts dabei und ließ das Mädchen in Ruhe. Irgendwie war sie der Meinung, dass sich der Vater oder die Mutter des Kindes in der Nähe befinde und sich um das Kind kümmern würde. Einige Zeit später sah die Lehrerin nochmals nach dem Kind. Jetzt saß die Kleine auf dem Boden. Obwohl das Kind nun auf die Ansprache reagierte, machte es auf die Lehrerin einen verwirrten Eindruck. Die Lehrerin ordnete die Kleidung des Mädchens, nahm es mit in das Klassenzimmer und gab ihm zu trinken. Nachdem entgegen ihrer Vermutung weder Vater noch Mutter auftauchte, veranlasste die Lehrerin in der nächsten Unterrichtspause, dass das Sekretariat die Mutter verständigte. Die Lehrerin war nach wie vor der festen Meinung, die Schülerin sei erkrankt.
Die Mutter brachte ihre Tochter dann gleich zu einem Kinderarzt. Mittlerweile waren fast zwei Stunden vergangen. Bei der Untersuchung stellte der Arzt fest, dass das Mädchen am Hals und am gesamten Oberkörper starke und großflächige Stauungsblutungen aufwies, was auf einen massiven Würgevorgang hindeutete. Außerdem hatte das Kind Verletzungen am Unterleib. Er verständigte daraufhin sofort einen Notarzt und ließ das Kind in eine Kinderklinik bringen.
Die erschreckende Diagnose der Klinikärzte sollte kurz darauf eine der größten Ermittlungsaktionen der Münchner Polizei der letzten Jahre auslösen: Das Kind war auf brutalste Weise missbraucht worden. Der unbekannte Täter hatte die Kleine dabei auf eine massiv lebensbedrohliche Art gewürgt oder stranguliert. Laut den behandelnden Ärzten grenzte es geradezu an ein Wunder, dass das kleine Mädchen die Drosselung überlebt hatte. Zum Zeitpunkt dieser Feststellungen lag die Tat bereits mehr als vier Stunden zurück. Erst jetzt wurde die Polizei alarmiert. Nachdem Beamte des Sittendezernates im Krankenhaus die Ärzte und die Eltern befragt hatten, stand fest, dass es sich um einen versuchten Mord handelte. Nun wurde die Mordkommission eingeschaltet.
Versuchter Kindsmord! Was war das nur für ein Mensch, der sich in einer Schule, unmittelbar vor Unterrichtsbeginn, an einer kleinen Erstklässlerin auf so bestialische Weise verging? Sofort nach unserer Alarmierung wurden alle verfügbaren Kollegen unserer Dienststelle in den Besprechungsraum gerufen und in der gebotenen Eile über den bevorstehenden Einsatz informiert. Mit einem Großaufgebot an Einsatzkräften und unter schrillem Sirenengeheul erreichten wir Minuten später den Tatort im Zentrum Münchens. Kreuz und quer vor dem Schulgebäude standen bereits Streifenfahrzeuge mit zuckenden Blaulichtern, das gesamte Areal war umstellt. Schließlich konnte man nicht ausschließen, dass sich der Täter noch innerhalb des Geländes aufhielt.
Der Bereich rund um die Schultoilette war bereits abgesperrt worden. Zentimeter um Zentimeter arbeiteten sich Spezialisten des Erkennungsdienstes in ihren weißen Schutzanzügen vom Klassenzimmer aus bis zum Tatort vor, wobei jedes noch so winzige Staubpartikelchen gesichert, jeder Quadratzentimeter Fläche auf DNA-Spuren hin abgerieben und nach Fingerabdrücken untersucht wurde. Die Kollegen des Erkennungsdienstes gaben mir außerhalb der Absperrung einen ersten Überblick. Vermutlich hatte sich der Täter bereits vor Schulbeginn in der Toilettenanlage in einer der Kabinen eingeschlossen und auf ein ahnungsloses Zufallsopfer gewartet. Dem Ergebnis der ersten Grobsichtung am Tatort zufolge hatte der Täter keine Gegenstände zurückgelassen. Eine genauere Absuche stand jedoch noch aus. Diese Arbeit musste mit allergrößter Akribie erfolgen, jede unbedachte Bewegung konnte schließlich tatrelevante Mikrospuren oder DNA-Material unwiederbringlich zerstören. Andere Beamte des Erkennungsdienstes sicherten im Krankenhaus an der Kleidung des Opfers und am Opfer selbst alle denkbaren Spuren. Dabei gelang es, wie sich herausstellen sollte, DNA-Material des Täters von den Würgemalen am Hals des Opfers zu gewinnen.
Ich überließ den Spezialisten des Erkennungsdienstes die Spurensicherung und damit den eigentlichen Tatort und kümmerte mich um die Organisation der Absuche der Schule und der Vernehmung von Lehrern, Mitschülern, Eltern sowie anderen Personen, die Zugang zur Schule hatten.
Parallel dazu lief eine groß angelegte Durchsuchung im gesamten Areal, einem weitläufigen Klosterkomplex, und in den benachbarten Anwesen an. Dutzende von Streifenfahrzeugen aus dem gesamten Stadtgebiet, Züge der Einsatzhundertschaft, Hundeführer mit ihren Diensthunden und andere Einsatzkräfte waren mittlerweile unter schier nicht enden wollendem Sirenengeheul am Tatort eingetroffen, und so wurde in den kommenden Stunden nach und nach jeder Winkel, einschließlich der Keller und Speicher, durchsucht.
Schließlich kristallisierte sich folgender mutmaßliche Ablauf heraus: Das kleine Mädchen, nennen wir es wie in der damaligen Presseberichterstattung Anna*, war kurz vor Unterrichtsbeginn von seinem Vater bis vor das Klassenzimmer begleitet worden. Dabei gingen sie – wie alle Schüler, Lehrer oder Besucher – an einer Pforte vorbei, die ständig von einer Lehrerin der Schule besetzt war. Damit sollte sichergestellt werden, dass kein Unberechtigter die Schule betreten konnte. Nachdem sich der Vater verabschiedet hatte, stellte Anna ihre Schultasche im Gang ab und suchte die Schülertoilette schräg gegenüber auf. Dabei wurde sie von einer Mitschülerin gesehen. In der Toilette bemächtigte sich der dort bereits lauernde Täter des Mädchens, würgte oder drosselte es bis zur Bewusstlosigkeit und verging sich danach an dem Kind. Anschließend verschwand der Täter, ohne sich um das bewusstlose und lebensgefährlich verletzte Opfer zu kümmern.
Da der Täter den Tod des Opfers offensichtlich gewollt oder zumindest billigend in Kauf genommen hatte, gründeten wir noch am selben Tag eine »Sonderkommission Blumenstraße«, zu der binnen weniger Stunden mehr als vierzig Beamte anderer Dienststellen abgeordnet wurden. Noch am selben Abend bezog die Soko eigens für derartige Anlässe bereitstehende Räume im Osten Münchens. Ich übernahm die Leitung des Abschnitts »Zentrale Sachbearbeitung«, in dem alle Erkenntnisse aus den Bereichen (»Abschnitten«) Spurensicherung, Kriminaltechnik, Ermittlungen, Überprüfung von Modustätern – also von einschlägig Vorbestraften – und Hinweisaufnahme zusammengeführt und bewertet werden. Als Hauptsachbearbeiter für die Ermittlungen teilte ich einen außerordentlich erfahrenen Mitarbeiter ein.
In Windeseile und mit der unbürokratischen Unterstützung vonseiten der unterschiedlichsten Dienststellen des Präsidiums wurden die Räume ausgestattet. Für jeden Beamten wurde ein Rechner installiert, Zugriffsberechtigungen wurden erteilt und Telefonanschlüsse geschaltet. Selbst Garderobenhaken wurden neu montiert und Kühlschränke und Kaffeemaschinen angeschlossen.
Bereits am nächsten Morgen nahm die Soko in vollem Umfang ihre Arbeit auf. Beamte des Erkennungsdienstes, Kriminaltechniker, Vernehmungs- und Ermittlungsbeamte, ortskundige Beamte der Polizeiinspektion, in deren Bereich der Tatort lag, und EDV-Spezialisten – sie alle waren beseelt von dem Wunsch, diesen Täter schnellstmöglich zu fassen. Darüber hinaus wurde uns jede erdenkliche Unterstützung seitens unseres Präsidiums zuteil. Die Verwaltung half uns mit der Logistik, die Pressestelle bündelte das ungeheure Medieninteresse und ermöglichte uns so ungestörtes Arbeiten, außerdem setzte sie unsere Fahndungsaufrufe um. Andere Behörden, etwa das Landeskriminalamt oder das Institut für Rechtsmedizin, versorgten uns mit Informationen.
Schon am Abend zuvor war die kleine Anna außer Lebensgefahr und sogar wieder ansprechbar. Einer Ärztin gegenüber erzählte sie von einem »Mann mit einem grünen Hemd mit zwei Knöpfen«. Er sei zu ihr in die Toilettenkabine gekommen, habe ihr den Mund zugehalten und dann sei sie eingeschlafen. Weitere Angaben konnte das Mädchen nicht machen. Um Anna zu schonen und weitere psychische Belastungen zu vermeiden, verzichteten wir auf eine direkte Vernehmung.
Die mit hohem Einsatz durchgeführte Überprüfung von einschlägig bekannten Örtlichkeiten im Umfeld der Schule erbrachte am Abend einen vagen Tatverdacht gegen einen Wohnsitzlosen. Der Mann hatte sich in eine längst verlassene und mittlerweile völlig verwahrloste Wohnung in einem leerstehenden Gebäude einquartiert. Den Beamten fiel als Erstes auf, dass der Mann ein auffälliges grünes Hemd trug, das am Hals zwei große Hirschhornknöpfe hatte. Auf einer Wäscheleine hing eine frisch gewaschene Unterhose zum Trocknen, während die übrige Bekleidung des Mannes dem Geruch nach seit Wochen nicht mit Wasser in Kontakt gekommen war. Kurz darauf saß der Mann meinem Kollegen und mir gegenüber. Wir begannen gegen 20 Uhr mit der Vernehmung. Bei Mordermittlungen ist es gängige Praxis, dass Tatverdächtige oder Beschuldigte von zwei Beamten vernommen werden, wobei einer – in diesem Fall mein Kollege – die Fragen stellt, also die Vernehmung führt, während der zweite Beamte sichert und auf Reaktionen des Gegenübers achtet sowie den Vernehmer durch ergänzende Fragen unterstützt. Annas Angaben über den Mann »mit dem grünen Hemd mit den zwei Knöpfen« ließ in uns die Anspannung steigen – war dies der Mann, der dieses scheußliche Verbrechen verübt hatte? Das hofften wir im Laufe der nächsten Stunden herauszufinden.
Obwohl ich selbst schon Tausende von Befragungen und Vernehmungen durchgeführt hatte, erlebte ich in dieser Nacht erstmals den Unterschied zwischen einer Vernehmung bei der Mordkommission und einer »normalen« polizeilichen Vernehmung. Ruhig, umsichtig und mit unglaublichem Einfühlungsvermögen gelang es meinem Kollegen, immer mehr Einzelheiten aus dem Leben des Mannes vor uns zu erfragen. Schon bald räumte der Verdächtige ein, dass er seit Langem die Schule kannte, an der das Verbrechen verübt worden war. Er gab zu, öfter dort gewesen zu sein und die fragliche Toilette zur Verrichtung seiner Notdurft aufgesucht zu haben. Innerlich so angespannt wie ich und dennoch sehr behutsam tastete sich mein Kollege weiter vor und schon bald begann der Verdächtige, Überlegungen anzustellen, was den Täter wohl bewogen haben könnte, einem kleinen Mädchen so schlimme Dinge anzutun. »Bestimmt hatte der Täter eine Mutter, die ihn als Kind immer schlug, und bestimmt wurde er später von erwachsenen Frauen ausgelacht, als sie feststellen mussten, dass er impotent ist.« Nach und nach räumte der Verdächtige ein, als Kind ständig von seiner Mutter geschlagen worden zu sein, und er gab auch zu, dass er mehrfach vergeblich versucht hatte, Sex zu haben, und dies meist mit Spott und Hohn seiner Partnerinnen endete, wenn sie seine Impotenz bemerkten.
Mittlerweile ging es auf vier Uhr morgens zu. Die Innenstadt war um diese Zeit wie ausgestorben, kein Laut drang durch die Fenster in unser Büro. Der kleine Vernehmungsraum lag einsam und verlassen in dem dunklen Gebäude. Mit Ausnahme der Fragen unseres Vernehmungsspezialisten und der leisen, monotonen Antworten des durch jahrelangen Alkoholmissbrauch geistig merklich beeinträchtigten Verdächtigen war kein Geräusch zu hören. Knisternde Spannung lag in der Luft: Würde der Verdächtige zusammenbrechen und die ungeheure Tat gestehen? Dann aber kam die unerwartete Wende: Der parallel zu unserer Vernehmung noch in derselben Nacht im Institut für Rechtsmedizin durchgeführte DNA-Vergleich der Probe unseres Tatverdächtigen mit dem Muster vom Hals des Opfers ergab eindeutig, dass der Mann vor uns nicht der Täter sein konnte. Unbehagen beschlich mich bei der Vorstellung, was wohl gewesen wäre, wenn keine Täter-DNA vorgelegen hätte und wenn der eher einfach strukturierte Verdächtige nach der stundenlangen Vernehmung irgendwann Fiktion und Realität verwechselt hätte. So aber konnte er dank der unglaublich verfeinerten Sicherungsmethoden im Bereich der DNA als Täter zweifelsfrei ausgeschieden und entlassen werden.
Ein tatrelevanter Fingerabdruck von der Tür der Toilettenkabine erbrachte bei der automatisierten Überprüfung der Spur in der Datenbank für Fingerabdrücke durch die Spezialisten des Landeskriminalamtes leider ebenso wenig einen Personentreffer wie die Überprüfung des DNA-Musters in der bundesweiten Datenbank. Der DNA-Abgleich führte jedoch zu einem überraschenden Ergebnis: Dasselbe Spurenmuster war knapp zwei Monate vor dem Mordversuch an der kleinen Anna bereits an einem anderen Tatort in München gesichert worden! Damals war eine Angestellte einer Innenstadtklinik von einem Unbekannten in den frühen Morgenstunden in einem Umkleideraum überfallen und mit großer Brutalität vergewaltigt und bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt worden. Hatten wir es mit einem Serientäter zu tun, der wahllos Kinder und erwachsene Frauen überfiel? Die Überprüfung aller in Bayern registrierten Sexualstraftäter, von denen bislang kein DNA-Muster vorlag, wurde entsprechend ausgeweitet.
Unterdessen hatten die Eltern mitgeteilt, dass eine Trinkflasche, die immer an Annas Schulranzen hing, verschwunden war. Deshalb wurde über die Medien, die den Fall mit außerordentlicher Intensität begleiteten und die polizeilichen Maßnahmen in jeder Hinsicht unterstützten, ein Fahndungsaufruf mit der Abbildung einer Vergleichsflasche veröffentlicht. Zahlreichen Hinweisen aus der Bevölkerung wurde – leider ergebnislos – nachgegangen. Alle männlichen Personen, die in den letzten Jahren mit der Schule etwas zu tun gehabt hatten – wie Lehrer, Lieferanten, Väter, Handwerker –, wurden überprüft, ohne dass es gelungen wäre, dem Täter auf die Spur zu kommen. Die Auswertung sämtlicher auf freiwilliger Basis abgegebenen Speichelproben und Fingerabdrücke verlief im Sande.
Bei einer erneuten sorgfältigen Absuche im Umfeld des Tatortes fand unser Hauptsachbearbeiter dann überraschend die vermisste Trinkflasche von Anna, die der Täter offenbar in einem Sicherungskasten nahe der Toilette versteckt hatte. Das interessierte uns natürlich brennend: Was konnte den Täter dazu veranlasst haben, Annas Trinkflasche an sich zu nehmen, um sie dann in der Nähe zu verbergen? Alle Beamten der Soko wurden zusammengerufen und es wurden die unterschiedlichsten Theorien entwickelt und wieder verworfen. Eines aber stand fest: Die Flasche musste genauestens untersucht werden.
Als Erstes erhielten wir das Ergebnis der DNA-Untersuchung: An der Trinkflasche befand sich sowohl von dem Mädchen als auch vom Täter DNA-Material. Die chemischtoxikologische Untersuchung des Flascheninhaltes führte dann zu einer wirklichen Überraschung: Dem Orangensaft in der Flasche war offensichtlich eine geringe Menge Essigsäure-Ethylester zugesetzt worden. Diese Feststellung war Anlass zu langen und zum Teil kontroversen Diskussionen während unserer täglichen Zusammenkünfte. Jeden Morgen nach Dienstbeginn und jeweils abends, wenn andere Behörden längst Feierabend hatten, trafen wir uns in einem großen Besprechungsraum. Dort trug jeder Abschnitt die neuesten Erkenntnisse vor, etwa die Ergebnisse der Ermittlungen oder Vernehmungen. So hatten alle Soko-Angehörigen stets den gleichen Wissensstand und konnten Fakten entsprechend bewerten und gegebenenfalls als relevant einordnen.
Die chemische Substanz im Orangensaft wurde im Hinblick darauf untersucht, aus welchem Grund sie beigemischt worden sein könnte (betäubende oder aphrodisierende oder welche andere Wirkung?). Zudem galt es zu ermitteln, wer mit diesen Substanzen normalerweise umgeht. So war zu überprüfen, wie und wo man diese Chemikalie beziehen kann, und nach Möglichkeit der Verkaufsweg zu ermitteln.
Zudem ergab sich eine weitere interessante Spur: Auf einem Schrank im Toilettenvorraum wurde einen Tag nach dem Auffinden der Trinkflasche ein Sweatshirt entdeckt. Bis heute ließ sich nicht klären, ob das Sweatshirt bereits während der ersten Arbeiten des Erkennungsdienstes dort lag oder ob es nachträglich dort platziert wurde. Letzteres ist wohl wahrscheinlicher, wobei nicht klar wurde, wer das Sweatshirt dorthin gelegt haben könnte und warum das geschah. Jedenfalls verpackten wir routinemäßig das Sweatshirt in Plastikfolie und schickten es zur Untersuchung ans Landeskriminalamt. Um eine Beschädigung von Spuren zu vermeiden, nahmen wir das Sweatshirt vor dem Verpacken und Versenden nicht näher in Augenschein.
Die Sensation war perfekt, als das Ergebnis feststand: Auch am Sweatshirt fanden sich DNA-Muster des Opfers und des Täters. Außerdem konnten Anhaftungen von Putzmitteln nachgewiesen werden, wie sie auch zur Reinigung der Schule verwendet wurden. Nachdem das Landeskriminalamt das Sweatshirt zurückgeschickt hatte, schien uns das Glück endlich hold zu sein. Auf das eingenähte Wäschezeichen des Sweatshirts hatte jemand mit rotem Eddingstift die Buchstaben »BL« geschrieben – das Kürzel für »Blumenstraße«, wo die Schule lag? Handelte es sich bei dem Sweatshirt vielleicht um das Kleidungsstück einer Reinigungskraft, das über die Schule oder die Firma zum Waschen gegeben wurde? Auffällig war allerdings, dass kein anderes Kleidungsstück in dieser Art und Weise gekennzeichnet war. Hatte ein Mitarbeiter vielleicht seine Arbeitskleidung mit diesem Kürzel individuell kenntlich gemacht?
Mit immensem Aufwand wurden daraufhin alle Firmen und deren aktuelle und ehemalige Mitarbeiter überprüft, die für die Reinigung des Schulkomplexes zuständig waren. Zudem wurden mit Unterstützung aller örtlichen Polizeiinspektionen mehr als 350 Münchner Wäschereien und chemische Reinigungen kontrolliert, zahlreiche Pflege- und Altenheime und Großunternehmen überprüft – nirgends jedoch war ein entsprechendes Wäschezeichen bekannt oder aufgefallen. Schließlich entschieden wir uns, ein Foto des Wäschezeichens in den Medien zu veröffentlichen. Das Ergebnis war ernüchternd: Ein Angehöriger des Landeskriminalamtes teilte mit, dass es sich um die Kennzeichnung einer Sachbearbeiterin handelte. Sie hatte nach Abschluss der Untersuchung das Wäschezeichen mit den Buchstaben B und L versehen, um zu dokumentieren, dass dieses Kleidungsstück bereits überprüft war. Die Buchstaben standen dabei für ein dienstliches Kürzel, das nur zufällig dieselben Anfangsbuchstaben aufwies wie Blumenstraße – ein Vorgang, der nach Auskunft aller Erkennungsdienstexperten beim Polizeipräsidium völlig unüblich war und zu einem ebenso gigantischen wie letztlich völlig überflüssigen Ermittlungsaufwand geführt hatte.
Die Soko arbeitete nicht nur an den Wochenenden ohne Unterbrechung durch, sondern auch während der Weihnachtsfeiertage. Keiner der Beamten murrte indes, jeder Einzelne war fest entschlossen, alles zu tun, um den Täter zu ermitteln und seiner gerechten Strafe zuzuführen. Die meisten der Kollegen hatten selbst Kinder, manche auch im Alter der kleinen Anna. Aber wenn ein Kind Opfer einer Straftat wird, setzt sich ohnehin jeder mit größtmöglichem Engagement ein.
In der Silvesternacht – rund zehn Wochen nach dem Missbrauch der kleinen Anna – wurde eine Gaststätte in einem Dorf im Landkreis Starnberg Schauplatz einer äußerst brutalen Vergewaltigung. Nachdem die letzten Gäste gegangen waren, hatte ein Unbekannter die Wirtin gewürgt und vergewaltigt und schließlich der Tageseinnahmen beraubt. Der Täter ließ sein schwerstverletztes Opfer hilflos zurück, wohl in der Annahme, es sei bereits tot. Nur mit viel Glück überlebte die Frau ihre lebensgefährlichen Verletzungen. Es gelang den Beamten der zuständigen Kriminaldienststelle, den Täter namentlich zu ermitteln. Wie sich herausstellte, hatte er vorübergehend in der Nähe des Gasthauses auf einem Bauernhof gewohnt. Die Kollegen setzten ein Fahndungsfernschreiben nach diesem Täter ab, das auch unser Hauptsachbearbeiter las. Aufgrund des Modus operandi, also der täterspezifischen Besonderheiten der Tatausführung, beschloss mein Kollege spontan, diesen Täter in die Münchner Überprüfungen mit einzubeziehen.
Man konnte dem Kollegen förmlich anmerken, wie ihn diese Spur in kürzester Zeit vollständig in ihren Bann zog. Über den Vergewaltiger aus der Silvesternacht gab es bereits polizeiliche Unterlagen, in denen sich ein Hinweis auf eine Kontaktperson fand, mit der der Kollege sich alsbald in Verbindung setzte. Aus der Polizeiakte ergab sich auch, dass der Täter bislang noch nicht in der DNA-Datenbank geführt wurde. Da seine Täterschaft bei der Vergewaltigung im Landkreis Starnberg jedoch feststand, waren die Voraussetzungen für seine Erfassung erfüllt. Wir erfuhren, dass von ihm wegen eines anderen Deliktes DNA-Material bei einer bayerischen Polizeidienststelle existierte, das allerdings noch nicht ausgewertet war. Ich veranlasste, dass dieses Untersuchungsmaterial per Polizeistafette zum Münchner Institut für Rechtsmedizin gebracht wurde, wo aufgrund eines mittlerweile eingeholten richterlichen Beschlusses sofort ein DNA-Muster erstellt wurde.
Etliche Stunden später klingelte unser Telefon. Die Mitteilung aus dem Institut für Rechtsmedizin schlug ein wie eine Bombe: Das DNA-Muster des Vergewaltigers aus dem Landkreis Starnberg war identisch mit dem DNA-Muster aus der Schule. Der Vergewaltiger und Beinahe-Mörder der kleinen Anna war identifiziert! Endlich hatte das Grauen einen Namen und ein Gesicht. Man kann sich als Außenstehender wahrscheinlich nur schwer vorstellen, welche Gefühlsregungen diese Nachricht bei den Kollegen auslöste, die seit Wochen Tag für Tag Hunderte von Spuren verfolgt und zahllose Vernehmungen durchgeführt hatten. Und einen Rückschlag nach dem anderen hingenommen hatten mit jeder vermeintlich vielversprechenden Spur, die sich im Nichts auflöste. Mit einem Schlag waren alle Mühen und die zahllosen Enttäuschungen vergessen, waren alle Müdigkeit und aller Frust wie weggeblasen. Jetzt hatten wir ein greifbares Ziel vor Augen.
Wieder wurde eine Einsatzbesprechung einberufen, an der alle Beamten der Soko teilnahmen. Die Person des Täters – ein 19-jähriger berufs- und wohnsitzloser Mann aus Düren – wurde abgeklärt und dabei stießen wir auf zwei erstaunliche Tatsachen: Zum einen waren die Fingerabdrücke des Beschuldigten beim Landeskriminalamt bereits gespeichert; sie waren bei den Suchläufen vom System auch ausgewiesen worden, jedoch nicht mit der erforderlichen Priorität, um sie einem manuellen Abgleich mit dem Vergrößerungsglas zu unterziehen. Und außerdem wurde festgestellt, dass das DNA-Muster des Beschuldigten nach einem Sexualdelikt in Köln bereits bekannt, jedoch nicht in die bundesweite Datenbank eingestellt worden war. Zur Begründung hieß es, dies könne man erst nach einer rechtskräftigen Verurteilung machen. (Zu welchem Zeitpunkt DNA-Spuren eingestellt werden – ob bereits während dem laufenden Ermittlungsverfahren oder erst nach der rechtskräftigen Verurteilung –, ist in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich geregelt.)
Nachdem der Täter jetzt identifiziert war, begann die gezielte, intensive Fahndung nach ihm, die innerhalb weniger Stunden zu seiner Festnahme führte. Diesmal aber war das Glück auf unserer Seite: Während die polizeiinterne Fahndung eingeleitet wurde, bekam eine Funkstreifenbesatzung den Auftrag, zu einer Wohnung in einer Gemeinde im Osten Münchens zu fahren, da dort ein Übernachtungsgast sich weigerte, die Wohnung zu verlassen. Der Anrufer hatte dem Beamten auch den Namen des Hausfriedensbrechers genannt: Es war der von uns Gesuchte. Der Kollege hatte unser Fernschreiben gelesen und verständigte uns sofort. Alle verfügbaren Polizeikräfte in weitem Umkreis um den Einsatzort wurden eiligst zu der bezeichneten Adresse entsandt, um ein Entkommen des Täters um jeden Preis zu verhindern. Unter anderen beteiligten sich auch Beamte unseres Zielfahndungskommissariates an diesem Einsatz, denen letztlich die Festnahme des Gesuchten gelang. Es kam uns endlos lange vor, bis die erlösende Nachricht bei uns eintraf, dass man den Täter widerstandslos festgenommen hatte. Die Jagd nach einem skrupellosen Verbrecher und eine der größten Polizeiaktionen der letzten Jahre in München waren zu Ende.
Bei seiner Vernehmung gestand der Täter rückhaltlos die ihm zur Last gelegten Taten. Zu dem Missbrauch von Anna gab er an, er dachte, sie sei schon tot gewesen, als er sich an ihr verging. Auf die Frage, warum er denn Essigsäure-Ethylester in die Flasche seines Opfers geschüttet habe, folgte eine überraschende Erklärung. Der Täter, der sich gelegentlich in der Stricherszene bewegt hatte, hatte sich in einer vorwiegend von Homosexuellen besuchten Kneipe ein Fläschchen der Droge Poppers gekauft, die nach der Einnahme kurzfristig eine muskelentspannende Wirkung zeigt. Dieses Mittel wollte er seinem Opfer einflößen. Beim Kauf des nicht ganz billigen Präparates war er jedoch einem Betrüger aufgesessen, der ihm anstelle von Poppers die besagte billige und für seine Zwecke völlig wirkungslose Substanz Essigsäure-Ethylester verkauft hatte. Damit hatten unsere äußerst umfangreichen Überprüfungen im Zusammenhang mit dieser chemischen Verbindung von vornherein keine Chance gehabt, zu einem verwertbaren Ergebnis zu führen. Für mich aber zeigte dieser Fall einmal mehr, dass man bei Ermittlungen selbst scheinbar unumstößliche Fakten stets hinterfragen und mit größter Skepsis bewerten sollte, ehe man sie als gesicherte Erkenntnisse akzeptiert. Die Festnahme und das Geständnis des Täters erfolgten übrigens am letzten Arbeitstag des langjährigen Leiters des Münchner Mordkommissariates, der bis zuletzt gefürchtet hatte, mit einem ungeklärten Fall in den Ruhestand gehen zu müssen.
Der Täter wurde zu einer langjährigen Jugendstrafe verurteilt, deren Verbüßung er sich kurz nach dem Prozess durch Suizid entzog.
* Alle Namen wurden verändert.
Spätestens nach diesem Fall war mir klar, dass es eine ganz andere Form von Belastung bedeutet, ob man nun Eigentumsdelikte bearbeitet oder es um Menschenleben geht. Den Wechsel zur Mordkommission hatte mir im Sommer 2001 ein ehemaliger Kollege schmackhaft gemacht. Er erzählte von der vakanten Stelle eines Leiters der Mordkommission und schwärmte so lange von der interessanten und spannenden Aufgabe, bis ich mich dazu überreden ließ, der Dienststelle mal einen Besuch abzustatten und mich unverbindlich über die Chancen und Voraussetzungen für eine Bewerbung auf die Stelle als MKL (offizielle Abkürzung für Mordkommissionsleiter) zu informieren. Sowohl der damalige Kommissariatsleiter als auch sein Vertreter empfingen mich reserviert. Man merkte ihnen an, dass ihnen die Vorstellung, einen »Fremden«, also jemanden, der nicht in ihrer eigenen Dienststelle das Laufen gelernt hatte, möglicherweise als MKL akzeptieren zu müssen, überhaupt nicht behagte. Das Gespräch war dementsprechend kurz und höflich-unterkühlt, und ich verließ die Dienststelle in dem Bewusstsein, dass ich mir diese Fahrt hätte sparen können. Diesem unfreundlichen Empfang zum Trotz verfasste ich dennoch eine fünfzeilige Bewerbung und schickte sie weg. Sollten sie ruhig etwas schwitzen, die Kollegen der Mordkommission, denen bei uns »normalen« Kriminalern der Ruf vorauseilte, sie seien arrogant und überheblich. Mir bereitete die Vorstellung ein gewisses Vergnügen, dass die Herren Mordermittler sich mit dem Gedanken auseinandersetzen mussten, einen Kriminaler in ihren Reihen aufzunehmen, der bis dato in ihren Augen allenfalls »einfachst gelagerte Fälle der Bagatellkriminalität« bearbeitet hatte.
Ohne weitere Rückmeldung und überzeugt, meine Bewerbung habe ohnehin keine Aussicht auf Erfolg, saß ich Mitte August mit einer Staatsanwältin und mehreren Vertretern einer Bank in einem Münchner Biergarten. Wir hatten ein größeres Verfahren wegen Bandendiebstahls sehr erfolgreich zu Ende gebracht und waren zu einer Abschlussbesprechung auf neutralem Terrain zusammengekommen. Zufällig saßen zwei Tische weiter die Angehörigen einer Mordkommission beim Umtrunk, darunter auch der damalige stellvertretende Kommissariatsleiter. Als er uns entdeckte, kam er zu uns herüber, begrüßte die Staatsanwältin, die er offensichtlich schon länger kannte, und fragte sie scherzhaft, während er auf mich zeigte: »Woher kennen Sie denn unseren neuen MKL?« Ich hatte die Stelle tatsächlich bekommen.
Am 1. Oktober 2001 trat ich meinen Dienst bei der Mordkommission an. Zwar hatte ich während meiner früheren Tätigkeit beim Kriminaldauerdienst des Öfteren an Tatorten Kontakte mit den Beamten der Mordkommission gehabt, aber damals bestand die Arbeit des Kriminaldauerdienstes vor allem darin, den Tatort abzusperren und keine eigenen Spuren zu hinterlassen, sprich: »zu setzen«. Jetzt, Jahre später, hatte ich nur mehr eine sehr vage Vorstellung von dem, was auf mich zukommen würde. Dementsprechend gespannt betrat ich das Dienstgebäude gegenüber dem Münchner Hauptbahnhof, in dem das Mordkommissariat damals residierte. Bei meiner Vorstellung in der Morgenbesprechung machte einer der etablierten MKL seinem Unmut über die Ernennung eines »Hühnerdiebstahlsachbearbeiters« zum Leiter einer Mordkommission Luft, indem er leise, aber deutlich vernehmbar murmelte, dass man da auch gleich einen Hundeführer als MKL hätte einstellen können – schade nur, dass der Kollege keine Gelegenheit mehr bekam, sich einen Eindruck von meiner Arbeit zu verschaffen, da er bald darauf das Kommissariat verlassen musste.
Mein Vorgänger hatte sein Büro zwar geräumt, aber offenbar nur das mitgenommen, was ihm noch verwertbar erschien. Der zurückgelassene Rest füllte mehrere Müllsäcke. Die PC-Tastatur, die Schreibtischplatte und andere Einrichtungsgegenstände gaben ihre ursprünglichen Farben erst preis, nachdem ich sie stundenlang mit Wasser und Spülmittelkonzentrat gequält hatte. Der Teppich und die Vorhänge hatten ihr Haltbarkeitsdatum wahrscheinlich schon längst überschritten, was dem Raum eine Duftnote aus vergangenen Jahrzehnten verlieh. Bereits am Morgen war ich beim Betreten des Gebäudes durch die Hofeinfahrt mit gewöhnungsbedürftigen Geruchserlebnissen konfrontiert gewesen. Die zahlreichen Besucher der umliegenden Sexbars, aber auch der Bierhallen und Dönerstände, hatten im Schutze der Dunkelheit Spuren ihrer nächtlichen Bedürfnisse hinterlassen. Der Duft des frisch aufgewärmten alten Fettes einer Gaststätte, die in den unteren Etagen des Hauses Quartier genommen hatte, erfreute zusätzlich die Sinne.
Als kurzfristige Notlösung hatte die Polizei das Gebäude vor mehr als zwanzig Jahren angemietet. Bereits damals stand fest, dass es aufgrund seines maroden Zustandes in Kürze abgerissen werden sollte. Wie es der Eigentümer geschafft hat, die Abrissbirne von seinem Prunkbau fernzuhalten und die Polizei zu fortlaufenden Verlängerungen des Mietvertrages zu veranlassen, bleibt sein Geheimnis. Die Polizei jedenfalls schien die Geschichte mit dem bevorstehenden Abriss für bare Münze genommen zu haben, denn sie vermied es in all den Jahren, nennenswerte Geldbeträge in den Unterhalt der Räume zu investieren. Dies also waren die Eindrücke meines ersten Arbeitstages bei der Mordkommission.
Man ließ mir allerdings nicht allzu viel Zeit, dem schmucken neuen Dienstgebäude und den liebenswerten Kollegen meiner alten Dienststelle nachzutrauern, denn nun galt es, mich innerhalb von zwei Wochen mit allem vertraut zu machen, was ich vielleicht schon in der dritten Woche brauchen würde. Da nämlich hatte meine Mordkommission – war das denn wirklich meine MK? – Bereitschaft. Von Montag 7.15 Uhr bis zum darauffolgenden Montag, 7.15 Uhr, würden alle aktuellen Fälle bei uns landen.
Im Handumdrehen verflog die Zeit und dann kam der 15. Oktober 2001, an dem ich die Leitung der Mordbereitschaft übernehmen sollte. Das geschah wesentlich unspektakulärer, als ich es erwartet hatte. Der Leiter der Vorgänger-Bereitschaft drückte mir einfach bei Dienstbeginn die Fahrzeugschlüssel des Bereitschaftsautos und das Diensthandy in die Hand und wünschte mir süffisant »Viel Spaß!«.
Nun war es also so weit: Bei jedem Mord, jedem Totschlag, bei Entführung, erpresserischem Menschenraub, Amoklauf oder Geiselnahme in München und im Landkreis würde mein Handy klingeln, bei Tag und bei Nacht, und ich würde ausrücken und vor Ort die Einsatzleitung für die Ermittlungen übernehmen. Jede meiner Entscheidungen und Maßnahmen würde zu einem späteren Zeitpunkt durch Vorgesetzte und Kollegen, Staatsanwälte, Richter, Verteidiger und womöglich auch durch die Medien geprüft und kommentiert, gutgeheißen oder kritisiert werden. Es waren zwiespältige Gedanken, die mich in diesem Moment beschlichen. War ich dieser verantwortungsvollen Aufgabe tatsächlich gewachsen? Oder würden die Kritiker, die meine direkte Versetzung von einem Kommissariat, in dem ich Eigentums- und Bandendelikte bearbeitet hatte, zur Mordkommission im Vorfeld vehement angeprangert hatten, am Ende Recht behalten? Der Tag verging ohne Einsatz. Nach Dienstschluss lenkte ich meinen zivilen BMW durch den Berufsverkehr nach Hause. Es war ein komisches Gefühl, als ich den Polizeiwagen zum ersten Mal in meiner Garage abstellte. Ab sofort würden also andere bestimmen, ob ich nachts schlafen durfte oder nicht. Die erste Bereitschaftsnacht brach an. Ich überprüfte meine Einsatzunterlagen, bereitete die Kaffeemaschine vor, damit ich im Falle nächtlichen Ausrückens meine Lebensgeister auf Vordermann bringen könnte, und dann ging ich – früher als gewohnt – ins Bett. Sicher ist sicher. Allerdings dauerte es dann doch deutlich länger als gewohnt, bis ich einschlief.
Als mich schließlich der Wecker zur gewohnten Stunde aus den Federn scheuchte, war ich irgendwie erleichtert. Auch der Tagdienst verlief ohne Besonderheiten, ich war vor allem immer noch damit beschäftigt, die Kollegen und die Abläufe in der Dienststelle kennenzulernen. Dann begann die zweite Nacht. Ich hatte mir vorgenommen, diesmal länger wach zu bleiben, um im Falle eines Einsatzes keine Zeit mit Aufwachen und Anziehen zu vergeuden. Ich hatte eine unbestimmte Vorahnung, dass ich heute zu meinem ersten Einsatz fahren würde. Und ich war überzeugt, dass der Anruf vor Mitternacht erfolgen würde. Doch das Telefon blieb stumm. Gegen ein Uhr legte ich mich schließlich hin und schlief ein. Es war kurz vor drei Uhr, als das Bereitschaftshandy klingelte. Es dauerte lange, ehe ich begriff, was das ungewohnte Geräusch in meinem Schlafzimmer bedeutete.
In einer Bäckerei in der Innenstadt hatten zwei Maskierte den Sohn des Besitzers überfallen, als er eben im Begriff war, die Tür zur Backstube aufzusperren. Möglicherweise hatten die Täter beabsichtigt, ihn zu entführen. Aufgrund seines erbitterten Widerstandes ließen die beiden Angreifer schließlich unverrichteter Dinge von ihrem Opfer ab und flüchteten. Beamte des Kriminaldauerdienstes, kurz KDD, waren bereits unterwegs zum Einsatzort, Streifen der Schutzpolizei fahndeten nach den flüchtigen Tätern. Man gehe derzeit, so der Kollege, der mich informierte, von einem versuchten erpresserischen Menschenraub aus, da der Vater des Überfallenen als vermögend gelte.
Die Beamten des KDD verrichten im Polizeipräsidium München Schichtdienst. Außerhalb der regulären Dienstzeiten, also nachts und an Wochenenden und Feiertagen, sind sie im Erstzugriff zuständig für alle Vorgänge, die das Einschalten der Kriminalpolizei erfordern. Also für Raubüberfälle, Einbrüche, Sittenvergehen, Diebstähle, Körperverletzungen, aber auch, wenn ein Leichenschauarzt nicht eindeutig feststellen kann, ob es sich um eine natürliche Todesursache handelt, oder bei tödlichen Betriebs- und häuslichen Unfällen sowie bei Suizid. Bei einem Tötungsdelikt hingegen leisten die Beamten des KDD nur Vorarbeit; bis zum Eintreffen der Mordkommission veranlassen sie unaufschiebbare Maßnahmen wie Absperrungen oder sie ermitteln Zeugen. Diese Vorgehensweise stellt einen unschätzbaren Vorteil bei Mordermittlungen dar, sind doch die Beamten des KDD in der Regel deutlich schneller am Tatort, als die Beamten der Mordkommission es sein können, die oft genug aus dem Tiefschlaf geweckt werden und womöglich weite Anfahrtswege von ihrer Wohnung aus haben. Die schnelle, professionelle Absicherung eines Tatortes und rasche Ermittlung von beteiligten Personen aber sind wichtige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Arbeit der Mordkommission. Da ich aus meiner eigenen Erfahrung beim KDD die Abläufe kannte, konnte ich sicher sein, dass bis zu unserem Eintreffen bereits alles Nötige veranlasst oder zumindest eingeleitet sein würde.