Morgana - Der Gestank von Tod - Cora Garlin - E-Book

Morgana - Der Gestank von Tod E-Book

Cora Garlin

0,0

Beschreibung

**Die epische Neuinterpretation von Merlins Geschichte geht weiter** Zu kämpfen bedeutete Krieg. Tod, Blutvergießen, Schmerz und Chaos. Es bedeutete zu töten. Und in gewisser Weise auch, zu sterben, ohne dabei das eigene Leben einzubüßen. Die Hoffnung verloren. Der Kampf vorbei. Die Dunkelheit mächtiger als je zuvor und die Welt überrannt von Monstern. Wenn all die Anstrengung umsonst war, wozu dann weitermachen? Wozu weiterkämpfen, wenn Tod und Chaos nicht mehr aufzuhalten sind? Gebrochen von der Schlacht steht Parzival ein grausames Schicksal bevor. Werden seine Feinde es schaffen, seinen Willen zu brechen?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 615

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Copyright 2022 by

Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Covergestaltung: Fabula Design

ISBN: 978-3-910615-51-9

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Der Lord vom Niemandsland

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

Die Jagd

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

Engel des Todes

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

Wenn Schnee fällt, fallen auch sie

Ihre Körper überzogen von Weiß

Die Nacht so grausam, so kalt

Sie kämpfen

Ertragen den Schmerz

Den Regen von eintausend Tropfen aus Blut

Ein Tal des Todes

Seit eintausend Jahren

Und für eintausend Jahre danach

Ich sehe sie überall

Höre den Schrei und spüre die Spitze

Wild, garstig und gemein

Und wo einst war Leben

Nun liegt

Ein Garten aus Knochen

Kämpfe weiter, mein süßes Kind

Kämpfe und Siege in der Schlacht, im Duell

In Rivalität, im Groll

In Rache und Wut

Zauberer wandte sich gegen Zauberer

Und Mensch gegen Mensch

Und Chaos brach aus

Wie es die Welt noch nie zuvor gesehen

Die Welt, in die wir geboren wurden

Die Welt, in der wir lebten

Die Welt, in der wir sterben werden

Der Lord vom Niemandsland

1

Licht explodierte vor meinen geschlossenen Augen. Als ich sie öffnete, entdeckte ich Morgana vor mir.

Und da dachte ich, wir hätten es geschafft. Sie lächelte. Das Grün in ihren Augen funkelte wie ein verlorener Schatz. Wie ein Edelstein, der zu lange kein Licht gesehen hatte und jetzt der Sonne zum allerersten Mal entgegenblickte. Der tausendmal so hell erstrahlte wie jedes andere Juwel.

Sie war wunderschön – ihr Lächeln war wunderschön. Doch dann breitete sich Schmerz darin aus.

Terror.

Ich kam auf sie zu, und ihr Körper sackte in meinen Armen zusammen.

Meine Welt zerbrach. Und mit ihr meine Hoffnung. Mein Leben.

Ich sah uns tanzen, sah uns am Felsvorsprung stehen und im See schwimmen. Erinnerte mich, wie sie dort am Stalleingang gewartet hatte, mit den roten Wangen und dem Wasserfall aus Rabenfedern.

Und jetzt … jetzt starrte ich in die Augen aus meinen Visionen.

Stellte fest, dass es von Anfang an ihre gewesen waren.

»Ich will, dass du mir etwas versprichst. Versprich mir, dass du mich niemals verlässt. Versprich mir, dass wir immer zusammenbleiben, egal, was geschieht. Wenn alles zerbricht, wir halten zusammen.«

***

»Ich verspreche es.«

***

Sie lachte.

Und mit diesem einen Lachen spürte ich, wie sich der gesamte Bereich um mein Herz herum erwärmte.

Wir tanzten. Sie schmunzelte verlegen, wodurch das Rosa auf ihren Wangen einen noch intensiveren Farbton annahm.

Sie las, und ich beobachtete ihren Pupillen dabei, wie sie den Zeilen folgten.

Ich stand am Ufer und sah sie ins Wasser gehen. Nackt. Ihre Kleidung wie eine Spur aus Brotkrumen hinter diesem wundervollen Körper. Der Blick, den sie mir zuwarf, wirbelte alles in mir durcheinander.

Dann sah ich sie auf mich zukommen. Sah sie lächeln und konnte nichts tun, als der Schock ihre Miene gefror.

Ich hörte mich weinen.

Ich hörte mich schreien.

Aber am schlimmsten war der Schmerz – tiefer als jede Klinge schneiden konnte, qualvoller als das langsamste Gift – als ihr lebloser Körper in meinen Armen lag und alles, wofür ich gekämpft hatte, vor meinen Augen zerfiel.

Die ganze Welt brach zusammen. Die ganze Welt wurde schwarz.

Ein Stechen brandete durch meinen Körper.

»Du bist stärker Junge, das weiß ich.«

Ector …

Ich sah ihn vor mir, sah das Blut, das verblasste Blau seiner Iriden.

»Eines Tages wirst du verstehen, du wirst nicht alles verzeihen, was ich dir angetan habe, was Arthur dir angetan hat. Aber du wirst es verstehen.«

Ich verstand jetzt.

Jetzt verstand ich.

»Wenn alles zerbricht, wir halten zusammen.«

»Es gibt schlimmere Schicksale als den Tod. Zum Beispiel ohne jene weiterleben zu müssen, die einem alles bedeuten.«

»Oder sich in etwas zu verlieren, das einem letzten Endes nimmt, was man hatte beschützen wollen.«

»Warum führen Menschen Krieg? Warum töten sie, wenn sie selber fürchten, jemanden zu verlieren?«

»Sie töten aus Angst oder aus Wut. Manchmal sogar beides. Sie töten, gerade weil sie fürchten, jemanden zu verlieren … oder weil sie jemanden verloren haben.«

»Arthur fürchtet die Magie, und seit dem Tod seines Vaters konnte ihn niemand von seinem Wahn abbringen. Aber es konnte bisher auch niemand sein Vertrauen erlangen, wie du es geschafft hast, Junge.«

»Am schlimmsten ist es, wenn die Menschen, die dir die schönsten Erinnerungen schaffen, selbst zu einer werden. Nur solltest du dir keine Gedanken um die Toten machen, sondern viel mehr um die Lebenden. Sie sind es, die dein Mitleid verdienen, Parzival – besonders solche, die Leben nehmen, weil sie glauben, es täte der Welt etwas Gutes.«

»Was bist du bereit zu opfern?«

»Was spielt es für eine Rolle, wenn wir zum Schluss beieinander gewesen wären?«

»Es spielt eine Rolle, denn wenn wir uns auf dem Weg verlieren, wissen wir am Ende nicht mehr, wofür wir überhaupt gekämpft haben. Wenn wir uns auf dem Weg verlieren, gibt es kein Ziel mehr, wofür es sich zu kämpfen lohnt.«

»Er würde dir blind folgen, wohin auch immer du ihn führtest – in welch Verderben, in welch Elend und Leid. Er würde dir folgen, selbst wenn du mit ihm vor dem Rad einer Klippe stündest. Und er würde springen, wenn du es ihm sagtest.«

»Arthur ist ein Monster, und früher oder später wird er als eines sterben.«

»Arthur Pendragon mag ein Feind der Magie sein, aber er beginnt langsam zu verstehen, dass Freunde zu Feinden werden können … und Feinde zu Freunden.«

»Er ist nicht mein Lord und er wird nie mein König sein.«

»Ich folge Euch.«

»Bis in den Tod: Ich folge Euch.«

»Ich werde hier sein, ich werde auf dich warten. Immer. Egal, wie lange es dauert, ich werde immer da sein, wenn du mich brauchst.«

»Wenn du ewig verbirgst, was du bist – deine Fähigkeiten, deine Macht, die Magie in dir – wenn du all das verdrängst, verändert es dich. Es macht dich krank.«

»Was bist du bereit zu opfern?«

»Alles – ich würde jedes Dorf niederbrennen, um endlich in Frieden leben zu können.«

»Was habe ich getan?«

»Oft sind es eben jene Taten, die wir begehen, um gewisse Geschehnisse zu verhindern, die uns auf den Pfad geleiten, den wir um jeden Preis vermeiden wollen.«

»Du musst das nicht sein – Merlin. Du kannst einfach nur Parzival sein, wenn du es wünschst.«

»Mein Parzival.«

»Ich werde immer Dein bleiben.«

»Lass mich dir ein Angebot machen, du hilfst mir, König zu werden, und im Gegenzug dafür sorge ich für so wenig Blutvergießen wie möglich.«

»Oh, ich weiß, Ihr hasst diesen Mann, ich weiß, wie sehr Ihr ihn verabscheut. Aber es ist kein Geringerer als er selbst, der Mensch und Magier vereinen und Frieden ins Land von Voyar zurückbringen wird. Nur wird es ihm nicht gelingen – ohne Euch an seiner Seite.«

»Ich werde ihn beschützen, ich werde alles tun, um ihn zu retten.«

»Arthur, bitte!«

»Ihr dürft nicht sterben.«

»Die Entscheidungen jener, die Ihr am besten zu kennen meintet, sind es, die Euch hierhergeführt haben, um Arthurs Leben zu bewahren, und die Welt, wie Ihr sie kennt, vor jenen zu schützen, die sie bedrohen.«»Sie haben dir alles genommen, und jetzt folgst du ihnen freiwillig in den Tod.«

»Der Einzige, der mächtig genug ist, sie aufzuhalten, seid Ihr.«

»Kein Tag vergeht, an dem ich nicht an sie denke, an dem ich mich nicht danach sehne, ihre Stimme zu hören oder ihr Lächeln zu sehen.«

»Wenn Ihr es nicht tut, wird sie Arthur Pendragons Tod sein.«

»Du liebst sie noch immer, ich kann es in deinen Augen sehen. Ich kann deinen Herzschlag hören, der sich nach ihr sehnt.«

»Ich habe aus meinen Fehlern gelernt, Parzival und mein größter Fehler war es, dir zu vertrauen.«

»Bleib bei mir.«

»Parzival, ich flehe dich an.«

»Komm mit mir, was hält dich noch hier?«

»Wie ich es ertrage, dass sie fort ist? Ich kann es nicht, ich ertrage es nicht – und jeden Tag fühlt es sich an, als würde ein weiterer Teil von mir zunichte gehen.«

»Ich werde dir alles nehmen, Junge.«

***

Ein Feld von Leichen. Eine Burg im Hintergrund. Und ein Paar Augen.

Morganas Augen.

»Ich will dich nicht verlieren, Morgana.«

Ich hatte sie verloren.

Ich hatte alles verloren.

2

Hände zogen mich. Ich fühlte die Griffe, die Gewalt, die sie ausübten. Aber ich sah nur schwarz. Gemurmel drang zu mir vor, aber das Rauschen in meinem Kopf war lauter. Der Schmerz unerträglich. Das Brennen unausweichlich durch die abgebrochenen Krallen in meiner Seite.

Stimmen. Aber sie waren zu weit entfernt, um einen Sinn zu ergeben.

Ich erinnerte mich an die Schlacht. Erinnerte mich an sie.

Morgana.

Ich hatte sie gehalten. Und ich hätte sie nie wieder losgelassen. Doch dann waren die Hände gekommen und der Schmerz an meinem Schädel, und dann war alles schwarz geworden.

Es war immer noch schwarz.

Mein Atem rauschte in meinen Ohren – schwach und leise.

Warme Flüssigkeit lief an meinem Körper entlang, nach unten zur Hüfte und von dort aus zu meinem Oberschenkel. Der Stoff klebte an meiner Haut.

Dann spürte ich das Brennen erneut. Diesmal so heftig, dass ich zusammenzuckte.

»Scheiße!«

»Er wacht auf.«

Ich kannte die Stimmen nicht.

Ein Lachen.

»Keine Sorge, der wird keine Probleme bereiten. Seht euch seine Wunden an. Wir können von Glück reden, wenn er den Weg überlebt.«

»Ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt.«

»Wenn er stirbt, sind wir tot. Also sorgt besser dafür, dass sich sein Zustand nicht verschlechtert.«

Jemand packte mich. Dann spürte ich kalten Boden unter mir. Druck auf meiner Wunde.

»Was sie wohl mit ihm machen werden?«

Ein weiteres Lachen – von derselben Person wie zuvor.

»Ich kann es kaum abwarten, es herauszufinden.«

***

Ich öffnete meine Augen. Dunkle Gestalten lauerten vor mir – Schatten vor einem verschwommenen Hintergrund.

Meine Wunde schmerzte, aber das Blut an meiner Kleidung war getrocknet. Mir war kalt, und ich erkannte, wie meine Atemluft vor mir als Dampf aufstieg.

Ich trug keine Rüstung mehr, nur noch den Stoff meiner normalen Kleidung. Zu dünn für die Temperaturen, denen ich ausgesetzt war.

Meinen Gurt mit dem Dolch hatte man mir abgenommen. Und als ich das Seil entdeckte, das meine Hände zusammenband, schoss ein Stechen durch meine Hand. Die Knochen waren gebrochen, der Verband blutüberströmt.

Es war Arthurs Blut.

Ich hatte versucht, ihn zu retten, hatte versucht, ihn zu heilen, aber dann war dieser Zhynchont gekommen. Hatte mir seine Krallen in den Körper gerammt und sie abgebrochen, damit sie in meinem Fleisch zurückblieben.

Sie waren immer noch dort. Mit jeder Bewegung konnte ich sie spüren.

Jemand trat gegen meinen Fuß, und ich schreckte auf. Schock und Schmerz sorgten dafür, dass das Schwarz vor meinen Augen flimmerte, aber hielten mich gleichzeitig davon ab, das Bewusstsein zu verlieren.

»Noch am Leben?«

Ich wusste nicht, ob die Frage an mich gerichtet war. Konnte nicht mehr von mir geben als ein Stöhnen.

Die Gestalt, die sich vor mir aufbäumte, ging in die Knie. Ein Gesicht drang in mein Sichtfeld, aber es war verschwommen. Verschwommen und dunkel und finster.

Finger legten sich unter mein Kinn. Drehten meinen Kopf von links nach rechts.

»Scheiße, haben die ihn zugerichtet«, sagte eine Stimme im Hintergrund.

»Nichts im Vergleich zu dem, was ihm noch bevorsteht«, entgegnete der Mann vor mir.

***

Die Kälte war das Einzige, was die Dunkelheit davon abhielt, ihre Klauen nach mir auszustrecken.

Mir war klar, ich war weit weg von Camelot. Nur konnte ich nicht sagen, wohin man mich verschleppte – geschweige denn, wer die Männer waren, die mich fortbrachten.

Ich hatte es Guinevere versprochen. Hatte ihr geschworen, ich würde Arthur beschützen. Ihn zu ihr zurückbringen.

Ich hatte versagt.

Ich hatte nicht nur Arthur sterben lassen, sondern sie alle.

Es gab nichts, was mich noch in Camelot hielt. Selbst wenn die Ritter der Tafelrunde überlebt hatten, ich würde nur jeden Tag in ihre Gesichter blicken und an ihrer Trauer erkennen, dass ich sie enttäuscht hatte.

Mein Körper lag auf dem Sattel eines Pferdes. Ohne Hilfe konnte ich nicht einmal richtig sitzen. Stehen schon gar nicht – nicht einmal mit Hilfe. Aber ich konnte wieder einigermaßen sehen. Vor mir ritten drei Männer, hinter mir ebenfalls drei. Ich hatte noch immer keine Ahnung, wer sie waren oder wohin sie mich brachten, aber ich war mir sicher, es würde mir nicht gefallen.

***

Sie zogen mich vom Pferd – zwei Männer. Griffen mich unter den Armen und lehnten mich gegen etwas. Wir waren lange unterwegs gewesen oder vielleicht kam es mir auch nur so vor, weil ich immer wieder in die Bewusstlosigkeit fiel, nur um von der Eiseskälte zurück ins Hier und Jetzt gerissen zu werden.

»Hier«, meinte eine Stimme, »gib ihm das.«

Schritte entfernten sich, kamen wieder auf mich zu. Etwas presste sich gegen meine Lippen. Ich schaffte es nicht allein, also rann die Flüssigkeit an meinem Hals hinunter. Es war unangenehm, vor allem wegen der Kälte. Es fühlte sich an, als würde das Wasser sofort auf meiner Haut gefrieren.

Ein Lachen.

»Guckt euch das an!«

»Bevor sie ihren Spaß mit ihm haben können, müssen sie den Jungen erst mal wieder zusammenflicken«, kommentierte eine Stimme in Hintergrund.

Mehr Gelächter.

Eine Hand legte sich an meinen Hinterkopf, zog mich an den Haaren nach hinten, und Wasser lief in meinen Mund. Ich schluckte. Mehr Flüssigkeit, die an meinem Hals hinunterlief.

Ein Rascheln ertönte. Danach herrschte Stille. Erst dachte ich, ich wäre wieder ohnmächtig geworden, doch dann stellte ich fest, dass mich die Hand noch immer gepackt hielt.

»Du würdest dir selber einen Gefallen tun, wenn du jetzt stirbst«, flüsterte die Stimme in mein Ohr.

3

Wir ritten noch immer. Doch mittlerweile konnte ich über längere Zeiträume verhindern, dass ich das Bewusstsein verlor. Und da ich noch immer nicht sitzen konnte, ohne dass mich der Schmerz verbrannte, blieb ich halb auf dem Sattel liegen, lehnte meinen Oberkörper auf den Hals des Pferdes, vergrub mein Gesicht in die Mähne. Das Tier, auf dem ich mich befand, hatte einer der Männer an seines gebunden.

Ich konnte wieder klarsehen.

Klar genug, um die Zelte in der Ferne zu erkennen. Und das Banner, das sich über ihnen erstreckte.

Oh, ich hatte gewusst, es würde mir hier ganz und gar nicht gefallen. Aber ich hatte keine Ahnung – keine Ahnung – dass es immer schlimmer werden würde.

Wir trabten an den Zelten vorbei. Erlangten die Aufmerksamkeit Tausender, ihre Blicke einzig und allein auf mich gerichtet.

Panik brachte mein Herz dazu, sein Tempo zu erhöhen, aber mein Körper hatte nicht einmal genug Kraft, um hektisch zu atmen.

Sie alle wussten, was ich war.

Und keiner von ihnen würden es mich je vergessen lassen.

Im Zentrum des Lagers stand das bei Weitem größte Zelt. Links und rechts vor dem Eingang jeweils ein Banner. Hier noch unbarmherziger als aus der Ferne. Auf der Flagge, die oben an der Spitze des Zeltes wehte, standen die Worte des Hauses.

Ihr werdet verkümmern.

Wachen standen vor dem Eingang.

Die Männer stiegen von ihren Pferden und zogen mich von meinem. Ich stürzte auf den Boden, kalt und feucht.

Norden.

Wir befanden uns im Norden und würden weiter nach Norden gehen, bis wir irgendwann eine Burg erreichten – auf der Halbinsel Krähenschnabel. Eine Burg, die ich nie wieder verlassen würde. Ein Gefängnis, in dem ich den Rest meines Lebens verbringen würde.

Ich kniete auf der feuchten Erde. Erinnerte mich, wie ich in meinen Visionen auf ihr gekniet hatte. Wie ich in der Schlacht auf ihr gekniet hatte. Der Kopf in den Himmel gerissen und dieser Schmerz in mir, wie keine Klinge ihn verursachen konnte.

Ein Fuß drückte gegen meinen Rücken, stieß mich nach vorn. Ich fing mich mit dem linken Ellenbogen ab, um nicht auf meine gebrochene Hand zu fallen, aber das Seil zerrte am Gelenk. Schürte Feuer, küsste das Stechen wach.

Ich unterdrückte den Schrei.

Vor mir vernahm ich Bewegung, ein Rascheln, Schritte. Ich wagte nicht, nach oben zu schauen. Füße traten in mein Sichtfeld. Erst ein Paar, dann zwei. Das erste Paar kam näher, blieb direkt vor mir stehen.

Nur zu gut wusste ich, wer es war, der sich gerade vor mir aufbaute und auf mich herabsah wie ein tollwütiger Wolf.

Er ging in die Knie, beugte sich zu mir und zog meinen Kopf an den Haaren nach hinten, sodass ich direkt in seine hungrigen Augen starrte.

Die Zähne gefletscht, zeigte er mir sein Knurren. Wie der Werwolf auf seinem Wappen.

»Hast du mich vermisst?«

***

»Es ist wie ein Feuer, nicht wahr?«

»Ich sorge dafür, dass es erlischt.«

»Ich bin gespannt, wie lange du durchhältst, meistens sind es die, die meinten, sie könnten mir am längsten trotzen, die sich zuerst aufgeben und mich noch vor allen anderen anflehen, sie zu töten. Ich frage mich, wann du anfangen wirst, zu betteln.«

»Wir werden viel Spaß zusammen haben.«

Iman Marekk hockte vor mir, schwarze Ringe um seine Augen gezeichnet – genau wie ich sie in Erinnerung hatte. Er trug einen dunkelblauen Mantel, der Stoff so dick, dass er mich daran erinnerte, wie dünn ich gekleidet war.

Der Wolf sah an mir vorbei, zu den sechs Männern, die hinter mir standen.

»Wo habt ihr ihn gefunden?«

»Vor Camelot. Sie haben gekämpft – der Zauberer hat auf sie gewartet, und sie sind genau in seine Falle getappt. Seine Monster haben Pendragons Armee zerschmettert, als wäre sie nichts.«

Marekk atmete lachend aus.

»Der Junge hielt ein Mädchen im Arm, als wir zu ihm kamen. Hat geweint und geschrien, der Bursche.«

Ich konnte die Träne nicht aufhalten. Als sie über Morgana sprachen, fühlte es sich an, als würde mein ganzer Körper zerschellen.

»Du musst das nicht sein – Merlin. Du kannst einfach nur Parzival sein, wenn du es wünschst. Mein Parzival.«

»Ich werde immer Dein bleiben.«

Marekk sah es. Er bemerkte, wie mein Körper verkrampfte und zusammenzuckte, als ich versuchte, den Schmerz zu ersticken, die Tränen zu ertränken.

»Oh, du hast sie geliebt, nicht wahr?«

Ein Grinsen legte sich über seine Mundwinkel. Dann sah er wieder nach hinten zu seinen Männern.

»Sie ist tot?«

»Starb direkt in seinen Armen.«

Wieder sah er zu mir.

»Welch ein Jammer.«

Zurück zu seinen Männern.

»Was ist mit Pendragon?«, fragte er.

Die Männer zögerten.

»Die Schlacht war so gut wie vorbei«, antwortete einer, »wir haben ihn nicht gesehen.«

Sein Blut hatte den Verband um meine Hand dunkelrot gefärbt. Es hatte sich in den Stoff gesogen, klebte noch immer daran – eine stete Erinnerung.

Daran, dass ich versagt hatte.

Die Luft blieb mir im Hals stecken. Ich hatte ihn angebettelt, nicht zu sterben. Hatte ihn angeschrien, dass ich ihn hassen würde, wenn er mich allein ließ.

Ich schluchzte, und Marekk bemerkte die Bewegung. Er sah mich an und beobachtete die Tränen. Keine von ihnen hatte ich aufhalten können. Nicht, seit sie von dem Mädchen gesprochen hatten, das in meinen Armen gestorben war.

»Was ist mit Pendragon? Was ist mit deinem Lord?«

Ich sah in seine Augen. Er erkannte es.

»Er ist tot. Schade. Er hätte bestimmt alles getan, um dich zurückzubekommen. Ich hätte gerne gesehen, wie weit er gegangen wäre.«

Seine Hand wanderte von meinem Kopf zu meinem Kragen. Seine Finger umschlangen das Hemd. Er stand auf, zog mich mit sich nach oben und zwang mich auf meine Beine. Seit Ewigkeiten hatte ich nicht gestanden, und jetzt kämpfte ich damit nicht zu fallen. Meine Beine schafften es kaum, das Gewicht meines Körpers zu stemmen. Blut lief aus meiner Wunde, verbreitete Wärme und Feuchtigkeit auf meiner ausgekühlten Haut. Ich sackte zusammen, aber Marekks Griff hielt mich oben, presste das Hemd gegen meine Kehle. Er gab mir keine Möglichkeit, zu fallen.

Er nickte seinen Männern zu und machte sich mit mir auf den Weg. Riss mich an seinem Zwilling vorbei. Ragsnar ließ seinen Blick nicht von mir – beobachtete mich wachsam wie ein Geier, ein sterbendes Löwenjunge.

Iman ging mit mir an den Zelten vorbei, zwang mich, mit ihm Schritt zu halten.

»Ragsnar kann es kaum abwarten, dir Trehebitian zu zeigen«, meinte er, als wir diesen hinter uns ließen.

Meine Beine zu bewegen, fühlte sich ungewohnt an – als wären sie schwächer geworden, all die Muskeln in ihnen erschlafft. Marekk schleifte mich den gesamten Weg über hinter sich her. Ich setzte kaum mehr als ein paar Schritte, um nicht von dem Stoff meines Hemdes erstickt zu werden.

Die Wunde brannte sich durch meine Knochen. Ich musste mich an Imans Kleidung festhalten, um nicht zu stürzen, während er mich Schritt für Schritt weiter zwang. Das Seil, das meine Hände miteinander verband, zerrte an dem Bruch. Schwarze Punkte flogen durch mein Sichtfeld, aber ich versuchte, wach zu bleiben, mich nicht an die Dunkelheit zu verlieren.

Wir passierten Dutzende Zelte, unzählige Soldaten, die uns alle anstarrten. Ihr Atem verwandelte sich in Dampf. Lagerfeuer brannten, aber ihre Wärme drang nie zu mir durch.

Wir gingen weiter, bis wir vor etwas ankamen, das zwar kein Zelt war, aber fast wie eines aussah. Dünne Wände hatte man um etwas herum aufgebaut. Ein Dach gab es nicht. Wachen standen vor dem Eingang. Wir passierten sie.

Innerhalb der Wände standen zwei Zellen aus Holz. Eine war leer. Als ich sah, wer in der anderen saß …

Eis zog sich durch meinen Schädel, als ich in das blutige Gesicht blickte. Ich konnte nicht einmal sagen, ob ich das getan hatte oder Marekk. Aber nach der gesamten Zeit, in der ich bewusstlos gewesen war, glaubte ich eher Letzterer.

»Guck, welchen Ausreißer wir noch gefunden haben«, knurrte Iman, als er mich zu der Zelle brachte.

Er blieb mit mir davor stehen. Zwang mich, in die blauvioletten Augen zu starren.

»Ist doch tatsächlich vom Kampf geflohen.«

»Verschwinde von hier, Mordred.«

Das hatte ich zu ihm gesagt, nachdem ich sein gesamtes Gesicht blutig geschlagen hatte.

»Für jemanden, der Blutvergießen verabscheut, bist du ausgesprochen gut darin.«

Mordred wandte seinen Blick nicht von mir ab, und ich konnte nicht entschlüsseln, was es war, das sich in seiner Miene befand. Bitterkeit konnte es nicht gewesen sein. Vermutlich blieb ihm nicht einmal genügend Kraft, um irgendeinen Gesichtsausdruck zu formen. Er sah mich wie benebelt an – als könnte er die Augen kaum offenhalten.

Marekk ging mit mir zu der anderen Zelle. Er öffnete sie, warf mich in meinen Käfig und sperrte ihn zu.

Selbst wenn mir der Schmerz beinahe wieder das Bewusstsein nahm, war ich nur froh, nicht mehr stehen zu müssen. Rote Tropfen fielen, aber je länger ich lag, desto mehr beruhigte sich die Blutung. Doch das Brennen würde sich noch lange durch meine Seite ziehen.

Marekk musterte mich. Die schwarze Farbe um seine Augen ließ ihn aussehen wie eine der Kreaturen, die uns in Avalon angegriffen hatten. Er war nicht weniger Monster als sie.

»Versuch gar nicht erst zu fliehen«, warnte der Lord, »dein Freund hier hat es versucht und sieh ihn dir jetzt an. Wenn du rennst oder Magie benutzt, lass ich ihn leiden. Ihn. Und dich.«

Gier funkelte in seinen Augen.

»Ich sagte dir, ich würde mir holen, was mir zusteht«, betonte er, bevor er sich umdrehte und ging.

Er ließ Mordred und mich allein in unseren Käfigen – zwei Kreaturen einer aussterbenden Art.

Meine Wunde brannte. Ich stülpte das durchtriefte Hemd nach oben. Blut klebte am Stoff. Kälte küsste meine Haut. Zum ersten Mal betrachtete ich das zerfetzte Fleisch, inspizierte die Stelle, an der sich die Krallen durch Haut und Muskel gebohrt hatten.

Es war eine hässliche Wunde, das Fleisch zerrissen, der ganze Bereich drumherum schimmernd in Dunkelrot. Sie hörte nicht auf zu bluten, würde nicht aufhören, bis irgendjemand irgendwann diese Krallen entfernte.

»Sieht widerlich aus«, stöhnte Mordred.

Seine Stimme klang erbärmlich.

Ich legte das Hemd wieder über die Wunde. Hörte das leise Geräusch, als der Stoff auf die zerrissene Haut traf und mehr Blut in sich aufnahm.

»Nicht so widerlich wie du.«

Seit mich die Männer von Morgana weggezogen hatten, hatte ich meine Stimme nicht benutzt. Wenn Mordred erbärmlich klang, wollte ich nicht wissen, wie ich mich anhörte.

»Anscheinend hast du immer noch nicht gelernt, wann es besser für dich ist, den Mund zu halten.«

All die Male, in denen ich Mordred so sehr gereizt hatte, dass er kaum noch an sich halten konnte, schossen mir plötzlich in den Sinn, machten mich auf die Narbe aufmerksam, die die eine Seite meines Gesichtes zierte.

»Marekk wird nicht so nett zu dir sein wie ich.«

Verdammter Bastard!

Ich drehte mich zur Seite, so gut ich konnte, lehnte meinen Kopf an die Gitterstäbe und versuchte, das Brennen zu ignorieren. Mein Handgelenk schmerzte, die Muskulatur steif wie Gestein.

»Wenn ich hier rauskomme«, versprach ich ihm, »werden die Wunden, die Marekk dir zugefügt hat, nichts im Vergleich zu dem sein, was ich dir antue.«

Er lachte nur.

Obwohl es sich eher anhörte, als würde er an seinem Blut ersticken.

»Du wirst hier nicht rauskommen.«

4

Ich hatte sogar geschlafen. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht war ich nur wieder bewusstlos geworden. Alles, woran ich mich erinnerte, war Schwärze. Dunkelheit und Kälte. Aber als sie gekommen waren, um uns zu holen, wurde ich wach – als wüsste mein Körper bereits von dem Horror, der ihm bevorstand.

Sie holten uns beide – Mordred und mich.

Als sie meinen Arm packten, mich nach oben rissen, schoss das Brennen durch mein Handgelenk. Ich schluckte den Schrei hinunter, zusammen mit dem Schmerz. Schwarze Flecke mischten sich in mein Sichtfeld. Kälte flutete meinen Kopf, meine Brust, meine Seite, meinen gesamten Körper.

Wieder konnte ich kaum stehen. Doch diesmal war es noch schlimmer als am Tag zuvor, wo Marekk mich mit sich geschleppt hatte. Immer und immer wieder sackte ich zusammen. Mir blieb nicht einmal die Kraft, mich an der Kleidung einer der beiden Männer festzuhalten. Also griffen sie mir letzten Endes unter die Arme und zogen mich hinter sich her – ob ich mithalten konnte oder nicht.

Mordreds Blicke bohrten sich in meinen Rücken.

Das Blut in seinem Gesicht war getrocknet. Klumpen hatten sich darin gesammelt, die mittlerweile von der Haut abbröckelten wie Dreck.

Iman und Ragsnar warteten auf uns. Lauerten in ihrem Zelt und starrten uns an wie eine heiße Mahlzeit. Die Hände ließen mich los. Ich versuchte zu stehen, weil ich diesem Lord und seinem wahnsinnigen Zwilling nicht das Vergnügen bescheren wollte, mich zusammengekauert auf dem Boden zu sehen.

Aber ich konnte nicht.

Ich sank auf die Knie. Mehr Blut quoll aus der Wunde. Es lief an meinem Körper entlang und sammelte sich in einer Pfütze vor meinem linken Bein.

Die Soldaten verließen das Zelt. Ließen die Hunde allein mit ihren Knochen.

Iman trat auf uns zu, seinen Zwilling im Schlepptau. Der Wolf blieb vor mir stehen.

»Weißt du, in all den Jahren, in denen ich deinesgleichen gejagt habe, habe ich gelernt, dass nichts einfacher bricht als Knochen. Irgendwann wird es langweilig.«

Er beugte sich nach unten. Sein Zeigefinger drückte gegen meinen Kopf.

»Dein Geist ist es, an den ich will.«

Dann stand er wieder auf, sah auf mich hinab.

»Jeder hat eine Schwachstelle. Und an die komme ich entweder durch deinen Schmerz oder durch seinen.«

Ragsnar stand schneller bei Mordred, als ich es realisierte. Rammte ihn mit seiner Faust zu Boden. Er schlug ihn. Trat ihn. Brachte den Jungen zum Bluten.

Sie ließen mich dabei zusehen, wie Mordred rote Klumpen ausspuckte. Ließen mich zuhören, wie er schrie, als Ragsnar seinen Arm in einen unnatürlichen Winkel drehte – nicht genug, um ein Gelenk auszukugeln oder einen Knochen zu brechen, aber ausreichend, um die Qualen unerträglich zu machen.

»Ich bin gespannt, was deine ist«, brummte Iman, »und ich bin gespannt, wie lange es dauern wird, sie zu finden.«

Ich hörte Mordred stöhnen. Hörte ihn heftig ausatmen, wann immer sich Ragsnars Knöchel in sein Gesicht rammten.

Mir sollte es egal sein – er hatte nichts anderes verdient. Sein Blut war das Mindeste, was er für alles, was er getan hatte, zahlen sollte. Denn er war es, der Morgana dazu gebracht hatte, sich Cornwall anzuschließen – sich Ambrosius anzuschließen.

Ich hatte sie verloren.

Seinetwegen.

Sie war tot.

Seinetwegen.

Und als mit jedem Schlag mehr Blut an Ragsnars Faust klebte, zwang ich mich, hinzusehen. Zwang mich dabei zuzusehen, wie er die Kraft aus dem jungen Ritter prügelte, aus dem Lord, der mir immer hatte zeigen wollen, wie schwach ich war.

Ich sah dabei zu, wie er ihm antat, was er vermutlich bald mir antun würde, und empfand nicht einen Funken Mitleid für den Bastard.

Sollte er bluten!

Sollte er leiden!

Aus den Augenwinkeln bemerkte ich Marekks interessierten Blick. Er hatte sich gegen einen Tisch gelehnt und mich seither angestarrt, als wäre ich ein Rätsel, dessen Komplexität ihm viel zu viel Vergnügen bereitete.

»Hör auf«, wies Marekk seinen Zwilling an.

Ragsnar hatte gerade ausgeholt. Er hielt Mordred mit der einen Hand am Kragen gepackt, die andere zur Faust geballt, stoppte ihre Bewegung.

Iman hatte seine Augen nicht von mir gewandt.

»Deine Euphorie, sein Leben zu retten, scheint seit Pendragons Turnier massiv zurückgegangen zu sein.«

Er zog eine Augenbraue nach oben.

»Wollen wir mal sehen …«

Er drehte sich um, holte etwas vom Tisch, gegen den er sich gelehnt hatte. Es war mein Gurt, mit dem Dolch in der Scheide. Er befreite die Klinge. Stahl sang in der Luft, reflektierte das Feuer im Hintergrund. Aber trotz der Flammen herrschte Eiseskälte.

Ragsnar ließ Mordred los, und da kamen Iman und der Dolch ins Spiel. Der Lord griff in die schwarzen Locken und zog Mordred am Kopf nach oben, entblößte seinen Hals und zeigte mir seinen Kehlkopf.

Mordreds violette Augen fesselten mich, als die scharfe Kante seine dünne Haut streichelte.

Ich erkannte Schock in seiner Miene. Und etwas, das mich vermuten ließ, es wäre Angst. Panik.

Doch ich dachte nur daran, dass er froh sein sollte, wenn Marekk sein Leben hier und jetzt beendete. Wenn er ihm die Kehle durchschnitt und dem Jungen dadurch einen schnellen Tod schenkte.

Aber er würde es nicht tun – weil er damit seinem Bruder das Lieblingsspielzeug nehmen würde.

Mein Blick sprang zu Iman. Ich versuchte, mein Gesicht so nichts aussagend wie möglich zu halten, versuchte, sein hässliches Grinsen zu ignorieren. Nur das Zucken in Mordreds Miene war es, das mich plötzlich zögern ließ – das panische Stöhnen, als der Lord die Klinge noch tiefer in seine Haut drückte.

Schon in Camelot hatten sie ihn misshandelt, mit ihm gespielt wie eine Katze mit einer Maus, ihm Wunden verpasst, die der Bursche zu verstecken versucht hatte – vergeblich. Was sie ihm angetan hatten, war selbst an seinem Gesicht zu erkennen gewesen – an der Erschöpfung darin.

Er hätte froh sein sollen, hätte hoffen sollen, dass sie ihm jetzt die Kehle aufschlitzten.

Aber er war es nicht.

Er hatte Angst.

Sein Starren galt nur mir, und ich erkannte das Flehen darin.

Ich hasste ihn.

Verabscheute diesen Mistkerl mit jeder Muskelfaser in meinem Körper. Seinetwegen war ich jetzt hier. Seinetwegen hatte ich alles verloren!

Doch als ich tiefer in das Violett blickte – mich an den Schmerz und die Angst erinnerte, die ich einst dort gesehen hatte und noch immer in ihnen fand, ohne überhaupt Magie benutzen zu müssen – zerstörte es die Konzentration, die ich brauchte, um meine Miene kalt und distanziert zu halten.

Marekk lachte. Der Schauer, den er damit durch meine Adern jagte, zwang mich, zu ihm zu sehen. Der Lord hatte, was er wollte. Er entfernte die Klinge von Mordreds Hals und rammte seinen Kopf gegen den Boden.

»Doch nicht so stark wie gedacht, hm?«, verhöhnte er mich.

Ich hasste ihn.

Und ich hasste mich. Dafür, dass ich mich um diesen Bastard scherte – selbst wenn es nicht auf die Art und Weise war, wie ich mich um einen Freund oder irgendjemand anderen scherte. Dass mich diese Angst in ihm nur einen Dreck kümmerte, sorgte dafür, dass ich wieder meine Faust in Mordreds Gesicht vergraben wollte.

Er hatte nichts anderes verdient als das. Selbst mit dieser Angst in ihm – fast derselben Angst, die ich in Arthur erkannt hatte, als er noch ein Kind gewesen war, das gerade seinen Vater hatte sterben sehen.

Aber vielleicht hatte ich es auch verdient. Den Schmerz. Den Kummer. Die Einsamkeit.

Und diese Leere.

Vielleicht war das die Strafe für mein Versagen.

Mordred blickte mich verwirrt an. Er hatte gedacht, ich würde ihn sterben lassen, und ich hatte dasselbe gedacht – obwohl mir von Anfang an klar gewesen war, Marekk würde nichts dergleichen tun. Ich sah von ihm weg. Hinunter auf den Boden, wo ich mittlerweile in meiner eigenen kleinen Blutpfütze kniete.

»Aber noch lange keine Schwachstelle.«

Marekk hatte den Dolch zurück in die Scheide gesteckt, den Gurt auf den Tisch gelegt. Er kam zu mir.

»Wenn es nicht sein Schmerz ist«, verkündete er, »dann ist es vermutlich deiner.«

Seine Faust bohrte sich in meine Wunde, drückte die Krallen tiefer in mein Fleisch. Diesmal konnte ich es nicht unterdrücken.

Ich schrie.

Ambrosius beugte sich zu mir nach unten. Er packte mich am Kragen, brachte mich auf meine Knie und betrachtete meine Wunde, den gespaltenen Stahl, durch den der Zhynchont gedrungen war.

»Ich glaube nicht, dass du zaubern kannst«, sagte er, »solange die hier in dir sind.«

Ich schrie, als er die Krallen berührte.

Der Schmerz machte mich blind. Er verbrannte alles in mir, verätzte mich von innen heraus.

Ich fand mich auf meinen Ellenbogen wieder, meine Stirn auf die kalte Erde gelegt, weinend, weil ich das Stechen nicht ertrug.

»Ich werde dir alles nehmen, Junge«, hatte Ambrosius mir versprochen.

Er hatte sein Wort gehalten.

Marekk bemerkte meine Tränen, aber als ich zu ihm hochschaute, blickte er in ein Gesicht, das ihm den Tod versprach. Eines, das nicht davor zurückschrecken würde, ihm die Kehle aufzuschlitzen.

Er grinste. Ihm gefiel, was er sah.

»Es muss dir schwergefallen sein«, knurrte er, »Arthur sterben zu sehen.«

Seine Augen gierten nach mehr, sehnten sich nach einem Schmerz, der weit über das, was Fäuste und Stahl anrichten konnten, hinaus ging.

Das war es, was den Lord von seinem Zwilling unterschied.

»Wie ist es passiert? War es Stahl? Eines dieser Monster?«

Was machte es für einen Unterschied? Wir waren alle Monster. Wir töteten für einen Thron, marschierten in den Krieg – aus Angst. Was waren wir, wenn keine Monster?

Iman zog einen Stuhl zu sich, setzte sich und legte ein Bein auf den anderen Oberschenkel. Ragsnar kam auf mich zu, packte mich, zog mich hoch.

»Was ist mit Arthurs Rittern? Leben sie noch?«

Ich schwieg.

Eine blutige Faust rammte sich in meinen Körper. Knöchel tauchten in mehr Blut, mehr Rot, mehr Nässe.

»Dieser Zauberer ist nicht in die Burg hinein, nicht wahr? Er hat vor den Toren auf euch gewartet.«

Ein Knie schlug gegen meine Nase. Blut schoss aus ihr, als wäre es Wasser, das von einer Klippe stürzte. Der Knochen war bereits gebrochen, weil Ambrosius in der Schlacht dasselbe mit mir getan hatte. Aber das bedeutete keinesfalls, dass der Schmerz dadurch in irgendeiner Weise geringer war.

Im Gegenteil – die ganze Zeit über hatte ich nur einen leichten Druck im Gesicht gespürt. Nichts im Vergleich zu dem Brennen in meinem restlichen Körper.

Aber jetzt …

Oh, ich wünschte mir den Tod.

Hitze explodierte in meinem Gesicht. Kaum war das Blut in meinen Mund geströmt, schmeckte ich Metall auf meiner Zunge.

»Nach Arthurs Tod – wer wird jetzt seinen Platz einnehmen? Was ist mit seiner Gemahlin?«

Seine Stimme bohrte sich durch meine Knochen, als er Guinevere erwähnte.

Ich erinnerte mich an mein Gespräch mit ihr, an diesen einen Augenblick, in dem ich das weite Kleid bemerkt hatte, weil sie ihre Hand schützend auf den Bauch gelegt hatte.

Es war ein Fehler – mein Fehler, den Schock nicht zu verbergen, aber ich hatte ihn nicht aufhalten können.

Marekk sah es. Er lehnte sich zu mir nach vorn.

»Du weißt etwas«, stellte er fest.

Er kniff die Augen zusammen. Die Flammen im Hintergrund verliehen seinen Wangenknochen eine Schärfe, wie ich sie nur von Klingen kannte. Sie waren Dolche, die darauf warteten, mich zu verletzen.

»Was ist mit ihr?«

Seine Stimme hatte sich verändert. Auf einmal sollte mich seine Frage nicht mehr quälen. Auf einmal verlangte sie nach einer Antwort.

Ragsnar griff erneut nach meinem Kopf und rammte ihn gegen sein Knie. Er packte mich am Kragen, riss mich hoch und schlug mir gegen die Wunde. Dann schleuderte er mich auf die Erde.

»Was ist mit Guinevere Pendragon?«

Weder gegen die Tränen noch die Schreie konnte ich etwas tun. Ich hörte auf, dagegen anzukämpfen, weil ich wusste, es würde sie nur dazu veranlassen, kreativere Methoden zu finden, um mich zu brechen.

Aber ich würde ihnen keine Antwort geben. Eher würde ich sterben. Bevor ich auch nur ein Wort von mir gab, würde ich sterben.

Es würde mir nicht einmal etwas ausmachen.

Ich hatte bereits alles verloren.

Ein Fuß trat auf meine Hand ein – auf die gebrochene – und zermalmte die zersplitterten Knochen unter sich.

Ich wusste nicht einmal, ob ich geschrien hatte. Wusste nur, dass meine Kehle auf einmal brannte, als hätte ich zerbrochenes Glas geschluckt. Mehr Blut lief aus meiner Seite, aber es war nicht die Hitze, die ich am meisten spürte, sondern die Kälte. Genau diese Kälte, die stets gekommen war, bevor ich das Bewusstsein verloren hatte.

Ich betete, ich würde in Ohnmacht fallen.

»Ist sie auch tot? Wie das Mädchen, das in deinen Armen starb?«

Die Welt verstummte.

»Morgana.«

Es war ein Flüstern. Die Stimme so leise, dass sich dieser Name anfühlte wie ein Geheimnis.

Oder eine Lüge.

Ich bekam fast nichts mit, was um mich herum geschah, verstand kaum noch die Worte, mit denen Marekk mich quälen wollte, aber dieses Geräusch … diesen Namen – den hörte ich.

Im ersten Moment dachte ich, ich hätte es mir eingebildet, aber als ich den Blick in Imans Gesicht sah, wusste ich, dass Mordred es laut ausgesprochen hatte.

»Morgana«, knurrte der Wolf.

Aus den Augenwinkeln erkannte ich Mordreds Gesicht. Selbst durch meine Tränen konnte ich ihm ansehen, dass alles vor ihm zerfiel – wie zuvor alles in mir zerfallen war.

Seine Schuld.

Seine Schuld, seine Schuld, seine Schuld!

Marekk stand auf. Er kam zu mir, griff mich wieder am Kopf und zwang mich erneut, in seine Augen zu sehen.

»Das war also ihr Name.«

Wie ein Virus breiteten sich Wut und Kummer in mir aus. Sie machten mich schwach.

Plötzlich holte Marekk seinen eigenen Dolch hervor. Er hielt den Stahl vor meine Augen, und ich sah, wie das Feuer in der Mitte des Zeltes das Silber zum Glänzen brachte.

Frisch geschliffen.

Mit der Spitze wanderte er an meinem Brustkorb entlang. Er zog sie über meine Rippen. Es tat nicht weh – es kitzelte. Genau das war es, was mir den Schauer über den Rücken jagte.

Denn ich wusste, welcher Schmerz mir bevorstand, als er meiner Seite näher kam. Als der kalte Stahl auf die Wunde traf.

»Sie muss dir viel bedeutet haben«, brummte er und ließ den Dolch nach innen wandern.

Ich erstickte an dem Brennen, das er damit durch meinen Körper sandte.

Und obwohl Kälte und Dunkelheit an mir zerrten, war es nicht genug, um mich fallen zu lassen. Das Schwarz vor meinen Augen war da, aber nicht präsent genug. Schweiß bedeckte meine Stirn. Es war eisig, aber dieser Dolch in mir verätzte mich.

Ich biss die Zähne aufeinander. Unterdrückte den nächsten Schrei. Dann den danach. Immer und immer wieder schluckte ich sie hinunter. Über die Tränen hatte ich keine Kontrolle.

Ich starrte Marekk in die Augen. Wollte ihm zeigen, dass ich keine Angst vor der Kraft in all diesen gigantischen Muskeln hatte, aber es wäre eine Lüge gewesen.

Ich fürchtete ihn. Fürchtete mich vor der Brutalität, die sein Blick versprach und vor dem Vergnügen, das es ihm bereiten würde. Aber noch mehr fürchtete ich mich vor dem, was er tun würde, wenn er wüsste –

»Sie ist schwanger!«, schrie er.

Mordred.

Marekk sah zu ihm, die Klinge steckte noch immer in mir.

»Sie ist schwanger«, wiederholte er, seine Stimme beinahe panisch – als säße der Dolch in seinem Körper und nicht in meinem, »Guinevere ist schwanger, sie – sie ist es bereits seit dem Turnier, aber sie hat es versteckt. Sie hat – sie hat es gut versteckt.«

Seit dem Turnier …

Das bedeutete, ihr Kind war vermutlich geboren worden, als … als wir uns noch auf dem Rückweg von Avalon befunden hatten.

Ein Kind ohne Vater.

Der Dolch verließ meinen Körper. Das Geräusch, das entstand, als der Stahl an meinen Muskeln entlangglitt, war widerlich. Der Schmerz auf dem Weg nach draußen beinahe schlimmer als auf dem Weg hinein. Marekk musterte den schwarzgelockten Burschen. Dann blickte er zu Ragsnar und anschließend zu mir. Ein bösartiges Grinsen zog sich über sein Gesicht.

»Bring dein Haustier zurück in seinen Käfig«, wies er seinem Zwilling im selben Moment an, in dem er um den Tisch herum ging.

Ragsnar packte Mordred, zog ihn hoch. Sein Blut schimmerte im Licht der Flammen, erstrahlte im saftigen Rot wie das Blut, das an meinen Händen geklebt hatte. In meinen Visionen. In der Schlacht. Er nahm seine Augen nicht von mir, während man ihn wegzerrte. Und erst bei der Panik, die in den violetten Iriden aufblitzte, überwältigte mich die Furcht.

»Habt Spaß«, ergänzte der Lord, kurz bevor sein Bruder das Zelt verließ, »und lass dir Zeit.«

Ich drehte meinen Kopf zu dem Wolf, entdeckte den Stuhl neben dem Feuer, die Schleifspuren auf der Erde.

»Wir brauchen noch eine Weile.«

Ich erschauderte bis auf die Knochen.

Dann war ich mit ihm allen. Er kam auf mich zu. Führte den Dolch, den er noch immer mit sich trug, nach vorn und hielt ihn vor mein Gesicht. Ließ mich das frische Blut daran betrachten.

»Weißt du, … der Junge mag nicht deine Schwachstelle sein. Aber du bist ganz klar seine.«

Er durchtrennte das Seil, das meine Hände aneinanderband. Wischte die Klinge an meiner Schulter ab, bevor er sie wegsteckte. Im nächsten Moment kehrte er mir den Rücken zu.

»War sie hübsch?«

Ich wollte stark sein. Wollte ihm zeigen, dass er mich niemals brechen konnte – egal, wie viele Wunden er mir zufügte oder wie viele Knochen er mir zertrümmerte. Doch in dem Moment, in dem er über sie sprach, wussten wir beide, dass er mich dort hatte, wo er mich wollte.

»Ich wette, sie war hübsch. Und ich wette, du hättest dein Leben für sie gegeben. Ohne mit der Wimper zu zucken.« Er drehte sich nur halb zu mir.

Ich wollte dem Lord meinen Abscheu zeigen, aber heraus kam nur Schmerz, nur die Erinnerung an den Moment, in dem sie in meinen Arm gefallen war. In der einen Sekunde hatte ich gedacht, der Horror wäre vorbei, nur um in der nächsten mitanzusehen, wie alles zerfiel.

»Du liebst sie, nicht wahr?«

Arthur hatte mir diese Frage gestellt. Seine Stimme in meinem Kopf zu hören, … es fühlte sich an wie ein Vorwurf. Es war mehr Folter als Marekks Dolch in meiner Seite.

»Ich würde mein Leben für sie geben«, hatte ich ihm geantwortet.

»Eines Tages wirst du das vielleicht.«

»Oh, wie ich wünschte, das Mädchen wäre jetzt bei uns – ich hätte dafür gesorgt, dass sie schreit, bis du mich angefleht hättest, sie zu töten. Und dich gleich danach.«

Das war er. Der Moment, in dem die Hitze die Kontrolle übernahm. Der Moment, in dem mein Körper so sehr brannte, dass das Rauschen jedes andere Geräusch übertönte – sogar die Stimme der Vernunft.

Ich sprang auf und griff ihn an.

Er fing mich mühelos ab. Lachte noch, als sich seine Finger in den Stoff an meinem Rücken gruben und mich in die Richtung des Stuhls schleuderten. Als ich mich mit der linken Hand auf einer der Armlehnen abfing, packte er mich am Nacken, brachte seinen Mund an mein Ohr. Ich spürte seinen Atem auf meiner Haut, seine Körperwärme an meinem ausgekühlten Leib.

»Der Schmerz ist hart, nicht wahr?«

Ein Flüstern. Nicht mehr als ein Flüstern, und dennoch jagte es einen Schauer durch jeden einzelnen Wirbel meines Rückgrats.

»So grauenvoll und so anders als jeder andere.«

Sein Mund kam noch näher an mein Ohr.

»Ich werde dir viele Arten von Schmerz beibringen, aber keine davon wird jemals an diesen herankommen.«

Ich konzentrierte mich auf das Stechen in meiner Seite, auf die Hitze, die mit ihm einherging. Fokussierte mich darauf, jeden einzelnen Gedanken in das Feuer zu verwandeln, mit dem ich seine Knochen zum Schmelzen und seine Adern zum Kochen bringen würde.

»Ich sorge dafür, dass es erlischt.«

Plötzlich bohrten sich die Krallen tiefer in mein Fleisch, drangen weiter in den Muskel ein. Mit einem Mal überwältigte die Hitze mich. Meine Sicht verschwamm. Ich sackte beinahe auf den Boden, doch Marekk hielt mich davon ab. Seine Hand wanderte von meinem Nacken zu meinem Kragen und drehte meinen Körper so, dass ich mich hinsetzen musste.

Das Holz knarrte unter meinem Gewicht. Der Lord griff sich meinen rechten Arm, presste ihn auf die Lehne des Stuhls und band mein Handgelenk daran an. Er musste es nur zuschnüren, und ich jammerte wie ein gepeinigter Hund, als ich genau spürte, wie das Seil die gesplitterten Knochenteile verschob. Marekks Knöchel trafen auf mein Jochbein.

Um meine Finger befestigte er eine weitere Schnur. Diesmal schluckte ich das Wimmern hinunter. Der Wolf bemerkte es, grinste. Nachdem er dieselbe Prozedur mit meiner linken Hand wiederholt hatte, band er meine Füße an den Stuhl, dann meinen Oberkörper, und danach befestigte er ein weiteres Seil an meinem Hals. Er zog die Schnüre fest genug zu, um mir jeglichen Bewegungsfreiraum zu nehmen.

Mein rechtes Gelenkt fühlte sich an, als würde jeder einzelne Knochen erneut brechen, Stück für Stück und langsam genug, dass ich jeden Millimeter, den sich das Mark voneinander spaltete, mitbekam. Er hätte mich nur stundenlang dort sitzen lassen müssen, und es wäre Folter genug gewesen. Aber als er dieses Messer hervorholte, wusste ich, der Lord hatte andere Pläne.

Er nahm sich einen weiteren Stuhl, setzte sich und betrachtete sein Kunstwerk, während ich vor ihm hechelte wie ein Hund. Mein Brustkorb hob und senkte sich, als würde er bei der nächsten Bewegung platzen. Mir wurde übel vor Schmerzen.

Eine ganze Weile lang ließ der Wolf seine hungrigen Augen nicht von mir ab. Er spielte mit dem Messer, die Klinge kaum länger als mein kleiner Finger. Ich betete, ich würde das Bewusstsein verlieren, bevor es in die Nähe meines Körpers kam.

»Das PendragonWeib hat also ein Balg bekommen …«

Iman lehnte sich nach vorn, stützte die Ellenbogen auf den Knien ab, aber meiner Aufmerksamkeit galt nur dieses Messer. Sein Grinsen sah ich aus den Augenwinkeln.

»Wie viele starben in der Schlacht vor Camelot?«, fragte er. »Abgesehen von deinem Lord und … Morgana.«

Ich wollte gar nicht erst wissen, wie deutlich es mir ins Gesicht geschrieben stand – der Schmerz, der Kummer, das Leid. Die Tränen konnte ich längst nicht mehr aufhalten. Weil ich Angst hatte – vor ihm, davor, was er mit diesem Messer anstellen würde und welches Schicksal Guinevere und ihr Kind erwarteten, wenn ich dem Lord die Informationen gab, die er wollte.

»Ich verwette die Hälfte meiner Hunde darauf, dass sie nur noch eine Handvoll sind – wenn sie die Schlacht überhaupt gewonnen haben.«

Ein Schulterzucken.

»Meine Männer sagten mir, viele dieser Biester hätten sie nicht mehr gesehen – nur dich mit diesem Mädchen in deinen Armen.«

Zur Hölle mit ihm!

»Sie haben mir erzähl, wie du geschrien hast, wie du geweint hast. Aber ich frage mich: Was ist mit Pendragon? Hast du auch um ihn geweint? Um deinen Lord, der dumm genug war, auf Titel und Krone zu verzichten – für was? Für einen einzigen Magier …«

Der Lord schüttelte seinen Kopf. Dann kniff er die Augen zusammen, um mich genauer zu inspizieren.

»Er hat sein Leben damit verdammt, das weißt du. Hätte er sich nicht dazu entschieden, mich zu seinem Feind zu machen, wäre er noch immer am Leben.«

Ein weiteres Zucken mit den Schultern.

»Er wäre nicht lange König geblieben, aber wenigstens hätte er sein Kind noch kennengelernt.«

»Also wolltet Ihr ihn stürzen.«

Die ersten Worte, die ich seit meiner Ankunft mit ihm wechselte. Ich schämte mich dafür, wie erbärmlich sie klangen.

Iman lachte. Anschließend betrachtete er das Messer in seinen Fingern, die Hand übersäht von Adern – als würden blaue Würmer über den Handrücken kriechen. Dann sprang der Blick aus schwarzen Pupillen wieder zu mir. Ich erkannte die Gier in ihm. Er konnte es kaum noch abwarten, mit dieser Klinge zu arbeiten.

»Denkst du wirklich, ich würde das Knie vor einem Mann wie Arthur Pendragon beugen, wenn ich keinen eigenen Vorteil darin sehen würde? Denkst du, irgendjemand hätte das Knie vor ihm gebeugt?«

»Und welchen Vorteil habt Ihr darin für Euch gesehen?«

Meine Seite brannte mit jedem Ton, den ich von mir gab, aber es scherte mich einen Dreck.

Marekk lachte nur. Er stand auf und kam zu mir, stützte sich mit beiden Händen auf meinen Handgelenken ab und lehnte sich zu mir nach vorn, während ich wimmerte und panisch nach Luft schnappte.

Ich hörte das Knacken in meiner Hand, spürte es bis hinauf in meinen Schädel. Das Stechen erstickte mich. Aber am schlimmsten war, dass ich mich in diesem Stuhl nicht bewegen konnte. Mein Körper wollte sich krümmen, sich strecken und drehen, als würde das dem Elend auf irgendeiner Weise entgegenwirken. Und genau das nicht tun zu können, fühlte sich an, als intensivierte es den Schmerz.

Marekks Grinsen zog sich über sein komplettes Gesicht. Ich wollte meine Stirn gegen diese verdammte Nase rammen, aber das Seil um meinen Hals fixierte mich.

»Ich glaube, du verstehst das falsch, mein Freund. Ich bin derjenige, der die Fragen stellt.«

Bevor er zurückging, verlagerte er sein Gewicht auf mein gebrochenes Handgelenk. Die Töne, die ich daraufhin von mir gab, fühlten sich nicht an, als kämen sie aus meiner Lunge, sondern von irgendwo anders, irgendwo tief, tief in meinem Körper.

»Fahrt zur Hölle!«

Wieder lachte er.

»Was glaubst du, wo du bist?«

Den Kopf leicht zur Seite geneigt, zog er seine Augenbraue nach oben, als würde er damit fragen, bist du wirklich so naiv?

»Du kennst die Burg. Ich will wissen, welche Geheimnisse sie in sich trägt. Welche Wege verstecken die Mauern Camelots, die man nicht auf einer Karte findet?«

»Ihr denkt, ich würde das wissen?«, spuckte ich unter Schmerzen aus.

»Oh, du weißt es. Wie sonst konnte das Mädchen aus Camelot verschwinden, ohne auch nur eine Wache davon wissen zu lassen? Du wusstest, was sie war, und Pendragon wollte nicht, dass meine Hunde sie finden, weil er erkannte, was du für sie empfindest. Aber es tut nichts mehr zur Sache, nicht wahr? Sie sind beide tot. Aber Guinevere ist am Leben. Und sie hat ein Kind.«

Er lehnte sich wieder zu mir nach vorn.

»Du kennst Camelots Geheimgänge. Und du wirst mir von jedem einzelnen erzählen.«

Er setzte sich wieder, kratzte sich mit der Messerspitze den Dreck von den Fingernägeln.

»Fangen wir mit dem an, durch den das Mädchen entkommen konnte. Wo ist er?«

»Ihr müsst schon jemand anderen fragen, wenn Ihr wirklich eine Antwort erwartet.«

»Deinen Freund zum Beispiel?«

Ein Grinsen.

»Er ist nicht mein Spielzeug. Außerdem würde es mit ihm keinen Spaß machen – der kleine Vogel würde singen, ehe mein Messer in seine Nähe käme. Aber du?«

Gier. Das war es, was ich in seinen Augen erkannte. Aber letzten Endes war es die Lust nach Blut und Schmerz, die seine Mundwinkel nach oben bewegte und mich das Fürchten lehrte.

»Ich werde dich brechen«, versprach er mir, »früher oder später werde ich das. Ich kann es kaum erwarten, dich betteln zu hören. Wollen wir sehen, wie lange es dauert.«

Die Schatten unter seinen Augen zogen sich zusammen. Er sah aus wie ein Skelett, wie eine der Kreaturen, die unsere Armee in Avalon zerfetzt hatten.

Jetzt war ich an der Reihe.

Als er auf seinem Stuhl nach vorn rutschte und sich noch weiter zu mir lehnte, glaubte ich sogar, er könnte meine Angst riechen. Ich selbst konnte es.

Ich stank danach.

Doch der Lord stand auf. Der Wolf kam zu mir mit dem Messer in seinen verdammten Krallen. Mein Herz raste. Ich betete, dass es noch schneller schlagen würde – so schnell, dass es sich selbst überforderte und für immer verstummte. Betete, ich würde sterben, bevor er mir nur einen Millimeter näherkommen konnte.

»Also«, knurrte er, als er die Spitze des Messers unter den Nagel meines rechten Zeigefingers legte, »was muss ich über die Burg wissen?«

Er ließ mir nicht einmal Zeit zum Antworten.

Nein, er drückte die Klinge rein, spaltete meinen Nagel und schnitt in die Haut darunter. Mein Herzschlag sprintete. Der Stahl bohrte sich in meine Fingerkuppe. Und als mein Arm in der Lehne umher rüttelte, spürte ich, wie die verschiedenen Stellen, an denen die Knochen in meiner Hand gesplittert waren, tiefer in den Muskel stachen.

Ich schrie.

Aber während diese Töne aus meiner Kehle krochen, fühlte es sich an, als verätzten sie mich von innen. Als erstickte ich an ihnen. Tränen pressten sich aus meinen Augen, und noch mehr folgten, sobald er die eine Hälfte meines Nagels griff und ihn von der Kuppe riss. Dann tat er dasselbe mit der anderen Hälfte.

Mir wurde kalt, und dennoch explodierte die Hitze in meiner rechten Hand. Nicht einen Zentimeter konnte ich mich rühren. Genau das war es, was die Qualen unerträglich machte. Was mir verdeutlichte, dass ich dem Schmerz nicht entkommen könnte.

Blut strömte über den Finger. Rot verätzte meine Haut.

»Erzähl mir von Camelots Schwachstellen«, übertönte der Wolf mein Wimmern.

Oh, er hatte Gefallen daran. Und der Spaß hatte für ihn noch nicht einmal richtig begonnen.

Wieder gab er mir keine Zeit zum Antworten. Er nahm sich den nächsten Finger, und da wusste ich, er verspottete mich. Er wollte keine Antworten, nicht mehr. Jetzt wollte er nur noch Schmerz.

»Wie viele Wachen bemannen die Mauern?«

Die Klinge spaltete den nächsten Nagel. Mein Schrei rüttelte durchs Zelt, brachte selbst den Wind zum Erschaudern.

Ich kam nicht einmal auf die Idee, Magie zu benutzen – der Schmerz war so dominant, dass nichts anderes in meinem Kopf existierte.

Marekk gab ein Lachen von sich, als wir beide meine blutüberströmte Hand betrachteten. Zwei Finger – Daumen und kleiner Finger – waren noch verschont geblieben. Er nahm sich den kleinen Finger, legte die Spitze der Klinge an, und ich brach in Panik aus.

Bevor er sie reindrückte, sah er zu mir. Die Schatten um seine Augen zeigten das Monster, das er war. Mein Atem raste. Ich gierte nach Luft, bekam aber keine. Spürte nur den Druck auf meinem Brustkorb und das Brennen in meiner Hand, die warme Flüssigkeit auf der Haut.

»So viel Schmerz für einen toten Mann. Und wofür?«

Ich wollte schreien, stellte aber fest, dass ich kaum noch Luft in meiner Lunge hatte. Meine Luftröhre schnürte sich zu. Husten platze aus meinem Hals. Ich verzog das Gesicht, presste die Augen zu. Betet, dass ich aus diesem Albtraum aufwachen würde, wenn ich sie wieder öffnete.

Aber das tat ich nicht.

Mir wurde übel.

»Wie fühlt es sich an? Zu wissen, dass dein Lord tot ist und du noch immer seinetwegen leidest?«

Er machte sich an meinem Daumen zu schaffen, und ehe ich es mich versah, befand sich nichts außer einer fetten Schicht aus Dunkelrot auf meiner gesamten Hand. Es tropfte von meinen Fingern nach unten, sog sich in die Erde, als wäre es Regenwasser, das das Gras zum Wachsen und die Blumen zum Gedeihen brachte.

Marekk betrachtete mich – geduldig wie ein Geier, der einem Jungtier beim Sterben zusah. Ich versuchte, seinen Blick zu meiden, aber es war schwierig, beinahe unmöglich, als sich dieses Grinsen über seine Lippen zog.

»Wenn er dich jetzt sehen könnte – loyal bis zum Tod und darüber hinaus«, verspottete Iman nicht nur mich, sondern auch Arthur.

Seine Mundwinkel zuckten aufwärts.

»Ich wünschte, er könnte dich jetzt sehen. Ich wünschte, er hätte lange genug gelebt, um das hier mitanzusehen.«

Wieder einer seiner Schulterzucker.

»Dann muss seine Frau wohl reichen. Freust du dich schon auf ein Wiedersehen? Ich bin sicher, sie wird dich kaum wiedererkennen.«

Er grinste, als könnte er jetzt schon mein verunstaltetes Gesicht sehen, meinen fragilen Körper, nachdem er nicht nur meine Knochen, sondern auch meinen Geist gebrochen hatte.

»Aber ich will euch beiden die Möglichkeit geben, euch voneinander zu verabschieden. Du hast einen Platz in der ersten Reihe, wenn sie und ihr Kind sterben.«

Und da vergaß ich den Schmerz. Das Einzige, woran ich dachte, war die Hitze in mir, das Kochen meines Blutes. Darauf konzentrierte ich mich, daran hielt ich fest.

»Es ist wie ein Feuer, nicht wahr?«

Ich wollte sehen, wie er brannte. Ich wollte seine Knochen zerschmelzen, bis nichts weiter als ein Haufen Asche übrig blieb.

Von diesem Gedanken ließ ich mich leiten. Alles, woran ich dachte, war das Bild vor meinen Augen, in dem ich sah, wie die Flammen ihn verspeisten.

Nur schafften sie es nie an die Oberfläche.

Bevor ich sie freilassen konnte, verzehrten sie mich. Der Schmerz war überall, aber am intensivsten spürte ich ihn in meiner Seite – dort, wo sich die Krallen in meinem Fleisch bewegten.

Mein panisches Schnappen nach Luft brachte den Wolf zum Lachen. Er sprang von seinem Stuhl auf und packte mich am Hinterkopf.

»Ich freue mich schon auf ihren Gesichtsausdruck, wenn sie dich sieht«, flüsterte er in mein Ohr, »es wird ein Leichtes, die Burg zu überrennen. Selbst mit den zehntausend Mann, die ich ihm gab, hätte ich seinem Haus ein Ende setzen können. Warte erst, bis du siehst, welche Zahl sich ihnen nun entgegenstellen wird.«

Er sorgte dafür, dass ich sein Grinsen sah, bevor er sich an meiner linken Hand zu schaffen machte.

***

Sie warfen mich auf den Boden. Es musste geschneit haben, während ich in Marekks Zelt gewesen war – die Erde war feucht. Widerlich und kalt. Eis biss in meine Fingerspitzen. Aber ich hatte längst keine Kraft mehr zum Schreien.

Heraus kam nur ein Wimmern, als ich mich auf den Rücken drehte und meine zitternden Hände in die Luft hielt. Ich sah dabei zu, wie die Eiskristalle im Rot ertranken. Spürte, wie die Flüssigkeit tiefer in meinen Ärmel lief.

Neben mir vernahm ich ein Rascheln. Dann hörte ich meinen Namen. Es war ein Flüstern – als wäre es verboten, ihn auszusprechen, als erwartete die, die ihn in den Mund nahmen, der Tod.

Mordred war an die Holzstäbe gekrochen, sein Gesicht blutig und angeschwollen von all den Schlägen. Doch als ich ihn ansah, empfand ich nur Wut.

»Warum?«, spuckte ich aus.

Meine Stimme war erbärmlich. Schwach und rau von all dem Schreien, kaum mehr als ein Wimmern. Meine Kehle brannte, als ich sie dazu zwang, die Luft in Worte zu formen.

»Warum hast du es ihnen erzählt? Warum hast du ihnen gesagt, dass Guinevere ein Kind erwartet?«

Die Verzweiflung in meinem Ton war kaum zu überhören. Dass man sie am deutlichsten heraushörte und nicht meinen Zorn machte mich noch wütender.

»Warum hast du es ihnen erzählt?«

Dann realisierte ich, dass es mein Zorn war, der mein Weinen um ein Vielfaches verschlimmerte. Die Wut verstärkte das Zittern meiner Hände. Nicht einmal die Gebrochene konnte ich stillhalten.

Dann verspürte ich einen plötzlichen Drang – ich wollte weinen, wollte jammern und schreien, in mich zusammenfallen und im Erdboden verschwinden. Denn als ich dieses Elend über meinem Brustkorb betrachtete, erinnerte ich mich daran, was Marekk zu mir gesagt hatte, bevor mich seine Soldaten hierher zurückgebracht hatten.

»Keine Sorge, die Nägel wachsen nach.«

Und dann könnte der Spaß ganz von vorne beginnen …

In diesem Moment wünschte ich mir, ich wäre bei Morgana. Wünschte mir, mein Kopf läge jetzt in ihrem Schoß, während ihre Finger durch mein Haar strichen.

Marekk hätte keine Chance gegen sie. Obwohl sie ihre Magie in der Schlacht nicht gegen mich eingesetzt hatte, hatte ich dennoch die Macht gespürt, die in ihr schlummerte. Hatte gespürt, dass sie stärker geworden war.

Morgana hätte Höllenfeuer auf Marekk regnen lassen, wäre sie jetzt hier.

Aber sie war es nicht.

Sie war tot, und ich war allein.

»Menschen wie du haben genug wegen Haus Pendragon gelitten«, stöhnte Mordred erschöpft, »sie haben deinen Schmerz nicht verdient – deswegen habe ich es ihnen erzählt. Ich bin ihnen nichts schuldig und du genauso wenig.«

»Sieht nicht danach aus, als wäre ein Ende in Sicht«, entgegnete ich.

Eine lange Pause folgte. Ich schloss meine Augen, setzte aber nicht viel Hoffnung in den Gedanken schlafen zu können.

»Wir könnten rennen«, meinte Mordred dann.

Ich öffnete meine Lider. Er drehte seinen Kopf zu mir und fixierte mich.

»Wir warten auf den richtigen Moment, und dann verschwinden wir von hier.«

Über das ‘wir‘versuchte ich nicht allzu lange nachzudenken. Wer wusste, was Mordred vorhatte, sollten wir es tatsächlich schaffen, zu fliehen …

Er stand auf Ambrosius’ Seite, was uns noch immer zu Gegnern machte, selbst wenn wir denselben Feind teilten.

»Was ist das letzte Mal passiert, als du versucht hast, wegzurennen?«, erinnerte ich ihn.