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"Es gibt schlimmere Schicksale als den Tod. Zum Beispiel ohne jene weiterleben zu müssen, die einem alles bedeuten." Parzival wird von Visionen heimgesucht – Ausblicke in seine Zukunft, die Tod und Blutvergießen versprechen. Jede seiner Entscheidungen konzentriert sich fortan allein darauf, einen Ausweg zu suchen und sein Schicksal zu verändern. Als seine Heimat angegriffen wird und er einer jungen Frau namens Morgana begegnet, ist er bereit alles zu opfern um sie zu beschützen. Doch die unheilvolle Prophezeiung eines Drachen geleitet ihn auf Pfade, die er um jeden Preis vermeiden wollte.
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Seitenzahl: 655
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Dunkelstern Verlag GbR
Lindenhof 1
76698 Ubstadt-Weiher
http://www.dunkelstern-verlag.de
E-Mail: [email protected]
2.Auflage
ISBN: 978-3-910615-63-2
Alle Rechte vorbehalten
Für Mom und Dad – denen ich einfach alles zu verdanken habe – und meiner kleinen Chaya.
Für meinen Bruder, der immer da war, obwohl er nicht bei mir war.
Für Kim, die jetzt vermutlich ausflippt, wenn sie ihren Namen hier liest.
Und nicht zu vergessen, für dich.
Inhalt
Teil 1
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Teil 2
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechszehn
Siebzehn
Achtzehn
Danksagung
Teil 1
Zeiten des verlorenen Friedens
Schmerz und Furcht können uns zerreißen.
Aber sie können auch vereinen.
Und wenn wir aus ihnen lernen, werden sie heilen.
Eins
Ich war wieder dort.
Allein.
In diesem Meer von Leichen.
Überall lagen sie um mich herum, verstreut vor einer gigantischen Burg wie ein Fleckenteppich aus rotem Blut, blasser Haut und weißen Knochen.
Die Sonne ging auf, aber statt Wärme zu spenden, zeigte sie nur den Schrecken, den die Nacht mit sich gebracht hatte. Doch die leblosen Körper waren nicht einmal das Schlimmste. Am schlimmsten waren die Augen – dieses eine Paar. Es starrte mich an, starrte durch mich hindurch ins Nichts.
***
Ich schreckte auf, heftig atmend, Panik und Angst in meinen Knochen. Meine Kleidung durchnässt von meinem Schweiß.
Isaacs wurde wach. Sein Bett stand gegenüber von meinem, in seinem Blick diese schreckliche Mischung aus Unsicherheit, Besorgnis und noch etwas – etwas, das aussah wie Angst, aber keine wirkliche Angst war.
Ich hasste es – die Art, wie seine Augen eindringlich leuchteten, trotz der Dunkelheit, seine Silhouette steif, starr, als hätte er selbst erlebt, was ich eben noch gesehen hatte. Eine Weile lang starrte er mich nur an.
Es war nicht die erste Nacht, in der ich diesen Traum gehabt hatte. Diesen Traum, der sich nicht anfühlte wie einer.
Es war auch keiner.
Aber es war die erste Nacht gewesen, in der Isaacs zusammen mit mir zu Pathosth gegangen war, um ihn endlich darüber zu unterrichten.
Raznar begrüßte uns zuerst, er war der Phönix unseres Schulleiters – ein majestätisches Tier, mit Flügeln einer Palette aus Gold und Blut gleichend. Im nächsten Moment kam Pathosth. Zuerst war ich überrascht, ihn noch wach zu sehen, doch als er auf mich zutrat, wirkte es, als hätte ein Teil von ihm längst gewusst, dass ihm heute noch jemand einen Besuch abstatten würde. Isaacs öffnete gerade den Mund, da sprach der Schulleiter.
»Es freut mich, zu sehen, dass du mich endlich aufsuchst.«
Dann wandte er sich meinem Freund zu.
»Ich danke dir, Isaacs. Aber Parzival und ich benötigen Zeit allein.«
Meine Kinnlade fiel nach unten.
Der Junge neben mir schaute mich unsicher an, als wäre diesen Turm zu verlassen das Letzte, was er tun wollte.
Er war wie ein Bruder für mich und ich wollte auch nicht, dass er ging. Aber dann gehorchte er.
»Erzähl mir von deinen Träumen«, verlangte mein Schulleiter, sobald die Tür ins Schloss gefallen war.
Ich bereute es, meinen Mund geschlossen zu haben, denn jetzt fiel mir die Kinnlade erneut hinunter. Pathosth schmunzelte, als hätte er keine andere Reaktion erwartet.
»Ich mag Geheimnisse vor dir bewahren können, Parzival, aber das heißt nicht, dass dir dieselbe Fähigkeit gegönnt ist, mein Junge.«
Nach all der Zeit hätte es mich nicht überraschen sollen. Manchmal wusste er einfach Dinge, die niemand sonst wissen konnte.
Ich schloss den Mund, schluckte die Verwunderung hinunter. Nach jahrelangen schlaflosen Nächten berichtete ich ihm endlich davon. Erzählte ihm, was er schon längst gewusst hatte.
»Was du beschreibst, ist kein Albtraum. Es ist eine Vision. Sie zeigt dir Ausschnitte aus der Zukunft
– deiner Zukunft.«
Und genau das war es, wovor ich mich am meisten fürchtete.
Sobald sie davon erfahren hatten, erachteten es meine Professoren als eine Art Zeichen, weil sie glaubten, es wäre eine Gabe. Eine, die mir erlauben würde, etwas in dieser Welt zu bewirken. Die Dinge, wie sie jetzt waren, zu verändern.
Ich betrachtete es als einen Fluch, eine Plage, die mir schreckliche Nächte bereitete und mich bis an mein Lebensende verfolgen würde. Was ich dort erlebte – der Anblick, der sich mir offenbarte…
Tod, Blutvergießen, Leichen vor einer Burg – es war ein Horror, dem ich nie entgegentreten wollte.
»Visionen kommen nicht häufig vor, Parzival.«
Parzival…
Das war mein Name. Mein Schulleiter hatte ihn mir gegeben, obwohl er nicht mit dem übereinstimmte, den man mir am Tag meiner Geburt in die Wiege gelegt hatte.
Von Anfang an hatte dieser Mann so viel Hoffnung in mich gesetzt, die ich nie verstanden hatte. Die Taten, die mir ersehen waren, schienen nicht mit dem ängstlichen Jungen übereinzustimmen. Dem Kind, das nichts von der Welt außerhalb der Tore seiner Heimatstadt wusste, abgesehen von den Geschichten, die es las.
Das war alles – Bücher. Sie waren meine Welt, meine Abenteuer, mein Wissen von der Vergangenheit und meine Lektionen für die Zukunft.
»Nur den mächtigsten aller Magiern ist es vergönnt, einen Blick voraus zu werfen.«
»Ein Schlachtfeld übersät von Leichen erscheint mir als keine besonders gute Aussicht«, entgegnete ich.
Ich hoffte so sehr, er würde mir sagen, dass dieses Ereignis nicht zwingend stattfinden müsste.
Alles, wovor ich mich fürchtete, war das Eintreffen dieser Visionen. Sie zeigten mir die Folgen einer Schlacht und ich hielt mich nicht gerade für einen erfahrenen Kämpfer.
Ich zog Bücher einem Schwert vor. Sie stellten das Wissen dar, welches ich zum Überleben brauchte.
»Ob gut oder schlecht spielt keine Rolle. Es ist eine Gabe, die dir geschenkt wurde. Nutze sie und setzte sie zu deinem Vorteil ein.«
Er legte seine Hand auf meine Schulter, schaute mich an, mit dem Silber in seinen Augen, als hätte er Mitleid. Als hätte er das Elend, das mich erwartete, bereits erlebt.
Bei Raznars Asche, ich hatte keine Ahnung, wie ich die Visionen zu meinem Vorteil einsetzten sollte. Ich wusste nichts über sie.
Kannte den Ort nicht, an dem diese Schlacht stattfinden würde. Konnte mir keinen Grund ausmalen, für den so viele Menschen ihre Leben ließen. Mir war nicht einmal klar, ob diese Geschehnisse bereits feststanden oder ob es einen Weg gäbe, sie zu verhindern.
Aber das wusste niemand.
Nicht einmal Pathosth, der sonst immer eine Antwort auf alles hatte.
Es machte mir Angst. Lehrte mich das Fürchten wie nichts jemals zuvor.
Doch trotz allem hatte ich in der Zeit, in der ich in meiner Schule aufgewachsen war, gelernt, dass jeder Rat meines Schulleiters kostbar war. Zum Ende hin erwies er sich immer als eine willkommene Hilfe.
Ich fragte mich, ob es diesmal auch so sein würde.
Hoffte es.
Auch Jahre nach dieser Nacht hatte ich weitere Visionen – immer dieselbe. Alles blieb, wie es immer gewesen war, bis mich Pathosth eines Tages in seinen Turm rief und mein ganzes Leben auf den Kopf stellte.
Raznar war nicht bei ihm – er hatte den Phönix vor einer Weile ausgesandt, aber anscheinend war er noch immer nicht zurück. Was ungewöhnlich war, denn er brauchte sonst nie mehr als einen Monat, um eine Nachricht zu überbringen.
Nie.
»In dir ist etwas, dass ich bei keinem meiner Schüler jemals zuvor gesehen habe. Eine große Verantwortung steht dir bevor, Parzival, und eine noch größere Herausforderung. Du wirst Entscheidungen treffen, die dir das Herz brechen werden und es plagt mich, dass ich dir diese Bürde nicht abzunehmen vermag. Sie ist für dich bestimmt und nur du allein kannst lernen, mit ihr umzugehen. Und – obwohl du Zweifel an dir hegst, setze ich mein höchstes Vertrauen in dich. Du bist noch nicht bereit, aber du wirst es sein. Der Tag wird kommen, an dem du dich der Macht entgegenstellst, die auf dieses Land zumarschiert. Deine Entscheidungen werden alles verändern.«
Er wusste etwas. Irgendwas, von dem niemand sonst eine Ahnung hatte. Es lehrte mich das Fürchten und er sah es. Weil er es immer tat. Weil er immer zu erkennen schien, wann mir etwas Unbehagen bereitete - als lastete eine ähnliche Bürde auf seinen Schultern.
»Hab keine Angst, Parzival. Mein Junge. Du wirst nicht allein sein. Du wirst Hilfe brauchen und sie erhalten, wenn du nach ihr fragst. Aber meine Arbeit ist getan.«
So hatte er sich von mir verabschiedet. Und ich hatte nie verstanden, wieso. Erst zum Schluss – als es längst zu spät gewesen war, das Geschehene rückgängig zu machen.
Als ich Isaacs erzählte, ich müsste die Schule verlassen, wusste er es bereits.
Seine braunen Augen sahen mich hilflos an und da erkannte ich, dass ihn etwas belastete, von dem er mir nichts erzählte.
Die Wahrheit, die sie mir alle verwehrt hatten und von der ich erst lange Zeit später erfahren sollte.
Isaacs gab mir seine Kette, die ich von diesem Tag an nur einmal ablegen würde. Sie war das Einzige, was mir von ihm geblieben war – von dem fremden Jungen, der erst mein Freund und dann mein Bruder geworden war. Von diesem Augenblick an sollte sie mich auf all meinen Reisen begleiten, mir Halt geben, wenn die Erinnerungen an ihn wieder schmerzten.
Er entfernte sie von seinem Hals, hielt sie mir entgegen. Ein schwarzer Anhänger, der fast wie der Fangzahn eines Wolfes aussah, befand sich an einem einfachen Stoffband.
»Er ist aus Obsidian«, erklärte er mir.
Ich wusste, wie viel diese Kette ihm bedeutete. Wie oft seine Hände dazu neigten, nach dem Edelstein zu greifen, wann immer er den Halt brauchte, den er ihm versprach.
Der Kummer, als er ihn mir entgegenhielt, war unerträglich. Aber da verbarg sich noch etwas anderes in seiner Miene, das ich nicht entziffern konnte.
»Ich verstehe nicht…«
Tränen verschleierten meine Sicht, verzerrten meine Stimme.
»Manchmal musst du Dinge tun, die du nicht tun willst«, entgegnete er mir als einziges. »Und jetzt, … jetzt musst du gehen, obwohl du es nicht willst, und ich muss mich von dir verabschieden, obwohl ich es nicht will.«
Er schenkte mir ein Lächeln, aber es war voller Schmerz, voller Kummer und Angst. Seine Augen wurden glasig und da schoss er auf mich zu. Schlang seine Arme um meinen Körper. Hielt mich, drückte mich dichter an sich, während er den Kopf auf meine Schulter legte und den Stoff meines Hemdes mit seinen Tränen durchnässte. Ich spürte, wie sich die warmen Tropfen sacht auf meine Haut legten – wie ein Blatt, das langsam vom Ast eines Baumes fiel.
Ich presste ihn dichter an mich, weil es das letzte Mal war, dass ich die Gelegenheit dazu bekäme. Ich hatte immer geglaubt, er wäre es, der als erster unsere Schule verlassen würde. Um in die Welt hinauszuziehen. Um die Abenteuer zu erleben, von denen er so sehr träumte.
Anscheinend lag ich falsch.
Nach einer Weile löste er die Umarmung. Hielt mir erneut seine Kette entgegen.
»Hier, nimm sie. Sie gehört dir.«
Als ich mich keinen Millimeter rührte, legte er sie um meinen Hals.
»Solltest du dich auf deinem Weg verirren, sieh sie an und sei versichert, dass ich immer bei dir sein werde.«
Es war das letzte Mal, dass ich ihn lebend sah. Das letzte Mal, dass ich sein Lächeln erblickte und seine Stimme hörte.
Wir nahmen einander wieder in den Arm, legten den Kopf auf die Schulter des anderen, als wollte keiner von uns, dass dieser Moment endete. Als hofften wir beide, die Zeit würde einfrieren.
Als er diesmal die Umarmung löste, wusste ich, es war so weit. Ich musste meine Heimat verlassen und kannte nicht einmal den Grund dafür.
Pathosth begleitete mich mit einigen anderen Professoren zu den Toren der Schule. Alles, was ich über Magie wusste – so wenig es aufgrund meines jungen Alters gewesen sein mochte – hatte man mir hier beigebracht. Erst viel später sollte ich merken, wie viel mir noch fehlte.
Damals hatte ich mich gefühlt wie ein Verstoßener. Wie ein einsames Schiff auf hoher See, zurückgelassen im Sturm. Wegen meiner Visionen hatte ich in ständiger Angst gelebt – vor der Zukunft, vor dem, was ich war – und dann hatten sie mich plötzlich fortgeschickt aus einem Grund, den mir niemand nannte.
So viel hatten sie meinetwegen geopfert.
Sie waren Helden. Auch wenn ich lange Zeit anders darüber gedacht hatte. Und dennoch würden ihre Namen niemals in den Geschichtsbüchern erwähnt werden. Niemand würde je wissen, was sie getan hatten.
»Du musst Avalon verlassen. Geh nach Westen, dort wirst du ein Dorf finden. Und Hilfe.«
Pathosth legte die Hand auf meine Schulter. Sein linker Mundwinkel zuckte auf eine bemitleidenswerte Art nach oben. Ein Lächeln formte sich auf seinen Lippen. Kein normales, sondern eines voller Kummer und… und noch etwas anderem.
»Wir wünschen dir alles Glück dieser Welt, Parzival.«
Zum Abschied schenkte er mir ein weiteres Lächeln. Und ein Nicken.
Das war alles gewesen. So hatte der Tag begonnen, der alles verändern würde.
Sie drehten sich um und schlossen die Tore, ohne ein weiteres Wort. Zum ersten Mal seit meiner Zeit in Avalon fühlte ich mich so allein wie noch nie.
Obwohl man mir gesagt hatte, ich sollte gehen, konnte ich es nicht. Nahrung hatten sie mir reichlich mitgegeben, doch es fühlte sich falsch an, meine Heimat zu verlassen.
Also blieb ich.
Schlief das erste Mal auf kaltem Stein statt in einem weichen Bett. Ein Teil von mir hoffte, sie würden mich wieder aufnehmen, doch vergebens.
Ich musste schnell lernen, dass ich Avalon hätte verlassen sollen, solange ich noch die Gelegenheit dazu gehabt hatte.
Zwei
Sie war ein lebhaftes Mädchen gewesen. Hatte sich aus der Burg geschlichen, um die Stadt, über die sie eines Tages regieren sollte, kennenzulernen. Vor allem aber, um sich auf die Suche nach Abenteuern zu begeben. Denn im Gegensatz zu mir zog sie es vor, ihre eigenen zu erleben, statt von denen anderer zu lesen.
Als ihre Eltern davon mitbekamen, stellten sie Wachen vor ihrem Gemach auf, aber nicht einmal die konnten Morgana daran hindern, einen Weg hinaus zu finden. Allerdings wusste sie durchaus sich zu benehmen. Die Gepflogenheiten einer Lady schienen ihr keinesfalls fremd – sie langweilten sie nur.
Morgana hatte mir alles erzählt. Hatte mir von dem Ärger berichtet, den es gegeben hatte, als sie trotz Wachen vor ihrem Gemach mit verschmutzten Kleidern erwischt wurde. Hatte mir genau beschrieben, wie sich der Tumult der Stadt angehört hatte wie das Rauschen eines Flusses oder das Pulsieren von Blut in den Adern, als sie von einem Dach zum anderen gesprungen war.
Und sie hatte mir von jener Nacht erzählt, in der das Feuer unsere Heimat verschlungen hatte.
»Warum musst du uns nur immer solch Kummer bereiten, Morgan?«, tadelte Ida le Fay, nachdem ihre Tochter völlig zerzaust von einer ihrer Wanderschaften zurückgekehrt war.
»Ich kann nichts dagegen tun, Mutter!«
Der Lady entging der Sarkasmus keinesfalls, als ihr Kind ihre klagende Stimme imitierte. Sie warf ihrer Tochter einen strengen Blick zu.
»Irgendwann sterbe ich noch vor Langeweile!«
»Manchmal frage ich mich, wo du wirklich aufgezogen wurdest. In dieser Burg oder auf der Straße?« Morgana zuckte mit den Schultern.
Sie hatte mir erzählt, wie ihre Mutter ihr nie lange böse sein konnte. Wie schnell ein ungewolltes Schmunzeln in ihre anfangs erboste Miene einkehren konnte. Sie stupste ihr mit einem Tuch auf die Nasenspitze.
»Mir soll es egal sein«, sagte Ida, »du könntest dich in ein Schwein verwandeln, ich würde dich noch immer lieben, du kleines Monster.«
»In ein hässliches Schwein?«
»In das hässlichste Schweinchen im ganzen Land von Voyar.«
Ich hatte mich immer gefragt, wie es wäre, das Lachen einer Mutter zu hören. Wie es sich anfühlte. Morgana hatte es mir beschrieben wie die lieblichsten Klänge des Sommers. Wie das Rascheln der Blätter, wenn der Wind an ihnen vorbeizog. Wie die Strahlen der Sonne, die so lange auf der Haut verweilen, dass sie irgendwann das Herz erreichten und es mit unvergleichbarer Wärme füllten.
»Ich wundere mich nur, wie wir das deinem Vater erklären sollen.«
Für den Bruchteil einer Sekunde kehrte ein Hauch Besorgnis in Ida ein, doch der verflog ebenso schnell wie die anfängliche Erbostheit. Davongejagt von ihrem Schmunzeln, das sie aussehen ließ wie die Sonne selbst.
Es war dieser eine bezaubernde Moment voller Unbekümmertheit, von dem man sich wünschte, er würde nie enden, der dann schneller erlosch als eine Kerze im Wind.
Eine Wache platzte in das Gemach. Ich würde nie vergessen, wie sich Morganas Gesichtsausdruck verändert hatte. Wie ihr all die Beherrschung davongeglitten war, als sie mir erzählt hatte, wie sie in der Miene des Mannes, in seinem Schock und der Blässe seiner Haut, erkannt hatte, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. Dass ein Teil von ihr bereits da geahnt hatte, was auf sie zukäme.
Er verkündete der Lady, dass ihr Gemahl sie dringend zu sprechen verlangte.
Als sie zurückkehrte, war ihr Lächeln verschwunden. In ihrem Gesicht spiegelte sich dieselbe Panik wie in dem der Wache wider.
»Mutter«, sagte Morgana zögerlich, »was –«
»Ich möchte, dass du in deinen Gemächern bleibst, Morgan.«
»Aber –«
»Keine weiteren Ausflüge! Du bleibst hier und diese Tür bleibt geschlossen. Hast du verstanden?«
Morgana starrte demütig auf den Boden, versprach aber, zu gehorchen, obwohl sie das Gefühl nicht loswurde, dass Ida etwas vor ihr geheim hielt.
So wie ich gewusst hatte, dass Pathosth etwas vor mir geheim hielt.
Erst als die Schreie deutlich zu hören waren, verstand sie.
Sie wurde von ihnen geweckt. Zuerst dachte sie, es wäre ein Albtraum gewesen – ein solcher, der einen aus dem Schlaf riss und dafür sorgte, dass man Realität nicht mehr von Illusion unterscheiden konnte.
Diese Schreie, … so etwas hatte sie noch nie gehört. Sie klangen schmerzvoll, schrill. Und als Morgana sie erneut hörte, wusste sie, es war real. Sie rannte zu ihrem Fenster. Orange-rotes Licht leuchtete, so penetrant und unnatürlich warm. Vor ihrer Tür ertönte das Klirren von Stahl.
Regungslos stand sie inmitten ihres Gemaches, gefesselt von der Angst, die sie wie das Eisen einer Kette auf den Boden drückte.
Jemand kämpfte in den Gängen. Ein schwaches Stöhnen drang zu ihr vor. Dann ein dumpfes Geräusch. Ihre Tür schoss auf und da stand ihr Vater vor ihr, mit dem Schwert in der Hand und Blut an der Klinge und im Gesicht. Er trug keine Rüstung. Sein grau-meliertes Haar, einst schwarz wie die Nacht, klebte an seiner Stirn. Er atmete schwer. Morgana gab keinen Ton von sich – erstarrt vor Schreck.
»Morgan«, rief der Lord, »komm!«
Als er sie zu sich winkte, bemerkte sie das Blut an seinem Arm. Bis sie sich aus ihrem erstarrten Zustand befreien konnte, dauerte es einen Moment, doch als es so weit war, lief sie mit ausgestreckten Händen auf ihn zu.
Seine Tochter fest an sich gedrückt, humpelte Barthold le Fay voran. Zusammen begaben sie sich durch Gänge, die Morgana nicht einmal während ihrer heimlichen Wanderschaften betreten hatte. Sie hatte mir erzählt, wie dunkel es gewesen war, wie kalt und feucht, und dass ihr das Humpeln ihres Vaters mehr Angst eingejagt hatte als die Finsternis.
Ihm ging die Kraft aus, mit jedem Schritt hatte sie es gemerkt. Weshalb Morgana irgendwann ihn stützen musste. Jeder Meter voran zerrte an ihm und mit jedem weiteren fürchtete sie, er würde zusammenbrechen.
Sie hatte Angst. Und es kostete sie mehr als alles andere, diese Angst vor ihrem Vater zu verbergen.
So wie ihre Mutter es zuvor für sie getan hatte, tat sie es jetzt für ihn.
Und da überkam sie plötzlich der Scham. So viel Mühe hatte sich Barthold le Fay gegeben, sie als Lady zu erziehen und sie hatte sich so sehr dagegen gesträubt. Hatte sich stets gewünscht, jemand anderes zu sein.
Jetzt, wo sie ihren Vater so sah – verwundet, blutverschmiert, jeder Atemzug eine Anstrengung, der er kaum standhalten konnte – bereute sie es.
So oft hatte sie sich nach einem Abenteuer gesehnt. Und nun, wo ihr erstes gerade mal begann, wünschte sie sich die Langeweile zurück.
Denn in diesem Moment verstand sie, dass das träge Leben, welches sie gelebt hatte, eines in Frieden gewesen war – ohne Sorge um das Wohlergehen ihrer Eltern, ohne sie bluten zu sehen, sie sterben zu sehen.
Nun, da sie um das Leben ihres Vaters bangte, verstand sie, weshalb er und ihre Mutter die ständigen Ausflüge nicht mochten.
Barthold führte sie aus der Burg hinaus. Warf sich mit letzter Kraft gegen die Tür, die den Ausgang versperrte. Die Wucht, mit der das Holz seinem Gewicht nachgab, schleuderte ihn zu Boden
Hier, außerhalb der Burg, konnte Morgana die Schreie noch deutlicher hören, die Hitze leibhaftiger spüren. Sie sah dabei zu, wie die peitschenden Flammen die Häuser samt ihrer Einwohner verschlangen. Wie die gesamte Stadt in ihnen versank. Die Wachen hatten keine Chance – nicht gegen eine gesamte Armee, die wie aus dem Nichts gekommen war.
Ihr Vater versuchte aufzustehen, aber er schaffte es gerade mal auf die Knie.
Sein Blick schoss in Morganas Richtung. Zuerst dachte sie, er würde sie ansehen, aber dann erkannte sie, dass er etwas fixierte, das sich hinter ihr befand.
Plötzlich hörte sie das Klirren. Jemand war ihnen gefolgt.
»Lauf!«
Angst flutete die Augen ihres Vaters. Breitete sich schneller aus als der Tod auf den Straßen.
Morgana erstarrte.
»Wo ist Mutter?«
»Morgan, uns bleibt keine Zeit. Geh! Lauf!«
Sie schaffte es nicht mehr, stark zu sein. Schaffte es nicht mehr, die Tränen zu verdrängen. Ihre Augen wurden glasig und ihre Sicht verschwamm– als würde sie durch eine flüssige Wand aus Wasser und Glas hindurch starren.
»Vater, ich … ich versteh nicht –«
Der Mann packte seine Tochter an beiden Armen.
Nur, wenn sie frech war oder sich weigerte, ihrer Mutter zu gehorchen, wandte er solche Gewalt an. Er hatte stets einen festen Griff gehabt. Fest genug, dass sie immer innerlich zusammenzuckte.
Dieses Mal auch.
Doch nicht aufgrund der Härte, die dahintersteckte, sondern aus dem Mangel eben dieser. Die Kraftlosigkeit erschreckte sie.
»Morgan.«
Ein Flehen. Doch plötzlich legte sich ein Funkeln über seine Iriden, auf das sie sich keinen Reim machen konnte.
»Meine Tochter, mein ganzer Stolz, mein wunderbares, wunderbares Mädchen. Deine Mutter – deine Mutter und ich haben nichts jemals mehr geliebt als dich. In dir steckt so viel mehr, als das bloße Auge sieht.«
Er ließ sie mit der einen Hand los. Seine Finger strichen ihr sanft das Haar aus dem Gesicht. Das Lächeln, das er ihr in diesem Moment schenkte, würde sie nie vergessen.
Es hatte ihr mehr Angst eingejagt als das Blut in seinem Gesicht.
»Meine Tochter. Mein tapferes, tapferes Mädchen.«
Er stieß sie erschöpft von sich.
Ihre Verfolger näherten sich – und sie würden Morgana nicht verschonen, weil sie ein Kind war. Oh nein, diese Männer waren gekommen, um alles und jeden zu vernichten.
»Jetzt geh! Lauf, so schnell du kannst. Und sieh nicht zurück.« Sie rannte. Tränen in den Augen.
Weinte um ihren Vater, der nicht fähig wäre, sich gegen ihre Verfolger zu behaupten.
Um ihre Mutter, die es nicht aus der Burg geschafft hatte. Und um sich, weil sie ihre Eltern niemals wiedersehen würde.
All die Leichen der Männer, Frauen und Kinder verschwammen vor ihren Augen, als sie durch das Getümmel hastete, ihre Schuhe durchnässt vom Blut, das auf den Straßen floss.
Genau wie ich verlor sie in jener Nacht alles, was ihr jemals etwas bedeutet hatte.
Sie hatte es bereits gewusst, als ihr Vater ihr nicht erzählen wollte, wo ihre Mutter war – und schon vorher, als ihre Mutter in ihr Gemach gekommen war, ihr gesagt hatte, sie solle es nicht verlassen.
Hatte es gewusst, als sie die Flammen aus ihrem Fenster gesehen hatte.
Morgana war allein. Die Angst ihr einziger Begleiter, das Einzige, was sie einen Schritt nach dem anderen setzen ließ. Und so lief sie an den brennenden Häusern vorbei, achtete nicht einmal darauf, wohin sie rannte. Ihre Füße trugen sie einfach weiter.
Niemand kannte diese Straßen besser als sie, doch nun hatte sie keine Ahnung, dass sie nur noch tiefer in das Maul der Schlange kroch.
Rings um sie herum kreischten die Menschen, während der Stahl ihre Körper durchbohrte.
Sie sah nicht, wie die Kehlen aufgeschlitzt und die Bäuche mit einem Hieb durchtrennt wurden – hatte sie mir erzählt – sie hörte es. Deutlich genug, dass sie sich alles vorstellen konnte und die Bilder nie wieder aus dem Kopf bekäme.
Selbst als sie die Augen schloss, ihre Ohren mit den Händen zuhielt, drang der Lärm zu ihr vor. Also lief sie weiter und weiter und immer weiter in der Hoffnung, es würde irgendwann aufhören, als sie plötzlich in jemanden hineinrannte.
***
Noch nie zuvor wurde ich Zeuge eines solchen Ereignisses. In den Büchern meiner Schule hatte ich über gewaltige Schlachten gelesen, über Soldaten, die grausame Tode starben, aber es stellte sich heraus, dass zwischen dem Lesen über solche Dinge und sie hautnah zu erleben ein gewaltiger Unterschied bestand.
Es war Chaos.
Es war nicht einmal eine Schlacht – nur Gemetzel. Und ich befand mich mittendrin, als die Reiter in der zweiten Nacht, nachdem man mich ausgesetzt hatte, durch die Stadttore brachen wie das Wasser durch einen Damm und die Stadt im Blut tränkten.
Zuerst hörte ich das Stampfen der Hufe. Aggressive Schreie. Dann vernahm ich Gekreische. Es kam näher. Nach wenigen Minuten verwandelten sich die Straßen meiner Heimatstadt in rote Flüsse.
Flammen zischten, peitschten gewaltsam, während sie die Häuser verschlangen wie Wölfe, die ein Reh rissen. Der Rauch stieg hinauf in den schwarzen Himmel.
Angst erfüllte diese Nacht. Furcht. Feuer und Blut.
Das Geschrei der Bewohner Avalons erhob sich in die kühle Luft. Eine einst aufblühende Stadt – die Stadt der Magie – dem Untergang geweiht.
Der Tod breitete sich schneller aus als die Pest.
Es war die Nacht, in der das Haus le Fay fast ausgelöscht wurde. In der Morgan le Fay ihre Eltern verlor und ich mein Zuhause. Meine Heimat. Vielleicht sogar mich selbst.
Auf ihren Pferden drangen die Angreifer rasch bis ins Zentrum der Stadt vor – wie Schatten bewegten sie sich, kaum ein Farbton heller als die Dunkelheit um sie herum.
Einige hielten Fackeln. Warfen sie auf die Dächer, um die Leute aus ihren Häusern zu locken. Andere verbarrikadierten die Türen, sodass die Menschen in ihren Wohnungen verbrannten. Die gesamte Stadt füllte sich mit dem Geschrei der Sterbenden.
Plötzlich sah ich einen der Reiter auf mich zurasen, sein Schwert in der Hand. Als er es nach mir schwang, schaffte ich es nur knapp auszuweichen. Rasch drehte ich mich um – weil ich mit einem erneuten Angriff rechnete, doch der Mann ritt einfach weiter. Dann rammte mich etwas zu Boden. Ich fiel mit dem Gesicht voran, fing mich jedoch rechtzeitig mit den Händen ab. Aber als wäre der Fall an sich noch nicht genug gewesen, landete ein Körper auf mir und presste mein Gesicht gegen den harten Stein.
Der Körper entfernte sich von mir. Ich drehte mich um, fand das Gesicht eines verschreckten Mädchens vor mir. Ihr schwarzes Haar wanderte in mehreren Wellen nach unten, bis es auf halbem Weg zur Hüfte endete. Grüne Augen starrten mich an, blickten mir direkt in die Seele. Ich wusste sofort, wer sie war.
Der Lord von Avalon – Barthold le Fay – hatte meinen Schulleiter oft zu sich in die Burg eingeladen. Auch an Feierlichkeiten durften einige Professoren meiner Schule am beinahe königlichen Festmahl teilnehmen. Ein einziges Mal durfte ich ihn begleiten.
Da hatte ich sie gesehen, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick: Morgan le Fay. Sie war dort gewesen, als uns der Lord und die Lady der Burg empfangen hatten, allerdings hätte ich niemals gedacht, sie wiederzusehen.
Sie sprang hastig nach oben, ihr Brustkorb hob und senkte sich panisch.
»Alles in Ordnung«, versicherte ich ihr, »ich werde Euch nicht wehtun.« Mit meinen ausgestreckten Händen wollte ich ihr verdeutlichen, dass von mir keine Gefahr ausging.
Sie nickte, ihre Miene noch immer vollkommen verschreckt.
»Seid Ihr verletzt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wo sind Eure Eltern?«
Sie gab mir keine Antwort, doch es war auch nicht nötig gewesen. Ich hatte es ihr bereits angesehen. Und abgesehen davon, warum sonst sollte sie hier sein? Inmitten des Chaos, wenn ihre Eltern so viele Soldaten unter ihrem Kommando hatten, dass ihre erste Priorität gewesen wäre, ihre Tochter in Sicherheit zu bringen? »Kommt mit mir«, meinte ich dann, »ich bringe Euch von hier weg.«
Sie nickte, wirkte aber völlig abwesend. Ich erwiderte die Geste, hielt ihr meine Hand entgegen, unsicher, ob sie es überhaupt bemerkte. Sie nahm sie.
»Bleibt dicht hinter mir.«
Wir schlichen uns dicht an den Häusern vorbei – ich hoffte, dort wäre es trotz des Feuers sicherer als mitten auf der Straße, wo diese Reiter ihre Schwerter nach jedem schwangen, der ihnen über den Weg lief.
Als Morgana und ich eine breite Kreuzung erreichten, blieb ich stehen, um zu sehen, wohin wir als Nächstes gehen mussten. Aus Avalon gab es nur einen Weg hinaus: das Tor. Es stand nicht weit von der Burg der le Fays entfernt, aber die befand sich fast auf der anderen Seite der Stadt.
An dem Haus schräg vor uns stiegen fünf Männer von ihren Rössern ab. Einer von ihnen riss die Tür auf. Er und die anderen vier stürmten hinein. Als sie wieder herauskamen, waren ihre Klingen überzogen von Blut. Danach machten sie sich auf zum nächsten Gebäude.
Sobald sie verschwunden waren, griff ich nach Morganas Handgelenk und zog sie hinter mir her.
Die Männer hatten ihre Pferde stehen lassen und wir würden uns genau zwei davon ausborgen. Doch plötzlich blockierte ein gigantischer Schatten unseren Weg. Das schwarze Pferd stützte sich auf seinen Hinterbeinen, während es wild wieherte. Der Reiter trug ein großes Breitschwert in der einen und eine Fackel in der anderen Hand. Morgana und ich wichen den Hufen. Sprangen panisch zur Seite, um nicht totgetreten zu werden. Der Mann schenkte uns keinerlei Beachtung. Er warf die Fackel auf das Dach des Hauses und ritt weiter.
»Das war knapp«, stöhnte Morgana.
Ich erschrak. Völlig überrascht, ihre Stimme zu hören. Zum allerersten Mal. Sie war sanft und rau zugleich – wie das Wellenrauschen der See. Wie der Sturm, der des nachts über die Wassermengen wütete und sich am Morgen legte.
Morgana lief voran, während ich ihr hinterher starrte wie ein Esel, der noch nie ein hübsches Mädchen gesehen hatte.
Dann brachte mich der nächste Schrei zurück in die Realität.
Ich riss mich zusammen. Folgte ihr.
Die Pferde wieherten unruhig, als wir ihnen näher kamen. Morgana nahm sich die Zügel und beruhigte eines der Tiere. Zog es sanft zu sich nach unten und streichelte die lange Schnauze.
»Ruhig«, murmelte sie.
Und in der Tat, es beruhigte sich – und mit ihm auch die anderen.
»Ihr könnt gut mit Pferden«, meinte ich zu ihr und bereute noch im selben Moment, nicht den Mund gehalten zu haben.
Ihr könnt gut mit Pferden? Ich war ein Narr.
Sie streichelte das Tier weiter, betrachtete es mit einem Funkeln in ihren Augen, das –
Sie riss ihren Kopf zu mir.
»Hilf mir hoch.«
Für den Bruchteil einer Sekunde hätte ich schwören können, dass sie kurz gelächelt hatte. Anscheinend schien sie sich über die Überforderung in meinem Blick zu amüsieren. Jedenfalls hoffte ich, dass es das war und nicht die Sache, die ich vorher zu ihr gesagt hatte.
»Mach einen Graben.«
»Einen Graben?«
»Mit deinen Händen … so!«
Sie steckte alle Finger ihrer Hände zusammen und hielt sie vor sich, sodass die Handflächen eine Kuhle bildeten. Ich machte es ihr nach.
»Jetzt geh noch ein bisschen in die Knie. Ja, genau so. Und wenn ich mich von dir abstütze, streckst du dich wieder und drückst mich hoch.«
Sie stützte sich auf meiner Schulter ab, platzierte ihren Fuß auf meine Handflächen. Ich tat, was sie gesagt hatte, streckte meine Knie, als sie sich hoch drückte. Im nächsten Moment saß sie stolz auf dem großen Tier, mit den Zügeln in der Hand. »Jetzt du«, sagte sie, »nimm dir ein Pferd.«
Ich zögerte. Morgana legte die Stirn in Falten.
»Was ist?«
»Ich … ich kann nicht reiten.«
Woran ich vielleicht hätte denken sollen, bevor ich mich entschlossen hatte, zwei Pferde zu stehlen, statt mir eines mit ihr zu teilen.
Sie winkte mit der Hand.
»Das ist nicht schwer, du musst einfach gerade sitzen und deine Knie an das Tier drücken. Sonst verlierst du das Gleichgewicht. Und wenn du die Zügel hältst, dann nicht zu locker, aber auch nicht zu fest, oder das Pferd läuft entweder wohin es will oder im Kreis.
Und pass auf –«
»Ey!«
Wir zuckten beide zusammen. Rissen die Köpfe gleichzeitig in die Richtung herum, aus der die Stimme wetterte. Sie war tief – die eines Mannes – und hörte sich an, als zerbreche jemand einen Knochen mit bloßen Händen.
Hinter uns standen jene fünf Männer, die von Haus zu Haus gegangen waren. Eine lange Blutspur folgte ihnen. Aus einigen Gebäuden hatten sie die Bewohner herausgezogen und die Leichen auf der Straße zurückgelassen.
Jetzt, wo sie realisierten, dass wir ihre Pferde stahlen, rasten sie auf uns zu, blutverschmierte Schwerter in den Händen.
»Steig auf!«, schrie Morgana.
Sie hielt mir ihre Hand entgegen. Ich starrte sie regungslos an. Mein Blick wanderte an ihrem Arm entlang, hoch zu ihrem Gesicht. Fokussierte ihre Augen, ihre grünen Iriden, die sich langsam mit Panik füllten. In ihnen erkannte ich, wie die Männer hinter mir auf uns zu stürmten.
»Was hast du vor?«
»Reitet nach Westen, dort ist ein Dorf –«
»Wo ist Westen?«
»Das Stadttor blickt nach Norden«, erklärte ich ihr. Isaacs hatte mir es einst so erzählt.
Seine braunen Augen funkelten wie die Sterne am Himmel, als er mit seinem Zeigefinger auf das Tor zeigte. In ihnen verbarg sich so viel Neugierde, Fragen, die nach einer Antwort suchten. Der Junge schaute in die Ferne, lächelte den Horizont an wie einen alten Freund, den er lange nicht gesehen hatte: So viel Freude strahlte er aus, aber gleichzeitig Kummer – Fernweh.
»Es blickt nach Norden. Dort wird meine Reise beginnen. Dort – wo die Sonne niemals zu sehen ist.«
»Hast du keine Angst?«, fragte ich ihn.
»Nein«, antwortete er ruhig, auf seinen Lippen ein fasziniertes Lächeln, in seinen Augen noch immer dasselbe Funkeln, »nein.«
Gänsehaut bildete sich auf meinem Körper. Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter.
Isaacs.
»Westen ist da«, sagte ich hastig und deutete in die entgegengesetzte Richtung der Burg der le Fays.
Ihr Blick folgte meinem Finger, starrte hinaus in die Nacht. In ihren Iriden spiegelten sich die Flammen, rot-orangene Tentakel, die wild um sich fuchtelten und nach ihrer Beute schnappten. Da weiteten sich ihre Augen vor Schock, als wäre sie sich der Präsenz des Todes bis eben nicht bewusst gewesen und als fürchtete sie ihn jetzt dafür umso mehr.
Dann sah sie zu mir.
»Ich werde auf dich warten.«
Und mit diesen Worten ritt sie davon.
Ich schaute ihr einen Moment lang hinterher, beobachtete, wie sich ihr Körper in eine Silhouette verwandelte und von der Dunkelheit verschluckt wurde.
Dann dachte ich an Isaacs. Nahm mir vor, zu meiner Schule zurückzukehren, um mit ihm und den anderen aus der Stadt zu fliehen.
Allerdings setzte das voraus, dass ich die Gestalten überlebte, die allesamt auf mich zumarschierten. In dem Moment, in dem ich mich umdrehte, standen sie direkt vor mir: fünf Soldaten von Kopf bis Fuß in Rüstung gekleidet. Wie Statuen bauten sich ihre Häupter vor mir auf – einem Jungen kaum zum Mann herangewachsen. Einer von ihnen trug eine Axt, die anderen Schwerter, doch wie groß sie auch gewesen waren, am meisten fürchtete ich das Blut auf den Schneiden. Meine Augen klammerten sich daran fest, als existierte nichts anderes mehr. Meine rechte Hand hielt die Kette um meinen.
»Tut mir leid, Kind«, sagte der Mann in der Mitte – der mit der Axt.
Er war mit Abstand der größte von ihnen. Aus seiner Stimme hörte ich keinen Zorn heraus, keinen Hass. Sie klang beinahe sanft, als… als empfände er Mitleid.
»Was ich gleich tun werde, ist nichts Persönliches.«
Widerwillig bewegte er sich auf mich zu. Da riss ich meinen Blick von den Klingen. Fixierte stattdessen ihn. Er schnitt eine seltsame Grimasse, die mir einen nasskalten Schauer den Rücken hinunter jagte. Breite Finger packten meinen Arm und zwangen mich zu ihm. Sein rechter Ellenbogen zeigte zu mir, die Axt über seinen Kopf gehoben, als er ausholte. Ein einziger roter Tropfen fiel von der Kante der Klinge auf seinen Helm. Da wurde ich wach.
Ich zerrte an seinem Griff, rüttelte dran, versuchte, mich von ihm zu befreien. Alles vergeblich. Dann schlug ich mit der Faust gegen seinen Harnisch. Voller Panik und Angst. All meine Gedanken allein darauf gerichtet bei der Flucht so zu enden wie all die anderen, die mit aufgeschlitzten Körpern auf den Straßen Avalons lagen.
Die Berührung war kaum der Rede wert, fügte mir mehr Schmerzen zu als ihm – dachte ich. Bis er plötzlich nach hinten fiel, ehe die Klinge in meine Nähe kam. Er krachte gegen die Hauswand, rutsche an ihr nach unten auf den Boden, eine tiefe Delle in dem Stahl über seinem Brustkorb, die ihn verzweifelt nach Luft japsen ließ. Seine Finger hatten meinen Arm losgelassen, hinterließen aber ein Brennen auf der Haut, als hätte jemand ein Seil um sie gebunden, das sich bei jeder Bewegung fester zog.
Die restlichen vier Männer starrten alle zu dem, der mich gepackt hatte. Seine Atemzüge verstummten.
Was hatte ich getan?
Ich wusste es nicht. Ich hatte nur versucht, nicht zu sterben.
Wie auf Kommando, drehten sich die anderen Vier zu mir um. Noch vor wenigen Sekunden hatten sie mich bemitleidenswert angesehen – beinahe, als hätten sie meinen Tod nicht gewollt. Jetzt durchbohrten mich ihre Blicke wie Speere. In jeden von ihnen der nackte Hass, funkelnd wie Kristalle.
Gleichzeitig traten sie auf mich zu und da legte der Tod seine schwarzen Flügel über ihre Häupter, deren Schatten mich ins Dunkel warfen.
»Kommt nicht näher!«, warnte ich sie, Angst und Panik in meiner Stimme.
Doch trotz dem, was ich eben getan hatte, lachten sie.
Ich trat zurück. Nach nur zwei Schritten blockierten die Pferde den Weg. Ich war gefangen wie eine Maus zwischen den Pfoten einer Katze, mit der Hitze der Flammen in meinem Nacken.
Da erinnerte ich mich plötzlich an den ersten Zauber, den ich gelernt hatte: Feuer.
Aber dazu brauchte ich Ruhe. Und Konzentration – beides Voraussetzungen, welche die gegebene Situation keineswegs erfüllte.
Aber es war die einzige Möglichkeit, die ich hatte, also versuchte ich es.
Als die Soldaten näher traten, rieb ich die Handflächen aneinander. Machte eine Kreisbewegung, die sich mit jeder Drehung verschnellerte, verkleinerte. Die Hitze stieg an. Ich hielt sie fest. Spürte es in all meinen Muskeln: Leben – ein wildes Lodern in meinen Fasern, das ich kaum kontrollieren konnte.
Dann ließ ich es frei.
Streckte meine Arme schnell nach vorne aus, um ihm eine Richtung anzugeben und übertrug es auf die Monster vor mir. Flammen schossen wie ein Rudel Wölfe von den Spitzen meiner Finger. Vor den Füßen der Männer sprangen sie in die Höhe. Bildeten eine Mauer zwischen mir und ihren Schwertern.
Ihr oranges Licht legte einen blassen Schein über ihre Haut und tiefe Schatten unter ihre Augen.
Monster.
Die Hitze überwältigte sie. Zwang sie zurück, als sie die Arme schützend vor ihre Gesichter hielten, und sich von dem wegdrehten, womit sie die Menschen dieser Stadt getötet hatten.
Hinter mir wieherten die Pferde, drei von ihnen rissen sich los, flohen vor dem Feuer. Bevor auch das vierte verschwinden konnte, griff ich nach den Zügeln.
Der Steigbügel befand sich zu weit oben – ich war kein kleines Kind mehr, aber noch immer nicht groß genug, um ihn mit meinem Fuß zu erreichen. Als ich verzweifelt versuchte, irgendwie auf das Pferd heraufzukommen, hörte ich das Gebrüll.
Ich zuckte zusammen.
Wie hungrige Wölfe knurrten die Soldaten. Sie würden es nicht wagen, dachte ich, durch die Flammen zu treten. Das Feuer würde sie verschlingen.
Doch sie taten es – wie tollwütige Hunde sahen sie nicht die Gefahr, die sich direkt vor ihnen befand.
Die Hitze labte sich an ihren Gebeinen. Ihr Gebrüll verwandelte sich in Kreischen – in schrille Töne wie die jener Menschen, die sie ermordet hatten und all derer, die noch starben.
Sie fuchtelten wild mit den Armen umher. Versuchten, die Flammen auf ihrer Haut zu ersticken, aber es hörte nicht auf. Es schmolz ihre Rüstungen, brannte ihnen das Fleisch von den Knochen. Denn das Feuer eines Magiers war zugleich das eines Drachen.
Wir hatten es von ihnen gelernt.
Ihre Schreie verschmolzen mit denen der Bewohner. Einer von ihnen sackte vor mir auf dem Boden zusammen. Ich nutzte ihn als Hocker, schaffte es so auf das Pferd. Krallte mir die Zügel. Doch bevor ich das Tier überhaupt in eine Richtung lenken konnte, raste es los.
Das ständige Auf und Ab beförderte mich um ein Haar aus dem Sattel. Da schossen mir Morganas Worte in den Sinn. Also richtete ich mich gerade auf, drückte die Knie gegen die Schenkel des Pferdes, hielt die Zügel weder zu fest noch zu locker.
Aber so sehr ich mich auch bemühte, das Tier gehorchte mir nicht. Es ritt zum Stadttor, aber ich wollte nicht dorthin – noch nicht.
Ich wollte zurück. Zu Isaacs. Ich wollte nach Hause. Doch das Pferd ritt weiter. Immer und immer weiter und statt es zurückzuzwingen, konnte ich mich nur an den Sattel krallen und hoffen, dass ich nicht stürzte.
Es trug mich durch den Tunnel, aus dem Tor und der Stadt hinaus.
Von den Schreien weg.
Bevor wir den Wald erreichten, drehte ich mich um. Erkannte die dicken Rauchwolken in den Himmel steigen und die Flammen die Dächer der Häuser verschlingen.
Ich sah den Turm – Pathosths Turm. Sah zu, wie er brannte. Wie meine Heimat zu Asche zerfiel. Alles, was ich jemals gekannt hatte – meine ganze Welt. Zerstört.
Die Schreie begleiteten mich bis ins Herz des Waldes, die Töne – untermalt vom Stapfen der Hufen – sangen mir ein Lied vom Tod, das bis ans Ende der Zeit bis in meine Knochen vibrieren würde. In meinem Schädel hallen würde wie der ewig währende Klang einer Glocke.
Innerhalb einer Nacht hatte ich alles verloren.
Und obwohl ich nicht bei ihnen gewesen war, würde ich meine Familie immer im Feuer sterben sehen.
Ich hatte sie im Stich gelassen. Und dafür hasste ich mich.
Drei
Das Pferd ritt im rasenden Tempo, als verfolgte uns ein Monster. Vielleicht war es auch so.
Mittlerweile hatte ich es aufgegeben, dem Tier mithilfe der Zügel Befehle zu geben. Es war mir egal, wohin es mich tragen würde. Es war mir sogar egal, ob uns die Monster einholen würden.
Wieso hatten sie nichts getan? Pathosth und meine Professoren, … sie hätten die Angreifer ohne Weiteres abwehren können.
Sie hätten die Stadt verteidigen können und dennoch hatten sie zugelassen, dass Avalon brannte. Wieso?
Mit meinen Händen klammerte ich mich um den Hals des Pferdes, mein Gesicht in die sanfte Mähne gelegt. Ich stellte mir vor, es wäre mein Schulleiter. Stellte mir vor, er wäre es den ich umarmte, während ich jammerte und schluchzte.
Als ich aufwachte, schmerzten meine Augen so sehr, dass ich sie kaum öffnen konnte. Es fühlte sich an, als hätte ich die gesamte Nacht geweint, obwohl ich irgendwann aus Erschöpfung eingeschlafen sein musste.
Mein Körper glitt vom Sattel, landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden. Der Schmerz vom Aufprall schoss sofort durch meinen Schädel, als hätte ihn jemand mit einem Messer durchbohrt.
Licht blendete mich. Es war hell, mitten am Tag, denn als ich genauer hinschaute, stellte ich fest, dass die Sonne ihren höchsten Punkt bereits hinter sich gelassen hatte. Über mir türmten sich hohe Bäume auf wie die Säulen eines Tempels. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Im Westen? Kurz vor dem Dorf? Vermutlich nicht.
Plötzlich versperrten zwei überdimensional große Nasenlöcher meine Sicht zum Himmel. Warme Luft kam mir entgegen, als das Pferd ausatmete. Es hatte schwarzes Fell, doch als die Sonne direkt auf sein langes Gesicht schien, schimmerte es dunkelviolett. Wie die Schuppen eines Drachen.
Seine Augen waren schwarz, mit einem gelegentlichen Braunton in der Iris. Als ich die Finger nach der Schnauze ausstreckte, um sie zu streicheln, realisierte ich, wie erschöpft ich tatsächlich war. Meine Hand fiel auf den Boden, landete auf weichem Gras. Als ich den Kopf zur Seite drehte und die Augen schloss, fühlte es sich fast an wie die Mähne, in die ich die halbe Nacht über mein Gesicht gepresst hatte.
Ich zog meine Arme und Beine an meine Körpermitte heran. Auch wenn ich weinen wollte, kamen keine Tränen heraus – als hätte ich sie alle aufgebraucht.
Der Boden vibrierte. Ich spürte, wie mehrere Hufe auf den Boden stampften und da stupste mich das Pferd mit seiner Schnauze an.
Ich regte mich nicht.
Wieder stampfte es mit den Hufen. Diesmal stupste mich die Schnauze im Gesicht an. Ich zog den Kopf zurück, zwang meine Augen auf. Erschrak, als ich realisierte, wie dunkel es geworden war.
Vorsichtig richtete ich mich auf. Es grenzte an ein Wunder, dass das Tier die ganze Zeit über bei mir geblieben war. Wie es schien, war mir ein Freund geblieben, nachdem ich alles andere verloren hatte.
Ich stemmte mich von Boden hoch, wollte dem Pferd einen Apfel geben, von dem ich wusste, dass er sich in meiner Tasche befand – meine Tasche!
Als ich nach ihr griff, tastete ich ins Leere. Da bekam ich Panik. Ich hatte nichts zu essen. Kein Proviant – gar nichts. Mir war nicht einmal klar, wo ich überhaupt war, hier im Wald sah alles gleich aus. Dann entdeckte ich die Satteltaschen. Und da entwich mir ein erleichtertes Stöhnen, als ich feststellen durfte, dass sich dort nicht nur Brot und jede Menge Karotten befanden, sondern auch eine lederne Feldflasche voll mit Wasser.
Ich trank. Ließ die Flüssigkeit meinen rauen Hals befeuchten. Nachdem ich sie zurückgesteckt hatte, kramte ich weiter herum. Ein Tuch – mit Rosinen. Ich nahm mir ein paar, während ich dem Pferd eine Karotte gab.
Dann kontrollierte ich die zweite Satteltasche und stellte fest, dass dieses Ross eine laufende Schatztruhe war. Mindestens ein Dutzend Kupferschillinge hatte sein ursprünglicher Reiter bei sich getragen, etwa zehn Bronzepfennige, sogar ganze drei Silbermünzen. Mit diesem Geld hätte ich Wochen in einem Gasthaus verbringen können – wenn nicht sogar Monate.
Stolz klopfte ich dem Tier gegen die Schulter, fütterte es mit einer weiteren Karotte, als hätte es irgendeinen Einfluss darauf, was sein damaliger Besitzer in seinem Sattel aufbewahrt hatte.
Nicht weit weg stand ein etwas größerer Stein. Ich benutze ihn als Stufe, um auf den Rücken des Pferdes zu klettern. Sobald ich halbwegs sicher saß, die Zügeln in den Händen gehalten, ritt ich in den Sonnenuntergang – wenn auch recht ungeschickt.
Westen, ich ritt gen Westen.
***
»Du musst Avalon verlassen. Geh nach Westen, dort wirst du ein Dorf finden. Und Hilfe.«
Das Pferd musste bereits in die richtige Richtung geritten sein, denn nur wenige Stunden nach Sonnenaufgang erreichte ich tatsächlich ein Dorf. Es war weder sonderlich groß noch sonderlich klein und besaß – soweit ich wusste – nicht einmal einen Namen.
Nachdem ich recht unbeholfen vom Sattel abgestiegen war, entdeckte ich einen Mann, der mit mürrischer Miene sein Haus verließ. In seinem Gesicht breitete sich die typische Trägheit eines kränklichen, alten Menschen aus. Er trug ein schmutziges Hemd, eine braune Hose. Dann grüßte er einen weiteren Mann, der ihm entgegenkam.
Weiter hinten stand eine Scheune mit Kühen und Schweinen. Die beiden marschierten auf sie zu wie alte Kriegsveteranen: In ihrem Gang derselbe Stolz, dieselbe Kühnheit, die sie wohl einst als Jünglinge besessen hatten, doch ihre Knochen schwächelten – dünn und gebrechlich unter dem Gewicht ihres restlichen Körpers.
Mein Blick glitt weiter über die Häuser, an die Menschen vorbei, die sie bewohnten und ihren üblichen Tätigkeiten nachgingen – als hätten sie keine Ahnung von dem Horror, der sich nicht weit von hier abgespielt hatte. Meine Augen stoppten, als sie auf das größte Gebäude trafen.
Ein Gasthaus.
Es war nichts Besonderes, die Wände bestanden aus einfachem Stein, an dem Sträucher entlang wuchsen wie Moos auf dem Stamm eines Baumes. Hier und dort befanden sich einige Fenster, schwarzes Glas, durch das ich nicht hinein und vermutlich auch niemand hinaus schauen konnte. Vor der Eingangstür standen zwei Pferde, die man an einem Holzbalken angebunden hatte.
Zuerst wollte ich meines auch bei ihnen lassen, doch dann entschied ich mich, es stattdessen hinter das Gebäude zu bringen. Anschließend nahm ich etwas Geld aus den Satteltaschen und begab mich hinein.
Der Geruch von gebrautem Bier schoss mir entgegen, begleitet von den Stimmen mehrerer Menschen. Hinter der Theke stand ein dicker Mann mit einem Krug in der einen und einem schmutzigen Tuch in der anderen Hand. Er spuckte hinein, wischte ihn anschließend aus.
Höchstwahrscheinlich war er der Wirt.
Sein verschwitztes Gesicht drehte sich zu mir. Argwöhnisch kniff er die Augen zusammen, mit denen er jeden Schritt verfolgte, den ich bis zu ihm trat.
»Ich hätte gerne eine warme Mahlzeit und etwas Wasser, mein Herr«, begann ich vorsichtig.
Die rechte Hälfte seiner Lippe pellte sich nach oben, als würde er mich anknurren.
»Hast du Geld? He?«
»Sicher, mein Herr.«
Ich zeigte ihm einen Kupferschilling.
»Eine warme Mahlzeit und Wasser kostet mehr als das da.«
»Ich habe mehr.«
Erneut kniff er die Augen zusammen. Betrachtete mich wie einen Dieb – wie ein Kind, das um Essen bettelte, während seine Freunde im Hintergrund lauerten, um ihn das Geld aus der Tasche zu stehlen.
»Drei. Drei Kupferschillinge. Wenn du nicht bezahlen kannst, verschwinde.«
Ich war mir ziemlich sicher, dass er mir einen überteuerten Preis nannte, nur um mich loszuwerden. Wäre ich etwas älter gewesen, hätte ich vielleicht den Mut gehabt, ihn damit zu konfrontieren. Aber ich war weder älter noch mutig.
Ich war ein Feigling und würde es immer sein, also legte ich zwei weitere Kupferschillinge auf den Tresen und hoffte, dass das Essen schmeckte und tatsächlich warm war.
Seine Enttäuschung entging mir nicht, als er das Geld vor sich betrachtete. Er neigte den Kopf zu mir, sah mich an, als hätte ich mich in eine Ratte verwandelt.
»Wo hast du das geklaut, he?«
»Was interessiert es Euch, solange Ihr bezahlt werdet?«
Mein Herz pochte und ich bereute die Worte, sobald sie meinen Mund verlassen hatten.
»Es interessiert mich, weil meine Beine in der Luft baumeln, wenn ich es annehme und der Falsche davon erfährt. Verschwinde, Bursche.«
Ohne die Münzen zu nehmen, drehte er sich zur Wand um, stellte den Bierkrug auf einem Regal ab.
»Bitte«, flehte ich, »ich habe Hunger.«
»Scher dich weg!«
In einer Geschwindigkeit, die ich nicht von einem Mann seiner Statur erwartet hatte, schwang der Wirt seinen Körper zurück zu mir, beide Arme auf den Tresen gestützt und die Zähne gefletscht wie ein Wolf.
»Wenn du Mitleid willst, such dir einen anderen Narren. Und nimm dein Geld mit, ich will es hier nicht haben.«
Ich nahm die Schillinge und sah zu, dass ich verschwand. Doch noch bevor ich die Tür erreichte, öffnete sie sich plötzlich und ein Mann kam mir entgegen, dünn wie ein Stock und dennoch größer als die Balken, welche die Decke des Gasthauses stützten. Er musste sich ducken, um zu verhindern, dass sein Kopf gegen den Türrahmen krachte. Unter seinem Arm hatte er einen Helm geklemmt, in demselben Pechschwarz wie der Rest seiner Rüstung.
Die Farbe verlieh ihm den Hautton einer Leiche: erst seit Kurzem gestorben, aber bereits im ersten Stadium der Verwesung.
Graugrüne Augen starrten mich an, schmale Lippen zu einer strengen Linie gezogen. Nur für den Bruchteil einer Sekunde schenkte er mir Beachtung. Dann drängte er mich zur Seite und schritt voran zum Tresen, wo der Wirt mit zittrigen Knochen stand.
Als er an mir vorbeiging, bemerkte ich seine spitze Nase. Sein kurzes Haar, kaum einen Farbton heller als seine Rüstung, ließ sein Gesicht nur noch blasser wirken. Sechs weitere Soldaten – vielleicht sogar Ritter, allesamt gekleidet in demselben pechschwarzen Stahl – folgten ihm.
Obwohl sich der Lehrstoff meines Unterrichts in den vergangenen Monaten hauptsächlich auf Magie konzentriert hatte, hatte ich nicht die Dinge vergessen, die mich mein Schulleiter über die verschiedenen Adelsfamilien dieses Landes gelehrt hatte. Daher wusste ich, diese Männer gehörten dem Hause von Cornwall an. Erkannte es an der Rüstung. An den Worten, die nur in dem Stahl eingearbeitet waren, den der blasse Mann trug: Als Raben fliegen wir. Als Helden sterben wir. Das Wappentier verzierte jedoch die Brustharnische von ihnen allen.
Der Rabe.
So wie der Fennek das der le Fays und der Phönix das meiner Schule war.
Ich vermutete immer, dass Raznar – Pathosths Phönix – den Grund dafür darstellte – nicht nur für das Wappen, sondern auch für die Worte, die darunter standen.
»Professor, wo ist Raznar?«
Es war nicht ungewöhnlich, dass der Phönix meines Schulleiters nicht ständig bei ihm war, denn es gab Tage, da sandte er ihn aus, um Botschaften zu überbringen.
Raznar war ein intelligentes Tier, voller Stolz und Treue, und es dauerte nie länger als vier Wochen, bis er zurückkehrte, meistens nicht einmal mehr als eine. Nur war es dieses Mal anders. Ich wusste es, als sich dieser kuriose Blick in Pathosths Miene legte. Derselbe, den er mir seit kurzem ständig zuwarf: eine Mischung aus Kummer, Leid und Stolz. Wann immer er mich so ansah, fühlte ich mich wie ein verängstigtes Kind, einsam und unsicher.
»Habt Ihr ihn wieder ausgesandt?«
Ein Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen, aber es war kein normales. Früher hatte er anders gelächelt. Jetzt wirkte es, als ob stets ein dunkler Hintergedanke Schatten über seine Miene legte.
»Das habe ich in der Tat«, antwortete er, »aber ich fürchte, dieses Mal wird er nicht zurückkehren.«
Der Wirt zuckte zusammen, als der mit dem Hautton einer Leiche seinen Helm auf den Tresen knallte.
»Ist dir vor Kurzem ein Mädchen über den Weg gelaufen?«
Seine Stimme war kalt wie Eis.
Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen. Der Wirt nickte heftig, sein ganzer Körper rüttelte mit der Bewegung.
»Wie sah sie aus?«
»Sie – eh – sie war recht jung und – und dreckige Klamotten und – und –«
Der blasse Mann wurde ungeduldig.
»Schwarzes Haar?«, zischte er.
Der Wirt nickte erneut.
»Trug sie ein Kleid?«
Wieder ein Nicken.
»Ist sie noch hier?«
Jetzt schüttelte er den Kopf. All seine Muskeln zitterten aus Angst vor der Reaktion seines bereits ungeduldigen Gegenübers.
»Nein – eh – nein, mein Herr. Kam her und wollte Essen kaufen mit – mit gestohlenem Geld. Hab ihr gesagt, sie soll sich wegscheren und dann kommt der Bursche daher.«
Ein wulstiger Finger deutete auf mich.
Ich erstarrte.
Innerhalb einer Sekunde drehten sie sich alle zu mir, aber einzig und allein der Blick des blassen Mannes jagten mir einen Schauer den Rücken hinunter. Ich sah zu, dass ich verschwand.
»Steckt bestimmt mit ihr unter einer Decke, der Bursche«, hörte ich die Stimme des Wirtes, bevor die Tür zu flog und ich um die Ecke sprintete.
Noch folgte mir keiner, aber ich war mir nicht sicher, ob es dabei bleiben würde.
Also rannte ich hinter das Gebäude. Wollte schleunigst auf mein Pferd steigen und abhauen, da erstarrte ich erneut.
Neben meinem Tier stand ein weiteres. Plötzlich packte mich eine Hand. Umklammerte meinen Arm, riss mich zu jener Person, der sie gehörte. Mein Mund stand vor Erstaunen offen, als ich sie sah.
Ich wusste nicht einmal, welche Gefühle es waren, die mich durchfuhren Wusste nur, dass mir die Kinnlade nach unten gefallen war, als ich in die grünen Augen starrte.
»Du hast es geschafft!«, verkündete sie.
Ihr Haar war völlig zerzaust, aber in ihren Augen entdeckte ich ein heimliches Funkeln.
Wie eine Sternschnuppe am Nachthimmel.
An ihren Lidern erkannte ich, dass sie die vergangenen Nächte hauptsächlich mit Weinen verbracht hatte. Sie waren ebenso angeschwollen wie meine.
Trotzdem hatten sie keinerlei Einfluss auf ihre Erscheinung. Machten sie nicht weniger hübsch. Morgana war nicht das erste Mädchen, das ich sah, in meiner Schule lebten ebenso viele wie Jungen – oder hatten gelebt. Aber sie … sie war anders. Die Art, wie ihre grünen Augen funkelten, wie sich ihre Lippen bewegten, während sie sprach.
Ich schüttelte den Kopf – versuchte, mich damit aus meinen Gedanken zu holen. Genug, genug, genug.
»Du hast es tatsächlich geschafft!«
Sie lachte erstaunt.
»Ich hab dich ins Gasthaus gehen sehen, wollte dir aber nicht hinterherlaufen. Der Wirt ist ein ziemlich misstrauischer Kerl. Unhöflich noch dazu! Wäre ich nur ein bisschen größer, hätte ich ihn an seinen Ohren gepackt und
ihn über seinen dämlichen Tresen gezogen wie ein –«
Sie stoppte, legte die Stirn in Falten.
»Was ist los? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
»Wir müssen gehen«, sagte ich, »in dem Gasthaus sind Leute, die nach Euch suchen.«
Morgana schüttelte ihren Kopf, sichtlich verwirrt, als ihr Blick plötzlich an mir vorbeiglitt und die Panik ihre Miene flutete.
»Da ist sie ja.«
Ich schluckte heftig. Die Stimme klang tief. Ich drehte mich um, spürte den Herzschlag bis hinauf in meinem Kopf. Wie Trommelschläge. Zwei Männer in schwarzer Rüstung standen vor uns.
»Greif dir den Jungen, ich schnapp mir das Mädchen.«
Kaum hatte der Erste die Worte ausgesprochen, packte mich der zweite an meinem Hemd. Als ich versuchte, mich zu wehren, griff er so fest zu, dass ich vor Schmerz aufschrie.
»Was wollt Ihr?«, verlangte Morgana, als wäre sie einen Kopf größer als der größte von den beiden.
Der Soldat gab keine Antwort. Er ging auf sie zu, seine Miene kalt, leer. Sie trat zurück.
Gerade als er nach ihr greifen wollte, ertönte eine weitere Stimme. Im Gegensatz zu den anderen war sie sogar noch tiefer – rau und hart wie die alten Seiten eines Buches.
»Ihr habt hier nichts verloren.«
Allesamt rissen wir unsere Köpfe in die Richtung, aus der sie gekommen war, nur um einen alten Mann in silberner Rüstung vorzufinden.
»Lasst die Kinder los.«
Nur wenige millimeterkurze Haare im selben Grauton wie die Bartstoppel um seinen Mund bedeckten seinen Schädel. Jede Menge Falten zierten sein Gesicht.
Blaue Augen, zu Schlitzen zusammengekniffen, musterten die Soldaten.
Der, der eben noch Morgana hatte packen wollen, stieß heftig Luft aus. Es hörte sich an wie ein verspottendes Lachen.
»Ihr tragt die Rüstung des Feindes. So wie ich das sehe, habt Ihr hier nichts verloren, Sir. Jetzt geht oder ich schicke Euch in das Grab, das bereits seit zehn Jahren auf Euch wartet!«
Der alte Mann zog sein Schwert aus der Scheide. Beide Soldaten taten es ihm gleich. Die Hand, die mich gepackt hatte, ließ mich los, warf mich gegen die Wand.
»Wir sind zu zweit und Ihr eine in die Jahre gekommene Seele. Denkt nicht, wir würden Rücksicht auf Eure Gebrechlichkeit nehmen!«
Gleichzeitig traten sie auf ihn zu, Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug, ihre Schwerter durstig nach Blut, hungrig auf Fleisch. Der Alte hingegen blieb stehen.
Ich beobachtete, wie er sein rechtes Bein nach vorne platzierte. Wie er sich auf seine Gegner konzentrierte, die plötzlich ihre Klingen schwangen. Er blockierte ihre Schläge und das Klirren von Stahl dröhnte wie der Glockenschlag einer Kirche.
Irgendwie waren die Männer in ihren schwarzen Rüstungen langsamer. Ehe ich realisierte, was geschehen war, sank der erste stöhnend auf den Boden, die Hände um jene Stelle seines Körpers gepresst, an der sein Harnisch endete und ihn nicht mehr schützte.
Vor nur zwei Tagen war ich dem Tod kaum entkommen. Jetzt begegnete ich ihm erneut.
Erstarrte bei dem Anblick. Erschrak, wie schnell seine Haut ihren Farbton verlor. Schweißperlen tropften von seiner Stirn. Und dann verschwanden seine Pupillen nach oben in den Kopf.
Da stellte ich fest, wie sehr ich es verabscheute.
Und fürchtete.
Im nächsten Moment kniete der zweite vor dem alten Mann.
»Dafür werdet Ihr mit Eurem Leben bezahlen«, spuckte er die Worte wie Gift aus.
Der Alte schwang sein Schwert, schlitze ihm mit nur einem Hieb die Kehle auf. Blut goss in Strömen aus seinem Hals. Doch am schlimmsten waren die Geräusche. Als hätte er Wasser im Mund und würde damit gurgeln.
Er erstickte.
Langsam.
Der alte Mann wischte das Rot von seiner Klinge, bevor er sie zurück in die Scheide steckte.
Er kam auf uns zu. Morgana warf sich vor mich, hielt ihre Arme schützend nach hinten.
»Was wollt Ihr?«
Das war der Moment, in dem ich merkte, dass sie deutlich taffer war als ich.
»Euch helfen.«
Seine Stimme war ruhiger als zuvor. »Euch beiden.«
»Wer seid ihr?«, fragte Morgana.
»Mein Name ist Ector.«
»Ihr seid Ritter …«
»Ja –«
»Welchem Herrn folgt ihr?«
Die Worte kamen schneller aus meinem Mund, als ich sie aufhalten konnte.
Ector lehnte den Kopf leicht nach hinten, kniff die Augen zusammen, als würde er abwägen, welche Antwort er mir geben sollte.
»Ich wurde von Uther Pendragon zum Ritter geschlagen.«
Ich kannte dieses Haus. Kannte auch den Namen, konnte allerdings kein Gesicht mit ihm in Verbindung bringen.
»Uther Pendragon ist tot«, meinte ich streng.
»Ja. Ich folge seinem Sohn: Arthur.« Auch dieser Namen war mir nicht fremd.
Arthur Pendragon, Sohn von Uther und Igraine Pendragon.