Morgenlicht über Vietnam - Olaf Müller-Teut - E-Book

Morgenlicht über Vietnam E-Book

Olaf Müller-Teut

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Beschreibung

Olaf Müller-Teut erzählt in seinem neuen Buch die spannende und an Höhepunkten reiche Geschichte einer Familie über fünf Jahrzehnte - in friedlichen und stürmischen Zeiten, Zeiten des Umbruchs und Neubeginns, zwischen Saigon und Hamburg, Hanoi und Berlin. Dabei entsteht vor den Augen des Lesers ein facettenreiches Bild verschiedenartiger Kulturen und eines rastlosen Lebens zwischen zwei Welten. "Der Autor, der beruflich viele Jahre in Asien und Afrika unterwegs war, stellt eine chinesisch-vietnamesische Familie aus Saigon in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Mittelpunkt. Dabei vermittelt er auch viel Interessantes und Wissenswertes über das Land und seine Menschen, denen er offensichtlich viel Sympathie entgegenbringt." Deutsch-Vietnamesische Gesellschaft, Berlin (Website)

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Seitenzahl: 224

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Dieses Buch ist den Menschen Vietnams gewidmet, die immer wieder zu unbeschreiblichen Opfern bereit waren.

Alles hätte so geschehen können, der geschichtliche Rahmen beruht überwiegend auf tatsächlichen Ereignissen und Teile der Handlung auf persönlichen Erfahrungen. Allerdings sind alle handelnden Personen frei erfunden und eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden Personen rein zufällig.

Die wichtigsten Personen der Handlung

Le Van LucBesitzer eines Restaurants in Hamburg

Le Viet Hungsein Bruder in Cho Lon

ihr Vater Long, von den Söhnen Ba genannt

ihre Mutter, von den Söhnen Ma genannt

Nguyen Thi AnhFrau von Luc, aus Hanoi

Le Thai Lanihre Tochter

Pham Dong NamFreund von Luc, Journalist

Pham Lieu Lesein Vater, Pharmazeut

auch genannt Duoc Le

Pham Minh SenSchwester von Nam und Frau von Pierre

Pierre Gautierbelgischer Kaufmann

Thi Linhihre Tochter

PhucOnkel von Luc, lebt bei Saigon, Bruder des Vaters

ThamOnkel von Luc, lebt in Hôi An, Bruder des Vaters

Truongältester Sohn von Tham, lebt in Hôi An

Nguyen Van HaVater von Anh, lebt in Hanoi

Nguyen Thai Phuong     Mutter von Anh, lebt ebenfalls in Hanoi

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Zum Autor

Zu diesem Buch

1

Erwartungsvoll blickten Hunderte von Augenpaaren auf die linke Seite des Saals. Alle fieberten dem Drachentanz entgegen. Trommelwirbel ertönte, endlich öffnete sich die Tür, der mystische Drache reckte seinen Kopf in den Raum, wand sich zur Seite, beugte sich auf und tanzte in großem Bogen in die Mitte des Saals. Immer wilder, immer ausgelassener wurde der Tanz, lebendige, uralte asiatische Tradition.

Das Jahr des Schweins begann, ein Glück verheißendes Jahr. Kurz nach Mitternacht hatte Thich Nhu Dien, der Abt, seinen Segen erteilt. Aufgeregte Vietnamesen befestigten kleine Geldnoten an langen Stangen, der Drache sollte sie fangen, dann wäre ihnen Erfolg sicher, zwölf Monate lang. Die große Buddhastatue blickte mit gelassenem Ausdruck auf die ruhelose Menge.

Es war eine kalte Nacht, Ende Januar 1995 in Hannover. Luc suchte seinen Bruder. Es herrschte so ein Gedränge in der Gebetshalle, dass er ihn für Minuten aus den Augen verloren hatte. Dann endlich erblickte er ihn und konnte seine Hände drücken, ihm ein gutes neues Jahr wünschen.

Fast zwanzig Jahre waren vergangen, seit sie zuletzt gemeinsam TET in Saigon gefeiert hatten. Damals lebte noch ihr Vater, damals hofften sie noch auf eine gute Zukunft für die Familie. Damals träumten sie noch. Die vergangenen Jahre aber hatten sie verändert, nicht nur äußerlich. Doch nun wuchs die Freude von Minute zu Minute über das Wiedersehen.

Vor sechs Stunden hatten sie immer wieder versucht, ihre Mutter zu erreichen, doch die Leitungen nach Saigon, nach Ho Chi Minh City wie sie jetzt hieß, waren überlastet. Endlich aber hatte es geklappt.

“Ma”, brüllte Hung in die Leitung, “Ma …”

“Du kannst ruhig leiser sprechen, die Telefonverbindung ist gut.”

In Hannover war es noch früher Abend, in Saigon aber bereits Mitternacht.

Der Mutter hatten sie schließlich ein glückliches neues Jahr gewünscht. Das Jahr des Schweins löste das Jahr des Hundes ab, das war doch ein gutes Zeichen für eine sorgenfreie Zeit.

Luc kam kaum zu Wort, sein Bruder hatte so viel zu erzählen: Es war sein erster Flug gewesen, Hannover für ihn eine fremde, geordnete Welt, die fast seinen klischeehaften Vorstellungen von Deutschland entsprach. Und dann das Wiedersehen mit Luc, den er nach zwanzig Jahren kaum erkannte.

Sie hatten sich am Flughafen heftig umarmt. So viele Jahre waren verflossen, so viele Ereignisse, die tiefe Spuren hinterlassen hatten. Und nun die Freude, sich endlich wiederzusehen. Als Luc aus Saigon flüchtete, war er erst 35 Jahre alt gewesen, sein Bruder zwei Jahre jünger.

“Und Ma, wir schlafen zwei Nächte in einem Hotel in Hannover, erst dann fährt mich Luc zu seiner Familie nach Hamburg. So haben wir viele Stunden nur für uns und unsere Erinnerungen. Und wusstest du, dass Luc jetzt einen feinen Schnurrbart trägt? Auf seiner Wange wachsen noch immer die fünf langen Warzenhaare, die ihm Glück bringen sollen. Dicker ist er geworden, aber er ist noch immer muskulös, ich muss zu ihm aufsehen, fast noch mehr als früher. Irgendwie hatte ich ihn nicht ganz so groß in Erinnerung, er dürfte über 1,70 m sein. Natürlich sind wir alle älter geworden, aber Luc hat noch immer lange schwarze Haare ohne einen Hauch von Grau.”

2

Tet Nguyen Dan, das TET-Fest, das Neujahrsfest, war schon immer das größte Ereignis des Jahres gewesen. Solange der Vater, der ehrwürdige Long, noch lebte, versammelte sich jedes Jahr die ganze Familie. Es wurde gegessen, getrunken und gelacht. Als dann die Mutter alleine war, ging Hung ihr zur Hand. Er säuberte den schlichten Ahnenaltar, brachte dem Vater seine Lieblingsblumen an den Hausaltar, frisches Wasser, Obst und Betelnüsse.

Das wären eigentlich die Pflichten von Luc gewesen, dem älteren der Brüder, aber der war ja im fernen Deutschland. So war es selbstverständlich für Hung, diese Aufgaben zu übernehmen. Respekt und Gehorsam, damit war er aufgewachsen. Er half seiner Mutter, die Möbel zur Seite zu schieben, den Boden, ja die ganze Wohnung zu putzen – und natürlich besonders den Herd in der Küche. Es war wichtig für die Familie, dass Ong Tao, der Küchen- und Herdgott, einen guten Eindruck gewann.

Ong Tao ritt am 23. Tag des letzten Monats des alten Jahres auf einem Karpfen in den Himmel, um dem Jadekaiser, Ngoc Hoang, über die Familie zu berichten. Ngoc Hoang war der Herrscher über die Natur, die in vielen Göttern und Geistern inkarniert wurde. Das alte taoistische Ritual war für sie alle so selbstverständlich, dass niemand darüber nachdachte, eine Tradition, die lebte, auch in ihrer modernen Welt.

Für Luc gehörten die TET-Festtage in Saigon zu den schönsten Erinnerungen. Die Familie feierte gemeinsam, die Stimmung war ausgelassen, die Männer tranken, bis ihre Gesichter immer röter wurden. Das Wichtigste aber war das reichhaltige Essen, mehr und besser als an allen anderen Tagen des Jahres. Viele Stunden der Gemeinsamkeit, mit immer wieder neuen Leckereien, mit Banh Day, Kuchen aus fettem Schweinefleisch, mit Bohnenpaste und Reis, in grüne Dong-Blätter eingepackt, und natürlich vielen süßen Knabbereien: Ingwer in Zucker eingelegt, Kuchen aus Klebreis, Wassermelonen, Lotoskerne, die geröstet so lecker waren, und vieles mehr.

Die Mutter schmückte die Wohnung mit Blumen, mit blühenden Aprikosenzweigen, sogar einen teuren Kumquat Baum mit kleinen gelben Früchten hatte sie in der Nguyen Hue Straße gekauft.

Durch das Wiedersehen mit Hung wurden für Luc immer neue Erinnerungen wach. “Hängt während der TET-Tage noch immer das alte Lackbild mit dem Phönix, der Friede in das Haus bringen soll?” Hung nickte und schmunzelte.

“Es ist nicht immer leicht, die alten Traditionen zu bewahren, aber wir versuchen es.”

Und dann erinnerte sich Luc an das andere TET-Bild an der schlichten weißen Wand, das Bild mit der Kröte und dem Wels. Jedes Jahr während der Feiertage erzählte die Mutter die alte Anekdote von den Kindern der Kröte.

Aus den Eiern wurden Kaulquappen, die der Wels als seine eigenen Kinder ansah und sie deshalb in sein Haus brachte. Die Kröte aber war entsetzt, hilflos lief sie zum Richter, dem weisen Karpfen, und verklagte den Wels.

Der Richter aber fällte ein kluges Urteil, beide sollten Geduld haben, die Kinder müssten zunächst im Wasser bleiben und dann, nach wenigen Wochen, würde sich ihr Schicksal ergeben. So war es. Aus den Kaulquappen wurden kleine Kröten, die Kröte behielt Recht, der Wels musste sich in die Tiefen des Wassers verkriechen.

Der Vater bemerkte dazu: “Das zeigt euch, dass man im Leben bedachtsam bleiben muss und keine übereilten Entscheidungen fällen darf.” Das war eine nachhaltige Lehre für seine Söhne. Immer wieder erzählte die Mutter alte Anekdoten und Geschichten, und der Vater zog daraus seine erzieherischen Schlussfolgerungen. Er war streng, aber gerecht, und die Söhne respektierten ihn. Noch heute vermisste Luc seine Aura, die Gehorsam forderte. Luc und Hung nannten ihn liebevoll Ba, für seine Freunde und Bekannten war er Ong, ganz respektvoll.

Der Vater war klein gewesen, ein wenig füllig, sein Haar lichtete sich von Jahr zu Jahr. Er war angesehen in der chinesischen Gemeinde von Cho Lon, der großen, sprudelnden Schwesterstadt von Saigon.

Luc hatte so viele angenehme Erinnerungen an das TET-Fest, nicht nur an das üppige Essen und die aufwändig geschmückte Wohnung, sondern auch an die feierliche Atmosphäre. Der Vater, Hung und er erhielten neue Hemden, die Mutter ein elegantes Ao Dai aus Seide. Es waren lebendige Erinnerungen an eine sorgenfreie Jugend. Um Mitternacht, wenn Ong Tao von seiner Reise zum Jadekaiser zurückkam, begann die eigentliche Feier. Er wurde mit Lärm, mit Feuerwerk begrüßt.

Dann waren da auch noch andere Erinnerungen. Die Söhne wurden gehalten, besonders höflich zu sein, keine lauten Worte, kein Streit. Das brächte Unheil über das Haus. Für Luc war das nicht immer leicht, die Eltern erwarteten eine noch größere Disziplin als sonst.

“Erinnerst du dich noch, Hung, als die Großeltern noch lebten, mussten wir immer ganz still sitzen, während sie ihre alten, ach so eintönigen Balladen sangen, die nie zu enden schienen und die uns so sehr langweilten.”

Die vielen nostalgischen Erinnerungen waren fast immer angenehm und durch die große Distanz leicht verklärt.

Luc dachte immer wieder an seine Mutter, die dieses Jahr alleine ohne Hung feiern musste.

“Mach dir keine Sorgen, Luc, die Mutter feiert fröhlich mit ihren Freundinnen und mit Nachbarinnen und genießt die vielen Neujahrsleckereien. Natürlich wird sie auch an uns denken, aber ihre Bekannten werden sie ablenken. Du wirst dich sicherlich noch erinnern, wie sehr sie alle den Tratsch lieben. Unsere Mutter wäre gerne mit mir gekommen, doch hat der Arzt von der Reise abgeraten.

Ich vermute, sie wird allen Freundinnen die Bilder zeigen, die du vor kurzem gesandt hast. Als sie die Fotos zum ersten Mal sah, war sie überrascht, dass du dicker und reifer aussiehst, als in ihren Erinnerungen. Es sind ja so viele Jahre vergangen, seit sie dich zuletzt sah.”

Hung schwieg für Minuten und ergänzte dann: “Ich glaube, ihre Erinnerungen waren vage, fast schemenhaft. Damals, als du flüchten musstest, waren wir noch so jung. Du hattest immer wieder neue Ideen, du warst so neugierig und strotztest vor Energie. Als du uns schriebst, dass du eine Frau aus Hanoi geheiratet hast, bemerkte die Mutter nur: ‘Ich kenne ihre Familie doch gar nicht.’ Sie denkt eben noch in alten Schablonen. Aber über die Fotos von deiner Tochter hat sie sich sehr gefreut: ‘Die Kleine lächelt so lieblich.’ Das hat sie sehr versöhnt. Natürlich hofft sie, dass du nächstes Jahr mit deiner ganzen Familie zum TET- Fest nach Saigon kommst. Ich hoffe das auch.”

Luc hatte seinen Bruder vom Flughafen in Hannover abgeholt. Nach der kurzen Fahrt ruhte sich Hung im Hotel aus, eine schlaflose Nacht im Flugzeug und der abrupte Klimawechsel belasteten ihn mehr, als er zugeben wollte. Am nächsten Morgen war das Wetter trüb, aber trocken. Hung wollte vor der TET-Feier etwas spazieren gehen, um sich besser zu akklimatisieren. So schlenderten sie gemächlich durch die “Herrenhäuser Gärten”, die in dieser Jahreszeit farblos und verlassen wirkten.

Aber sie hatten sich so vieles zu erzählen, so vieles, das in Telefongesprächen und Briefen nur angedeutet werden konnte. Nur in den ersten Momenten waren sie sich fremd gewesen, bald aber war die Zurückhaltung der alten Wärme gewichen. Sie liefen durch den “Großen Garten”, blickten von der Aussichtsterrasse auf die strenge, symmetrische Anlage, bummelten durch den “Berggarten”. Die kühle winterliche Luft belebte Hung, seine alte Energie kehrte zurück, und als Luc vorschlug, im nahen beheizten Café weiter zu plaudern, wollte Hung noch eine Weile durch den “Georgengarten” laufen.

3

Ihr Hotel lag nicht weit von der Vien Giac Pagode entfernt, dort würden sie TET feiern, dort würden sie an der buddhistischen Reuezeremonie teilnehmen, um alles Negative des alten Jahres zu bereinigen und das neue Jahr rein und frisch zu begrüßen.

Als sie kurz vor acht Uhr abends das Kloster betraten, war der große Gebetsraum bereits gefüllt. Vor der Maitreya Buddhastatue, dem zukünftigen Buddha, verteilten Laien in grauen Gewändern, die an Ao Dais erinnerten, braune, quadratische Matten und kleine Kissen. In den vorderen Reihen standen vor den Matten Ständer für die Gebetsbücher. Novizen, die noch nicht lange im Kloster wohnten, hatten nur teilgeschorene Köpfe, mit einem langen schwarzen Haarschopf, während die Mönche als Zeichen der Demut kahl rasiert waren.

Hung war überrascht.

“Das ist ja eine eindrucksvolle Anlage, so etwas habe ich in Deutschland nicht erwartet. Und hier scheinen wirklich viele Vietnamesen zu leben.”

Die Mönche trugen gelbe Kutten. Einer von ihnen schlug pünktlich um acht Uhr mehrfach auf die große Glocke. Die Reuezeremonie begann.

Luc und Hung knieten nebeneinander auf ihren Matten, sie verbeugten sich vor dem Buddha, standen auf, knieten erneut und rezitierten einen Teil der Texte, die die Mönche vorgaben. Gemeinsam mit dem Abt standen und knieten die Mönche direkt vor der Statue.

In der Gebetshalle herrschte eine erhabene Atmosphäre, hier in der Stille konnten sie neue Kräfte schöpfen. Luc und Hung fühlten, dass sie diese Zeremonie noch enger miteinander verband. Geistig gestärkt gingen sie in das untere Geschoß des Klosters, in die Mehrzweckhalle, um zusammen mit Hunderten von vietnamesischen Familien an den kleinen Imbissständen warme vegetarische Gerichte und alkoholfreie Getränke zu kaufen.

Die Sitze auf den Holzbänken waren schnell besetzt, sie hatten Glück, freie Plätze zu bekommen. Es war laut und eng, Kinder tobten durch den Saal, spielten miteinander, schossen Bälle. Man traf Freunde und Bekannte, die man lange nicht mehr gesehen hatte, es kam zu lebhaften, gestenreichen Unterhaltungen. Während des TET Festes wurde das Kloster zu einem Zentrum der Begegnung, nicht nur von Vietnamesen aus Hannover, sondern aus vielen Teilen Deutschlands.

Vor der Bühne standen hohe Lautsprecher, aus denen laute vietnamesische Musik ertönte. Die Besucher waren leger gekleidet, viele trugen Jeans und Pullover, nur ganz vereinzelt Jacken und Krawatten, das entsprach der unkomplizierten, fast chaotischen Atmosphäre. Luc war schon im Vorjahr beim TET-Fest in Hannover gewesen, so hatten sie kein Problem sich anzupassen. Aber welch ein Unterschied zu der feierlichen Stimmung im Gebetsraum!

4

Nguyen Thi Anh hatte Verständnis für den Wunsch der Brüder, zunächst alleine zu sein und erst nach zwei Tagen die Familie in Hamburg zu treffen.

Anh sah deutlich jünger aus als vierzig. Sie trug ihr schwarzes Haar glatt und lang und liebte Hosenanzüge mit farbenfrohen Blusen. Sie hatte besonders hohe Backenknochen und ausgeprägte Mandelaugen. Ihre Sprache verriet ihre nord-vietnamesische Herkunft.

Als Luc seine Frau vorstellte und ihre kleine Tochter, die sie Lan, Orchidee, nannten, hatte Hung gleich den Eindruck, dass er willkommen sei. Sie war nicht so verschlossen, so konservativ, wie er befürchtet hatte. Sie kam ja aus Hanoi und dort seien die Menschen viel reservierter, so sagte man in Saigon.

“Hung, du bist unser erster Besucher im neuen Jahr, das freut uns alle, so können wir ein glückliches Jahr erwarten.”

Hung war überrascht von dem sauberen, ruhigen Apartment in einer Nebenstraße der Hoheluftchaussee in Hamburg. Er hatte eine kleinere und einfachere Wohnung erwartet. Helle Möbel aus Fichtenholz schufen eine freundliche Atmosphäre. Auf dem Flur, direkt gegenüber der Eingangstür, stand ein Aquarium mit einem Schwarm kleiner roter Neonfische, die im Lampenlicht leuchteten.

Und Anh hatte alle Räume mit Forsythien zum neuen Jahr geschmückt.

“Die hat meine Freundin Mee aus Holland importiert, hier kann man noch keine Forsythien kaufen, es ist noch zu früh im Jahr. Aber Forsythien zum neuen Jahr bringen nicht nur Farbe in unser Haus, sondern auch Glück.”

Anh erinnerte sich ihrer Jugend in Hanoi. Im Januar und Februar, zur Zeit des TET-Festes, war es meistens trüb und grau, dunstige Tage mit Nieselregen. Wie schön war dann das Blumenmeer der Verkaufsstände, lange Straßen der Farbenpracht, die rosafarbenen Pfirsichblüten, die gelben Früchte der Kumquat Bäumchen, dieser Blütenduft, diese Hoffnung auf den Frühling. Dazu die vielen Menschen, die sich durch die Altstadt schoben, um Blumen und Räucherstäbchen für das Fest zu kaufen. Anh wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Gesicht. Niemand hatte das bemerkt.

Im Wohnzimmer hing ein großes rotes Band mit goldener Schrift, mit Segenssprüchen für das neue Jahr.

“Bei uns in Hanoi liebt man Pfirsichblüten, aber die konnte ich hier nicht auftreiben. Dafür freuen wir uns über den kleinen Kumquat Baum mit den orangegelben Glücksfrüchten.”

Hung schlief bequem im Wohnzimmer. Gleich nach dem Frühstück fuhr Luc seinen Bruder in das kleine chinesisch- vietnamesische Restaurant, mehr ein Imbiss mit Sitzgelegenheiten, das er zusammen mit einem chinesischen Freund vor drei Jahren eröffnet hatte.

Anh hatte sich Mühe gegeben, Hung ein vietnamesisches Frühstück zu servieren, obwohl Anh und Luc sich inzwischen an Brötchen und Toast gewöhnt hatten. So aßen sie Pho Bo, eine Suppe mit weißen Reisnudeln und Rindfleisch, die auch Luc gut schmeckte.

Luc hatte schon in Saigon gerne gekocht und noch lieber gegessen. In Hamburg arbeitete er viele Jahre als Kellner und später als Koch in dem chinesischen Restaurant, das Hai gehörte, seinem “Onkel”, einem entfernten Verwandten aus Vietnam; Jahre, in denen er bescheiden lebte und Geld sparte, Geld für seine Familie in Saigon und für das eigene Restaurant, von dem er träumte.

Lee, seinen Partner, hatte er zufällig kennengelernt. Er kam ursprünglich aus Hong Kong und lebte schon viele Jahre in Hamburg. Anh aß gelegentlich mittags in seinem Imbiss eine Nudelsuppe. Eines Tages erzählte Lee beiläufig, dass er den Imbiss gerne zu einem kleinen Restaurant erweitern wolle. Leider aber reichten dafür seine Ersparnisse nicht und so suche er einen kompetenten Partner. Noch am selben Abend erzählte sie Luc davon, sie diskutierten und rechneten fast die ganze Nacht.

So kam es, dass Luc am nächsten Tag Lee direkt ansprach.

“Ich arbeite seit Jahren als Koch bei Hai und spare Monat für Monat, um möglichst bald ein eigenes Restaurant zu eröffnen.”

Sie redeten in Kantonesisch, Lee beherrschte zwar Englisch, aber nur wenige Sätze Deutsch. Sie waren sich sofort sympathisch und besprachen noch am selben Tag alle Details. Sie einigten sich schnell, und Luc hatte diesen Entschluss nie bereut.

Luc sprach fließend Deutsch und hatte sich nach der Flucht rasch in die ungewohnte Umgebung integriert. Er war noch heute dankbar, dass er so freundlich aufgenommen wurde: Das Rote Kreuz half, er wurde psychologisch beraten, um das Trauma der Flucht zu überwinden, kostenlose Sprachkurse wurden vermittelt und erste finanzielle Starthilfen gewährt. Er konnte sofort bei seinem Onkel arbeiten, das stärkte sein Selbstvertrauen. Und schon nach wenigen Jahren war er eingebürgert. Aber seine vietnamesischen Wurzeln, seine Familie in Ho Chi Minh City wollte und konnte er nicht vergessen.

5

Da war sein Elternhaus in Cho Lon, der ausgedehnten und lebhaften Schwesterstadt von Saigon, dem “großen Markt”. In Ho Chi Minh City wurde sie zum fünften Distrikt der Mega-Stadt, an deren neuen Namen sich Luc noch immer nicht gewöhnt hatte. In der Erinnerung wuchsen die kleinen Zimmer des Hauses zu schmucken Salons, der kleine Esstisch zu einem kunstvoll polierten Juwel, und das Wohnzimmer beherrschte ein alter blauer Teppich mit Drachenmuster.

Über der Anrichte hing ein vergilbtes, farbenfrohes Bild des Konfutse. Auf dem kleinen Familienschrein standen zwei Öllampen und mehrere Weihrauchkerzen, dahinter die hölzernen Ahnentäfelchen und die alten Familienfotos. Seine Mutter rückte die Fotos immer wieder gerade und sorgte dafür, dass vor dem Schrein stets frisches Wasser und Obst standen.

In dem Haus wohnten auch Hung und früher die Großeltern. Es war ein schmaler Bau, zwei enge Stockwerke, eine steile Stiege führte nach oben. In dem obersten Stockwerk konnte Luc die breite Straße sehen, die Autos und Fußgänger und die bescheidenen Nachbargebäude der Nguyen Trai Straße.

Luc fühlte sich als Vietnamese, aber auch als Chinese. Immer hatte er chinesisch gelebt, vorwiegend chinesisch gegessen, seine engsten Freunde waren Chinesen. Wie selbstverständlich sprach er außerhalb des Hauses vietnamesisch, mit seinen Eltern jedoch Mandarin oder Kantonesisch, die Sprache seines Vaters.

Die Mehrzahl der Kunden waren Hoa, Chinesen wie er, viele ursprünglich aus der Provinz Fujian. Die Familie seines Vaters stammte jedoch aus Guangzhou. Am Ende der Ming-Dynastie, etwa um 1640, kamen seine Vorfahren über Faifo, dem modernen Hôi An, nach Cho Lon und andere Orte in Südostasien. Luc hatte Verwandte in Malacca und Singapore, sogar in Europa, und ein Onkel wohnte noch immer in Hôi An, der alten chinesischen Handelsstadt in der Nähe von Da Nang.

Seine Mutter war in Wuhan geboren, der chinesischen Millionenstadt in der Provinz Hubei. In Cho Lon war das selten, nie sprachen die Eltern darüber. Aber es hieß, sie hätten sich anlässlich eines Banketts für einen Ingenieur aus Wuhan kennen gelernt, der mit seiner Frau, seinem Sohn und seiner Tochter nach Cho Lon gekommen war, um mit Mr. Le und anderen prominenten Händlern über Exportkontrakte zu verhandeln. Das war noch viele Jahre vor der Kulturrevolution. Die jungen Leute hatten sofort ein Auge füreinander, und bald schon empfanden beide Familien den Familienzusammenschluss als angemessen und für beide Seiten nützlich.

6

Seine Mutter erinnerte sich noch häufig an ihre Jugendzeit in Wuhan, der großen Industriestadt am Jangtsekiang. Als Luc vier oder fünf Jahre alt war, hörte er zum ersten Mal die alte Legende des gelben Kranichs. Die Mutter zeigte ihm ein leicht vergilbtes, unscharfes Schwarz-Weiß-Foto einer Pagode.

“Sie war hinter unserem Haus am Horizont zu erkennen.”

Hinter vorgehaltener Hand wischte sie sich eine Träne aus den Augen. Mit verschwommenen Augen blickte sie lange auf das zerknitterte Bild.

“Das ist alles, was mir von der Heimat blieb.”

Ihre Stimme war ganz leise geworden.

Luc fragte sich manchmal, ob seine Mutter das Foto wohl noch immer besaß und es ab und zu betrachtete. Wahrscheinlich.

Auf dem Hügel, der noch heute von der nach alten Vorlagen wiedererbauten Pagode gekrönt ist, befand sich einst ein kleiner Laden, in dem Wein ausgeschenkt wurde. Immer wieder kam ein alter, gebrechlicher Mann, trank ein Glas Wein, vergaß zu bezahlen und ging mit gesenktem Kopf. Der Inhaber hatte Mitleid und ließ ihn ziehen.

Eines Tages malte der alte Mann mit einer Orangenschale einen Kranich an die Wand des Ladens, als Dank für die Großzügigkeit des Wirtes.

Am nächsten Tag staunten die Gäste. Waren sie so schnell von dem Wein betrunken? War dies eine neue Sorte? Das konnte doch nicht sein, der Geschmack war geblieben. Die Sage ging, dass sich der Kranich verkörperte und mit den Gästen tanzte. Als Luc etwas älter wurde, konnte er das nicht so recht glauben, aber seine Mutter hielt an dem Mythos fest.

Diese Magie war bald das Tagesgespräch von Wuhan. Jeden Abend war der Weinladen überfüllt, es wurde lebhaft diskutiert und getrunken, die Gäste fanden kaum mehr Platz zum Stehen. Der Besitzer verdiente viel Geld und wurde von Tag zu Tag reicher. Er vermisste den Alten, er hatte sich so sehr an sein freundliches Gesicht gewöhnt.

Dann, eines Tages, Jahrzehnte später, kam der alte Mann zurück, bestieg wortlos den gelben Kranich und ritt in das Blau des Himmels, bis er hinter weißen Wolken verschwand.

Der Besitzer aber ließ neben seinem Laden als Dank und zur Erinnerung eine herrliche Pagode bauen und nannte sie Huanghe Turm, Gelbe Kranich Pagode. Seitdem haben immer wieder Dichter die Pagode besungen.

Seine Mutter liebte diese Legende, sie erzählte sie immer wieder mit ähnlichen Worten und rezitierte die Gedichte von Cui Hao und Li Bai aus der Tang-Dynastie des 8. Jahrhunderts. Nicht nur Luc, auch Hung war ein dankbarer Zuhörer. Die Geschichte hatte so etwas Mystisches und Geheimnisvolles und die Mutter erzählte mit großer Wärme und viel Pathos. So ließen sie sich von der Legende jedes Mal aufs Neue gefangen nehmen.

Luc besuchte gerne die chinesische Schule. Er fuhr täglich die kurze Strecke mit einem Cyclo, einer Fahrradrikscha. Der alte Fahrer wartete schon vor seinem Haus, allmählich wurde er wie ein Onkel für ihn. Und in der Schule konnte er seine Freunde treffen. Er war schon immer extrovertiert gewesen, er liebte es, möglichst viele Freunde um sich zu haben und im Mittelpunkt zu stehen.

Um seine Schulkameraden zu begeistern, erdachte er sich abenteuerliche Geschichten, die er während der Schulpausen erzählte: “Auf unserem Dachboden habe ich ein vergilbtes Tagebuch gefunden. Das handelte von ganz alten Zeiten, als meine Vorfahren große Heerführer waren. Als ich es meinem Vater zeigte, wurde er böse. Ich musste es wieder in die alte Truhe zurücklegen.”

Die Freunde hörten gebannt zu.

Später arbeitete er in dem Geschäft seines Vaters, im Erdgeschoss ihres Wohnhauses, mit kleiner Ladenfront zur Straße. Dort hatte schon der Großvater Eisenwaren verkauft: Nägel, Schrauben, Bolzen, Riegel, auch Türgriffe und allerlei Möbelbeschläge. Er lernte schnell die Produktnummern, die Preise, kannte bald die Stammkunden. Ja, die Arbeit gefiel ihm. Luc war beliebt bei den Kunden, er sah gut aus, war groß, muskulös, immer lächelte er freundlich, nahm sich Zeit für die jüngsten Anekdoten aus Cho Lon.

Sie waren nicht eigentlich wohlhabend, aber kamen gut zurecht. Sie lebten sparsam, arbeiteten sieben Tage in der Woche. Und da waren auch noch die Reisfelder außerhalb der Stadt. Sicherlich, das war vor allem eine Aufgabe für Phuc, einen der jüngeren Brüder des Vaters, der sich um die Lohnarbeiter kümmerte, zur Pflanzzeit, zur Ernte, aber auch der Vater und manchmal sogar Luc mussten die Saat und die Felder inspizieren und beim Verkauf der Ernte helfen.

Während der Woche arbeiteten sie hart. Hung und er, ihr noch immer rüstiger Vater, die Mutter, die an der Kasse saß, die Familienfinanzen verwaltete und auch sonst alles im Griff hatte. Ihrem Blick entging nicht das kleinste Detail im Laden. Lediglich am Sonntag war das Geschäft nur halbtags geöffnet, da wurde geputzt, wurden Waren umsortiert, die Einkäufe überprüft.

7

An einigen Sonntagen war weniger zu tun, Luc und Hung lösten sich bei der Arbeit ab. War er der Glückliche, traf er sich häufig mit seinen Freunden in der Hoi Quan Tam Son Versammlungshalle, die nicht sehr weit entfernt von ihrem Haus lag. Der Tempel war der Fruchtbarkeitsgöttin Me Sanh gewidmet und diente eigentlich der Fukien Gemeinde als Treffpunkt. Am Vormittag und frühen Nachmittag trafen sich dort vor allem Frauen, die zu der Göttin beteten, die aber auch miteinander plauderten, aßen und Tee schlürften.

Die Männer kamen etwas später am Tag, des Abends stapelten sich im Hof die leeren Bierkästen. Luc und seine Freunde konnten dort ungestört diskutieren und etwas essen. Vor dem Tempel saßen sonntags Männer auf Hockern und spielten mit kleinen Spielsteinen chinesisches Schach. Zwei Schuster, die auf der Straße ohne richtiges Werkzeug Schuhe reparierten, hatten immer gut zu tun.