Mortaler Ausgang - Horst Matthies - E-Book

Mortaler Ausgang E-Book

Horst Matthies

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Beschreibung

»Eine Kuh hat mir die wichtigste Lehre meines Lebens erteilt«, sagt Staranwalt Stengler aus einer der Geschichten dieses Erzählungsbandes. »Sie stand im Straßengraben, und ich dachte noch: Nein, tu das nicht, als sie sich umdrehte. Doch da war sie mir schon vor die Maschine gesprungen. Und als ich wieder zu mir kam, sah ich sie liegen, mit dem Kopf an einem Baum, und wusste sofort, da ist nichts mehr zu machen.« Und er nimmt in Kauf, dass sein Gegenüber zu der Auffassung gelangen muss, er spreche von der Kuh. Spricht er aber nicht. Und dass sich dem Leser der Satz: »Manchmal kann von einer Sekunde auf die andere plötzlich alles ganz anders sein«, den er als diese wichtigste Lehre seines Lebens ausgibt, eher als tief verinnerlichte Lebenslüge erschließt, hat mit der Art dieser Geschichten zu tun. Geschichten, wie wir sie alle kennen. Geschichten, wie sie das Leben schreibt, bitterböse Geschichten zuweilen. Dreizehn davon hat Horst Matthies in diesem Band zusammengetragen. Bestechend gestrickt, packend erzählt, mit Gewinn zu lesen.

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»Eine Kuh hat mir die wichtigste Lehre meines Lebens erteilt«, sagt Staranwalt Stengler aus einer der Geschichten dieses Erzählungsbandes. »Sie stand im Straßengraben, und ich dachte noch: Nein, tu das nicht, als sie sich umdrehte. Doch da war sie mir schon vor die Maschine gesprungen. Und als ich wieder zu mir kam, sah ich sie liegen, mit dem Kopf an einem Baum, und wusste sofort, da ist nichts mehr zu machen.«

Und er nimmt in Kauf, dass sein Gegenüber zu der Auffassung gelangen muss, er spreche von der Kuh. Spricht er aber nicht.

Und dass sich dem Leser der Satz: »Manchmal kann von einer Sekunde auf die andere alles ganz anders sein«, den er als diese wichtigste Lehre seines Lebens ausgibt, eher als tief verinnerlichte Lebenslüge erschließt, hat mit der Art dieser Geschichten zu tun. Geschichten, wie wir sie alle kennen. Geschichten, wie sie das Leben schreibt, bitterböse Geschichten zuweilen. Dreizehn davon hat Horst Matthies in diesem Band zusammengetragen. Bestechend gestrickt, packend erzählt, mit Gewinn zu lesen.

Inhalt

Klapp, machte die Tür

Gefüllte Weinblätter

Bumm

Fräulein Müh

Gerdtrud Sauer-Siebenschön

Blaumann

Sieben Sätze

Die innere Stimme

Schöner Urlaub

Hochzeitstag

Mortaler Ausgang

Als wir jung waren

Unbekümmert knabbert die Maus

Klapp, machte die Tür

Klapp, machte die Tür und er stand draußen. Verwundert drückte er mit dem rechten Knie dagegen, versuchte auch noch an dem als Löwenkopf gestalteten, funktionslosen Knauf zu drehen, und schaute dann auf die Uhr. Sie war das Einzige, was er schon am Leibe trug. Vieruhrzweiunddreißig.

›Die Polizei‹, dachte er dann und ärgerte sich zugleich über diese unsinnige Idee. Wie er sich auch über seine Angewohnheit ärgerte, die Schuh vor der Wohnungstür stehen zu lassen, wenn er spät nach Hause kam, um den Teppichbelag des Korridors vor dem Straßenschmutz zu schützen.

Der Zeiger rückte auf Vieruhrdreiunddreißig, und er wusste, wenn er nicht bald eine Lösung fand, war die Chance vertan, endlich eine Rolle in einer Fernsehserie zu bekommen. Und eine weitere würde sich so schnell nicht ergeben. Es war das erste Mal, dass er jemanden kannte, der beim Casting für eine Serie eine Stimme hatte. Also doch die Polizei oder die Feuerwehr oder einen Schlüsseldienst.

Aber auch dafür brauchte er das Telefon. Und ob er dann noch rechtzeitig auf dem Flughafen eintreffen könnte, blieb trotzdem fraglich.

Warum bloß hatte er die Schuhe diesmal so weit vor dem Abtreter von den Füßen gestreift und sie auch noch so liegenlassen, als sei er nicht ganz bei sich gewesen?

Vieruhrsiebenunddreißig.

Wenn es einen Hausmeister gäbe oder so eine Concierge wie in französischen Appartmenthäusern, wo man klingeln konnte und um Hilfe bitten … Aber in diesem Haus gab es keinen Hausmeister und keine Concierge. Hier gab es nicht einmal Namensschilder an den Türen, nur Wohnungsnummern. Und um von der Straße bis zum Aufzug gelangen zu können, brauchte man schon zwei Schlüssel.

Der Aufzug!

Ja, der Aufzug. In dem gab es einen Alarmknopf. Den konnte man drücken, wenn er zwischen den Stockwerken stecken blieb. Aber was passierte dann?

Noch nie hatte er irgendwen erzählen hören, was passiert, wenn man in einem Fahrstuhl stecken geblieben ist und den Alarmknopf drückt. Meldet sich dann eine Zentrale? Kommt ein Monteur mit Blaulicht? Schaltet sich ein Lautsprecher ein, aus dem beruhigende Musik ertönt und eine freundliche Frauenstimme rät, die Ruhe zu bewahren, es werde an der Behebung des Schadens gearbeitet? – Nein, eine Lösung war das auch nicht.

Vieruhrvierzig.

Dann fiel ihm die Balkontür ein. Ja, sicher, die hatte er wie jeden Morgen geöffnet, ehe er ins Bad ging, damit frische Luft in die Wohnung kam. Und die hatte dann wohl auch bewirkt, dass die Wohnungstür zuklappte, als ihm beim Umbinden der Armbanduhr eingefallen war, dass die Schuhe noch im Treppenhaus standen und geputzt werden mussten. Denn es war eine Arztserie, und da konnte er wohl schlecht mit ungeputzten Schuhen zum Casting erscheinen.

Ja, die Balkontür, das war eine Möglichkeit. Sie war offen, und wenn er auf den Balkon gelangen könnte, würde er auch in die Wohnung zurückgelangen können. Also der Balkon. – Da hing einer über dem anderen an der Hausfassade. Und wenn man sich von dem darüber hängenden abseilte, konnte man auf den darunter hängenden gelangen. Und von diesem aus … Ja, das war die Lösung. Er musste bei den über ihm wohnenden Leuten klingeln und sie überzeugen, dass sie ihm zwei Laken liehen, die er zusammenknoten konnte und am Balkongeländer festbinden und als Seil benutzen. Halten würde ihn das. Und trainiert genug war er auch, um sich selbst halten zu können. Immerhin hatte er einmal im Geräteturnen brilliert, ehe er sich bei der Schauspielschule bewarb. Und hatte auch danach immer darauf geachtet, dass seine Oberarmmuskulatur eine Struktur behielt, die ihn eher für die Besetzung als junger Held, denn als einen mit Ödipuskomplexen geschädigten Psychopathen empfahl. Die Hauptrolle in einem Western- oder Indianerfilm, das war der höchste aller Träume, die er träumte.

Mit dem Aufzug würde er nicht fahren. Das war klar. Er würde das Treppenhaus benutzen. Das fehlte noch, dass dann vielleicht der Aufzug stecken blieb. Und außerdem war die Gefahr geringer, dass er jemandem begegnete, wenn er das Treppenhaus benutzte. Hatte er doch immer noch nicht mehr am Leib als seine Armbanduhr. Vieruhrzweiundvierzig.

Blieb dieses Problem.

Der Abtreter schien ihm wenig geeignet. Er war aus Kokosfaser gefertigt, mit einem extra steifen, aufwärts gerichteten Faserflies, in dem der Schriftzug »Willkommen« zu erkennen war. Und ausgeklopft hatte er ihn außerdem schon seit einiger Zeit nicht mehr. Also nahm er einen der Schuhe.

Vieruhrvierundvierzig.

Es ertönte ein melodisches Klingklong, nachdem er seinen Finger auf den Klingelknopf gelegt hatte. Und dann wurde auch schon sofort geantwortet.

»Puschel?«, fragte eine verunsichert klingende Frauenstimme hinter der Tür, und er antwortete, mit nun schon unüberhörbarer Gehetztheit: »Neinnein, ich bin der Mieter von unter Ihnen. Ich habe mich ausgesperrt. Aber bitte öffnen Sie nicht die Tür. Reichen Sie mir vielleicht erst ein Handtuch oder so etwas. Ich habe nämlich nichts an.« Vieruhrfünfundvierzig.

Es dauerte etwas, bis auf diese Mitteilung eine Reaktion erfolgte. Offenbar musste die Frau hinter der Tür erst mit der Vorstellung fertig werden, was sich da vor der Tür tat. Dann sagte sie: »Einen Moment.«

Wieder schaute er auf die Uhr. Aber er registrierte nicht, welche Zeit sie anzeigte. Er lauschte, was sich hinter der Wohnungstür tat, bis ein Schlüssel gedreht wurde und eine schmale Hand ein Bündel Kleider durch den sich öffnenden Spalt schob und die ihm schon bekannte, nun aber weniger beunruhigt klingende Stimme dazu sagte: »Ich denke, das dürfte passender sein als ein Handtuch.« Es war ein knallgelber Jogginganzug, genau der gleiche knallgelbe Jogginganzug, wie auch er ihn besaß, wenn auch um eine Konfektionsgröße zu klein. Das war aber für das Vorhaben, sich vom Balkon dieser Wohnung auf den Balkon seiner Wohnung abzuseilen, vollkommen ohne Bedeutung. Und so fühlte er sich, nachdem er ihn angezogen hatte, schon wieder ganz als Herr der Lage, und rief:

»Ich stehe jetzt vor ihrem Spion. Und wenn Sie meinen, dass ich vertrauenswürdig aussehe, können Sie öffnen.« Vieruhrsiebenundvierzig.

Sie erwies sich als jung, sehr jung, vielleicht zehn Jahre jünger als er. Und er bedauerte seit Langem wieder einmal, dass er sich nicht für Frauen interessierte, denn sie war nicht nur jung, sondern auch schön. Und er hatte sie offenbar aus dem Bett geklingelt. Denn sie war mit einem Morgenmantel bekleidet, und ihr Haar wallte in einer Weise von ihrem Scheitel auf die Schultern herab, dass man sah, es war an diesem Morgen noch nicht mit einem Kamm in Berührung gekommen. Weshalb es noch den Duft entspannter Glieder zu atmen schien. Ja, ob eine Frau schön war oder nicht, war er durchaus in der Lage zu beurteilen. Wenn es ihn auch nicht berührte. Zwei Laken brauche er, erklärte er, oder besser noch drei, um sie zusammenknoten zu können. Das Weitere wäre dann kein Problem mehr. Seine Balkontür sei offen. Deshalb sei ja auch die Wohnungstür zugeschlagen. Auf einen Schlüsseldienst warten zu müssen, könne er sich aber nicht leisten. Er müsse zum Flughafen. Ein Casting. Eine unwiederbringliche Chance. Und die Kosten für die Reinigung würde er dann selbstverständlich übernehmen, beziehungsweise könne er auch den Kauf neuer Laken bezahlen.

Vieruhrachtundvierzig.

Das war auch der Zeitpunkt, in dem der als »Puschel« erwartete Mann der jungen Frau aus der U-Bahn stieg und auf den Treppenausgang zuging, von dessen obersten Stufe aus er immer einen ersten Blick zum achten Stock des gegenüberstehenden zehngeschossigen Hauses gleiten ließ, hinter dessen Fensterfront er die Wärme eines zartgliedrigen Körpers wusste, in die er sich einschmiegen konnte, sobald er die Tür hinter sich geschlossen, den Schmutz vom Körper gewaschen und die Zähne geputzt haben würde. Er war Gleisbauer bei den örtlichen Nahverkehrsbetrieben. Weshalb er hauptsächlich nachts arbeitete. Denn die nötigen Reparaturarbeiten am Gleiskörper mussten während der verkehrsarmen Nachtstunden ausgeführt werden. Ersatzverkehr am Tage war zu kostenaufwändig. Und zu reparieren gab es immer etwas. So war für ihn die einzige, wirklich schöne Stunde des Tages die Stunde zwischen seiner Heimkehr und dem leisen Fiepen des Küchenherds, an dessen Uhr seine Frau die Zeit einstellte, die ihnen blieb, bis sie sich aus der Klammer seiner Glieder lösen und ins Bad schlüpfen musste. Sie arbeitete als Kindergärtnerin und hatte in »der Einrichtung« zu sein, wie sie ihre Arbeitsstelle nannte, wenn die im nahe gelegenen Glühlampenwerk arbeitenden Mütter ihre Kinder anlieferten. Wo sie dann auch meistens so lange blieb, bis das letzte wieder abgeholt worden war.

Die Zeit zwischen ihrer Rückkehr und dem für ihn eingestellten mahnenden Fiepen reichte dann meist nur für ein gemeinsames Abendessen und die zwei, drei Worte, die es braucht, um mit dem Gefühl aus dem Haus gehen zu können, dass alles gut ist, so wie es ist. Obwohl, die Nächte waren lang, in denen er im Untergrund der Stadt aus der Norm gekommene Schienen mit dem Trennschleifer aus dem Strang schnitt und neue dafür einsetzte. Und in langen Nächten hat man viel Zeit, um sich ausmalen zu können, was andere mit dieser vielen Zeit anfangen mochten.

Und so dachte er auch sofort: »Der Schauspieler!«, als er bei seinem Blick vom Ausgang der U-Bahn-Station zum achten Stock des Hauses einen in einen knallgelben Jogginganzug gekleideten Mann sah, der sich vom Balkon seiner Wohnung zum Balkon der darunter gelegenen abseilte. Zum Balkon der Wohnung, in der der Schauspieler wohnte, von dem seine Frau einmal gesagt hatte, dass er eigentlich ein schöner Mann sei, wenn auch schon etwas über die Zeit. Und von dem er wusste, dass er in genau dem gleichen gelben Jogginganzug in der Wohnung umherlief, in dem auch er selbst tagsüber in der Wohnung umherlief. Und es konnte gar keinen Zweifel daran geben, wozu er sein Taschenmesser aufklappte, als er die Treppen zum achten Stockwerk hinaufstürmte, ein zwar sehr kurzes, aber scharfes, zum Zerschneiden zusammengeknoteter Laken hervorragend geeignetes Messer. Und eigentlich hätte ihn das freudige Lächeln seiner Frau dann stoppen müssen, mit dem sie sich umdrehte, als hinter ihr die Wohnungstür klappte. Aber er hatte offenbar noch zu viel Schwung vom treppaufwärts Stürmen und stolperte zudem über den Fußabtreter, der im Wohnzimmer vor der Balkontür lag. Wodurch er, als er mit rudernden Armen das Gleichgewicht zurückzugewinnen versuchte, mit dem Kopf gegen ihre Brust stieß und nur noch den Saum ihres Morgenmantels zu fassen bekam, als sie mit dem Rücken voran über die Brüstung kippte.

»Und das soll ihnen jemand glauben?«, wurde er bei der Monate später stattfindenden Gerichtsverhandlung gefragt. Worauf er antwortete: »Ich glaube es ja selber nicht« und das erste Mal seit jenem Morgen weinen konnte.

Er weinte so heftig, dass nicht nur die als Zuschauer anwesenden Leute zu der Auffassung kamen, er wolle damit das Gericht moralisch unter Druck setzen und alle ursprünglichen Erwägungen, die sich auf ein milderes Urteil gerichtet hatten, fallen gelassen wurden. Wobei der Umstand, dass sich in der linken Handfläche der Leiche seiner Frau eine tiefe Schnittwunde befunden hatte, als besonders beweisträchtig für seine Tötungsabsicht angesehen wurde.

2016

Gefüllte Weinblätter

Petersilie ist gehackt, Reis ist gekocht. Muss noch kalt werden. Bertha klemmt sich die gelbe Plastikschüssel unter den Arm, wechselt im Vorbau die Schuhe und schlurft in den Draußenschlappen zum Weinstock an der hinteren Hauswand, Blätter pflücken. Die Kinder haben sich angesagt. Friedemann, der Älteste, mit Irmeli, seiner Frau, die immer noch nicht mit der Pille aufhören will, seit sieben Jahren schon, wegen berufswegen. – Ihr Chef kann sich keine zweite Laborantin nicht leisten. – Annica, das Schönchen, die nicht weiß, warum und mit wem, und von einem zum anderen hüpft. – Mal sehen, wen sie diesmal wieder angeschleppt bringt? – Einen zu alten, einen zu jungen, einen ganz und gar haarlosen, einen Tätowierten von den Füßen bis zum Hals, vielleicht mal einen Inder oder Türken oder Afrikaner? Zuzutrauen wäre ihr das. – »Mama, wir können nichts für unsere Gefühle. Es ist alles Chemie, was uns steuert.« – Ein Glück, dass Gusti das nicht mehr erleben musste. Der hätte sich die Zähne durch die Nase gebissen, um nicht zeigen zu müssen, was er denkt. – Sein Goldstück! Und dann so etwas. – Na und dann Harald, der wohl überhaupt nichts mit Frauen im Sinn hat. – Keine Enkel jedenfalls. Und das ist das, was ihr wirklich weh tut. Sie hätte es schon gern gehabt, Hoppehoppereiter auf den Knien und zeigen, wo im Scheibnitzgrund die Herbsttrompeten wachsen. – Und ob sie das noch können wird, wenn sich einer von ihnen irgendwann doch noch entscheiden sollte? – Man hat ja so schon sein Tun mit dem Ächz und Krächz am Morgen nach dem Aufstehen, und dass man nicht einmal mehr bis zum Bäcker und zurück kommt, ohne denken zu müssen, nimmst du nun eine Pille für den Rücken oder nicht? – Obwohl, wenn sie sich umsieht unter ihresgleichen, da kann sie sich eigentlich nicht beklagen. Überall Pillen und Prothesen und Gelenke aus Titan. Und mancher ist schon überhaupt nicht mehr da. – Gusti ja auch nicht. – Das blühende Leben. Und dann: »Wenn mich mal jemand im Fernsehen fragen würde, was für mich glücklich sein heißt, ich würde sagen: Aufs Klo gehen können und keine Mühe damit haben.« – Und sie hatte gedacht, er kann sich wieder mal nicht von seinen Sudokus lösen.

Neun Jahre ist das nun schon her. Und es ist wirklich lieb von den Kindern, dass sie noch jedes Jahr extra angereist kommen, um ihm an seinem Todestag Blumen aufs Grab zu legen. Deshalb auch gefüllte Weinblätter, obwohl Gusti die eigentlich nicht gemocht hatte. Der war eher für Eisbein mit Sauerkraut gewesen oder für Rouladen mit Rotkohl. Die Kinder aber mochten sie, seit sie die Silberhochzeit beim Griechen gefeiert hatten. Wie die Heuschrecken waren sie über die Platte hergefallen. Ratzbatz, war sie leer gewesen. Und sie hatte gedacht, das kannst du doch wohl auch. Wie sie überhaupt mit den Jahren immer mehr fleischlos zu kochen begonnen hatte. Wegen der Cholesterine oder so etwas. Das war zwar Gusti gegen den Strich gegangen, aber da war sie stur gewesen. Küche war ihr Bereich. Da hatte er nichts zu sagen. Und da wollte er eigentlich auch nichts zu sagen haben. Gehörte ja auch Abwasch und Staub saugen und Wäsche waschen dazu. Er stand lieber in seiner Garage und polierte das Auto oder fuhr mit Helmut Eberlein die Flohmärkte ab. Ankaufen und wieder verkaufen. Der Gewinn, geteilt durch zwei. Gusti wusste immer noch, was wo wieviel kostete und wer was suchte oder brauchte. Das war ja zu DDR-Zeiten seine eigentliche Beschäftigung gewesen: Fliesen aus Boizenburg für den Bungalow des Verkaufsleiters der Brauerei nach Berlin. Und von dort Bier nach Bautzen, wo die Motoren für die Bagger und Kipper der Kiesgrube gebaut wurden. Das alles als Beiladung oder Rückfracht beim Transport der Zierbetonplatten zur Verkleidung gesellschaftlich hochwertiger Bauten. Ein Kaufhaus in Halle. Die Bezirksleitung der Partei in Karl-Marx-Stadt. Der Palast der Republik. Für seinen Betrieb hatte es jedenfalls keine Ersatzteilprobleme gegeben.

Aber das war ja dann mit einem Schlag vorbei gewesen. Plötzlich gab es alles und mehr als gebraucht wurde. Ein Anruf genügte und am nächsten Tag rollte ein LKW vor. Das konnte eine Sekretärin erledigen.

Gut, sie hatten ihm eine Abfindung gezahlt und er konnte sich seinen Traum erfüllen, – ein schwarzer Mercedes mit Ledersitzen und mahagonifarbener Innenverkleidung. – Aber die Zähne hatte er sich trotzdem durch die Nase gebissen, wie sie seine Fluchereien hinter geschlossenen Türen immer nannte. – »Schweine! Verbrecher! Misthunde!«

Seine Talente hatte er dann an den Wochenenden zum Einsatz gebracht, an denen er mit Helmut Eberlein die Flohmärkte abklapperte. Obwohl er auch den einen Verbrecher nannte. Weil der bei seinem Anteil am Gewinn immer berücksichtigt haben wollte, dass er den Kleintransporter stellte, mit dem sie unterwegs waren. Aber wer hatte denn das Gespür, was wo und wie günstig zu erwerben und mit Aufschlag weiter zu verkaufen war? Und ganz unrecht hatte er damit wohl auch nicht gehabt. Warum sonst hat der denn sofort aufgehört mit diesem Geschäft, nachdem es Gusti nicht mehr gab? Sie hatte ihm jedenfalls auch nichts geschenkt, als er kam, das Lager räumen. Jedes Ding zu dem Preis, zu dem es Gusti laut Liste erworben hatte. Geschäft ist Geschäft. Und sie musste schließlich auch sehen, wo sie bleibt.

Als sie die Leiter an die Hauswand stellt, um an die frischen Triebe gelangen zu können, fragt Janek von der Sturmschadenlücke in der Lebensbaumhecke her: »Na, willst deinen Kindern heute wieder Grünfutter servieren?«

Was sie mit: »Ach, der Polacke«, beantwortet. »Ich denk an nichts Schlechtes ...«

Das ist nicht bös gemeint. Das gehört zu dem Spiel, das sie seit mehr als sechzig Jahren spielen. – Zwick ich dich, vergisst mich nicht. – Sie nennt ihn Polacke und er fragt: »Na, gehst wieder Watzmann die Rente sichern?«, wenn er ihr auf dem Weg zum Bäcker begegnet.

Das ist das einzige Laster, das sie sich leistet, Baisers mit Schlagsahne. Selber kriegt sie die niemals so hin, wie Watzmann. Entweder werden sie nicht locker genug, oder sie sind von einer Minute auf die andere braun wie Pfefferkuchen. – Elektrisch lässt sich eben doch viel besser steuern als Gas. – Aber da hatte Gusti seinen Kopf gehabt: »Wenn schon Erdgas, dann auch für die Küche. Die Leitung liegt eh und billiger ist es außerdem als Strom.«

Die Sahne, ja, die macht sie schon selber. Und auf die spielt Janek ja dann auch an oder auf das, was die mit ihren Hüften anrichtet. – Zweiundsiebzig Kilo bei einem Meter und dreiundsechzig, trotz fleischlos und keinem Tropfen Alkohol. – Und dass er über ihr Grünfutter genauso lästert wie über Baiser mit Schlagsahne, zeigt ja, dass er sie einfach nur zwicken will. Obwohl er das gar nicht nötig hätte. Weiß er doch, dass sie ihn gar nicht vergessen könnte, selbst wenn er nicht ihr Nachbar wäre. Der erste Kuss und auch mal anfassen sogar, als die Neugier noch so übermächtig war, dass man hätte in Ohnmacht fallen können.

Aber ihre Eltern sagten: »Bring uns bloß nicht einen von den Polacken ins Haus! Die klauen doch alle.«

Janek gehörte zu den Krawczyk-Jungs. Sieben insgesamt. Und er der Jüngste.

Die waren aus den Masuren umgesiedelt worden und hatten die alte Holzmühle am Wendengraben zugewiesen bekommen. – »Macht was draus.« – Und sie hatten was draus gemacht. Erst zwei Zimmer, dann fünf, dann sieben, dann zehn. Jahr für Jahr und meistens mit dem, was andere wegschmissen. – »Guckt euch das an! – So kann doch kein Mensch leben! – Sind eben Polen.«