Mosquito - Christian Gude - E-Book

Mosquito E-Book

Christian Gude

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Beschreibung

Sporttaucher finden im »Großen Woog«, am Rande der Darmstädter Innenstadt, die Überreste eines Mannes. Untersuchungen ergeben, dass die Leiche schon mehrere Jahrzehnte im See gelegen hat. Der einzige Hinweis zur Identität des Toten ist eine seltsam gravierte Metallmünze, die er um den Hals trägt. Die Ermittlungen führen Hauptkommissar Karl Rünz zurück in den September 1944, als Darmstadt Ziel eines verheerenden Angriffs britischer Mosquito-Kampfflugzeuge wurde …

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Christian Gude

Mosquito

Kriminalroman

Zum Buch

DIE LIEBE, DER KRIEG UND DER TOD Sporttaucher finden im »Großen Woog«, dem über 400 Jahre alten Gewässer am Rande der Darmstädter Innenstadt, die Überreste eines Mannes. Untersuchungen des Rechtsmedizinischen Institutes in Frankfurt ergeben, dass die Leiche schon mehrere Jahrzehnte im See gelegen hat. Der einzige Hinweis, der zu der Identität des Toten führen könnte, ist eine seltsam gravierte Metallmünze, die er um den Hals trägt: Name und Losung einer britischen Mosquito-Schwadron, die am 11. September 1944 an der verheerenden Bombardierung Darmstadts beteiligt war, die als die »Brandnacht« in die Annalen der Stadt einging. Hauptkommissar Karl Rünz bittet über das BKA Interpol um Unterstützung. Frank Cooper, ein britischer Spezialist für die Identifizierung alliierter Kriegsopfer aus dem zweiten Weltkrieg, verstärkt das Team. Die beiden begeben sich auf Spurensuche und machen eine erstaunliche Entdeckung …

Christian Gude wurde 1965 in Rheine/Westfalen geboren. Er studierte Geografie in Mainz und lebt heute mit seiner Frau und seinem Sohn im südhessischen Darmstadt. Für ein international operierendes Consulting-Unternehmen arbeitet er als Marketingexperte. Seit 2007 schreibt Gude im Gmeiner-Verlag Kriminalromane, in deren Mittelpunkt der Darmstädter Kriminalhauptkommissar Karl Rünz steht. Im fünften Band nun ermittelt der kauzige Misanthrop auf eigene Rechnung – als Privatdetektiv. Die Rünz-Fälle sind anders – sie verbinden präzise Recherche mit satirischem Sprachwitz, Gesellschaftskritik mit absurder Situationskomik und faszinierenden wissenschaftlichen Detailreichtum mit pointierten Dialogen.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Neuausgabe 2021

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © greenpapillon / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-3310-8

Haftungsausschluss

Soweit im Nachwort nicht explizit erwähnt, sind alle Pro­tagonisten dieses Romans frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig. Die im Roman verwendeten Fachtermini und erklärungsbedürftigen lokalen Ausdrücke und Bezeichnungen sind in einem Glossar im Anhang erläutert.

Übersichtsplan

 

Der Große Woog im südhessischen Darmstadt ist heute ein Badesee am Ostrand der Innenstadt. Die Anlage des Gewässers zwischen 1560 und 1570 geht zurück auf Ludwig den Vierten, Landgraf von Hessen-Marburg, und seinen jüngeren Bruder Georg den Ersten, Landgraf von Hessen-Darmstadt.

Detailplan

 

Prolog

Seit Jahren war er nicht mehr im Keller gewesen. Aufsteigende Feuchte hatte den Innenputz der Wände von der Fundamentplatte aufwärts gelöst, auf den Fugen des freigelegten Ziegelmauerwerks blühten mineralische Krusten. Die Luft war feucht und stockig, ein unangenehmer Geruch, der immer durch die offene Kellertür in den Wohnbereich gezogen war, wenn seine Mutter Vorräte heraufgeholt hatte. Jürgen Wolf dachte über den feinen Unterschied zwischen Ursache und Anlass von Ereignissen nach, den ihm sein Geschichtslehrer an der Viktoriaschule fast 20 Jahre zuvor zu vermitteln versucht hatte. Auf seine Situation übertragen, war der Anlass klar definiert – der Besuch eines Polizisten, einige Artikel in der ›Darmstädter Allgemeinen Zeitung‹. Die Ursache war viel schwieriger zu fassen. Sie war fester Teil seines Lebens, er konnte sie nicht an einem Datum festmachen. Sie lag irgendwo in den letzten 30 Jahren des Schweigens in seiner Familie. Letztendlich war es müßig, darüber nachzudenken. Er stand im Keller und hatte seine Entscheidung getroffen. Und anders, als er in all den Jahren befürchtet hatte, bereitete ihm sein Beschluss keine panische Angst, sondern Erleichterung. Der Plan, den er ausführte, hatte seit Jahren in seinem Kopf existiert, abruf- und ausführbar wie eines der zahlreichen Computerprogramme, mit denen er sich an seinem Arbeitsplatz beschäftigte.

Dutzende alter Kartons mit Spielsachen aus seiner Kindheit und Jugend räumte er um, Metallbausätze, physikalische und chemische Experimentierkästen, verschimmelte Bildbände über Weltraumfahrt, Raketentechnik und Tiefseetauchen. Die Wachstumsbedingungen für Pilzmyzele waren ausgezeichnet in dieser Gruft, der graue Belag haftete sogar an Metall- und Kunststoffteilen.

Die Uniform entdeckte er in einer Pappschachtel, die direkt an der Außenmauer auf dem klammen Estrich stand. Boden und Rückwand der Box lösten sich auf in dem Moment, als er sie hochhob. Er fand eine besser erhaltene mit verrosteten Ausstechformen für Weihnachtsplätzchen, schüttete deren Inhalt auf den Boden und legte den Overall vorsichtig hinein. Die verrotteten Baumwollfasern rissen bei der geringsten mechanischen Beanspruchung.

Er löschte das Kellerlicht, verließ das Haus durch die Hintertür und befestigte den Karton auf dem Gepäckträger seines Fahrrades. Auf der Heinrich-Fuhr-Straße spähte er über den Grünstreifen Richtung Woog und nach Osten zum Trainingsbad, konnte seine Mutter aber nicht entdecken. Entweder sie war unten an der Uferböschung und fütterte Enten oder sie gönnte sich an der Trinkhalle vor dem Trainingsbad einen Underberg – für die Verdauung. An der Kreuzung Nieder-Ramstädter- und Heinrichstraße zögerte er. Der Weg durch das verwinkelte Paulusviertel war sicher etwas kürzer, aber er wollte sich nicht verfahren. Sein Aktionsradius war von Kindheit an eingeschränkt, die Region südlich der Viktoriaschule für ihn Terra incognita. Er wählte die sichere Variante über die Nieder-Ramstädter Straße nach Süden, am alten Friedhof und der Georg-Büchner-Schule vorbei, die ihn mehr an ein Kasernengelände als an ein Gymnasium erinnerte. Der Höhenunterschied brachte ihn kaum außer Atem, aber er wurde nervöser, je näher er seinem Ziel kam. Auf Höhe des Hochschulstadions wäre er beinahe gedankenversunken in eine Gruppe Sportstudenten hineingefahren. Die jungen Männer produzierten sich gleich als Beschützer ihrer Kommilitoninnen und raunzten ihn an, die Mädchen machten sich über seine Aufmachung lustig. Er trat, so kräftig er konnte, in die Pedale und flüchtete. An der ARAL-Tankstelle hinter dem Böllenfalltor-Stadion versorgten sich einige Fans des SV 98 mit Dosenbier. Er vermied den Blickkontakt, um eine weitere Konfrontation zu verhindern. Hinter dem Betriebshof der HEAG bog er rechts in die Klappacher Straße ein und ließ sein Rad den halben Kilometer von der Anhöhe zum Polizeipräsidium hinunterrollen, den Karton auf seinem Gepäckträger mit einer Hand festhaltend.

Noch konnte er zurückfahren, den alten Overall wieder in den Keller legen und einfach mit seiner Mutter so weiterleben, wie er es seit Jahren getan hatte. Aber bald würde der Punkt kommen, an dem er nicht mehr umkehren konnte. Das limbische System seines Zwischenhirnes setzte unaufhaltsam eine komplexe physiologische Reaktionskette in Gang, sein Sympathikus initiierte die Ausschüttung von Adrenalin. Aufmerksamkeit, Sinnesempfindlichkeit, Muskeltonus, Puls und Herzfrequenz erhöhten sich, er atmete schneller und flacher. Er hatte Angst. Seine Amygdalae befahlen ihm umzukehren, aber er widerstand.

1

Rünz stand auf dem Damm am Westufer des Großen Woogs. Es war trotz der frühen Stunde bereits hell, die Sonnenwende lag nicht lange zurück. In der Nacht hatte ein leichter Ostwind Moder und Exkremente der Enten auf der Wasseroberfläche herübergetrieben. Die faulige Mischung dümpelte zwischen den Betonstegen der alten Wettkampfanlage und verbreitete einen unangenehmen Geruch. Der Ermittler beugte den Oberkörper nach vorne, stützte die Unterarme auf das Metallgeländer, das den Dammweg von der Uferböschung trennte. Er zitterte, hatte Schweißperlen auf der Stirn. Die in seinen Blutbahnen zirkulierenden Abbauprodukte des Alkohols bereiteten ihm bei der geringsten Anstrengung pulsierende Kopfschmerzen, die im Rhythmus seines Herzschlages über den Nacken schossen. In Abständen von wenigen Minuten überspülten ihn Wogen der Übelkeit, die er verzweifelt zu glätten versuchte. Sobald er die Vorboten des Brechreizes spürte, den verstärkten Speichelfluss in seinen Wangentaschen und die Spannung der Bauchdecke, richtete er sich auf, hob die Arme und verschränkte die Hände hinter seinem Kopf, stechend riechende Schweißflecken in seinen Achselhöhlen entblößend. Indem er den Körper streckte und flach atmete, hoffte er, den Druck des Zwerchfells auf seinen Magen zu senken. Er musste um jeden Preis vermeiden, was ihm wie nichts anderes auf der Welt panische Angst bereitete – das Erbrechen.

Die Pappeln auf der nördlichen Seeseite standen regungslos glitzernd in der Morgensonne, erstarrten Flammenwerfern gleich, die lotrecht in den Himmel fauchen. Aus der Uferböschung am Nordufer stieg ein Graureiher auf und drehte seine Platzrunde über dem See. Am Westufer wendete er seinen Kopf Rünz zu und schien ihn sekundenlang zu beobachten. Bis auf einige neugierige Frühschichtarbeiter waren die Straßen noch leer, die ersten Badegäste erst in zwei bis drei Stunden zu erwarten. Rünz schaute nach links zur frisch sanierten Jugendherberge. Drei oder vier Dutzend Pubertierende drückten sich an den Fenstern ihrer Schlafsäle die Nasen platt, einige Gruppenleiter schienen erfolglos zu versuchen, die Teenager zurück in die Betten zu treiben. Davon abgesehen war die Szenerie auf und um den See bestimmt von der ruhigen und professionellen Aktivität einer Handvoll DLRG-Männer, Feuerwehrleute, Sanitäter und Polizisten. Etwas nördlich der Seemitte waren Taucher im Einsatz, sie wurden von Kollegen in schwarzen Schlauchbooten mit Seilen gesichert.

Rechter Hand, auf der Betonplatte am Fuß des massiven Sprungturmes, lag einer der Taucher auf der Seite. Sein Oberkörper war frei, der rote Neoprenanzug bis zu den Hüften herabgezogen. Seine Ausrüstung – Maske, Flossen, Atemregler, Flaschen, Ballastgürtel – lagen verteilt entlang einer nassen Spur, die von einer der Trittleitern bis zu seinem Liegeplatz führte, so als hätte er auf der Flucht Ballast abgeworfen. Sein Zustand schien stabil. Er war bei Bewusstsein und sprach mit einigen seiner Kollegen, die neben ihm knieten. Zwei Sanitäter, die ihn untersucht und versorgt hatten, packten ihre Ausrüstung zusammen. Etwas abseits unterhielt sich ein untersetzter Grauhaariger mit Sprechfunkgerät und rotgelber DLRG-Jacke mit einem großen, sportlich wirkenden Zivilisten, um die 30 Jahre alt, der sich auf einem kleinen Block Notizen machte. Der Große beendete das Gespräch, verabschiedete sich, stieg schräg den Damm hinauf und kam auf Rünz zu.

»Sie sehen schlecht aus, Chef.«

»Sicher nicht so schlecht, wie ich mich fühle, Herr Wedel.«

Rünz fehlte die Energie, auf die Respektlosigkeit seines Assistenten angemessen zu reagieren.

»Hat der ihn gefunden?« Rünz wies mit dem Kopf zum Sprungturm.

»Ja, hat ihn ganz schön erwischt. Der Junge ist neu in der DLRG-Truppe, die haben hier drüben unter der Kneipe ihr Basislager. Der Dicke unten mit der roten Jacke ist Olaf Deiters, der Leiter der Gruppe. Das hier sollte eine ganz lockere Einstiegsübung für einen Tauchlehrgang werden und dann so was.«

»Was hat der Junge denn? Schock?«

»Sein Kollege sagt, dass er fast an seinem Erbrochenen erstickt ist.«

Rünz zuckte zusammen. Sein Assistent wich einen Schritt zurück, er hatte die Körperausdünstungen seines Vorgesetzten registriert.

»Er ist am Seegrund entlang getaucht, ist ja nur ein paar Meter tief, aber total trüb. Bei der Sichtweite hat er den Toten wohl erst gesehen, als er ihn 10 oder 20 Zentimeter vor der Nase hatte. Jedenfalls schwört er Stein und Bein, dass da unten einer liegt. Hat natürlich einen Koller gekriegt, konnte aber sein Mundstück nicht ausspucken, weil er so eine Vollmaske getragen hat. Als er endlich wieder oben war, ist er wie ein Verrückter mit kompletter Ausrüstung hier zum Familienbad rübergepaddelt, obwohl es zum Nordufer drüben viel näher gewesen wäre.«

»Seine Kollegen haben noch nichts gefunden?«

»Bis jetzt nicht, aber die wissen ja auch nur ungefähr, wo der Junge seinen Schock bekommen hat. Müssen halt jetzt jeden Quadratmeter absuchen. Schlage vor, wir sperren den Woog heute für die Badegäste.«

»Langsam, wir schauen erst mal, ob da unten nicht nur eine Schaufensterpuppe liegt. Ist ja noch ein bisschen hin, bis die Kassen öffnen.«

Die beiden Ermittler verfolgten schweigend die Arbeit des Teams auf dem See. Nach einigen Minuten stieg einer der Taucher an die Oberfläche und ließ sich von seinen Kollegen ins Boot ziehen. Er nahm die Maske ab und schien über einen Fund zu berichten, die Entfernung war aber zu groß, um ihn zu verstehen. Mit den Händen gestikulierend, stellte er Größen- und Lageverhältnisse dar. Einer der anderen im Boot nahm über Sprechfunk Kontakt mit seinem Gruppenleiter am Sprungturm auf. Deiters kam nach einem kurzen Wortwechsel zu den Ermittlern auf den Damm hoch.

»Sie haben ihn, der Junge hat sich nicht getäuscht. Die Leiche steckt im Schlamm fest, sichtbar ist nur ein Teil des Schädels, ein Unterarm mit Hand und die Fußspitzen, alles skelettiert. Ist in Rückenlage, auf der Körpermitte liegt ein schwerer Brocken, könnte Beton sein, den müssen wir erst irgendwie hochziehen, vorher ist an eine Bergung nicht zu denken.«

»Das riecht nicht nach Badeunfall«, murmelte Rünz. »Können Ihre Leute die Stelle mit einer Boje markieren und sich in Bereitschaft halten?«

»Kein Problem.«

»Herr Wedel, kontaktieren Sie bitte Stadtverwaltung und Badeaufsicht, das Familienbad und das Freibad drüben auf der anderen Seite müssen heute und morgen geschlossen bleiben. Und dann versuchen Sie bitte, Sybille Habich vom KTU beim LKA zu erreichen, bitten Sie sie, möglichst sofort mit einem kleinen Team zu kommen. Außerdem hätte ich für die Leichenschau gerne Bartmann hier, ich bin sicher, Sie erreichen ihn jetzt schon in der Kennedyallee.«

Wedel setzte sich mit seinem Mobiltelefon ab. Die Aktivität hatte Rünz etwas von seinen Beschwerden abgelenkt – er sehnte sich jetzt nach einer Flasche Cola, erfahrungsgemäß der einzige Rettungsanker für seinen ziellos im Bauchraum herumtreibenden Magen – vorausgesetzt, er schüttelte die Kohlensäure vollständig ab und nahm die koffeinierte Plörre langsam und in homöopathischen Dosen zu sich.

Gut anderthalb Stunden später saß er vor einer Pepsidose in der Jugendherberge bei einer improvisierten Lagebesprechung mit Robert Bartmann vom Rechtsmedizinischen Institut der Goethe-Universität Frankfurt und Sybille Habich vom Kriminaltechnischen Institut des Landeskriminalamtes Wiesbaden. Die zeitgenössische, funktionale Innenarchitektur der Unterkunft hatte wenig mit Rünz’ Klischeevorstellungen von Jugendherbergen zu tun. Einzig die omnipräsenten MP3-Autisten mit ihren Ohrstöpseln verrieten die eigentliche Zielgruppe des Hauses. Die Einrichtung war komplett modernisiert, der DJV hatte mehrere Seminarräume eingerichtet, die er nach den Stadtteilen Darmstadts benannt hatte. Die Dreiergruppe saß standesgemäß im Raum Bessungen mit Blick zum Woog, ein kleines, aber helles und funktional ausgestattetes Arbeitszimmer mit Flipcharts, Beamer, Tafel und Pinnwänden.

»Puh«, stöhnte Bartmann, die Nase rümpfend. »Hier könnte mal einer eine Dusche vertragen.«

Rünz lief rot an, obwohl der Mediziner ihn offensichtlich nicht als Verursacher der Geruchsbelästigung identifiziert hatte. Bartmanns Bemerkung überspielend, referierte er hastig den Sachstand und wendete sich an Habich.

»Haben Sie eine Idee, wie wir die Leiche möglichst schonend bergen können und eine ordentliche Spurensicherung am Fundort hinbekommen?«

»Da fallen mir spontan drei Möglichkeiten ein, von denen Ihnen zwei ganz sicher nicht gefallen werden.«

Habich kicherte über ihre Bemerkung wie ein kleines Schulmädchen, für eine ausgewiesene Spezialistin im Alter von fast 50 Jahren eine deplatziert und infantil wirkende Masche, mit der sie sich bei Besprechungen präventiv vor Angriffen und Kritik zu schützen suchte. Sie hatte die aschfahle, ledrige Haut einer langjährigen starken Raucherin und wirkte nervös, weil sie sich in der Herberge keine Zigarette anzünden konnte.

»Erklären Sie mir alle drei.«

»Die erste: Wir lassen den ganzen See ab, bis am Fundort nur noch ein paar Zentimeter Wasser stehen, genug für eine Arbeitsplattform mit flachem Boden. Das würde sicher ein paar Tage dauern, aber wir hätten optimale Arbeitsbedingungen.«

Bartmann nickte zustimmend, Rünz schüttelte den Kopf.

»Und ich werde von einer Meute aus Anglern, Woogsfreunden, Naturschützern, Enten, Schlammbeißern und Badegästen, angeführt vom Oberbürgermeister, aus der Stadt gejagt. Die Alternativen, bitte.«

Habich giggelte. Bartmann rollte mit den Augen. Erwachsene Menschen, die zur Regression neigten, waren ihm zuwider.

»Na ja, Möglichkeit zwei: Wir könnten rund um die Fundstelle eine Spundwand einbauen und innen das Wasser abpumpen, dann hätten wir zumindest ein paar einigermaßen trockene Quadratmeter, auf denen wir bergen und sichern könnten.«

»Wie viel Aufwand ist das?«

»So eine Wand ist aus einzelnen Metallprofilen zusammengesetzt, die direkt nebeneinander mit einer hydraulischen Presse in den Seegrund gedrückt werden. Dazu braucht es allerdings schweres Gerät, das kostet ein paar Wochen und einige 10.000 Euro, und Ärger mit den Naturschützern wird es da auch …«

»Ich hoffe, das waren die beiden Möglichkeiten, die mir nicht gefallen werden«, unterbrach Rünz sie.

Sie kicherte wieder.

»Richtig. Vorschlag drei, mein Favorit: Wir ziehen mit einer Seilwinde den Betonklotz hoch. Dann organisiere ich so eine Art Staubsauger, mit dem Unterwasserarchäologen arbeiten. Damit können wir den Schlick auf der Leiche und drum herum absaugen und an Land mit einer Filtereinheit alles auf Verwertbares sieben. Mit dem Sauger könnten wir heute Nachmittag schon loslegen und der finanzielle Aufwand ist überschaubar. Dafür brauche ich allerdings die DLRG-Truppe zur Unterstützung.«

Rünz schaute zum Rechtsmediziner.

»Einwände, Herr Bartmann?«

Der Rechtsmediziner blinzelte aus dem Fenster in die Morgensonne. Er nahm seine Brille ab und massierte seine Nasenwurzel zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Wir müssen uns Gedanken machen, wie wir den Korpus unversehrt herausbekommen. Mir wäre am liebsten, wir könnten ihn mit dem Seesediment, in dem er steckt, wie ein Kuchenstück herausschneiden, dann könnte ich ihn an Land quasi in situ…«

»Das wird nicht funktionieren«, unterbrach ihn Habich. »Dafür müssten wir mindestens zwei oder drei Kubikmeter tropfnassen Schlick mit herausheben, das sind über zwei Tonnen Gewicht. Das geht nur mit einem großen Greifer, das haben nur Schwimmbagger, das ist unrealistisch.«

Rünz versuchte zu vermitteln. »Wenn Sie mit Ihrem Staubsauger den Körper vom Schlamm befreien, können wir ihn vielleicht konventionell mit ein paar Tragegurten heben. Wir müssten schonend vorgehen.«

»Ziehen Sie mir wenigstens rund um die Leiche vier oder fünf Sedimentproben mit dem Kernbohrer, ich will sehen, ob die Stratigrafie gestört ist. Außerdem brauche ich ein paar Wasserproben aus verschiedenen Tiefen.«

Bartmann leistete kaum Widerstand, er schien erschöpft. Er arbeitete zuviel, hatte aber keine Alternative. Weit in der zweiten Lebenshälfte wurde die noch zur Verfügung stehende Zeitspanne für produktive berufliche Tätigkeit überschaubar, eine deprimierende Erkenntnis für einen leidenschaftlichen Wissenschaftler.

Rünz ließ die beiden für die Klärung technischer Details alleine und ging. Er übergab Wedel, der noch mit den DLRG-Leuten am See stand, die Einsatzleitung vor Ort mit der Bitte, ihn rechtzeitig zur Bergung zu rufen. Dann fuhr er nach Bessungen ins Präsidium.

2

Er versah seine Bürotür mit einem ›Bitte nicht stören‹-Schild und unterrichtete die zuständige Staatsanwältin telefonisch. Sie gab ihm vorab das mündliche Einverständnis für die besprochenen Aktionen am Fundort. Sein Vorgesetzter Eric Hoven würde ihn im Laufe des Tages sicher noch kontaktieren, aber nicht vor Mittag. Hoven hatte einen Termin beim BKA Wiesbaden, es ging um effizientere Zusammenarbeit zwischen BKA, LKAs und Präsidien, schlankere Entscheidungsstrukturen, optimierte Kommunikationsprozesse, verbessertes Qualitätsmanagement – die postmoderne Sintflut, die aus der Wirtschaftswelt heraus alle Lebensbereiche überschwemmte und vor der Staatsgewalt nicht Halt machte.

Rünz legte den Kopf auf den Schreibtisch und döste ein. Kurz vor Mittag schreckte er auf, in einem der Kreißsäle im Marienhospital mussten die Fenster offenstehen, er hörte die markerschütternden Schreie einer Gebärenden. Übelkeit und Kopfschmerzen waren leichtem Hunger gewichen. Er fand in seinem Schrank ein Ersatzhemd und machte sich in den Sanitärräumen der Bereitschaftspolizei frisch. Dann ging er in die Kantine und stellte sich einige Beilagen zusammen, gekochten Reis und Salzkartoffeln, Speisen mit denkbar geringem Risiko einer Kontamination durch pathogene Erreger, die sich in seinem Magen-Darm-Trakt unkontrolliert vermehren konnten. Zur Sicherheit würde er ohnehin nur einen Teil der Beilagen essen, gerade so viel, dass er am Nachmittag, wenn er von der Arbeit abgelenkt war, verdauen konnte und abends mit leerem Magen aus der Gefahrenzone war. An einem der kaum besetzten großen Tische stellte er sein Tablett ab und zog ein kleines, in Folie verschweißtes Plastikbesteck aus der Tasche, das er stets dabeihatte. Das Letzte, was er brauchen konnte, war eine durch Schmierinfektion infizierte Kantinengabel, die durch die Hände eines kranken Küchenmitarbeiters gegangen war. Mit gesenktem Kopf begann er zu essen, den Blickkontakt mit Kollegen und anderen Mitarbeitern meidend.

Am Nebentisch saß eine Gruppe von Bereitschaftspolizisten, drei Frauen und drei Männer. Der Wortführer der Runde war Brecker, Rünz’ Schwager. Er lachte alle paar Sekunden dröhnend auf wie ein röhrender Hirsch. Er war ein massiger Typ mit Stiernacken und millimeterkurzen grauen Haaren und hatte Rünz den Rücken zugewandt, sein Oberkörper schien die Nähte des braunen Hemdes fast zu sprengen. Brecker hatte als Polizeihauptmeister die oberste Sprosse auf der Karriereleiter im mittleren Polizeivollzugsdienst erreicht, aber das frustrierte ihn nicht, er war eins mit seinem Beruf, ein Raubtier auf Streife, das allein durch seine physische Präsenz kritische Situationen im Außendienst meisterte und auch dann mal blaue Flecken verteilte, wenn es nicht unbedingt notwendig war. Ganz und gar alte Schule, hatte er für jüngere Kollegen, die nach heiklen Einsätzen schon mal den psychologischen Dienst des Präsidiums in Anspruch nahmen, nur Hohn und Spott übrig.

Die Namen der beiden anderen Männer am Tisch kannte Rünz nicht, er nannte sie insgeheim die Lakaien, weil sie Brecker wie Pudel begleiteten und bei jeder seiner derben Zoten kräftig ablachten. Sie wirkten grotesk, wenn sie ihm nacheiferten und selbst versuchten, kernige Sprüche zu machen.

Zwei der Frauen kannte Rünz, erfahrene Polizistinnen mit über zehn Jahren Berufserfahrung. Die dritte, eine untersetzte Brünette, vielleicht Anfang 20, hatte er noch nie gesehen. Eine Anfängerin. Beute für das Tier. Brecker fragte sie ohne Unterlass nach ihrem Privatleben, ließ sie aber nie zu Wort kommen, sondern schoss direkt sexuelle Anspielungen hinterher, über die der Rest der Truppe sich amüsierte. Die Brünette wirkte verunsichert, lachte mal mit, starrte dann wieder wie versteinert auf ihren Teller. Sie hatte den richtigen Zeitpunkt verpasst, eine klare Grenze zu ziehen und wollte sich jetzt nicht als Spielverderberin isolieren, obwohl ihr die Unverschämtheiten sichtlich unangenehm waren. Ihre beiden Kolleginnen waren denkbar weit entfernt von Geschlechtersolidarität. Sie waren durch die gleiche Schule gegangen und hatten sich arrangiert, indem sie ihre Weiblichkeit morgens an den Garderobenhaken hängten. Sie bewegten sich wie Männer, lachten und sprachen wie Männer, vermieden es, mit ihren femininen Seiten Angriffsflächen zu bieten. Aber die Zeiten wurden hart für Dinosaurier wie Brecker. Junge Frauen mit schwachem Selbstbewusstsein wie die Anwärterin am Nebentisch waren inzwischen seltene Pflanzen, über die sich Brecker mit umso größerem Hunger hermachte. Heute waren die Standardreaktionen auf sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz entweder massive dienstrechtliche Probleme oder ein Tritt in die Weichteile. Rünz hatte Mitleid mit der jungen Frau. Andererseits beneidete er Fossile wie seinen Schwager um die Gewissenlosigkeit, mit der sie sich über das Frischfleisch hermachten. Die einzige Frau, die Rünz so respektlos behandelte, war seine eigene – Breckers Schwester.

Der Stiernacken drehte sich um und zwinkerte ihm zu.

»Servus Karl. Süß, die Kleine, oder?«

»Zu alt für dich.«

»Nur kein Neid! Kommst du morgen Abend auf den Schießstand, Karl? Ich habe eine kleine Überraschung!«

»Denke schon.«

»Wie gehts meinem Schwesterchen?«

»Heute Morgen noch gut …«

»Bist immer schön lieb zu ihr, gelle?«

Rünz lächelte gequält, Brecker wendete sich wieder seiner Gruppe zu.

Er hatte gerade begonnen, wieder in seinen Beilagen herumzustochern, als ihm gegenüber jemand sein Tablett auf den Tisch schob.

»Ich grüße Sie, Herr Rünz. Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

Es war Hoven. Diese joviale, energische Begrüßung hatte er sich von den externen Consultants abgeschaut, die mit PowerPoint-Präsentationen und Flipcharts einen großen Teil seiner Arbeitszeit gestalteten.

»Selbstverständlich, nehmen Sie Platz«, antwortete Rünz. Freundlichkeit kostete den immer noch angeschlagenen Polizeihauptkommissar große Überwindung.

»Das sieht ja recht übersichtlich aus«, sagte Hoven mit Blick auf seinen Teller. »Machen Sie Diät?«

»Nein, ich habe eine Fastenwoche hinter mir und muss jetzt langsam wieder anfangen«, fabulierte Rünz.

Einige Sekunden sagte keiner von beiden etwas, eine unangenehme Situation, aber Rünz fehlten Energie und Inspiration für eine ordentliche Konversation.

»Wie ist der Stand bei der Woogsleiche?«

Hoven hatte auf Arbeitsgespräch umgeschaltet. Rünz gab ihm eine kurze Zusammenfassung.

»Presse?«, fragte Hoven.

»Keiner vor Ort. War wohl ein bisschen zu früh.«

»Ich werde trotzdem mit dem Herausgeber der ›Allgemeinen‹ sprechen«, sagte Hoven. Mit einem einfachen Chefredakteur mochte er sich offensichtlich nicht abgeben.

»Vorausgesetzt natürlich, Bartmann schließt auf ein Gewaltverbrechen, aber davon ist ja auszugehen. Wenn Dreyfuss uns vier Wochen ungestört arbeiten lässt, geben wir ihm Exklusivinformationen. Er wird drauf eingehen. Wir werden für das issue eine ordentliche awareness bekommen, wenns tatsächlich ein Mord war. Und wenns ein Badeunfall ist, interessiert das ja sowieso keinen. Fahren Sie, so lange wir von Bartmann nichts Näheres erfahren, das Standardprogramm – ohne publicity.«

Hoven machte eine Pause, steckte sich ein Stück Cordon bleu in den Mund und kaute entspannt. Er hatte sich um Mund und Kinnpartie herum einen präzise getrimmten Henriquatre wachsen lassen, der ihm zugleich die Aura intellektueller Brillanz und verwegenen Freibeutertums verlieh. Sein Schuhwerk bezog er aus exklusiven englischen Manufakturen, am Handgelenk trug er eine mächtige Luminor Sealand von Panerai, der perfekte Zeitgeber für Menschen, die die Symbiose aus Sportlichkeit, Exklusivität und Nonkonformismus suchten. In Besprechungen klappte er gerne demonstrativ das Saphirglas des Automaten auf, so als bediente er eine alte Taschenuhr mit undurchsichtigem Deckel. Sein Auftreten und seine Erscheinung waren sozusagen die Antithese zu Rünz’ Präsenz. Er war der Archetyp einer neuen Spezies in der Führungsebene der hessischen Polizei, ein narzisstischer und eloquenter Kosmopolit, für den Strafverfolgung letztlich nach den gleichen ökonomischen Prinzipien optimiert werden konnte wie die Umsatzrendite einer Aktiengesellschaft. Er war um die 40 und hatte einige ältere Semester wie Rünz längst in der Innenkurve überholt. In unzähligen Managementseminaren hatte er seinen aktiven Wortschatz um zahlreiche sinnfreie Business-Anglizismen erweitert – er liebte es, bei festlichen Anlässen im Präsidium keynote speeches zu halten, in denen er von visions, missions, top-down- und bottom-up-approaches referierte. Die hessische Polizei war in seiner Vorstellung auf dem Weg zu einem Dienstleistungsunternehmen, das am Markt gut aufgestellt werden musste, um das Produkt Sicherheit lukrativ zu vertreiben. Hoven saugte wie ein trockener Schwamm alle Methoden der perfektionierten Selbst- und Fremdausbeutung auf, die aus der Grauzone zwischen Wirtschaftspsychologie und missverstandener fernöstlicher Philosophie heraus in die Arbeitswelt drängten. Als Quereinsteiger hatte er vor zwei Jahren die Einsatzgruppe im Präsidium Südhessen übernommen und war direkt dem Polizeipräsidenten unterstellt. Rünz musste als Leiter der Ermittlungsgruppe Darmstadt City an ihn berichten, aber Hoven war ein Vorgesetzter auf Durchreise. Die Tätigkeit in Darmstadt war für ihn nichts weiter als eine Zwischenstufe auf einer Karrieretreppe, die ihn in einigen Jahren ins Innenministerium, in die Interpolzentrale nach Lyon oder als Sicherheitsberater zu DaimlerChrysler bringen würde. Hoven war sozusagen perfekt, bis auf einen einzigen Schwachpunkt, der ihn erträglich und oft zum Spott des Kollegiums machte – er war mit einer Frau verheiratet, die ein heterosexueller Mann nur nach langer sexueller Abstinenz und starkem Alkoholkonsum als attraktiv empfinden konnte. Er hatte wohl aus irgendeinem unerklärlichen Standesdünkel heraus den Drang verspürt, seine Oberschichtherkunft noch zu vergolden, indem er in eine blaublütige Dynastie einheiratete, und dort schien die Auswahl nicht sehr groß gewesen zu sein. Hoven tupfte sich mit der Serviette die Lippen ab.

»Wer vom Schottener Weg ist denn zuständig?«

»Staatsanwältin Simone Behrens.«

»Habe ich noch nicht kennengelernt. Stimmt da die Chemie oder nimmt die Dame gern mal selbst die Ruderpinne in die Hand?«

»Bis jetzt haben wir ausgezeichnet zusammengearbeitet. Sie will kontinuierlich und ausführlich informiert werden, ansonsten vertraut sie unseren Fähigkeiten.«

»Sehr gut. Sagen Sie Bescheid. Wenn es Probleme mit ihr gibt, werde ich mit dem Leitenden mal abendessen gehen.«

Rünz spürte eine neue Übelkeitswelle, diesmal psychisch induziert.

»Würden Sie mir bis heute Abend Ihre roadmap und Ihren actionplan für den Fall vorlegen? Und halten Sie mich konstant auf dem Laufenden, am besten per Mail, Sie kennen meinen schedule«, sagte Hoven.

Rünz zuckte zusammen. Er hätte nicht weniger verstanden, wenn sein Vorgesetzter Altgriechisch gesprochen hätte. Vielleicht wäre ein Besuch eines der Schulungsprogramme, die Hoven in den letzten Monaten initiiert hatte, doch sinnvoll gewesen. Aber Wedel würde ihm sicher weiterhelfen.

»Kein Problem, Herr Hoven.«

Sein Vorgesetzter musterte ihn einige Sekunden.

»Herr Rünz, ich glaube an Sie, Sie sind eigentlich ein guter Mann.«

Das klang ungefähr wie »Nichts gegen Ausländer, aber …«

Darüber hinaus gehörte Lob von einem fünf Jahre jüngeren Vorgesetzten ganz sicher zu den perfiden Formen der Erniedrigung. Hoven schien tatsächlich anzunehmen, dass er mit dieser Einführungsübung aus dem Volkshochschulkurs Personalführung Rünz’ Motivation steigern konnte.

»Aber ich glaube, Sie müssen Ihre skills einfach besser nutzen. Ich zum Beispiel mache vor dem launch jeder Arbeitswoche erstmal eine SWOT-Analyse.«

Rünz suchte panisch nach einer Ausrede, um das Gespräch abzubrechen. Er konnte Brechreiz vortäuschen, genau genommen hätte er damit nicht einmal gelogen.

Hoven zog einen Montblanc-Füllfederhalter aus dem Jackett und skizzierte auf der Rückseite eines Briefumschlages eine Tabelle.

»Sehen Sie, hier bei der internen Analyse tragen Sie Ihre strenghts und weaknesses ein und hier bei der externen Ihre opportunities und threats.«

»Klingt interessant«, heuchelte Rünz. Vielleicht hatte er Glück und in der Großküche explodierte ein Dampfkessel oder irgendwo in der Kantine brach eine Schießerei los.

»Jetzt haben Sie hier in der Vierfeldermatrix eine wunderbare Situationsanalyse und können ein prima finetuning für Ihre strategies machen. Versuchen Sie das mal! Sie sollten die SWOT-Analyse zum festen Bestandteil Ihres Behaviour Change Managements machen, Sie werden sehen, das lohnt sich. Das können Sie behalten.«

Hoven schob ihm den Briefumschlag über den Tisch. Rünz vermisste seine Ruger. Kein Staatsanwalt der Welt würde ihm in dieser Situation Affekt absprechen.

3

Von seinem Büro aus organisierte er für den nächsten Morgen ein Treffen seiner Ermittlungsgruppe, reservierte einen Besprechungsraum, schaute im Gruppenkalender nach, wer durch Termine gebunden war, versandte Einladungen mit der Bitte um pünktliches Erscheinen. Dann machte er sich auf den Weg zurück zum Woog, ohne auf Wedels Anruf zu warten. Auf dem Westdamm des Sees stehend sah er, dass die Techniker und Spurensicherer ihr Basislager auf der Insel gegenüber aufgeschlagen hatten. Er stieg wieder ins Auto, fuhr eine halbe Runde um das Gewässer und parkte vor dem Sportgelände des TSG 1846. Am Eingang des Freibades standen Dutzende enttäuschter Badegäste, immer neue kamen dazu, andere machten sich kopfschüttelnd wieder auf den Heimweg. Rünz drückte sich durch die Menschentraube, zwei Polizisten, die den Eingang sicherten, öffneten ihm das Tor. Er ging am leeren Kassenhäuschen vorbei über die Betonbrücke, die den modrigen Darmbach überquerte, kaum ein Rinnsal zu dieser Jahreszeit. Ein blauer Mercedes Sprinter des LKA Wiesbaden mit Hochdach und langem Radstand parkte direkt vor der massiven Bogenbrücke, der einzigen Verbindung zur Badeinsel. Die Heckklappen des Transporters waren geöffnet, ein Generator brummte im Innern, einige Strippen hingen aus dem Laderaum heraus. Dem Kabelstrang folgend, ging der Ermittler über die Brücke zu der Gruppe auf der Nordspitze der Insel.

»Ich wollte gerade anrufen, Chef. Sie kommen genau richtig, die Pumpe ist eben angelaufen.« Wedel stand mit Sybille Habich und Olaf Deiters neben einer Maschine, die ohne Unterlass und mit einigem Lärm graubraunen dünnflüssigen Matsch über eine Kaskade von Filterkästen spuckte. Habich starrte konzentriert auf die Metallsiebe, wischte immer wieder wie eine Goldsucherin mit der Hand über die gefilterten Partikel und steckte Metall, Glas- und Kunststoffteile verschiedenster Größen in Klarsichttüten.

»Den Betonblock haben wir runter«, erklärte Deiters. Er wies im ufernahen Wasser auf einen annähernd quadratischen Block mit einem halben Meter Kantenlänge und rund 25 Zentimetern Dicke, aus dessen Bruchkanten korrodierte Armierungsstäbe herausragten.

»Meine Jungs saugen jetzt erst mal den Schlick von der Leiche und dann noch die oberen zehn Zentimeter in einem Umkreis von fünf Metern ab. Kein leichter Job bei null Sicht …«

Deiters wollte gelobt werden, das war zu spüren.

»Sie machen gute Arbeit, ich wüsste nicht, wie wir das hier ohne Ihre Leute schaffen würden!«

»Ist unser Job«, murmelte Deiters stolz.

Rund eine halbe Stunde arbeiteten die Taucher am Seegrund, dann stiegen sie auf und Habich stellte die Pumpe ab. Deiters funkte wieder mit einem der Sicherungsmänner im Schlauchboot.

»Die Leiche ist soweit frei, die Männer könnten jetzt eine Trage drunter durchziehen und sie heben«, erklärte er, an Rünz und Wedel gewandt.

»Wo bleibt Bartmann«, fragte Rünz und sah ihn im gleichen Moment schwitzend seinen schweren Einsatzkoffer über die Brücke wuchtend. Wedel ging ihm entgegen und nahm ihm seine Ausrüstung ab.

»Entschuldigen Sie meine Verspätung, ich habe die Zufahrt für das Gelände hier nicht gefunden und musste draußen parken. Wie weit sind wir?«

»Bereit zur Bergung. Haben Sie noch Sonderwünsche, bevor wir ihn rausziehen?«

»Allerdings, ziehen Sie den Korpus bitte nicht an die Oberfläche und ins Boot, am besten schleppen sie ihn unter dem Wasserspiegel langsam bis in Ufernähe, dann ist die Gefahr geringer, dass sich Teile lösen.«

Deiters nickte und instruierte seine Männer. Die Taucher verschwanden wieder für einige Minuten, dann zogen die Männer in den Booten vorsichtig an den Gurten und setzten den Ponton langsam Richtung Insel in Bewegung. Der Leichnam erschien so langsam im Blickfeld der Beteiligten, dass alle, die sich nicht wie Bartmann täglich mit toten Menschen befassten, einige Momente Zeit hatten, sich an den Anblick zu gewöhnen. Einer von Habichs Mitarbeitern hielt alles mit einer Digitalkamera fest.

Rünz hatte fast zwei Dutzend Tote in seiner beruflichen Laufbahn gesehen, darunter einige Wasserleichen, aber keine hatte Ähnlichkeit mit dieser. Der Transport unter Wasser hatte den Schlick von dem Körper gespült. Die Leiche war völlig unbekleidet, Kopf, ein Unterarm, Hände und Zehen skelettiert, aber die Grobformen von Beinen und Rumpf erstaunlich gut erhalten. Das Gewebe schien relativ intakt, abgesehen von seiner unnatürlich hellgrauen Färbung und einer kreideartigen Konsistenz. Die Genitalregion war zu stark deformiert, um auf den ersten Blick Rückschlüsse auf das Geschlecht zu ermöglichen. Arme und Beine schienen mehrfach gebrochen, die Gliedmaßen standen in grotesken Winkeln ab, auch die Schädelkalotte war beschädigt. Die gesamte Bauchregion vom Becken bis zu den unteren Rippenbögen bildete eine stark eingeprägte, fast ebene Fläche, offensichtlich das Auflager des Betonblocks. Drei oder vier kleine Perforationen in der Bauchdecke ähnelten Schusswunden, konnten aber genauso gut vom Bewehrungsstahl des Betons herrühren. Rünz vermutete nach dem bloßen Augenschein einen Todeszeitpunkt, der einige Monate zurücklag.

Der Mediziner stand in Gummistiefeln im Wasser, beugte sich über die Leiche und ließ sich von Wedel Untersuchungsinstrumente aus dem Koffer herüberreichen. Er maß Temperaturen an verschiedenen Stellen in unterschiedlichen Gewebetiefen, indem er eine Art Thermometerlanze in den Körper stach, sicherte Proben der kreideartigen Substanz und ließ Wedel die verschlossenen Behälter in einer Kühlbox deponieren. Ruhig und konzentriert machte er mit seiner Kamera eine Serie von Ganzkörperaufnahmen aus verschiedenen Perspektiven. Dann wechselte er das Objektiv und fertigte aus rund 30 Zentimetern Entfernung ein lückenloses digitales Puzzle der sichtbaren Körperoberfläche an. Als er den Hals des toten Körpers anpeilte, schien er etwas zu entdecken, er gab Wedel die Kamera und ließ sich einen kleinen Seitenschneider und eine Kombizange reichen. Er werkelte einen Moment herum und zog dann mit der Zange einen verkrusteten Anhänger vom Hals des Toten, den er Habich zur Asservierung reichte.

»Sollen wir ihn drehen?«, fragte Wedel.

»Wenn Sie jetzt schon wissen, dass das ein Mann war, nehme ich ein paar Nachhilfestunden bei Ihnen, Herr Wedel.«

»Klugscheißer«, murmelte Wedel.

»Das habe ich gehört!«

Bartmann kam aus dem Wasser, setzte sich ins Gras und zog die Stiefel aus. Der Rest der Gruppe schaute ihn erwartungsvoll an.

»Massive Gewalteinwirkung, die zu mehreren Frakturen geführt hat. Todeszeitpunkt liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit einige Jahre zurück.«

»Geht es etwas genauer«, fragte Wedel. »Geschlecht, Alter, mögliche Umlagerung, Todesursache?«

»Das Alter? Zwischen 15 und 40 Jahren ist alles möglich, vor der Sektion kann ich ihnen da unmöglich Genaueres sagen. Wahrscheinlich ein Mann – wahrscheinlich. Ich will mir später nicht vorhalten lassen, ich hätte Ihre Ermittlungen in eine falsche Richtung gelenkt. Was die Liegezeit angeht, ist zwischen fünf Jahren und mehreren Jahrzehnten alles drin nach erstem Augenschein. Umlagerung halte ich allerdings für unwahrscheinlich. Geben Sie mir zehn Tage und ich schicke Ihnen einen vorläufigen Bericht. Dann fehlen zwar noch einige Laborbefunde und die Toxikologie, aber Sie haben schon mal eine solide Arbeitsgrundlage. Sie wissen, ich brauche für die Obduktion eine gerichtliche Anordnung, aber das sollte nach dem Stand der Dinge kein Problem sein.«

Bartmann organisierte den Transport der Leiche nach Frankfurt. Habich ließ Deiters Männer noch eine gute Stunde lang Schlamm absaugen, baute dann mit ihren Leuten die Geräte ab und verstaute sie im Sprinter. Deiters setzte mit seiner Truppe im Schlauchboot über zum DLRG-Basislager. Rünz instruierte Wedel, für die Besprechung am nächsten Morgen Fotos der Leiche, des Fundortes sowie einige Pläne und Luftbilder des Areals bereitzuhalten. Es war nach 20 Uhr, bis die Bergungsstelle geräumt und der Letzte das Gelände wieder verlassen hatte. Rünz wies die beiden Polizisten am Eingang an, das Tor zu versiegeln, und machte sich auf den Weg.

4

Gegen 21.30 Uhr erreichte er sein Haus im Paulusviertel. Seine Frau küsste ihn zur Begrüßung etwas länger als üblich – er fürchtete, sie könnte mit ihm schlafen wollen, und überschlug in Gedanken die Zahl der Tage seit ihrem letzten Eisprung.

»Möchtest du noch etwas essen?«, fragte sie ihn.

Er hatte seit dem Mittagessen in der Kantine nichts mehr zu sich genommen, zum Hunger hatten sich längst Mattigkeit und Konzentrationsschwäche gesellt, aber er hatte nicht die Absicht, die Nacht mit Panikattacken zu verbringen.

»Nein danke«, sagte er, »geh schon ins Bett, ich komme gleich nach.«

Allein im Wohnzimmer goss er sich einen Viertelliter Rotwein in ein Glas und leerte es in einem Zug. Die Wirkung dieser Zeremonie war stets zuverlässig und überwältigend. Sein Verdauungsapparat absorbierte den Alkohol ungebremst von jeder Nahrung und verschaffte ihm einen kurzen euphorischen Schub, der von einer tiefen Entspannungsphase abgelöst wurde. Er legte sich auf die Couch und wartete 20 Minuten, bis er hörte, wie seine Frau ihre Leselampe ausknipste. Dann schaltete er das Fernsehgerät an und drehte den Ton so leise, dass er gerade noch etwas verstehen konnte. Durch die Kabelprogramme schaltend blieb er bei einem Privatsender hängen, der einen US-amerikanischen Softporno aus den 80er-Jahren zeigte. Er hatte Glück, einer der unendlich langen Werbeblöcke für die einschlägigen 0190-Angebote war eben durchgelaufen. Leider nahmen die unsäglich penetrante elektronische Musik, die ballonartigen Silikonbrüste der Aktrice und die an ein Aerobicvideo erinnernde Inszenierung der Darstellung jeden Reiz. Ihm blieb nichts übrig, als seiner Frau ins Schlafzimmer zu folgen.