Mount Copenhagen - Kaspar Colling Nielsen - E-Book

Mount Copenhagen E-Book

Kaspar Colling Nielsen

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Beschreibung

Auf dem Mount Copenhagen, einem 3500 Meter hohen künstlichen Berg in der Nähe der dänischen Hauptstadt, gibt es verschiedene Klimazonen, exotische Pflanzen und Tiere, reiche und arme Bewohner. Ein vertrautes, aber auch fremdes Milieu, in dem Kaspar Colling Nielsen siebzehn miteinander verbundene Geschichten spielen lässt, deren Helden ihr Dasein signifikant verändern. Ein Mann mutiert zum Vogelmenschen, ein anderer entwickelt magnetische Anziehungskraft, ein dritter trifft durch Marathonlauf Gott, der ihn in Kulinarik unterweist. Ein kluges und amüsantes Zukunftsszenario um die Frage, was passiert, wenn der Mensch die Natur zu sehr manipuliert.

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Seitenzahl: 232

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Zum Buch

Über Jahrzehnte hinweg ist Leben entstanden auf dem Mount Copenhagen, einem 3.500 Meter hohen künstlichen Berg in der Nähe der dänischen Hauptstadt. Es gibt verschiedene Klimazonen, exotische Pflanzen und Tiere, reiche und arme Bewohner. Ein vertrautes, aber auch fremdes Milieu, in dem Kaspar Colling Nielsen siebzehn miteinander verbundene Geschichten spielen lässt, deren Helden ihr Dasein signifikant verändern. Ein Mann mutiert zum Vogelmenschen, ein anderer entwickelt magnetische Anziehungskraft, ein dritter trifft durch Marathonlauf auf Gott, der ihn zum Erstaunen aller in Kulinarik unterweist. Ein kluges und amüsantes Zukunftsszenario, das um die Frage kreist, was passiert, wenn der Mensch die Natur manipuliert.

»Ein kleines Buch voller großer Ideen.« Magasinet

Zum Autor

Kaspar Colling Nielsen, 1974 geboren, gilt als eine der eigenständigsten Stimmen der zeitgenössischen skandinavischen Literatur. Sämtliche seiner Bücher wurden für die wichtigsten dänischen Buchpreise nominiert. Für »Mount Copenhagen«, sein Debüt, erhielt er den renommierten Danske Bank First Book Award. Für sein literarisches Werk wurde Colling Nielsen 2014 mit dem Rune T. Kiddes Honorary Award und 2017 mit der Holberg Medal ausgezeichnet. Kaspar Colling Nielsen lebt in Kopenhagen, wo er neben seiner schriftstellerischen Arbeit an der Copenhagen Business School unterrichtet sowie als Redenschreiber für die dänische Regierung agiert.

Kaspar Colling Nielsen

Mount Kopenhagen

Aus dem Dänischen

von Günther Frauenlob

Wilhelm Heyne Verlag

München

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Mount København bei Gyldendal, Kopenhagen

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Copyright © 2010 by Kaspar Colling Nielsen

Copyright © 2021 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Thomas Brill

Lektorat: Kirsten Naegele

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel / punchdesign, München

unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com (jumpingsack, phoelixDE, julymilks, Quirky Mundo)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-22587-2V001

Inhalt

Der Pelikan

Der Tennischampion

Das Treppenhaus

Das Teleskop

Die Vogelmenschen

Kandierte Feigen

Magneto

Der Gartenwichtel

Die Verschwörung

Außerirdische in Valby

Der Vampir

Das Problem mit den Grönländern

Die Freude, einen Apfel zu essen

Der sprechende Mönch

Die Frau ohne Gesicht

Frühstück komplett

Magnetos Ende

Anmerkungen

Zu fliegen ist einfach

Ich stecke den Daumen in die Nase und mache ihnzum Zentrumder Rotationmeines Körpers.

Vor langer Zeit beschloss die dänische Regierung, einen Berg auf Avedøre Holme errichten zu lassen. Der Bau dauerte 200 Jahre. Am Ende ragte der Berg 3.500 Meter in die Höhe, hatte einen Umfang von 55 Kilometern und eine Fläche von 590 Quadratkilometern, was etwa 118.000 Fußballfeldern entspricht oder etwas mehr als der Fläche von Bornholm. Die kolossale Konstruktion reichte weit über das begrenzte Areal von Avedøre Holme hinaus. Sogar ein Teil der Meeresfläche vor der Insel wurde als Baugrund genutzt. Der Berg erhielt den Namen Mount Kopenhagen. Die Temperatur sinkt dort pro 100 Höhenmeter um ein halbes Grad. Sind es am Fuß des Berges null Grad, werden an der Spitze minus 17,5 Grad gemessen. Sie war deshalb die meiste Zeit des Jahres von einer dicken Eisschicht eingehüllt, und im Winter war der ganze Berg häufig schneebedeckt. Auch wenn eine aktive Rangercrew immer wieder vorbeugende Sprengungen unternahm, wurden die umliegenden Gemeinden regelmäßig von Lawinen bedroht. Besonders Hvidovre und Glostrup waren stark betroffen. Schnee und Eis schmolzen im Frühjahr und bildeten am Fuß des Berges Bäche und Flüsse. Ein Teil des Schmelzwassers wurde über Kanalsysteme, die in den Fuß des Berges gegraben worden waren, in die Køge Bugt geleitet. Die Wassermassen waren aber derart groß, dass rund um den Berg von ganz allein weitläufige Mündungsdeltas entstanden. Bei dem Versuch, die kolossalen Wassermengen zu kontrollieren und die Überschwemmungen zu reduzieren, erweiterte man den Damhus See um mehr als zwanzig Kilometer, sodass er bis nach Greve reichte. Das Mündungsdelta aber blieb, und in dem vielfältigen Wasserlebensraum entwickelte sich ein guter Bestand an Lachsen und Meerforellen. Die neuen Fischbestände führten dazu, dass sowohl See- als auch Steinadler nach Dänemark zurückkehrten und sich in großer Zahl am Berg ansiedelten. Im Mündungsdelta bei Valby und Hvidovre konnte man früh am Morgen in den alten Vierteln an der Ellebjerg Å zusehen, wie die Adler sich ins Wasser stürzten. Auch die Fliegenfischer standen dort und warfen ihre Schnüre in ruhigen, rhythmischen Bewegungen aus, während sich im Licht der tief stehenden Sonne das reiche Insektenleben tummelte.

Der Bau des Berges verschlang 600 Milliarden Kronen und kostete private Investoren und staatliche Stellen schon in der Planungsphase drei Milliarden Kronen pro Jahr. Es gab ein umfassendes Vergabeverfahren, bei dem Privatfirmen und der dänische Staat die Kosten für verschiedene Teile des Berges gegen ein späteres Verfügungsrecht übernahmen. Die Investoren bildeten ein Konsortium, das den Berg verwaltete. Allein die Wintersportaktivitäten im Gipfelbereich stellten auf lange Sicht eine nicht zu verachtende Einnahmequelle dar. Und auch die Hotels in der Nähe erwiesen sich zu allen Jahreszeiten als äußerst beliebt bei Touristen und Einheimischen.

Menschen, die das Glück und Privileg hatten, sich ein Haus am Berg zu sichern, blieben oft über Generationen dort wohnen und wurden nicht selten zu eher eigenartigen, introvertierten Typen. Eine Dänische Bergziege, die perfekt an das harsche Klima angepasst war, wurde gezüchtet. Der Käse dieser Art sowie der Lachs und die Forellen aus den Wasserläufen waren kulinarische Spezialitäten, die unabdingbar mit dem Berg verbunden waren.

Im unteren Bereich lag ein weitläufiges Waldgebiet, das einmal um den Berg herumführte. Abgesehen von dem starken Gefälle unterschied sich der fruchtbare Wald mit seinen saftigen Buchen und Eichen nur wenig von anderen dänischen Wäldern. Stieg man den Berg empor, änderten sich Fauna und Flora. Schon in etwa 1.000 Metern über dem Meer wuchsen fast nur noch Kiefern und kleinere Büsche. Hier wurde das Tierleben von Wildkatzen, Adlern, Papageientauchern und Bergziegen dominiert. Ganz oben auf dem Gipfel gediehen nur noch kleine Pflanzen. Die einzigen Tiere, die in der kargen, vom Wind gepeitschten Landschaft überdauern konnten, waren Polarfuchs, Schneehase, Bär und die Dänische Bergziege.

Einige Grönländer siedelten sich weit oben in kleineren Gemeinden am Berg an, was gegen jegliches Verfügungsrecht verstieß. Sowohl Mærsk als auch der dänische Staat wurden deshalb aktiv, aber das Problem war nicht leicht zu lösen, denn es war ebenso schwierig wie zeitaufwendig, die neuen Siedler in dem riesigen Areal zu lokalisieren und gefangen zu nehmen.

Für die Wintersport- und Radfahrelite Dänemarks bedeutete der Berg eine wesentliche Verbesserung ihrer Trainingsmöglichkeiten, was zu Siegen sowohl bei den Olympischen Spielen als auch bei der Tour de France führte.

Eine Etappe der Tour de France wurde am Berg ausgerichtet, und ein bekannter Dichter und Radsportkommentator äußerte sich in diesem Zusammenhang wie folgt: »Der Berg ist künstlich und kein natürlicher Teil der Landschaft, hat aber doch Bestandsrecht. Dieses von Menschen geschaffene, babelartige Ungetüm ist von der Natur akzeptiert worden. Es ist fast so, als bereite diese Skizze, diese künstliche Form, die Bühne für die wunderbare Natur, die mit all ihren Spielarten ins Licht tritt und sich zur vollen Schönheit entfaltet, sodass einem dieses Bauwerk immer weniger künstlich erscheint. Als wir heute früh hier heraufgefahren sind, haben wir eine Biberfamilie gesehen, die an ihrem Damm baute. Solche Szenen kennt man ja sonst nur aus den Rocky Mountains in Alaska.« Ergänzend fügte sein Co-Kommentator hinzu: »Ja, den Tieren scheint der Ursprung des Berges vollkommen egal zu sein, sie sind einfach hier.«

Køge Havn war der Knotenpunkt der gesamten Gegend. An dem langen Hafenkai lagen Räuchereien und Fischmärkte, eine Vielzahl von Geschäften, Restaurants und Hotels. Hier legten auch die Besucher an, die mit Freizeitbooten, Fähren und den gelben Wassershuttles, die zwischen dem Berg und den größeren dänischen Hafenstädten verkehrten, über den Wasserweg kamen.

Der gewaltige Umfang des Berges und der Charakter des Bauwerks inspirierten ganz normale Menschen, ungeheuer ambitionierte Projekte zu starten, wie man sie seit der Depression 1930 nicht mehr gesehen hatte.

Der Pelikan

Es war nicht vorherzusehen, dass der Arzt und Hobbyornithologe Jan Peter Lassen zu einer derart einflussreichen Figur der Weltgeschichte werden und wie niemand zuvor die Grenzen der Kategorie »Mensch« erweitern würde.

Schon seit er denken konnte, galt Jan Peter Lassens Faszination den Vögeln. Als Kind hatte er ganze Tage lang die Krähenschwärme beobachten können. Nicht weniger hatten ihn die Kormorankolonie und das Kohlmeisenpärchen im Garten fasziniert. Später fuhr er mit dem Rad jeden Tag zum Mount Kopenhagen, um aus nächster Nähe die Papageientaucher zu sehen oder schon früh am Morgen zu beobachten, wie die Fischadler im Delta auf Jagd gingen.

Als Jan Peter zehn Jahre alt war, verstarb plötzlich seine Mutter, und sein Vater bemerkte besorgt, wie der Sohn sich mehr und mehr verschloss. Jan Peter schien nur dann Freude zu empfinden, wenn er Vögel beobachtete oder am Mittagstisch von seinen Beobachtungen erzählen konnte. Als Jan Peter aufs Gymnasium kam, nahm er nie an irgendwelchen Festen teil, wie er sich auch weder für das eine noch für das andere Geschlecht zu interessieren schien. Jan Peter absolvierte seine Schule und beobachtete weiterhin das Vogelleben rund um den Mount Kopenhagen. Nach dem Abitur wollte er Ornithologie studieren, aber sein Vater überzeugte ihn nach einer längeren Diskussion, stattdessen ein Medizinstudium zu beginnen. Diese Entscheidung sollte Konsequenzen haben, die weit über Jan Peters eigenes Leben hinausgingen.

Viele Jahre später, Jan Peter war mittlerweile Ende dreißig, saß er nach einer Nachtschicht in seinem Sessel und schaute sich eine DVD über Stockenten an. Jan Peter hatte eine umfassende DVD-Sammlung über Vögel, die alphabetisch sortiert in zwei großen Regalen hinter dem Fernseher stand. Er liebte es, nach einem harten Arbeitstag Filme über Vögel zu schauen. Sie gaben seiner Seele Ruhe, damit er einschlafen konnte. Er hatte schon oft so gesessen, doch dieses Mal geschah etwas Außergewöhnliches. Gerade als ein großer Erpel auf seinen dünnen Beinen mühsam eine Böschung hochwatschelte, kam Jan Peter eine Idee, die ihn schlagartig verstehen ließ, was sein Vater mit dem Satz gemeint hatte, den er während Jan Peters Kindheit immer wieder von sich gegeben hatte:

»Man kann nicht alles haben, Jan Peter, manchmal muss man Entscheidungen treffen.«

Er war so überzeugt von seiner Idee, dass er schon am nächsten Morgen seinen Job als Orthopäde im Amager Hospital kündigte und sich den gesamten in die Pensionskasse eingezahlten Betrag auszahlen ließ, alles in allem 312.000 Kronen.

Von einem Tag auf den anderen begann Jan Peter ein ambitioniertes Trainingsprogramm, bestehend aus Spinning, Yoga, Joggen, Rudern und einer radikalen Kostumstellung, um auf diese Weise die richtige Zufuhr von Proteinen und Kohlenhydraten sicherzustellen. Er trainierte dreimal täglich, nur unterbrochen von vereinzelten Treffen mit einer Gruppe von Experten, die er eingestellt hatte. Darunter ein alter Schulkamerad, der sich mittlerweile auf Hauttransplantationen spezialisiert hatte. Das intensive Trainingsprogramm hielt er ein halbes Jahr durch, bis der Fettanteil seines Körpers weniger als sieben Prozent betrug. Sein Gesicht war schmal, und seine Züge waren scharf geworden. Die Rippen zeichneten sich auf seinem austrainierten Körper ab, und die Adern wanden sich überall an seinem Körper über seine definierten Muskeln.

Jan Peter war in Topform, als er sich selbst ins Privatkrankenhaus Hamlet einwies. In seinem Gepäck eine Mappe, in der er bis ins letzte Detail beschrieben hatte, welche Eingriffe vorgenommen werden sollten.

In Übereinstimmung mit Jan Peters Plänen amputierten die Ärzte seine beiden Beine bis auf zwei kurze Knochenstümpfe, die sie ein paar Zentimeter aus dem Torso herausragen ließen. Des Weiteren entfernten sie Hüften und Pobacken und ersetzten sie durch eine ebenso dünne wie leichte Carbonplatte. Sie amputierten die untersten beiden Rippen und unternahmen eine Reihe komplizierter korrigierender Eingriffe, um die Platzierung und Funktionalität von Darm und Genitalien sicherstellen zu können. Dann häuteten sie die beiden amputierten Beine. Die Haut wurde nach Jan Peters Anweisung zu zwei dreieckigen Stücken zusammengenäht. Diese Hautlappen wurden an jeder Seite der Wirbelsäule befestigt und mit der Unterseite der Arme verbunden, sodass er, wenn er die Arme ausstreckte, ein Paar gespannte Flügel hatte. Flügel aus lebendigem Hautgewebe.

Jan Peter überstand die Operationen gut und nahm bereits zwei Monate danach das Trainingsprogramm wieder auf. Nach sechs Monaten wurde er entlassen. Er wog 18 Kilo, als er wie eine kleine Gans zu dem wartenden Taxi watschelte. Gemäß seinem Plan fuhr er mit seinem letzten Geld direkt zum Mount Kopenhagen, wo er vom höchsten Punkt sprang, den er finden konnte.

Jan Peter schwebte über das Meer und sah die Fische als deutliche Schatten unter der Wasseroberfläche. Ein paar Möwen flogen über ihm und schrien ihn an. Er schlug mit den Flügeln und hielt sich mit überraschender Leichtigkeit in der Luft. Der Auftrieb war für seinen kleinen Körper beinahe zu stark, er musste all seine Energie und seine Konzentration nutzen, um nicht vom kräftigen Wind hin und her geschleudert zu werden.

Mit der Zeit wurde Jan Peter ein hervorragender Flieger. Er lernte, die thermischen Winde zu nutzen, und schwebte mit nur wenigen Flügelschlägen vom Mount Kopenhagen bis nach Hellerup.

Jan Peter ließ sich in der obersten Kuppel der Moschee auf dem Mount Kopenhagen nieder und flog jeden Morgen eine Runde über die Stadt. Aufgrund seines für einen Vogel kräftigen Körperbaus gaben die Kopenhagener ihm den Spitznamen »Pelikan«.

Nicht nur wilde Tiere lebten auf dem Berg. Jedes Jahr wurden dort auch Haustiere von ihren Besitzern ausgesetzt. Andere Tiere liefen weg und fanden dort ein neues Zuhause. Dies galt besonders für Katzen und Hunde. Die meisten dieser Tiere hatten ein schweres Schicksal vor sich, und die wenigsten überlebten länger als einige Monate. Nur ein paar Hunde kamen über längere Zeit mit den Bedingungen klar und ernährten sich vom Abfall der vielen Häuser. Die Hunde sammelten sich zu Rudeln von rund zwanzig Tieren, die für die Anwohner zu einer großen Last wurden. Die Hunde waren aggressiv, unberechenbar und Überträger von Hundewahn und anderen Krankheiten. Die Tiere wurden deshalb zur Jagd freigegeben und von den Rangern geschossen.

Anders erging es den Katzen. Sie störten niemanden, da sie im Verborgenen lebten und sich von Vögeln, Mäusen und Ratten ernährten. Natürlich überlebten auch nicht alle Katzen, aber einige Rassen waren in der Lage, genug Nahrung zu finden und auch die härtesten Winter zu überstehen. Zu diesen gehörten unter anderem die Norwegische Waldkatze und einige domestiziertere Hauskatzenrassen. Obwohl immer nur wenige Tiere durch den Winter kamen, entwickelte sich mit der Zeit ein Wildkatzenbestand am Berg, der später als eigene Art anerkannt wurde und den Namen Dänische Bergkatze bekam. Die Dänische Bergkatze ist wesentlich größer als übliche Hauskatzen. Ein Männchen kann mehr als zehn Kilo wiegen. Der Pelz ist dick, besonders im Winter, und der Schwanz buschig und dicht. Die Farbe des Fells ist meist rotschwarz mit weißen Bändern. Die Pfoten der Dänischen Bergkatze sind kräftiger als bei üblichen Hauskatzen und dienen als »Schneeschuhe«. Die Dänische Bergkatze ist intelligent und opportunistisch, sodass sie selbst unter härtesten Bedingungen Nahrung findet. Schon häufig wurde beobachtet, wie die Katze in Seen und Bächen Fische jagt oder an den beinahe senkrechten Bergflanken Vögeln nachstellt.

Der Tennischampion

Stig Andersen war trotz seines fortgeschrittenen Alters noch immer ein ambitionierter Amateurtennisspieler. Als Achtzehnjähriger hatte er an den dänischen Meisterschaften teilgenommen, die er allerdings nicht hatte gewinnen können. Inzwischen war er zweiundvierzig und zwanzigmal in Folge Vereinsmeister des Rødovre Tennisklubs geworden, sah man einmal von der einen Niederlage im letzten Jahr ab, als er gegen den erst neunzehnjährigen Axel Schandorf verloren hatte. Neben dem Tennis war Stig Grundschullehrer. Er war mit Marianne verheiratet und hatte eine vierzehnjährige Tochter, Emilie.

Es war Sommer, und in wenigen Wochen sollte erneut die jährliche Vereinsmeisterschaft stattfinden. Der Rødovre Tennisklub lag ein paar Kilometer vom Mount Kopenhagen entfernt und wirkte umringt von der dichten, beinahe undurchdringlichen Buchenhecke beinahe wie eine grüne Oase. Ging man durch das Eingangsportal, das kunstfertig in die Hecke geschnitten worden war, und trat in den blauen, filigranen Schatten, den die Blätter warfen, hatte man den Eindruck, man beträte eine ganz andere Welt mit eigenen Geräuschen, Düften und Regeln. Mit einem Mal waren keine Autos mehr zu hören, und auch die alltäglichen Probleme schienen plötzlich weiter entfernt zu sein, als könnten sie die massiven grünen Mauern nicht passieren. Acht Ascheplätze fanden sich auf dem Klubareal, das von schmalen Kieswegen durchzogen wurde. Hier und da gab es kleinere Grünflächen mit jungen Birken. Die grünen Metallstühle des Klubs standen überall verteilt und zeigten, wo die Menschen tags zuvor Platz genommen hatten, um ein Spiel zu verfolgen oder im Schatten eines Baumes das Mittagessen einzunehmen. Die nach Süden gewandte Terrasse vor dem Klubhaus war der Treffpunkt für die Vereinsmitglieder. Von dort aus hatte man freien Blick auf Platz 1 und den dahinter liegenden Mount Kopenhagen.

In einem kleinen Verein wie dem Rødovre Tennisklub kannte jeder jeden, und alle wussten, dass das anstehende Turnier erneut zu einem Kampf zwischen Stig und Axel werden würde. Stig erinnerte sich noch, wie Axel als Liliputspieler angefangen hatte. Für kurze Zeit hatte er ihn sogar selbst trainiert, und als Kind hatte Axel wie alle anderen Klubmitglieder zu Stig aufgesehen und ihm den Respekt gezollt, der einem Vereinsmeister auch zustand. Stig hatte eine ganz besondere Aura. Er hatte alles probiert und auf höchstem Niveau gespielt – auf jeden Fall in Dänemark. Die Menschen im Verein redeten über ihn und sinnierten darüber nach, was aus ihm hätte werden können, wenn er nicht schon mit Anfang zwanzig diese ernsthafte Rückenverletzung gehabt hätte.

Mit den Jahren waren immer wieder gute Spieler in den Verein eingetreten, die Stigs Dominanz gefährden konnten. Doch er war ruhig geblieben und hatte das mitunter aggressive Serve-and-Volley-Spiel der Neulinge wie auch deren harte Rückhand einfach mit den Worten abgetan:

»… sie haben nicht das Niveau.«

Stig hatte sie alle geschlagen und schien dabei wirklich in der Lage zu sein, sein eigenes Spiel nach Belieben zu verbessern und jeden Angriff zu kontern. Wenn ein Gegenspieler einen Furcht einflößenden Aufschlag servierte, retournierte Stig einfach selbst härter und präziser als sonst. Und hatten sie eine Vorhand, mit der sie sich jeden Punkt sichern konnten, sorgte Stig dafür, selbst noch mehr Punkte mit der Vorhand zu machen, bis der Gegner nicht nur das Spiel, sondern sämtliche Kraft verloren hatte.

Stig wollte nicht nur das Match gewinnen, er wollte seinen Gegnern zeigen, dass er alle Facetten des Spiels meisterte und nicht einmal sein eigenes Spiel zu spielen brauchte, um als Sieger vom Platz zu gehen.

Bei Axel war das anders. Sein Sieg im vergangenen Jahr hatte die Machtbalance verschoben. Wenn Stig gemeinsam mit anderen abends nach dem Training auf der Klubterrasse vor dem Café saß, kam Axel manchmal in Begleitung seiner jungen und äußerst wohlproportionierten Freundin vorbei. Sie folgte ihm auf Schritt und Tritt, wobei sie beständig irgendetwas in ihr Handy tippte oder telefonierte. Im Gegensatz zu den früheren Jahren tendierte Axel jetzt immer häufiger zu spitzen Bemerkungen. Einmal hatte er gesagt, dass Stig in seinem Alter aufpassen müsse, nicht all seine Kraft im Training zu vergeuden, um bei der Meisterschaft noch mithalten zu können. Ein anderes Mal hatte er ihn gefragt, ob er ein Kissen für seinen Rücken brauche, um dann eigenhändig eines zu holen und Stig hinter den Rücken zu schieben, damit dieser weicher sitzen konnte. Axels Selbstvertrauen verunsicherte Stig. Schon im letzten Jahr war Axel schneller und stärker als Stig gewesen, und Stig hatte aus der Distanz beobachtet, wie Axels Spiel im Laufe der Zeit in allen Bereichen immer besser geworden war. Er musste der Wahrheit ins Auge sehen. Axel war eigentlich zu gut für den Rødovre Tennisklub, er sollte in Kopenhagen spielen und sich Gedanken über eine Profikarriere machen. Stig hatte keine Chance, ihn zu schlagen. Wenn Axel eine Schwäche hatte, dann war dies die Blindheit dafür, wie gut er wirklich war.

Stig spielte mit Stirnband, wie er es immer getan hatte. Anfangs, um die langen Haare aus den Augen zu halten. Jetzt, da er beinahe kahl war, stellte das Stirnband nur noch einen natürlichen Teil seiner Ausrüstung dar. Bereitete er sich auf ein besonders wichtiges Spiel vor, spulte er ein paar spezielle Rituale ab. Er kaufte immer neue Schnürsenkel und neue, weiße JBS-Unterwäsche. Die Schnürsenkel fädelte er erst in der Umkleidekabine ein; dann zog er die Unterwäsche an, die Hose, das Poloshirt, die Schuhe, und zu guter Letzt, während er in den Spiegel schaute, legte er das Stirnband an.

Während Axel einen lokalen Sponsor hatte, der ihn fortlaufend mit Schlägern ausrüstete, besaß Stig nur zwei wirklich gute Schläger. Ging einer kaputt, blieb ihm nur ein weiterer, und war auch der unbrauchbar, musste er jede Hoffnung auf den Gewinn der Meisterschaft aufgeben. Über diese Tatsache machte Stig sich mehr und mehr Sorgen. Er war dazu gezwungen, seine Schläger so hart wie möglich zu bespannen, um überhaupt eine Chance zu haben, das erwartete Finale gegen Axel zu gewinnen, wodurch das Risiko, dass die Bespannung riss, natürlich nur noch größer wurde.

Das Problem mit den Schlägern raubte Stig schließlich den Schlaf. Er lag wach im Bett und starrte an die Decke. Eines Abends kam Stig ein alter Bekannter in den Sinn, der im Ama’r Sport arbeitete. Dieser Per hatte schon die Schläger von Stigs Vater bespannt. Als Kind war Stig immer wieder mit seinem Vater im Sportgeschäft gewesen. Stigs Vater hatte bei wichtigen Spielen auf eine Bespannung aus Kuhdarm zurückgegriffen, weil diese härter war und man damit ein besseres Ballgefühl hatte. Diese Saiten hatten damals alle genutzt, die etwas auf sich hielten. Stig wollte Kontakt zu Per aufnehmen und sich erkundigen, ob solche Saiten noch aufzutreiben waren. Der Gedanke beruhigte ihn, sodass er schließlich doch noch schlafen konnte.

Am folgenden Morgen rief Stig Per an. Das Gespräch war ernüchternd. Per sagte ihm, dass Darmsaiten von niemandem mehr genützt würden, ja dass man sie gar nicht mehr beschaffen könne. Stig wollte schon auflegen, als ihm eine verrückte Idee kam, die sofort all seine Gedanken in Beschlag nahm, sodass es ihm kalt den Rücken herablief. Stig räusperte sich und fragte:

»Was, wenn ich ein paar rohe Katzendärme beschaffe? Könntest du daraus Saiten machen?«

Per lachte laut, hielt aber inne, als er verstand, dass Stig das ernst meinte.

»Echt Stig, im Ernst?«

»Ja, verdammt, ich brauche die Bespannung in zwei Wochen auf einem Schläger.«

»Bist du dir im Klaren darüber, dass wir hier von vierundvierzig Saiten sprechen? Ich kann vielleicht vier Saiten aus einem Darm machen, aber du müsstest elf Därme besorgen. Wo zum Henker willst du die denn bitte herholen?«

»Lass das mal meine Sorge sein, Per. Wann brauchst du sie?«

Nach einer langen Pause sagte Per:

»Mindestens eine Woche vorher. Ich mache das aber nur, weil ich deinen Vater kenne, seit du noch ein Hosenscheißer warst.« Per legte auf, ohne sich zu verabschieden.

Die Zeitung hatte eine Internetseite. Unter der Rubrik »Haustiere« wurden verschiedene Tiere zum Verkauf angeboten. Es gab Kitten der verschiedensten Rassen, aber auch ältere Katzen, die aus den unterschiedlichsten Gründen von ihren Haltern abgegeben wurden. Stig fand zehn ausgewachsene Katzen, die er gratis abholen konnte, und eine weitere, die 50 Kronen kosten sollte. Als Erstes kam Stig zu einer Familie, deren neugeborenes Kind unter einer Katzenhaarallergie litt, weshalb Gorm, ein etwas übergewichtiger Kater, abgegeben werden sollte. Die große Schwester des Babys, die siebenjährige Caroline, drückte den Kater fest an sich, als Stig ankam, und wollte ihn ihm nicht geben. Sie brach vollkommen zusammen, als ihr Vater ihr das Tier mit Gewalt aus dem Arm nahm. Stig hätte sein Projekt daraufhin beinahe aufgegeben, aber es tröstete ihn, dass er eigentlich ja nur eine uralte Tradition fortführte. Betrachtete man außerdem, wie man in unserer Gesellschaft Tiere behandelte, war das Schicksal, das diese Katzen erwartete, sicher nicht das schlechteste.

Die übrigen Übergaben erfolgten ohne Probleme, die meisten Besitzer waren einfach nur froh darüber, dass sie so die 600 Kronen sparen konnten, die es kostete, die Katze beim Tierarzt einschläfern zu lassen. Die letzte Katze sollte Stig von einer alten Dame holen, die sich nicht mehr um ihren 22 Jahre alten Harlekin kümmern konnte. Ein großer Kater, der im Oberkiefer bereits drei Zähne verloren hatte. Stig sah mit Abscheu auf das Tier und fragte sich für einen Moment, ob die Gedärme dieses alten Wesens überhaupt 50 Kronen wert waren.

»Er ist eine Dänische Bergkatze«, sagte die alte Dame voller Stolz. »Lassen Sie sich von seinem etwas abgelebten Äußeren nicht täuschen, er ist wirklich eine Wildkatze.« Sie musterte Stig mit überlegener Verachtung, während sie ihren Morgenrock am Hals zusammenhielt.

»Ich sorge schon dafür, dass es ihm gut geht – das verspreche ich Ihnen«, sagte Stig und versuchte, so glaubwürdig und freundlich wie nur möglich zu lächeln.

Die Dame musterte Stig eine ganze Weile, ohne ein Wort zu sagen. Dann schloss sie:

»Gut, die Katze gehört Ihnen. Er kriegt jeden Sonntag ein bisschen frische Leber. Das liebt er. Ja, und dann kriege ich noch die 50 Kronen.«

Stig fischte einen zerknüllten Fünfziger aus der Hosentasche und reichte ihn der Frau, wobei er noch immer zu lächeln versuchte.

Am selben Abend war Stig stolzer Besitzer von elf Katzen, die im Kofferraum in ihren Boxen hockten. Daneben türmten sich Schälchen, Katzenfutter, Lieblingsspielzeuge und anderer Kram, den ihm die Leute mitgegeben hatten.

Er parkte den Wagen in der Garage und ging direkt ins Haus, um Umzugskartons zu suchen, in denen er die Katzen verstauen konnte. Stigs Plan war es, die Tiere mit den Autoabgasen zu ersticken, indem er die Kartons direkt vor dem Auspuff platzierte. Er hatte einmal gehört, diese Todesart sei besonders human, und es war ihm wichtig, dass die Katzen nicht unnötig litten. Er ließ die Katzen in ihren Boxen, die er in den Kartons übereinanderstapelte. In jeden Karton gingen vier Boxen. Er musste sie in drei Schritten töten. Das Heulen der Tiere war schrecklich, als er den ersten Karton an den Auspuff anschloss und alle Öffnungen verklebte.

Kurze Zeit später lagen elf tote Katzen auf dem Boden der Garage. Bei allen waren die Eckzähne entblößt. Das Fell der Tiere war matt und fahl, als wären sie ausgestopft. Er packte eine am Nacken, legte sie auf den Tisch und drückte die Spitze des Messers gegen den Bauch. Die Haut war fester, als er erwartet hatte, und er fürchtete, die Därme mit dem Messer verletzen zu können. Er holte deshalb eine Geflügelschere aus der Küche und öffnete den Bauch des ersten Tieres. Dann schob er die Hand hinein und zog die Gedärme heraus, die fast wie von selbst auf den Boden fielen, sodass der übel riechende Inhalt auf den grauen Beton sickerte. Stig erbrach sich und öffnete das Garagentor, um den süßlichen Gestank der unverdauten Katzennahrung und des Kots aus dem Raum zu bekommen.

Dann ging er zurück und löste den Darm auch an der anderen Seite. Er leerte ihn und wusch ihn in einem Bottich mit Seifenwasser aus. Als er den Körper von Harlekin öffnen wollte, erlebte er eine unangenehme Überraschung. Gerade als er mit der Schere das Bauchfell durchtrennen wollte, zuckte das Tier zusammen und wachte plötzlich auf. Der Kater heulte bizarr und unangenehm und begann sogleich, Stig mit unbändiger Wut anzugreifen. Harlekin zerkratzte ihm das Gesicht und den Hals, bis Stig instinktiv reagierte und die Spitze der Schere in den Hals des Tieres stieß, bis dieses von ihm abließ. Der Kater rollte sich herum, während das Blut in einem Strahl aus dem Hals schoss. Stig stach noch mehrere Male zu, bis die Leiden des Katers definitiv zu Ende waren und er still in einer Blutlache am Boden lag.

Keine der übrigen Katzen wachte auf, und wenige Stunden später hatte Stig alle elf Katzendärme herausgeschnitten. Er war überall mit Blut und Kot beschmiert, und auch die Garage sah nicht besser aus. Stig reinigte die Därme gründlich, und tags darauf fuhr er zu Per ins Ama’r Sport.

»Ich fasse es nicht, du hast das wirklich gemacht, Stig«, sagte Per, als er Stig mit der Tüte in der Hand kommen sah.

»Du weißt doch, dass ich meinen Sport ernst nehme. Wann hast du die Bespannung fertig?«

Per musterte Stig voller Verwunderung.

»