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Kriminalrat a. D. Marius Gautier geht in Kiel an Bord der Baltic Crown. Eigentlich wäre er lieber wandern gegangen, aber ein Unfall zwang ihn, seine Urlaubspläne zu ändern. Nun befindet er sich auf Ostsee-Kreuzfahrt mit den Stationen Danzig, Klaipeda, Riga, Tallinn und St. Petersburg. Nach anfänglicher Langeweile verdreht ihm das Model Ona Kakies den Kopf und zieht ihn in eine Mordaffäre hinein. Ona glaubt, den Mörder ihrer Eltern auf dem Schiff wiedererkannt zu haben und fühlt sich bedroht. Gautier bietet ihr seine Hilfe an. Die Spuren führen sie zunächst nach Estland, zurück in gefahrvolle Zeiten …
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Seitenzahl: 298
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Mick Schulz
MS Mord – baltische Angst
Kriminalroman
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2020
Lektorat: Sven Lang
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Wojciech Wrzesień / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-6542-0
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Mein Vaterland, mein Glück und Freude,
Wie schön bist du!
Ich finde nichts
Auf dieser großen weiten Welt,
Was mir so lieb auch wäre,
Wie Du, mein Vaterland!
Erste Strophe der estnischen Nationalhymne
Regentropfen tippten die schneeweißen Blütenblätter der Stockrosen am Nachbarhaus an, dass sie zu tanzen begannen. Wie eine schneeweiße Feder würde auch sie über die Bühne schweben, der schönste Junge finge sie auf und stellte sie auf die Spitzen vor sich hin, wo sie eine Pirouette drehte, so schnell und so lang, wie es keine Prima Ballerina vor ihr geschafft hatte. Und dazu erklang perlende Musik. Sie summte eine der Melodien, die Sascha immer in den Proben am Klavier spielte. In diesem Moment kam ihr mit hastigen Schritten ein Mann entgegen. Er hatte – wie sie – keinen Regenschirm. Im Vorübergehen trafen sich ihre Blicke und sie sahen sich tief in die Augen. Doch Ona dachte nur daran, wie sie Papa gleich die Überraschung präsentieren würde. Meine kleine Ona, würde er sagen, mein kleiner Weltstar, und sie um die Taille fassen und so hochheben, dass sie leicht mit der Hand die Decke der Wohnstube berühren könnte.
Das kleine Gartentor am Haus stand offen. Die Regentropfen fielen immer dichter. »Gut, dass es regnen wird. Die Pflanzen brauchen Wasser«, hatte Mutti am Morgen noch gesagt. Sie liebte ihren Garten sehr. Jeden Tag pflegte sie ihn, zupfte die welken Blüten ab, jätete Unkraut oder lockerte den Boden und schnitt an den Sträuchern herum. Sie mähte auch den Rasen, obwohl das eigentlich Papas Arbeit war, aber er war Abgeordneter im Parlament, und da hat man nicht so viel Zeit für anderes. Wenn er einmal ein paar Stunden frei hatte, tranken sie zusammen Tee im Garten, Mutti und Papa, so wie jetzt. Beide saßen sie auf der Holzbank unter der Kirsche und umarmten sich.
»Ihr werdet es nicht glauben«, rief sie ganz aufgeregt zu ihnen herüber, da war sie noch nicht an der Terrasse angekommen. Gleich würde Papa aufspringen, natürlich ahnte er, was los war. Er hatte es doch auch so für sie gehofft.
Aber die beiden waren eingeschlafen, manchmal schliefen sie auch im Wohnzimmer Arm in Arm auf dem großen Sofa. Ona schlich sich von hinten an. Dann sprang sie vor. »Wer ist der schönste Schwan von Tallinn?«
Ihre Köpfe steckten zusammen, als tuschelten sie. Doch etwas stimmte nicht mit ihnen. Sie rührten sich nicht. Muttis Augen waren geschlossen, Papa starrte leer auf den Holztisch. Erst jetzt sah Ona, dass rote Flüssigkeit aus seinem Mund lief, und auf Muttis Bluse breitete sich ein dunkler Fleck aus. Es war Blut. Ona wusste nicht, was sie tun sollte. Dann fiel ihr ein, was Papa gesagt hatte: »Du musst singen, Ona, wenn du Angst hast. Sing das Lied, das uns Esten zusammenhält, damit wir keine Angst mehr zu haben brauchen, vor nichts und niemandem.«
Der lang anhaltende Ton erinnerte Marius Gautier an den eines Alphorns, sonor und majestätisch. Aber er befand sich nicht in den Schweizer Alpen, es war das Signal eines Kreuzfahrtschiffs.
»Alles zu Ihrer Zufriedenheit, Sir?«, fragte der junge Mann, der ihm soeben die für die nächsten acht Tage gebuchte Balkonkabine vorgeführt hatte. Marius nickte, ohne sich für ein Lächeln entscheiden zu können. Dafür war es zu früh. Zumindest fehlte es der Kabine nicht an Ausstattung. Aber die wirkliche Qualität einer Unterkunft hing von etwas anderem ab: von der Sauberkeit. Erst kürzlich hatte er im Fernsehen eine Reportage über die Arbeit eines Kreuzfahrttesters gesehen und sich die Schwachstellen genau gemerkt.
Kaum hatte der Mann vom Service die Tür hinter sich geschlossen, fuhr er langsam mit dem Zeigefinger über den Rahmen des Aquarells an der Wand und stellte fest, dass in diesem Fall der Reinigungsdienst offenbar seine Pflicht getan hatte. Er öffnete hintereinander alle sechs Türen des Hängeschrankes, inspizierte die Ecken und fischte an den Seiten nach Spinnweben. »Hm«, auch hier keine Beanstandung. Doch jetzt die entscheidende Kontrolle unter dem Bett und natürlich der Matratze. Bisher hatte er noch in jedem Hotel etwas gefunden. Er beugte sich ein Stück hinunter – doch da … da war er wieder, der plötzliche, rasende Schmerz, der ihm sagte: »Marius Gautier, du bist ein Idiot!« Wenn Luisa ihn so sehen könnte. Warum ließ er sich vom Personal mit dem Gepäck helfen, wenn er zwei Minuten später Akrobatik machte? Zentimeter für Zentimeter richtete er sich auf, allerdings nicht ohne auf dem Weg nach oben das Betttuch ein Stück herauszuziehen, um einen Blick auf die Matratze zu werfen … Nicht ein einziges Haar.
Er sank in den runden Sessel. Oh, wie vermisste er die Alpen. Die letzten Jahre vor seiner Pensionierung als Kriminalrat der Braunschweiger Polizei hatte er nur überlebt, weil er im Sommer in die Schweiz fahren und wandern konnte, mit dem Niedermoser aus Salzburg und dem Wächli aus Zürich. Vor nichts hatten sie haltgemacht, keine Tour war ihnen zu schwer gewesen. Auf den Säntis waren sie gestiegen, hatten das Matterhorn umrundet, und dann das: Ausgerechnet auf der leichtesten Route war er auf losem Geröll ausgerutscht und gegen eine Felsenkante geschlagen. Komplizierter Hüftbruch. Eine kleine Unachtsamkeit degradierte ihn erbarmungslos zum Passagier auf einem Kreuzfahrtschiff.
Nach der Operation hatte er seine Dreizimmerwohnung am Kohlmarkt ein halbes Jahr lang nicht verlassen, seinen Zustand für nicht vorzeigbar befunden. Als Folge war seine Laune von Tag zu Tag gesunken, bis ihn Luisa aufgefordert hatte: »Hör endlich auf, Trübsal zu blasen! Du musst selbst dafür sorgen, dass in deinem Leben wieder etwas los ist.«
»Jedenfalls werde ich mich nicht auf einer Kreuzfahrt von einem Sessel in den nächsten schleppen und mir pappsüße Cocktails aufdrängen lassen.«
»Als hättest du dir jemals etwas aufdrängen lassen. Aber auf einem solchen Schiff gibt es natürlich überall Stühle, du kannst dich hinsetzen, wo du nur willst, und immer eine traumhafte Sicht genießen.«
»Du meinst, Wasser zur Linken, Wasser zur Rechten, und wenn es regnet, auch noch Wasser von oben?«
»Du machst mich krank, Papa.«
»Ich bin schon krank. Sehr krank sogar.«
Wenn seine Tochter wenigstens mitgereist wäre, aber Luisa war ja nie abkömmlich. »Ich bin selbstständig, Papa. Manchmal habe ich das Gefühl, du willst einfach nicht verstehen, was das bedeutet: Keine geregelten Arbeitszeiten, kein garantiertes Einkommen und kein Recht auf Urlaub …«
Warum sie immer alles gleich dramatisieren musste? Andere Leute arbeiteten doch auch und konnten sich ein paar Tage freimachen, um ihren alten Vater zu begleiten. Aber dann hatte er ihrem Drängen nachgegeben, es musste ja irgendwie weitergehen. Luisa hatte ihn sogar bis zum Zug gebracht und eine Träne verdrückt, als er in die Regio-Bahn stieg. Aber das hatte kaum darüber hinweggetäuscht, dass sie nur sichergehen wollte, ob er auch wirklich abfuhr.
Wie er die beiden beneidete, die Kollegen Niedermoser und Wächli. Dieses Jahr wollten sie ins Berner Oberland, hatten sich die spektakuläre Wanderung zur Triftbrücke vorgenommen. Für ihn endgültig passé, er musste sich mit Stadtrundfahrten im Bus begnügen. Lieber Blasen an den Füßen als Schwielen am Hintern, war immer sein Motto gewesen. Vielleicht schrieben sie ihm eine Ansichtskarte, dass er nicht glaubte, sie hätten ihn vergessen. Aber ihm wäre es fast lieber, wenn nicht.
Der Schmerz ließ allmählich nach. Marius erhob sich aus dem Sessel, öffnete die Schiebetür und trat auf den Balkon hinaus. Es war bereits gegen achtzehn Uhr, die Sicht ging auf die letzten Meter der Kieler Förde und es wehte eine laue, angenehme Brise. Gleich würde es Abendessen geben, dachte er, was seine Stimmung etwas aufhellte. Die Verpflegung sollte angeblich recht gut sein.
*
Ein Bild wie von Turner. Die flammende Augustsonne versank langsam in den schaukelnden Wellen der See. Fragte sich nur, in welcher Geschichte er das Bild verwenden würde, dachte Lars Fabritius. Er zog sein Zigarettenetui aus russischem Silber, das er eigentlich verschenken wollte, sich aber dann nicht trennen konnte, aus der Hosentasche und bestellte sich noch eine Bloody Mary. Im Gegensatz zu früher hatte er Zeit, so viel er wollte. Er recherchierte jetzt für eigene Projekte. »Menschen auf Kreuzfahrt« war der Arbeitstitel für die neue Serie. Hasselbach hatte ihm freie Hand gelassen. »Du weißt am besten, was sich eignet«, hatte er zu ihm gesagt. Und Lars hatte sich ein Thema ausgesucht, aus dem sich mühelos die sogenannte Tiefe herauskitzeln ließ, seine Spezialität. Nicht zuletzt ging es darum, in diesem Herbst einen der begehrten Preise abzugreifen, die Gütesiegel des Spitzenjournalismus, die aus einem Bleistift eine Edelfeder machten. Und Hasselbach hatte großen Einfluss. Mit ihm hatte sich Lars immer gut verstanden. »Schreib etwas, irgendetwas, das gut klingt. Das genügt völlig. Alles Vernünftige steht eh schon bei Tucholsky«, war seine lakonische Ansage.
»Die Bloody Mary, mein Herr, bitte sehr!«
Lars steckte sich eine Zigarette an und tat einen langen, versonnenen Zug, während er dem Kellner nachblickte. Er hasste schlecht angezogene Leute. Die Montur des Kellners saß einigermaßen, aber die Schuhe waren staubig und wirkten reichlich ausgetreten. Ob das Personal sich die Schuhe selbst kaufen musste? – Vorab hatte Lars sich Fragen ausgedacht, schließlich war er an Bord, um undercover Recherche zu betreiben. Im lockeren Gespräch als Gleicher unter Gleichen ließ sich weit mehr ans Tageslicht fördern als mit vorgehaltenem Mikro. Er war immer auf der Jagd nach dem Unverbrauchten. Vielleicht hatte sogar jemand eine originelle Meinung zu den ausgetretenen Schuhen der Kellner?
Am Ende ging es in einer solchen Serie darum, die Balance zwischen Intellekt und Emotionalität zu halten, einerseits Niveau zu zeigen, andererseits nicht unterkühlt zu wirken, eben das Menscheln nicht zu vergessen, wenn man auch peinlich darauf achten musste, den Abstand von der Regenbogenpresse zu wahren.
Lars warf einen Blick auf den Chronografen an seinem linken Handgelenk. Vor dem Abendessen wollte er sich noch umziehen. Er hatte schließlich seine Lieblinge mitgebracht, den seidenen mit dem Silberschimmer, den englischen aus leichtem Tweed, den Miami-weißen und den Gottschalk-Anzug, den er so nannte, weil dazu eine goldgeränderte Weste mit barockem Schnörkelmuster gehörte … Er hatte sich darauf gefreut, die Kollektion seiner Designer-Anzüge auszuführen, mit seiner Figur konnte er sich immer noch sehen lassen. Aber tagsüber erschien es ihm günstiger, Freizeitlook zu tragen, geschmackvoll, aber unauffällig. Schließlich lag ihm nicht daran, einschüchternd auf die Leute zu wirken, mit denen er ins Gespräch kommen wollte.
»Guten Abend, meine Damen und Herren, liebe Kinder. An Bord der Baltic Crown begrüßt Sie ganz herzlich Willi Papandreou, Ihr Kapitän von der Brücke. Eine Woche liegt vor uns, in der wir die schönsten Städte der Ostseeküste von Danzig bis St. Petersburg anlaufen werden. Das Wetter ist herrlich, und die Meldungen sagen für die nächsten Tage nichts Gegenteiliges voraus. Nachdem wir den Hafen von Kiel verlassen haben, nehmen wir Kurs auf Polens Perle Gdansk, unser erstes Ziel, das wir bereits nach einem Tag auf See erreichen werden.
Nun darf ich Sie zum Abendessen bitten. Im Admiral’s-Splendid-Restaurant haben unsere Service-Mitarbeiter bereits liebevoll für Sie eingedeckt und werden alles tun, um Sie nach Strich und Faden zu verwöhnen.«
*
»Du meine Güte, hier oben weht es einem ja den Kopf vom Hals. Das hättest du mir ruhig sagen können …«
Natürlich war es nur halb so schlimm, wie Karla es darstellte, dachte Olivia Sesselmann, und wer hatte denn nach der ohnehin so späten Sicherheitsübung unbedingt auf die Plattform gewollt? Außerdem konnte es wohl kaum eine Überraschung sein, dass es am höchsten Punkt des Schiffes zog. Sie jedenfalls störte es weniger. Ganz im Gegenteil, sie fand es erfrischend. Der Sommer war schließlich heiß genug.
Der Wind verwirbelte Olivias Haar. Ein Streifen blauer Himmel wehrte sich noch gegen die heranziehende Dunkelheit. Ihr fiel auf, dass die Wasseroberfläche von kleinen Schaumkronen übersät war, und es wurden immer mehr, als hätte das Wasser eine Infektion, die Schaumkroneninfektion, die sich scheinbar nicht mehr aufhalten ließ, es war unmöglich, ihr zu entkommen. So wie es Olivia unmöglich war, Karla zu entkommen …
»Ich glaube, ich habe den Fisch nicht vertragen, also wundere dich nicht, wenn ich nachts noch einmal rausmuss.«
Olivia wusste, was das bedeutete, denn auch wenn Karlas Bett nur zwei Armlängen vom Bad entfernt war, kam sie nicht ohne ihre Hilfe bis zur Toilette. Der Rollstuhl passte nun einmal nicht ins Bad. Dass die Kabine nicht behindertengerecht war, hatten sie in Kauf genommen. Es sei eine der letzten verfügbaren Kabinen auf dieser Reise, hatte ihnen Frau Seifert vom Reisebüro versichert, aber wenigstens mit der Option auf getrennte Betten. Sie hatten diesmal eben sehr spät gebucht. »Das werden wir schon meistern«, hatte Karla in diesem weinerlichen Ton erwidert. »Ich habe eine so treu sorgende Schwester. Sie lässt mich nie im Stich. Und es bedeutet kaum mehr Unannehmlichkeiten. Nicht wahr, Olivia, du wirst deiner armen Schwester beistehen?«
Die Situation war an Peinlichkeit kaum zu überbieten gewesen. Was war Olivia also anderes übrig geblieben, als zuzustimmen.
»Ich fand den Fisch sehr gut. Vielleicht solltest du einen kleinen Schnaps trinken, der wird den Magen wieder in Ordnung bringen.«
Karla starrte sie entsetzt an. Sie trank nie Alkohol, das wusste Olivia. Aber sie hätte gern noch etwas getrunken, unten in einer Bar. Sie wäre gern noch etwas unter Menschen gegangen, hätte sich unterhalten, einfach nur um zu plauschen. Sie hatte auch immer gern mit Hans-Peter und seinen Freunden etwas getrunken. Es war lustig gewesen, und sie konnte dabei diese unerträgliche Schwere abschütteln, die ihnen von ihren Eltern nebst dem Geld als Erbe mitgegeben worden war. Schon oft hatte sich Olivia gefragt, ob diese Schwere nicht die einzige Verbindung zwischen ihr und Karla darstellte, auch wenn sie Zwillingsschwestern waren.
*
Sein Herz hatte einen Schlag ausgesetzt, als Präsident Kruse ihnen vor versammelter Mannschaft mitteilte, dass sich die Stiftung zum Jubiläum für die leitenden Köpfe der Zellforschungsgruppe etwas Besonderes ausgedacht hätte. Herr Dr. Dr. Thomas Bergengruen und er, Herr Dr. Richard Körber, hätten in den letzten fünfundzwanzig Jahren Unvergleichliches für die Gesellschaft geleistet und man habe eine Summe zur Verfügung gestellt, um den Herren gegenüber ihre große Dankbarkeit auszudrücken. Weil sie nun beide Junggesellen und seit Jahren die dicksten Freunde seien, habe man entschieden, ihnen eine gemeinsame Kreuzfahrt entlang der Ostseeküste zu schenken, um ihren Erlebnishorizont über die Versuchslabore hinaus zu erweitern. Worauf Kruses meckerndes Lachen durch den Saal hallte.
Einmal musste sich diese Heuchelei ja rächen, dachte Richard, wobei die erste Gemeinsamkeit nicht von der Hand zu weisen war. Ihr beider Junggesellendasein hatte sich jedoch aus unterschiedlichen Gründen ergeben. Kollege Bergengruen war Witwer und hatte seine Frau ausgerechnet an die Krankheit verloren, deren Früherkennung er seine Meriten verdankte: Krebs. Während er selbst es von Anfang an für unverantwortlich gehalten hatte, eine Frau unter falschen Voraussetzungen an sich zu binden. Schließlich hatte er bereits in jungen Jahren seine ganze Liebe der Forschung geweiht. Und da er früh festgestellt hatte, dass ihm sexuelle Bedürfnisse eher fernlagen, hatte er sich für ein keusches Leben im Junggesellenstand entschieden. Aber dass sie befreundet seien, konnte man als glatte Falschmeldung bezeichnen. Und wie sie zustande kam, war eine längere und für ihn bittere Geschichte …
»Was darf es sein?«, fragte der zierliche Kellner mit der dunklen Hautfarbe und einem ausgesprochen freundlichen Lächeln.
»Tja«, antwortete er etwas zögerlich, »das ist eine gute Frage. Was können Sie empfehlen?«
Er war es nicht gewöhnt, in Bars zu gehen, aber was sollte man auf einem solchen Schiff abends tun? Fern zu sehen hatte er keine Lust, und um zehn konnte er sich unmöglich bereits ins Bett legen. Dann würde er um vier aufwachen und danach kein Auge mehr schließen.
»Mit Alkohol oder ohne?«
»Mit.« Ja, das wusste er ganz bestimmt. Immerhin war er zum Vergnügen an Bord dieses Schiffes. Am besten war, Bergengruen einfach zu ignorieren und sich dem süßen Nichtstun hinzugeben, dem Dolce Vita. Auch wenn es zu einem der Wissenschaft gewidmeten und disziplinierten Lebenslauf vielleicht nicht passte, war es genau das, was er hier lernen konnte: Er musste seine Arbeit vergessen und den Kollegen Bergengruen erst recht.
»Wie wär’s mit einer Piña colada, da ist Rum drin?«
»Warum nicht?« Rum erinnerte Richard an »Die Schatzinsel«, das erste Abenteuerbuch seiner Jugend, das er verschlungen hatte. Er wollte sie auch erleben, die Abenteuer des Jim Hawkins, und plötzlich stand ihm die Frage vor Augen, was eigentlich aus seinem Leben geworden war. Die Antwort stellte sich als ebenso einfach wie ernüchternd dar: Seine Abenteuer hatten hinter den Mauern eines Instituts stattgefunden, und der sagenhafte Schatz war ihm auch entgangen, ein anderer sonnte sich in seinem Glanz …
»Na, alter Freund, kaum an Bord und bereits in Partylaune?«
Wieder stand der Kollege in der Pose vor ihm, die er – seit er in die engere Wahl für den Nobelpreis gekommen war – unablässig einzunehmen schien: Seht her, ich bin es, der große Bergengruen.
Marius Gautier lehnte an der Brüstung seines Balkons. Immerhin war der Abend zufriedenstellend verlaufen. Er hatte gepflegt gegessen, danach auf dem Pooldeck noch eine Runde gedreht und war an einer der Bars vorbeispaziert, wo kleine Lichter auf den Tischen flackerten. Gern hätte er einen Cognac genossen und dazu eine Zigarre geraucht wie früher, wenn er einen Fall erfolgreich abgeschlossen und sich seine Abteilung eine Belobigung verdient hatte. Aber in letzter Zeit machte sein Kreislauf nicht mit. Wurde er mit Mitte sechzig bereits hinfällig, oder stimmte, was Luisa sagte: »Wer sich nicht fordert, braucht sich nicht zu wundern, wenn er schneller abbaut. Nur weil du nicht mehr auf Berge steigen kannst, bist du noch kein Pflegefall.«
Der folgende Tag würde ein Seetag sein, auf Deck ging es dann sicher recht laut zu. Er war erstaunt, wie viele Familien mit kleinen Kindern an Bord waren. Erneut musste er seine Meinung korrigieren. So ein Schiff war durchaus keine Alte-Leute-Schaukel, wie oft gespöttelt wurde. Aber für ihn blieb nur der Liegestuhl. Die Badehose hatte er erst gar nicht eingepackt. Einen Zusammenstoß im Pool mit einem Schwimmenden, einen unabsichtlichen Tritt gegen seine operierte Hüfte durfte er keinesfalls riskieren. Seit der Operation war er nicht mehr der Alte: unverwüstlich, kraftvoll, entschieden, eben ein Mann und keine Memme.
Vom oberen Deck drang Partymusik. Marius wich zurück und setzte sich auf einen der Stühle, die er für solide hielt. Auch an der Balkonausstattung konnte man nichts aussetzen. Er griff nach dem Prospekt, den er mit nach draußen genommen und den das Kabinenpersonal zusammen mit einem Schokoladenherz auf sein Bett gelegt hatte, als er beim Abendessen gewesen war.
Am späten Vormittag war ein Vortrag über Danzig angesetzt. Er hatte eine Stadtrundfahrt unter deutscher Reiseleitung gebucht. Doch ein wenig Vorwissen konnte nicht schaden. Schließlich ging es im Leben meistens darum, den Überblick zu behalten, dachte Marius.
Die Luft hatte sich abgekühlt. Er blickte auf das Wasser wie in ein schwarzes Grab. Der Fall Simonis, sein letzter, tauchte aus der Tiefe auf. Landrat Simonis, den alle für den Mörder seiner Frau gehalten hatten. Auch die Presse trug dazu bei, dass er am Ende als Gewalttäter dastand. Sein Äußeres passte ins Bild der Vorverurteilung: die offenbar durch einen Bruch eingedrückte Nase, lange Narben im Gesicht, von einem Verkehrsunfall herrührend. Ihm konnte zwar nichts Konkretes nachgewiesen werden, aber die Indizien stützten den Verdacht, der ihn schließlich zu Fall brachte. Seine Karriere war ruiniert, Simonis trat von allen Ämtern zurück.
Die Mordkommission unter seiner Leitung war in eine Sackgasse geraten. Marius hatte die Fakten von hinten nach vorn gedreht, ohne zu überzeugenden Ergebnissen zu kommen. Er stand kurz davor, mit dem ungelösten Fall in den Ruhestand verabschiedet zu werden, da erschien auf dem Präsidium eine Frau mit einem Foto in der Hand, auf dem die ermordete Eva Simonis zu sehen war. Sie hatte es im Jackett ihres Mannes gefunden. Eva Simonis hatte also einen Liebhaber gehabt, von dem niemand wusste. Noch am selben Tag wurde er verhört und war geständig. Eva Simonis hatte ihm eröffnet, zu ihrem Mann zurückzuwollen, daraufhin habe ihr Liebhaber sie mit einem Schlag niedergestreckt …
Marius erhob sich. In der Kabine brannte das Licht, und sein Bett war für die Nacht bereitet. Sollte er sich damit zufriedengeben, dass er keine Frau hatte, die ihn hintergehen und eine Katastrophe anrichten konnte? War diese Genugtuung das Einzige, was ihm von seinem Privatleben geblieben war?
*
Nach dem Dinner hatte sich Lars Fabritius noch einmal umgezogen. Es war, wie in eine andere Haut zu schlüpfen, vorhin der Gentleman, der im weißen Dinner-Jackett, schwarzer Fliege und passendem Einstecktuch im Admiral’s-Splendid artig mit einer alten Dame Konversation betrieben hatte, jetzt der lockere Plauderer im taubenblauen Abendanzug mit offenem Kragen an der Bar. Es inspirierte ihn, sich immer wieder zu verwandeln. Die alte Dame im Splendid hatte er sogar zu einem Kompliment hingerissen. Sie hatte anerkennend gelächelt und gesagt: »Nur wenige wissen sich heutzutage noch passend zu kleiden. Abgesehen davon ist es ein Unterschied, ob man verrückt angezogen ist oder einfach nur schlecht. Finden Sie nicht, junger Mann?«
Natürlich hatte er ihr beigepflichtet und die Gelegenheit wahrgenommen, seinen ersten Kontakt zu knüpfen. Es war nicht viel herausgekommen bei diesem kleinen Interview. Schließlich konnte er nicht direkt solche Fragen anbringen wie: Was bedeutet Luxus für Sie? Halten Sie Luxus für unanständig? Damit hätte er alles verdorben. Wenn auch die Leute oft nicht verstanden, worauf er hinauswollte, spürten sie doch, ob er beabsichtigte, sie aufs Glatteis zu führen. Nur wenn sie Vertrauen gefasst hatten und sich sicher fühlten, wurden sie irgendwann unvorsichtig und gaben ihre Wahrheiten preis. Soweit zumindest seine Erfahrungen. Der weißhaarigen Lady würde er jeden Abend begegnen, denn die Plätze waren fest vergeben. Wenn auch mindestens Mitte siebzig, war sie geistig lebhaft und schien Humor zu haben. Die Dinnerabende konnten also durchaus erfolgreich für ihn werden …
»Einen finnischen Wodka und einen Orangensaft, bitte.« Ein junger Mann hatte sich bis zu ihm nach vorn gekämpft. An der Bar gab es keine freien Plätze mehr, und die Kellner brauchten Zeit, um alle Bestellungen, die sie an den Tischen einsammelten, abzuarbeiten. Die Durstigen zog es also an die Bar, wo sie hofften, schneller bedient zu werden, und ihre Getränke selbst entgegennahmen.
Der junge Mann trug diesen Haarschnitt, den Lars so angesagt fand: an den Seiten kurz rasiert und darüber eine dicke braune Tolle. Ansonsten wirkte er in den stumpfen Jeans und dem karierten Hemd eher wie jemand, der sich nicht viele Gedanken um sein Outfit machte. Man musste ja nicht gleich jedem Trend folgen. Einmal hatte Lars allerdings nicht widerstehen können und mit silbernen Nieten besetzte Lederhandschuhe getragen, fingerlos wie Karl Lagerfeld. Er fand sie damals einfach genial.
»Orangensaft und Wodka, bitte.« Der Barkeeper reichte dem jungen Mann die Getränke. Der nahm sie entgegen, hielt sie schützend in die Höhe und bahnte sich geduldig seinen Weg. Lars fiel der durchtrainierte Body auf. In der Nähe der Wendeltreppe setzte er sich zu einer Rotblonden mit langen dünnen Armen. Als er ihr den Orangensaft gereicht hatte, wandte er den Kopf. Lars konnte seinem Blick nicht mehr ausweichen.
*
Karla Sesselmanns Schnaufen übertönte das gedämpfte Surren der Klimaanlage. Olivia lag mit offenen Augen im Bett, aus dem Bad drang ein schmaler Lichtstreifen. Zu Hause ließ Karla ihre kleine Lampe auf dem Nachtkasten brennen, aber die hier sei zu grell, hatte sie moniert, so würde sie kein Auge zumachen. Deshalb hatten sie sich darauf geeinigt, die Leuchtröhre über dem Becken im Bad brennen zu lassen. Der Lichtschein, der unter der Tür in die Kabine einfiel, genügte, um sie nicht ganz im Dunkeln zu lassen.
Sieben Nächte würden sie nun zusammen in diesem Raum verbringen, dicht an dicht. Karla störte das nicht, im Gegenteil, ihr konnte es nie nahe genug sein. Am liebsten hätte sie gesehen, wenn sie zusammen in einem Bett hätten schlafen müssen. Als Frau Seifert vom Reisebüro sagte, dass man die Betten auseinanderschieben könne, war Karla die Enttäuschung direkt anzusehen gewesen.
Angeblich konnten Zwillinge nicht ohne den anderen, spürten über den halben Erdball hinweg, ob der andere Hilfe brauchte. Karla hing bereits als Kind wie eine Klette an ihr, wollte sie immer streicheln. Einmal hatte Olivia ihr deshalb eine runtergehauen. Alle fünf Finger hatten sich auf Karlas linker Wange abgezeichnet, und prompt hatte sie alles Papa gepetzt. Sie, Olivia, würde so grob zu ihr sein und habe sie geohrfeigt, dabei habe sie sie doch nur streicheln wollen. Und Olivia musste zu Papa, und Papa hatte zu ihr gesagt: »Ihr müsst euch immer lieb haben, hörst du, Olivia, mein Spatz. Ihr seid meine beiden Goldstücke, nie sollt ihr euch streiten.«
»Siehst du«, hatte Karla hinterher zu ihr gesagt, »auch Papa ist auf meiner Seite.« Und um Papa nicht zu enttäuschen, hatte Olivia beim nächsten Mal stillgehalten …
Der Reisewecker gab sieben Minuten vor zwei an. Karla schlief wie ein Stein. Dass sie den Fisch nicht vertragen habe, war wohl wieder eine dieser gezielten Falschmeldungen gewesen, die sie nur ausstreute, um sie zu beunruhigen. Plötzlich flog Karlas Mund auf und ließ ein lautstarkes Schnarchen hören. Olivia rutschte aus dem Bett, zog sich ihren gesteppten rosafarbenen Morgenmantel über und schob vorsichtig die Balkontür auf. Karla musste das schleifende Geräusch unbewusst wahrgenommen haben. Sie unterbrach sich kurz, dann schnarchte sie weiter.
Unhörbar begab sich Olivia auf nackten Füßen an die Brüstung und genoss es, ihre schulterlangen Haare vom frischen Fahrtwind durchwirbeln zu lassen. »Willst du dir den Tod holen?« Sie war immer da, die Stimme ihrer Schwester, die sich seit ihrer Kindheit wie ein Phantom in ihren Kopf geschlichen hatte. Vor allem das: »Ich sag es Papa.«
Dieses »Ich sag es Papa« hatte eines Tages etwas Furchtbares angerichtet, damals, als sie erst zehn und noch Kinder waren. Papa hatte ihnen verboten, so weit unten am Neckarufer zu spielen … Später hatte sie es tausendmal bereut, ihre Schwester überredet zu haben, es doch zu tun. Wenn sie geahnt hätte, dass sie deswegen den Rest ihres Lebens im Rollstuhl sitzen müsste.
Das war der Anfang der Hölle gewesen, an der sie selbst Schuld trug, und es blieb ihr nur, jede Gelegenheit zu nutzen, um ihr manchmal zu entkommen. Olivia hatte bereits einen Plan. Morgen früh gegen sieben würde sie mit dem Badetuch ein schattiges Plätzchen auf dem Oberdeck für sie beide reservieren. Später, wenn sie sich dort eingerichtet hätten, stellte sich auf einmal heraus, dass das Sonnenöl fehlte. Das war ihre Chance. Sie nähme sich alle Zeit der Welt, es zu holen, würde vielleicht unterwegs in einer Bar einen Cocktail trinken. Auch wenn Karla hinterher mit ihr schimpfte, dass sie sie habe warten lassen. »Wenn Papa das wüsste! Wenn Papa das wüsste!« Papa war tot, und er würde ihr frühestens im Jenseits wieder begegnen.
*
Der Saal war rundherum mit Kränzen geschmückt. Die Orgel prangte wie ein riesiges Diadem über den Köpfen des Publikums. König und Königin lächelten stolz und wohlwollend. Der Höhepunkt nahte.
»Hat jemand im Saal etwas gegen die Verleihung dieses Preises einzuwenden, dann möge er jetzt sprechen oder auf ewig schweigen.« Der Mann im Smoking blickte einmal routinemäßig durch den Saal und wollte fortfahren, als …
»Ja, ich … ich habe etwas einzuwenden!«
Durch das Publikum ging ein Raunen. Noch nie hatte es einen solchen Vorfall gegeben.
»Nicht allein er hat diese Ehrung verdient, diesen Preis der Preise. Offiziell war er der Leiter des Projekts. Doch wer hat sich durch die unendliche Zahl von Versuchsreihen gekämpft, sich auch von Rückschlägen nicht vom Weg abbringen lassen und in kleinsten Schritten diese Forschungsergebnisse erst möglich gemacht? Doch nicht Bergengruen allein. Das waren die vielen Mit- und Zuarbeiter, ohne deren Einsatz dieser Mann nicht weit gekommen wäre. Und die sollen alle leer ausgehen? Ist das gerecht?«
Stimmen erhoben sich im Publikum des geschmückten Konzerthauses von Stockholm. »Recht hat er. Warum werden nicht ganze Teams ausgezeichnet, warum immer nur ein Kopf? Erfolgreiche Forschung geht doch nur zusammen …«
»Ein Team kann ohne Führung nicht zielbewusst arbeiten, und deshalb soll der Kopf den Preis haben«, rief ein anderer, sprang von seinem Sitz und wandte sich ihm zu: »Wer bist du, Richard Körber, dass du es wagst, den großen Thomas Bergengruen öffentlich anzufeinden? Nichts weiter als ein neidischer Tropf. Warum gibst du dich nicht mit deiner Rolle zufrieden? Du bist doch anerkannt, wirst respektiert. Was willst du mehr?«
»Ich will …«
Richard wachte auf. Der Traum war zu Ende. Der Tumult im Saal verstummte schlagartig, als hätte jemand eine Glocke darübergestülpt. Er setzte sich im Bett auf. Diesen Saal im alten Konzerthaus von Stockholm hatte er weder gesehen noch betreten und die Zeremonie der Verleihung der Nobelpreise war ihm unbekannt. Was sich das Unbewusste zusammenreimte, schien oftmals sinnlos. Und doch enthielten diese Träume und Vorstellungen am Ende immer auch etwas Wahrheit. Wissenschaft hin und her. Er würde nie ein Bergengruen werden. Lebenslang hatte er geackert, aber es hatte nicht gereicht, um aus dem Schatten dieses Mannes zu treten. Traf die Bezeichnung auf ihn zu, dieses schlichte englische Wort mit der verheerend stigmatisierenden Wirkung: Loser?
Er rutschte aus dem Bett und schlüpfte in seine Pantoffeln. Das weiche Futter war im Moment sein einziger Trost. Mit drei Schritten erreichte er die Balkontür und vermisste sofort sein Wohnzimmer. In dem Göttinger Altbau hatte er genügend Platz, konnte, wenn ihn nachts schlechte Träume geweckt hatten, in seinem Wohnzimmer lange Bahnen auf und ab gehen, während das Knarren des alten Parketts beruhigend auf seine Nerven wirkte.
Er drehte sich auf dem Absatz um. Wieder trieb ihn seine innere Wutmaschine an. Es musste doch Gerechtigkeit geben. Es konnte nicht sein, dass ein unverbesserlicher Egozentriker die Ehrungen einheimste und die anderen in der Versenkung verschwanden, nachdem sie alles gegeben hatten … Bergengruen, du wirst einen Preis erhalten, aber nicht den, den du dir wünschst.
Bereits früh am nächsten Morgen ließ eine strahlende Sonne die Wasseroberfläche glitzern. Fast wie in den Schweizer Alpen, dachte Marius Gautier, dort oben, wo der Winter das ganze Jahr hielt und sich das gleißende Licht in den Schneekristallen brach, bis einem die Landschaft vor Augen flimmerte. Um in solchen Situationen klare Sicht zu behalten, hatte er in den Achtzigern eine Spiegelbrille erstanden, die er jetzt trug. Ein weiterer Vorteil des Spiegeleffekts bestand darin, dass er seine Umgebung unentdeckt ins Visier nehmen konnte.
Das erste Frühstück an Bord nahm Marius in einer der Außenbars ein, an einem Tisch gleich vis-à-vis der Glaswand. Zwei Tische weiter saß ein älteres Ehepaar. Beide plauderten unaufgeregt, strahlten dabei eine gewisse innere Zufriedenheit aus, um die er sie in dem Augenblick beneidete. Ihm kam Sibylle in den Sinn. Und wie immer, wenn er an sie dachte, fragte er sich, ob sie inzwischen jemanden gefunden hatte, der ihren Ansprüchen genügte. Ihre Ehe habe auf dem Papier gestanden, aber nie stattgefunden, und zu einer gemeinsamen Tochter sei es nur gekommen, weil sie damals seinen Urlaub durchgesetzt und dafür gesorgt habe, dass er in der Zeit für die Braunschweiger Polizei unerreichbar gewesen sei. Immer noch lag Sibylle Marius in den Ohren, obwohl zwischen damals und heute mehr als fünfzehn Jahre lagen. Sibylles Erscheinung hingegen war nur noch blasse Erinnerung, manchmal fragte er sich, ob er sie noch erkennen würde, wenn sie ihm auf der Straße begegnete. Was durchaus passieren könnte, Hannover und Braunschweig waren Nachbarstädte. Aber warum sollte sie nach Braunschweig kommen? Vielleicht lebte sie gar nicht mehr in Hannover, war in die Schweiz verzogen, nach Zermatt … Er musste lachen, denn es wäre das Letzte, was sie täte, in die Schweiz zu ziehen. Sibylle hasste die Schweiz, genauso wie sie ihn hassen gelernt hatte. Männer wie er sollten gar nicht heiraten dürfen, gesetzlich verbieten müsste man es ihnen, um die Frauen zu schützen, für die Partnerschaft nicht nur ein Lippenbekenntnis sei. Aber was hätte er machen sollen? Die Polizei war bereits damals notorisch unterbesetzt. Er wurde gebraucht, und … ja, er hatte sich für die Karriere entschieden. Aber niemals gegen Sibylle. Er hatte um ihr Verständnis gebuhlt, sich bei ihr entschuldigt, dass er nie da war und ihr gemeinsames Leben immer den Kürzeren zog. Dafür hatte er ihr eine schöne Zeit in Aussicht gestellt, eines Tages. Dann könne sie sich die Reiseziele aussuchen, dreimal im Jahr. Das war ernst gemeint. Aber ein paar Wochen später hatten ihm die Kollegen Niedermoser und Wächli die Wanderungen in den Schweizer Bergen schmackhaft gemacht. Eine Versuchung, der er nicht widerstehen konnte. Sibylle hatte geschäumt. Das war der Todesstoß für ihre Ehe gewesen.
Seine Blicke schweiften über das Deck. Auf den meisten Liegestühlen lagen bereits Handtücher ausgebreitet, mit denen manche Gäste meinten, Plätze reservieren zu können. Immer schon hatte diese Selbstherrlichkeit sein Blut zum Kochen gebracht. Als handelte es sich um ein international anerkanntes Abkommen. Nein, ganz und gar nicht! Wer an einem in dieser Weise markierten Stuhl vorbeiging und plötzlich schwere Füße bekam, der durfte sich setzen, auch wenn ein deutsches Handtuch es angeblich untersagte. In diesem Fall war er, der Deutsch-Schweizer, ganz Schweizer, und ihm kam der Gedanke, dass die Kreuzfahrt, auf der er sich nicht ganz freiwillig befand, keineswegs langweilig werden musste. Allein zu versuchen, dieses deutsche Handtuch-Recht bei geeigneter Gelegenheit aus den Angeln zu heben, war ein Anreiz.
*
»Ich würde auch lieber auf Kreuzfahrt gehen und Rum-Cocktails bis zum Abwinken schlürfen, als von morgens bis abends in der Redaktion zu rotieren.«
Am Handy war Nesrin. Nesrin, der Spatz, der die News vom Dach pfiff, Nesrin, die immer wusste, wann und wo es brodelte im Dampfkessel Berlin, die unter den Kopfkissen der Abgeordneten vom Reichstag lauschte und dafür sorgte, dass es das, was ihnen im Traum herausrutschte, noch in die Morgenausgabe schaffte.
»Bitte mehr Respekt, Frau Kollegin, hier läuft eine Sozialstudie von unschätzbarer Bedeutung: Brennpunkt Kreuzfahrt«, erwiderte Lars. Nesrin war die Einzige, mit der er auf diese Weise scherzen konnte, sie verstand seine Ironie, den leise bitteren Zug darin, und vor allem würde sie ihm nie einen Strick daraus drehen.
»Neues von Hasselbach?«
Sie zögerte. »Hasselbach geht es nicht gut. Kein Witz. Gestern kurz nach der Sitzung hat ihn ein Schwächeanfall umgehauen …«
»Oh.« Lars sah Hasselbach vor sich auf der Intensivstation, Versorgungsschläuche wuchsen aus seinem Körper, die verlöschenden Augen in tiefen schwarzen Höhlen …
»Kein Wunder …« Hatte Nesrin in Berlin gerade dasselbe gesagt? Sie lachte jedenfalls ihr piepsiges Lachen.
»Kein Wunder bei dem Zigarettenkonsum«, vervollständigte er den Satz. Nikotin war eben doch Gift. Allerdings rauchte er selbst. Hasselbach war schuld, dass er diesen Job machte, und Hasselbach war schuld, dass er an den Glimmstängeln hing …
»Aber kein Grund zur Sorge. Er ist schon wieder obenauf. Er könne gehen, mit dem Rauchen sei es allerdings vorbei, hat der Arzt angeblich gesagt. Wie ich Hasselbach kenne, hat er darauf seine Klamotten gepackt, die Station verlassen und sich noch vor dem Ausgang eine angesteckt.«
Lars lachte. »Grüß Hasselbach von mir und sag ihm, dass ich mein erstes Opfer gefunden habe, eine silbergraue Lady … Und sonst?«
Sie seufzte. »Du weißt ja, durch Berlin geht ein feiner Riss, der unmerklich breiter wird, Tag für Tag …«
Sie teilten diese Melancholie, verbunden mit dem süßen Schmerz. Wenn sie sich außerhalb der Redaktion zu einem oder zwei Glas Rotwein zusammenfanden, gaben sie sich hemmungslos dieser Poe’schen Untergangsstimmung hin. Wäre Lars hetero, hätte er Nesrin längst geheiratet.
»Mach’s gut!«
Noch bevor er antworten konnte, hatte sie aufgelegt. Lars trat aus dem Windschatten und stellte sich an die Reling, um sich den Fahrtwind um die Nase wehen zu lassen.
Hasselbach ging es nicht gut. Lars hätte nicht gedacht, dass ihm das unter die Haut gehen könnte. Er wusste nicht, ob er ihm dankbar sein oder ihn verfluchen sollte, denn Hasselbach war es, der ihn süchtig gemacht hatte, süchtig nach der Droge Journalismus.