MS Mord - Tödliches Nordlicht - Mick Schulz - E-Book

MS Mord - Tödliches Nordlicht E-Book

Mick Schulz

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Beschreibung

Mit Kurs aufs Nordkap ist die »Norwegian Legend« auf der berühmten Postschiffroute unterwegs. Passagiere und Crew hoffen darauf, das sagenumwobene Nordlicht zu sehen. Doch neben Hoffnung herrschen auch Angst und Hass an Bord. Eine Konzernchefin glaubt, dass ihr Enkel sie aus dem Unternehmen drängen will, eine ehemalige Operndiva begegnet dem Mann wieder, der ihr Leben zerstört hat, und ein radikaler Aktivist will ein Zeichen gegen die Umweltzerstörung setzen. Kommt es am Nordkap zur Katastrophe?

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Mick Schulz

MS Mord – Tödliches Nordlicht

Kriminalroman

Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Nenn es Schicksal (2018), MS Mord (2018)

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © GunnarE / stock.adobe.com

und © V. Belov / shutterstock.com

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6178-1

Widmung

Der Freundschaft von Deutschland und Norwegen gewidmet

Zitat

Man träumt nicht mehr so schön, wenn man erwachsen ist.

Knut Hamsun

Nordkap, Norwegen – 28. November

Ein Raunen ging durch den vollbesetzten Saal des Royal Seagarden Restaurants an Bord der Norwegian Legend, hie und da unterbrochen von einem unbeschwerten Lacher. Allein er wusste, dass es sich bei diesem Captains Dinner um eine Henkersmahlzeit handelte. Für all jene, die hier ohne schlechtes Gewissen zechten, war die Zeit gekommen, ihre gerechte Strafe entgegenzunehmen, wenn sie auch nur symbolisch für alle büßten, die sie verdient hatten.

Seine Hände vibrierten vor Anspannung, er hatte alles unter Kontrolle. Nach der Vorbereitungszeit von zwei Jahren und drei Monaten konnte er vollauf zufrieden sein mit dem, was sie geleistet hatten: das Einschleusen der V-Männer in die Servicecrew, minutiöse Planung, die natürlich er von Anfang an übernommen hatte, nicht zuletzt die Installation der Sprengsätze, an den Bordkameras und der Security vorbei. Lautlos und unsichtbar, so hatten sie gearbeitet.

»Liebe Gäste. Als Kapitän dieser wahren Königin der Kreuzfahrtschiffe freue ich mich, Sie auch im Namen der Crew zu unserem traditionellen Dinner ganz herzlich begrüßen zu dürfen. Das sagenumwobene Nordkap liegt hinter uns, und wir alle dürfen zuversichtlich sein, dass das Polarlicht noch in dieser Nacht über dem Schiff erscheinen wird. Erheben Sie also Ihr Glas und stoßen mit mir auf diese unvergleichliche Reise an.«

Ihm gegenüber saß eine Matrone mit voluminösem Busen und maskenhaft geschminktem Gesicht. Umrahmt von einer starken Duftaura und silbrig glitzernder Stola, wirkte sie wie das Klischee einer alternden Operndiva. Er mied es, in ihr Gesicht zu sehen, um zu verhindern, dass sie sich zum Small Talk animiert fühlte. Schließlich musste er sich auf das konzentrieren, worauf er so lange hingearbeitet hatte. Aber auch seine Tischnachbarin war anscheinend abgelenkt, starrte wie gebannt auf ein älteres Pärchen an einem der Nachbartische.

Die Gläser klirrten, alle prosteten sich zu. Er stieß mit der Diva an, auch wenn er das prickelnde, klebrige Zeug noch nie gemocht hatte. Er musste es tun, um nicht aufzufallen. Oft lag es an solchen Kleinigkeiten, ob große Unternehmen am Ende scheiterten oder nicht. Und noch etwas stand ihm klar vor Augen: Er trank nicht nur auf das Gelingen der Aktion, nicht nur auf das spektakulärste Ausrufezeichen, das je für den Umweltschutz gesetzt worden wäre, er stieß auch auf seinen eigenen Untergang an. Auch er würde nicht mehr existieren, nachdem er die Nummer gewählt hätte, die nur für diesen Zweck in seinem Handy eingespeichert war. Ein unbeschreibliches Gefühl von Stolz umfing ihn.

Er war bereit, den höchsten Preis zu zahlen, den ein Aktivist zahlen konnte. Für die anderen bestand eine geringe Überlebenschance, vorausgesetzt, die Crew konnte die Rettungsboote zu Wasser lassen. Allerdings hatte er die Kollegen in Sicherheit gewogen, damit ihm keiner von der Fahne ging. Die wenigsten waren reif genug einzusehen, dass sich das Leben nur lohnte, wenn man bereit war, für ein Ziel in den Tod zu gehen …

Das Geschirr des letzten Gangs wurde abgeräumt. Was jetzt folgte, wusste er genau: Die Saalbeleuchtung würde gedimmt, aus dem Hintergrund tauchten die mit Speiseeis beladenen Köche auf, zögen bei plärrendem Radetzky-Marsch an den rhythmisch klatschenden Gästen vorbei und teilten zu guter Letzt die Portionen aus.

Aber so weit würde es heute nicht kommen. Unmittelbar nach Einsetzen des Marschs würde er mit einem Druck auf den grünen Button seines Handys das größte Inferno auslösen, das die Menschheit bis dato erlebt hatte. Vielleicht bemerkten sie es nicht einmal, klatschten sich selbst ins Jenseits, die Detonationen um sie herum für ein Feuerwerk haltend, das ihnen die Reisegesellschaft als Überraschung bescherte …

»Ein wirklich festlicher Abend, nicht wahr? Da kann man sich nicht beschweren«, wandte sich plötzlich sein Gegenüber an ihn.

Sein Blick war an der Stirn der Diva haften geblieben, auf der sich kleine Schweißperlen gebildet hatten. Etwas stimmte nicht mit ihr, dachte er wieder, aber es war natürlich unhöflich von ihm gewesen, sie so anzustarren. »Ja, ganz meine Meinung …«

Sie tat es mit einem knappen Lächeln ab, schien wie er nicht an weiterer Konversation interessiert. Warum wurde es nicht dunkel im Saal? Einige Gäste schauten sich bereits neugierig um, als könnten sie den Grund von den Wänden ablesen. Jetzt tauchte ein Uniformierter auf. Ein Mann von der Security? Mit entschlossenem Gesichtsausdruck kam er auf ihren Tisch zu. – Bisher war doch alles wie erwartet verlaufen, einen Maulwurf unter ihnen konnte er mit Sicherheit ausschließen. Oder hatten sie die beiden am Ende doch gefunden?

Der Uniformierte blickte ihn an, legte einen Schritt zu und ging an ihrem Tisch vorbei. Er flüsterte dem Kapitän etwas ins Ohr, worauf dieser sich noch einmal erhob: »Meine Damen und Herren, soeben ist mir gemeldet worden, dass sich der Nebel verzogen hat, beste Voraussetzungen für das Polarlicht. Wir erwarten Sie nach dem Dessert also auf Deck zwölf, von dort haben Sie einen grandiosen Blick. Aber ziehen Sie sich bitte warm an.«

Applaus und Begeisterungsrufe brandeten auf. Wie konnte er nur so die Nerven verlieren, war sein letzter Gedanke. In diesem Augenblick wurde das Licht gedimmt. Gleich würde die Marschmusik einsetzen. Einige der Gäste erhoben sich von ihren Plätzen und zückten ihre Handys, um die bunte Show festzuhalten. Niemandem fiel auf, dass auch er sich erhob und sein Handy aus der Tasche zog …

Bergen, Norwegen – sechs Tage zuvor Große Erwartungen1

Der Flieger war pünktlich gelandet. Sie brauchte sich nicht weiter um das Gepäck zu kümmern, es würde direkt in die Abfertigungshalle am Kai gebracht, damit man die Zeit bis zur Einschiffung nützen und in Bergen die ein oder andere Sehenswürdigkeit genießen könne. So stand es im Prospekt, und Margo Sebald nutzte die Zeit. Nach einem Shrimps-Snack mit Prosecco auf dem Fischmarkt ließ sie sich von der Fløibahn in wenigen Minuten auf die Aussichtsplattform katapultieren, wo ein eisiger Wind wehte. Aber sie musste sich ohnehin an die klirrenden Temperaturen gewöhnen, immerhin ging diese Reise in die Arktis. Und hier war längst Winter im Gegensatz zu Hildesheim. Das einzigartige Panorama ließ sie das allerdings schnell vergessen. Unter ihr erstreckte sich der glitzernde Hafen der alten Handelsstadt, der Himmel war frei bis auf eine Kette kleiner weißer Wolken am Horizont, und die Sonne verwandelte die schneebedeckte Landschaft in eine Traumwelt …

Ein Reisebeginn wie im Bilderbuch, wenn sich da nicht immer die Erinnerung aufdrängte. Kaum mehr als ein Jahr lag zwischen jetzt und ihrer ersten Kreuzfahrt, als sie mit George durch das historische Kaufmannsviertel von Bergen gezogen war und er nicht genug von den alten Fassaden auf sein Tablett bannen konnte. Er hatte es mühelos geschafft, sie von sich selbst abzulenken und ihr Hoffnung gemacht, deshalb saß die Enttäuschung besonders tief. Eigentlich durfte sie George nicht einmal böse sein, denn er hatte ihr in letzter Minute das Leben gerettet, aber das war ein anderer Krimi …

Nach den nervenaufreibenden Erlebnissen auf ihrer ersten Kreuzfahrt wollten George und sie sich so bald wie möglich wiedersehen. Eine solide Sache, hatte Margo gedacht, auch wenn es nicht die große Liebe war. Immerhin hatte er unbestreitbare Vorzüge, war ein blendend aussehender, reifer Mann, der eine Frau rücksichtsvoll behandelte und sie vielleicht nicht enttäuschen würde. Doch bereits das war ein Irrtum. George schrieb ihr nach dem ersten Treffen, das vor ihrer Haustür mit einem keuschen Wangenkuss geendet hatte, einen handschriftlichen Brief – wenigstens bewies er noch einmal Stil. Darin stand, dass er zu seiner Frau zurückgefunden hätte. Einer Frau, die ihn angeblich in einer für ihn so harten und trostlosen Zeit, nämlich als er dem Spiel verfallen war, im Stich gelassen hatte. – Nein, sie hatte kein Verständnis! Warum sollte immer sie Verständnis haben, wenn man ihr etwas wegnahm?

Nie hätte Margo geglaubt, dass sie schon so bald wieder bei Stubben, ihrem herzallerliebsten Analytiker, landen würde. Und Stubben hatte ihr nach einem halben Jahr Einzeltherapie geraten: »Vergiss endlich diesen George, Margo! Neue Chance, neues Glück. Das Nordlicht wird dir den Weg weisen.«

*

Das verschwenderische Sonnenlicht kam Gerlinde Kämmerling für diese Jahreszeit nahezu unwirklich vor. Da war Hamburgs grauer Novemberhimmel weitaus reeller. Sie wandte sich ab von der ausladenden Glasfront, ließ ihren Blick über den Livingroom der Senior-de-luxe-Suite schweifen, die sich am Bug der Norwegian Legend befand. Von dem, was in dieser Klasse üblicherweise geboten wurde, schien nichts zu fehlen. Am Wichtigsten war – und sie hatte es Griesmann, ihrem Bürovorstand, gleich als Erstes in Auftrag gegeben –, dass ihr ein gediegener Schreibtisch und Internet zur Verfügung standen. Die Zentrale war angewiesen, täglich die neuesten Zahlen und Entwicklungen zu übermitteln.

»Warum vergisst du nicht einfach die Firma, Gerlinde? Du solltest endlich einmal abschalten und entspannen«, hatte er gemeint, Seele baumeln lassen und so weiter. Dabei war ihm anscheinend gar nicht aufgefallen, dass durchklingen könnte, wie froh alle waren, sie für einige Zeit loszuwerden. Bei Hartmut wusste sie allerdings, dass er es ehrlich meinte. Er war seit über dreißig Jahren für die Firma tätig und hatte sich bis zu ihrem Faktotum hochgearbeitet.

Nein, Gerlinde hatte die Reise zum Nordkap natürlich nicht gebucht, um sich zu erholen. Sie hatte sich ihr Leben lang nie erholt. Wozu auch? Um ihre Position zu schwächen? Wer den anderen den Rücken zeigte, weckte unnötige Machtgelüste. Sie hatte sie gebucht, um sich mit diesem jungen Mann – der Generation der Zukunft – zu einigen, diesem angeblichen Wirtschaftsgenie, das Verantwortung bei Babykiss übernehmen sollte, ohne die geringste Ahnung davon zu haben, wie man ein ausgewachsenes Familienunternehmen leitete. Ihr brach der Schweiß aus, wenn sie nur daran dachte.

Was sollte sie bis zum Sicherheitscheck bloß anfangen? Darauf, dass sie sich langweilen könnte, war sie nicht vorbereitet, und die Koffer ausgepackt hatte sie bereits. Die meisten Männer hatten es da einfacher, begaben sich in die nächstbeste Bar, griffen zu einem Drink, schwatzten dummes Zeug mit einem, der sich gerade anbot, und schwammen in ihrem Ego. Stundenlang konnten sie das, ohne sich auch nur eine Minute zu langweilen. Ihr verstorbener Alfred gehörte auch dieser Sorte an. In seinem ganzen Leben hatte er nur zweimal etwas Sinnvolles fertiggebracht: Er hatte das Geld seines Vaters in eine Firma für Kinderartikel investiert, und er hatte sie geheiratet. Nach ihrer Hochzeit bis zu seinem Ende hatte er sich allerdings nur aufgeblasen, den großen Unternehmer gemimt und die anderen die Arbeit machen lassen. Bereits nach zwei Jahren standen sie kurz vor der Pleite. Erst der neue Firmenname Babykiss und der Werbeträger, das küssende Baby, zogen bei der Kundschaft. Aus dem wenig seetüchtigen Kahn mit dem Namen »Alles fürs Kind«, den ihr Mann in die Ehe gebracht hatte, hatte sie den Ozeankreuzer Babykiss gemacht. Und jetzt stand Babykiss kurz davor, ein Konzern zu werden, das Label war mittlerweile ein Sympathieträger, der überall funktionierte. In den Fachblättern schrieben sie den Erfolg allerdings vor allem dem Geschick der Marketingabteilung zu und stellten sie gern als Dinosaurier dar. Als wäre sie nicht die Chefin, die in allen Abteilungen ein wichtiges Wort mitzureden hätte. Die meisten erfolgreichen deutschen Unternehmen waren Traditionsunternehmen. Was wären sie ohne die Erfahrenen, die das Überleben im Haifischbecken von der Pike auf gelernt hatten?

Es klopfte an der Tür. »Darf ich eintreten, Großmutter?«

»Diesen Wunsch kann ich dir erfüllen«, antwortete Gerlinde und seufzte.

*

Unleugbar imposant, diese Hochseekolosse, vor allem wenn man davorstand und nicht einmal halb so hoch wie ein Buchstabe der Rumpfbeschriftung an Backbord war. Der Kreuzfahrttourismus boomte trotz Titanic und Costa Concordia, dem Unglückspott, der eineinhalb Jahre wie ein toter Wal im Mittelmeer gelegen hatte …

Für einen Moment ließ ihn dieser Gedanke stutzen, dann wurde er weiter über die Edelstahlbrücke in den unteren Schiffsbauch geschoben.

»Jonas Schreker?«, fragte ihn der Uniformierte an der Kontrollstation nach einem Blick auf seinen Monitor, und als er nickte, fügte er an: »Herzlich willkommen auf der Norwegian Legend.«

Sein Gepäck, ein einziger Koffer von etwas mehr als zwölf Kilo, sollte vor der Kajüte siebenundsechzig auf Deck drei bereits auf ihn warten. Die Gänge waren mit dicken Teppichböden ausgelegt, und als Jonas den schmalen Seitengang betrat, verstummten schlagartig alle Geräusche. Sein Koffer stand wie erwartet vor der siebenundsechzig. Die Magnetkarte ließ das Schloss in der Tür klacken. Blicke in die Kabine und die dazugehörige Nasszelle bestätigten, dass die Ausstattung völlig genügte. Ein Bullauge spendete ausreichend Tageslicht, auf einen Balkon hatte er verzichtet. Mit dem Aufzug war er schließlich in zwei, drei Minuten auf dem Aussichtsdeck und konnte sich den Fahrtwind um die Ohren wehen lassen, wenn er wollte.

Er dachte an Silke und Dani, schon den ganzen Morgen hatte er an sie gedacht, genau genommen seit er in Bonn das Haus verlassen hatte. Er dachte an sie, als wären Silke und er noch ein Paar und Dani, ihr Sohn … Aber das war Vergangenheit, unwiederbringlich und nicht zu ändern, sinnlos also, sich immer wieder selbst zu verletzen. Außerdem verabscheute er Sentimentalität, sie benebelte das Hirn und machte aus einem Mann einen Waschlappen.

Er hatte Silke nicht gesagt, dass es nach Norwegen ging. Sie hatte ihn schon lange nicht mehr gefragt, wohin er reiste. Wenn sie sich im Hausflur begegneten, nickten sie sich im besten Fall zu. Silke war grau geworden, und je mehr Grautöne sich in ihr Haar woben, desto mehr schwand auch diese rosige Frische aus ihrem Gesicht, die er an ihr so geliebt hatte. Vielleicht hatte er sie ja nur wegen dieser Maifrische geheiratet.

Die Enttäuschung und der schmerzvolle Verlust hatten ihnen beiden die Frische genommen. Es war zermürbend, jahrelang alles zu tun, um ein Ziel zu erreichen, und es immer und immer zu verfehlen. Aber diesmal stand er kurz davor, alles würde endlich einen Sinn haben. Und wenn es so weit wäre, erführe Silke auch, auf welche Reise er gegangen war, dafür hatte er gesorgt.

*

Der Gedanke, in einem edlen Café zu sitzen und bei einer süßen Kleinigkeit den atemberaubenden Ausblick über die Arktis genießen zu können, hatte Silvia fasziniert. Einer der Gründe, eine solche Reise zu buchen, nicht zu vergessen das geheimnisvoll unwirkliche Polarlicht. Waren nicht alle süchtig nach Licht, die ein einigermaßen friedliches bürgerliches Leben einmal gegen diesen Schlangenpfuhl eingetauscht hatten, den man »die Bühne« nannte?

»Prego, Signora, Kostprobe für Signora: Petit Four Schoko-Ananas mit hauchzarter Chili-Note …«

Der Kellner war so süß wie die Törtchen, die er vor sie hinstellte. Sie hatte den Eindruck, dass er öfter als nötig an ihrem Tisch vorbeikam. Südländer liebten oft füllige Formen bei Frauen, jedenfalls verstanden sie es, Komplimente mit Blicken zu machen. Warum sollte sie es nicht genießen? Und warum ausgerechnet jetzt die Kalorien zählen? Nicht überall war Darmstadt. Sie dachte an die Szene in der Fußgängerzone im letzten Sommer zurück, als eine Frau mit dem Finger auf sie zeigte und ihre kleine Tochter lautstark ermahnte: »Hör auf zu quengeln, du bekommst kein zweites Eis! Oder willst du so aussehen wie die da?« – Die Kränkung saß immer noch tief, obwohl Silvia schon einiges erlebt hatte. Aber zum ersten Mal war sie vor einem Kind an den Pranger gestellt worden. Und wenn sie daran dachte, packte sie nicht nur das schlechte Gewissen, es packte sie auch die Wut. Schließlich war sie ein Vorbild, eine »Erscheinung« gewesen, damals, als man sie noch »die Cantelli« nannte, wie eine Krone hatte sie diesen Namen getragen, und zwischen damals und heute lagen nur wenige Kilos … jedenfalls nicht der Rede wert. Immerhin leitete sie jetzt als Gesangslehrerin ihr eigenes kleines Studio. War das etwa nichts? Ab und an bestand einer ihrer Schützlinge sogar die Aufnahmeprüfung zur Musikhochschule …

Die Sonne ging unter und die Fenstergalerie spiegelte immer deutlicher das Innere des Cafés wider. Silvias schweifender Blick blieb an einer Mittfünfzigerin hängen, die in ihrem zu eng anliegenden Kleid wie ein aufgeblasener Luftballon wirkte, eine Kuchengabel in der fleischigen Hand und vor sich ein Schoko-Ananas-Törtchen.

»Herzlich willkommen, liebe Gäste, auf unserem Schiff, der Norwegian Legend, zu einer Reise in die Arktis, dem Sehnsuchtsort der besonderen Art, zu der wir in diesen Minuten von Bergen aus starten werden. Hier spricht Knut Pedersen, Ihr Kapitän von der Brücke. Die Norwegian Legend heißt nicht nur so, sie bietet auch legendäre Leistungen an Bord. Im Namen der Crew kann ich Ihnen deshalb versprechen: Wir werden alles tun, um Ihre Erwartungen zu erfüllen …«

2

18.30 Uhr, noch früh am Abend. Das Royal Seagarden Restaurant war etwa zur Hälfte besetzt. Margo Sebald erinnerte das Design der Einrichtung an den Empire Stil, der eine gewisse Gediegenheit verströmte und das Selbstwertgefühl hob. Sie hielt sich an ein Glas halbtrockenen Rosé, verlor sich in den Melodien des Streichorchesters im Hintergrund. Filmtitel aus dem alten Hollywood, einen erkannte sie sofort: Moon River. Ihr stand Audrey Hepburn in »Frühstück bei Tiffany« vor Augen, pitschnass im strömenden Regen, als sie verzweifelt nach der Katze namens »Kater« zwischen den Mülltonnen suchte …

Auf die Weise ließ sich Margos Melancholie allerdings nicht vertreiben, dabei war sie am Nachmittag so gut aufgelegt gewesen. Aber wenn es Abend wurde … War nicht auch für sie längst der Zeitpunkt gekommen, sich eine Katze oder einen Hund anzuschaffen? Ein geduldiges, unkritisches Wesen, dem sie ihre Zärtlichkeiten aufdrängen konnte, das sie stürmisch begrüßte, wenn sie abends nach Hause kam, und ihr am Ende des Tages die Füße wärmte?

Der Kellner näherte sich ihrem Tisch. Sie hatte nicht mehr daran gedacht, dass es eine Vorspeise gab. »Gurken-Carpaccio mit Radieschen und Feta, guten Appetit, meine Dame.« Er lächelte sie an, ein schlanker junger Mann mit tiefschwarzem Haar und südeuropäischen Gesichtszügen. Eine leise Scham durchströmte sie, als sie sich bei der Überlegung ertappte, in welchem Land er wohl geboren war. Denn sie dachte dabei an eine bestimmte Person: Joan, der in die Fänge der Schmugglermafia geraten war, dieser blendend aussehende Katalane von der Servicecrew auf der MS Mythos, dem Schiff ihrer ersten Kreuzfahrt. Sie wusste gar nicht mehr genau, wie sie in diese Geschichte hineingeraten war. Jedenfalls hatte sie am Ende geholfen, einen Schmugglerring zu zerschlagen. Jetzt verspürte sie allerdings nicht die geringste Lust, eine solche Entführung noch einmal zu erleben. Wie es Joan wohl seitdem ergangen war? Ob er die temperamentvolle Tänzerin aus der Showtruppe geheiratet hatte und mit ihr glücklich war? Sie wünschte es ihm.

Gib doch zu, dass du vor Neid platzt, wenn du daran denkst! Das hätte wenigstens Größe. Diese ganze Rettungsaktion ist nicht mehr als ein Alibi gewesen. Verknallt warst du bis über beide Ohren in diesen Joan und hast dich vor dir selbst mit deinem Mutterinstinkt herausgeredet. Als er wehrlos in deinen Armen lag … Wo waren da deine Augen? Und wo war deine Zunge, als du ihn beatmet hast? Jetzt spielt Margo Sebald die großherzige Gönnerin, obwohl du seine kleine Freundin am liebsten in einem Fjord ersäuft hättest. Wie verlogen kann man sein?

Es rieselte ihr eiskalt den Rücken hinunter. Und sie hatte geglaubt, dass sie Anders für immer besiegt hätte, diesen Dämon, diesen Troll in ihrem Kopf, der sie bei ihrer ersten Fahrt fast über die Reling gezogen hatte. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass ihr ein weiteres Duell nicht erspart bliebe. Ausgang ungewiss …

*

Nach dem Dinner hatte Gerlinde Kämmerling ihrem Enkel einen Besuch in der Jazzbar vorgeschlagen. Und Denir hatte eifrig zugestimmt. »Eine gute Idee, Großmutter«, hatte er erwidert. Jedes Mal, wenn sie das Wort »Großmutter« hörte, durchzuckte es sie. Die folgenden Stunden würden nicht leicht werden, denn während des Dinners hatte sich herausgestellt, dass sie nicht über Höflichkeiten hinauskamen. Ein Grund war sicherlich, dass sich jeder dem anderen zu nähern versuchte, ohne gleich einen kapitalen Fehler zu machen. Schließlich kannten sie sich so gut wie nicht.

Gerlinde hatte es abgelehnt, ihren Enkel zu sehen, auch wenn Roland, ihr Sohn und Denirs Vater, immer wieder versucht hatte, sie zusammenzubringen. Warum sollte sie Kontakt zu einem illegitimen Kind aufnehmen? Selbst als sie erfuhr, dass ihre Schwiegertochter Evelyn keine eigenen Kinder bekommen konnte, hatte sie gehofft, Roland würde einen Sohn adoptieren – was jedoch nicht erfolgt war. Für sie hatte sein illegitimer Sohn mit einer libanesischen Arbeiterin aus der Logistik-Abteilung keine familiäre Daseinsberechtigung. Das Produkt einer verantwortungslosen Selbstvergessenheit war er, nichts weiter, das hatte sie Roland vorgeworfen. Und der Streit um dieses Kind hatte ihr Verhältnis am Ende völlig zerstört.

Vielleicht waren ihre Ansichten nicht modern, ja, vielleicht engstirnig oder verknöchert. Roland war sogar so weit gegangen, sie als »rassistisch« zu bezeichnen, was sie schockiert hatte. Doch sie schämte sich nicht im Geringsten für ihre Ansichten. Wenn es ums Geld ging, schrien am Ende nur die nach Moral, die nichts abgekriegt hatten. Die anderen schwiegen wohlweislich, so war es immer. Das Geld musste im Kreis derer bleiben, die damit umgehen konnten, sonst stellte es eine Gefahr für die Gesellschaft dar. Stimmte das etwa nicht?

»Unverkennbar Miles Davies. Bei seinen Trompetenmelodien könnte ich stundenlang träumen.« Denir schlürfte seinen Cocktail und machte ein derart zufriedenes Gesicht, dass man neidisch werden konnte. »Ich möchte dir noch einmal danken, Großmutter, dass du mich auf diese Reise eingeladen hast. Sie ist wunderbar. Und wir können uns jetzt endlich besser kennenlernen.«

An seinem 16. Geburtstag hatte ihn Roland unangemeldet in ihr Büro mitgenommen und vorgestellt. An dem Tag hatte Denir einen Schulpreis in Mathematik gewonnen. Ein aufgeschossener schwarzhaariger Junge mit Brille und großen braunen Rehaugen. Roland war in dem Alter auch plötzlich so aufgeschossen, sonst hatten die beiden keine erkennbaren Gemeinsamkeiten. In Mathe hatte Roland sogar Nachhilfe erhalten.

Als Denir achtzehn war, hatte sie ihm zum besten Abitur des Jahrgangs gratuliert. Seine Leistungen waren zweifellos herausragend, und sie wäre zu vielem bereit gewesen – war es immer noch –, wenn er sich etwa entschieden hätte, Medizin zu studieren. Aber dann, ausgerechnet auf einer Party der stramm konservativen Tecklenburgs, erklärte Roland ihr, was er eigentlich mit ihm vorhatte …

»Morgen sind wir schon in Ålesund«, machte Denir unverdrossen weiter Konversation. »Die berühmte Jugendstilstadt. Du liebst den Jugendstil doch so, nicht wahr, Großmutter?«

Ein Gedächtnis wie ein Buch. Sie selbst hatte vergessen, wann sie es ihm gesagt haben könnte – vielleicht kombinierte er auch einfach, weil er sie einmal in ihrer Jugendstilvilla in Winterhude besucht hatte, das letzte Mal zusammen mit seinem Vater. Denir war sicher nicht zu unterschätzen. Sein Name komme aus dem Aramäischen, hatte Griesmann ihr eines Tages gesagt, und bedeute: der Unglaubliche. Für sie war er eher »der Unheimliche«, denn er ließ sich durch ihre trockene Reserviertheit nicht eine Minute aus der Ruhe bringen. Ein undurchsichtiger und deshalb gefährlicher Gegner, oder war er tatsächlich so naiv zu glauben, sie habe ihm diese Reise nur geschenkt, um ihn näher kennenzulernen?

*

Vor dem Salatbüfett im Selfservice-Restaurant standen kaum hungrige Gäste, die meisten krönten ihre an den Theken zusammengestellten Mahlzeiten nur mit ein paar Tomatenscheiben oder Paprikastreifen, sodass Jonas Schreker nicht lange warten musste, bis er an der Reihe war. Er stellte sich einen Teller mit Weißkraut, Lollo rosso und Rucola zusammen, dazu etwas gehäckselte Karotten und grüne Bohnen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er aufgegeben zu überlegen, welche Pflanzenkost die verträglichste war, nicht nur für seinen Magen, sondern auch vor allem ökologisch betrachtet. Allein die Wassermengen, die in der Treibhausproduktion dafür verbraucht wurden, führten – ohne dass man die Erderwärmung als Faktor bemühen musste – in absehbarer Zeit zum Kollaps. Die Hälfte der Menschheit stand kurz davor zu verdursten und ahnte kaum etwas davon.

Er stellte sich am Getränkeautomaten an. Bevor er sich ein Glas Weißwein zapfte, fragte er den Kellner nach der Sorte. »Württemberger Riesling, mein Herr«, antwortete er mit einem leichten Akzent. Sie schauten sich kurz in die Augen, und Jonas erwiderte, halblaut, aber klar zu verstehen: »Deutscher Wein ist doch der beste.« Der Kellner nickte, dann trennten sie sich ohne ein weiteres Wort.

Jonas setzte sich an einen der freien Tische am Fenster und aß seinen Salat. Draußen war es schwarz und der Himmel bedeckt, kein Stern ließ sich blicken. Er fragte sich, wie er den Rest des Abends verbringen sollte. Auf die Begrüßung durch den Kapitän und die Vorstellung der Crew im großen Theater konnte er verzichten. Er liebäugelte mit der Jazzbar. Jazz hatte er immer gemocht, daran hatte sich nichts geändert. Und es war zu früh, um ins Bett zu gehen. Was halfen ihm schlaflose Nächte? Ein Whiskey oder zwei würden nicht schaden …

Das Credo seines alten Herrn kam ihm in den Sinn: »Du kannst nur erfolgreich sein, wenn du konsequent bist. Keine Schwäche zulassen, sich selbst und anderen gegenüber hart bleiben, allen Widerständen zum Trotz. Das ist das einzig wirksame Rezept für nachhaltigen Erfolg.« – Um ihm das mitzuteilen, hatte sein Vater ihn in sein Arbeitszimmer bestellt. Damals, als er vor dem Abitur diese Null-Bock-Phase durchgemacht hatte. Ein Schulterklopfen hätte ihm mehr gebracht. Immerhin hatte Jonas das Abi dann mit Ach und Krach geschafft, mehr aus Angst vor einer Demütigung.

Aber die Demütigung war ihm nicht erspart geblieben. Das jämmerliche Ergebnis war eines Golo Schrekers, Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn, nicht würdig. Er, sein Sohn, war dieses brillanten Vaters nicht würdig, der bis heute vom Fernsehen vor die Kamera geholt wurde, wenn es um die Einschätzung der aktuellen Weltpolitik ging. Auch wenn dieser Mann in seinem Leben keine einzige Entscheidung zum Wohle der Menschheit getroffen, geschweige denn umgesetzt hatte, denn dafür machte er sich nicht die Hände schmutzig. Da beschrieb er lieber den Weltuntergang und dozierte und dozierte …

Nie hatte Jonas gewagt, ihm seine Meinung ins Gesicht zu sagen. Professor Golo Schreker würde nur ein mitleidiges Lächeln für ihn übrighaben. »Du willst doch nicht ernsthaft dieses naive Argument anführen? Es braucht Denker ebenso wie Ausführende. Jeder an seinem Platz«, oder etwas Ähnliches würde sein Vater – wenn überhaupt – erwidern, um ihm seinen Platz unter den Halbgebildeten zu weisen.

Jonas folgte der Wendeltreppe, die zur Jazzbar hinabführte. Die Wände waren mit Natursteinattrappen verblendet und erweckten den Eindruck einer Kellerbar. Vielleicht der richtige Ort, ein Resümee zu ziehen. Es war längst an der Zeit, sich Gedanken über sein bisheriges Leben zu machen. »Einen Single-Malt-Whisky, bitte.«

»Welchen, Sir?«, fragte der Kellner, der vom Typ her gut zu einer Strandbar auf Tahiti gepasst hätte.

»Am liebsten einen schottischen.«

Prost, Vater, dachte Jonas, als er das Glas in die Hand nahm. Bereits beim ersten Schluck fühlte er die tiefe Genugtuung, eine Entscheidung getroffen zu haben, die selbst den Horizont eines Professor Schrekers bei Weitem überragte.

*

Die erste Nacht in einem fremden Bett war Silvia immer schon schwergefallen. Doch jetzt, nach der bunten Begrüßungsshow im großen Theater und zwei Cocktails mit Jamaika-Rum, fühlte sie sich schläfrig, und das sorgfältig aufgedeckte Bett kam ihr auch nicht mehr so schmal vor. Sie griff nach dem Schokoherz, das auf dem Kopfkissen lag, und schälte es aus dem pink glänzenden Silberpapier. Fast liebevoll, wie man sich um das Wohlbefinden der Passagiere kümmerte …

Das Theater war voll besetzt gewesen, ganz so wie zu ihren Zeiten. Doch für den frenetischen Applaus hatte sie sich verausgaben müssen, in der Oper gab es keine Mikros, die ein mattes Organ in eine voluminöse Stimme verwandelten, die Sänger mussten bekennen. Entweder man hatte oder man hatte nicht.

Silvia verteilte die Nachtcreme auf ihrem Gesicht, während sie den Nachrichten im eingeschalteten Fernseher zuhörte. In der Welt lief es nicht gut, nichts als Drohungen und Bomben, Katastrophen, Hunger und Tod. Die schlechten Anzeichen häuften sich, was sie darin bestätigte, ihre Urlaubskasse bis auf den letzten Cent geplündert zu haben. Wer konnte schon sagen, wie lange das alles noch gutgehen würde? Darum hatte sie beschlossen, wenigstens einige der Schönheiten zu genießen, die Europa zu bieten hatte, bevor es zu spät war.

Nachdem sie die Haare am Hinterkopf eingedreht hatte, schaltete sie den Fernseher aus, legte sich hin, und mit den Bildern von sonnenglänzenden Fjorden und schneebedeckten Felsengipfeln verlor sie das Bewusstsein.

Der Wecker zeigte 2.17 Uhr, als sie aus dem Schlaf fuhr. Es wunderte sie nicht. In der ersten Nacht außerhalb ihrer eigenen vier Wände spielte sich immer das Gleiche ab. Sie wachte plötzlich auf und wusste nicht, wo sie war. Wenn es ihr dann einfiel, beruhigten sich allmählich Herzschlag und Atmung, und bald darauf schlief sie wieder ein. Diesmal standen ihr jedoch Schweißperlen auf der Stirn und sie fühlte Hitzewellen hochsteigen. Es lag wohl an der hermetischen Abgeschlossenheit der Kabine, die ihr zu schaffen machte, ihr das Gefühl gab, zu wenig Luft atmen zu können, obwohl die Klimaanlage für ausreichend Frischluft sorgte. Sie setzte sich auf, rutschte aus dem Bett und öffnete die Tür zu dem kleinen Außenbalkon. Doch reflexartig warf sie die Tür zurück ins Schloss. Sie war auf dem Weg in die Arktis, fiel ihr schlagartig ein, und sie verstand ihren Leichtsinn selbst nicht, da konnte man nicht so einfach lüften, ohne Gefahr zu laufen, zu einer Eisfigur zu gefrieren. Aber gerade diese Eislandschaft faszinierte sie – und die gigantischen Lofoten. Wenn das Wetter mitspielte, würde es ein unvergessliches Erlebnis werden … Sie kroch zurück ins Bett und dimmte das Leselicht, das sie immer nachts eingeschaltet ließ.

3.56 Uhr. Sie meinte, durch ihren eigenen Schrei aufgewacht zu sein. Was hatte sie nur geträumt? Der Traum war in dem Moment abgerissen, als sie die grellroten Ziffern des Weckers zu lesen versucht hatte. Sie wusste nur noch, dass sie in einem Theater gewesen war und die Leute gejubelt hatten. Allerdings stand sie nicht auf der Bühne, sie saß im Publikum in einer der hinteren Reihen, um den Zuschauerraum am Ende der Show schneller verlassen zu können. Es war die Begrüßungsshow hier auf dem Schiff gewesen. Aber was, in Gottes Namen, hatte sie daran so aufgeregt?

Sie verließ erneut ihr Bett und wischte sich im Bad mit einem feuchten Frotteehandschuh über Stirn und Arme. Sie versuchte sich an etwas Auffälliges zu erinnern, das sie jedoch nicht weiter beschäftigt hatte, weil sie vom Geschehen auf der Bühne abgelenkt war.

Sie erinnerte sich nicht, doch als sie ihr Kissen aufschütteln wollte, stieß sie versehentlich ihren Band Kurzgeschichten an, der vom Nachtschrank rutschte. – Das ältere Paar in der Reihe vor ihr. »Meine Augentropfen, André. Vielleicht ist das Fläschchen unter deinen Sitz gerollt.« Als sich die Frau nach vorn beugte, hatte sich der Mann eingeschaltet: »Wir sehen später nach, Schatz, wenn die Show vorbei ist und das Licht angeht …« Die Stimme des Mannes, die dann im Applaus untergegangen war, kannte Silvia, diese Stimme, die sie so viele Jahre nicht gehört hatte, die sie nie mehr hören wollte …

Die Schöne aus dem Feuer 3

Der Blick von der Fenstergalerie des Selfservice-Restaurants auf die bildschöne Altstadt von Ålesund ließ Margo die unruhige Nacht, die hinter ihr lag, fast vergessen. Gegen fünf hatte ihr noch das Knacken von brennendem Holz in den Ohren gelegen und sie war völlig verschreckt aufgewacht. Das verheerende Feuer von 1904 hatte sie bis in den Schlaf verfolgt. Damals war innerhalb kurzer Zeit ganz Ålesund, das fast ausschließlich aus Holzhäusern bestand, bis auf die Grundmauern niedergebrannt.

»… danach gab es zum Glück viel Unterstützung, auch der deutsche Kaiser war großzügig, und schließlich bauten die besten Architekten Norwegens das unscheinbare Fischerstädtchen als Jugendstilschönheit wieder auf. Fantastisch, nicht?«

Nur ein Tisch trennte Margo von einem seltsamen Paar. Ein junger Mann redete auf eine ältere Dame ein, die seine Großmutter sein könnte, obwohl er mit seinem dunklen Teint und der Physiognomie nach eher aus dem Nahen Osten stammte. Auf dem mürrisch wirkenden, unverkennbar mitteleuropäischen Gesicht seines Gegenübers lag dagegen eine ungesunde gelbliche Blässe wie bei jemandem, der nicht viel an die frische Luft kam. Und noch etwas unterschied sie: Während der junge Mann offenbar bester Stimmung war und versuchte, die alte Dame anzustecken, wirkte sie kühl und abwartend, fast als lauerte sie auf eine Gelegenheit, ihm die gute Laune zu verderben. Die Spannung zwischen ihnen spürte Margo deutlich, anscheinend ging sie von der Dame aus. Irgendetwas stimmte nicht mit den beiden …

Margo dachte an Stubben und seinen Leib-und-Magen-Spruch: »Je tiefer du deine Nase in die Angelegenheiten anderer Leute steckst, desto weniger hast du Zeit, dich mit deinen eigenen Problemen zu beschäftigen.« Seiner Meinung nach die effektivste Methode, sich selbst zu entkommen. »Die menschliche Irrationalität ist eine unheilbare Krankheit. Du kannst sie nur ertragen, wenn du ihr mit Irrationalität begegnest.«

Stubbens Logik hatte Margo von Anfang an imponiert, und sie vertraute darauf, auch wenn es beim letzten Mal verdammt eng für sie ausgegangen war. Ihre Gedanken kreisten bereits darum, wie sie es einrichten könnte, mit dem seltsamen Paar scheinbar zufällig ins Gespräch zu kommen. Doch zu spät. Die alte Dame machte ein Zeichen, sich erheben zu wollen, der junge Mann sprang auf und schob in alter Kavaliersmanier ihren Stuhl zurück.

Das Paar verschwand aus ihrem Gesichtsfeld. Margo trank einen Schluck von ihrem frisch gepressten Orangensaft, dabei drifteten ihre Gedanken ab, als der Tisch der beiden wieder neu belegt wurde von einem einzelnen, hochgewachsenen Mann …

*

»An diesem Pier macht auch die QM2 fest, wenn sie Ålesund anläuft«, sagte Denir und wies mit der Hand ins Tal, wo der riesige Leib der Norwegian Legend in der gleißenden Sonne funkelte.

Griesmann hätte ihr jetzt diskret zugeflüstert, was QM2 bedeutete, aber der war in Hamburg. Nie waren die Leute da, wenn man sie brauchte. Und Gerlinde musste sich von ihrem altklugen Enkel die Welt erklären lassen. Sie nickte, schließlich konnte es sich ja nur um ein Schiff handeln.

»Du weißt doch, die Queen Mary 2 …«

»Natürlich, Denir, ich weiß …« Durchaus subtil, wie er es anstellte, sie zu demütigen, sie ganz nebenbei als jemand hinstellte, der nicht mehr auf dem Laufenden war. Sie begriff es jedenfalls als Eröffnung eines weiteren Duells zwischen ihnen, an dessen Ende ein Sieger stehen musste. Der junge Mann, der zur Hälfte ihr Enkel war, hatte begonnen, seine Vorteile auszuspielen. Aber sie reichten nicht aus. Es durfte nie so weit kommen, dass der Konzern in die Hände von Leuten geriet, die nicht Blut für ihn geschwitzt, nicht Tag und Nacht für ihn gelitten hatten, die ihm nicht ihr Leben opfern würden …

»Wollen wir?«, fragte sie. Der norwegische Fahrer des Geländewagens, den sie für den Ausflug gemietet hatte, reagierte sofort und hielt ihr die Beifahrertür auf. Dann öffnete er den Fond für Denir. Eine Gelegenheit zurückzuschlagen, dachte Gerlinde, die sie nicht verpassen durfte. »Möchtest du nicht fahren, Denir? Sicher hast du die Karte vorher studiert. Ich verlasse mich ganz auf dich.«

Die Überraschung war gelungen. Fast kam ihr vor, als würden seine braunen Murmelaugen vor Schreck aus den Höhlen fallen. Er würde sich herausreden, sich eingestehen müssen, dass er seiner Großmutter diesmal nicht genügen konnte. Gerlinde wusste, dass er kaum Fahrpraxis hatte, und die Strecke entlang der Felsen war halsbrecherisch. Genüsslich beobachtete sie sein Mienenspiel. Doch die Angst, die sie darin zu erkennen geglaubt hatte, entspannte unversehens zu einem freudigen Lächeln. Jetzt war es an ihr, überrascht zu sein.

»Danke, Großmutter, es war immer schon mein Traum, in einem SUV diese atemberaubende Landschaft zu entdecken«, erwiderte er, stieg neben ihr ein, und während sie noch nach Worten rang, drehte er den Zündschlüssel um und gab Gas.

*

Wie ein aufgeputztes Kabinett des Jugendstils wirkte diese Stadt auf ihn. Seit sie vom Öl reich geworden waren, pflegten die Norweger ihre Besitztümer mit nahezu spießiger Akribie. Es hatte etwas Irrwitziges, sich vorzustellen, dass die Vorfahren dieses biederen, auf sich selbst bedachten Volkes einmal der Schrecken der Meere gewesen waren, als blutrünstige Wikinger die englische Küste überfallen und den Mönchen von St. Cuthbert mit ihren Streitäxten die Schädel gespalten hatten. Wie die anderen Passagiere hatte sich Jonas Schreker von Bord der Norwegian Legend begeben. Das schöne Wetter – auch wenn es klirrend kalt war – lockte sie alle in die Stadt. Und der Kreuzfahrtkai lag so günstig, dass man von dort aus leicht zu Fuß die berühmte historische Apotheke erreichen konnte. Jonas war auch den Hafen entlanggeschlendert, vorbei an der Statue der Heringsfrau, die daran erinnerte, was Ålesund einmal gewesen war: ein Fischereihafen an einem Fjord, gesäumt von stinkenden Fabriken. Wie alle Küstenstädte Norwegens es gewesen waren, als noch der Hering das Land ernährte. Vielleicht war ja die Heringsfrau von Ålesund die kleine Meerjungfrau Norwegens.

Jonas saß vor einer Tasse Milchkaffee in einem Bistro, das denen einer amerikanischen Kette ähnelte. Wie Pilzgeflechte überwucherten diese Ketten den Erdball. Was waren schon die Wikinger gegen die Eroberungszüge der Marktkonzepte, gegen die erbarmungslosen Methoden des Kapitalismus? Und keine Alternativen in Sicht …

Er seufzte, aber Aufgeben war nicht Teil der Agenda. Auch wenn die Geschichte gezeigt hatte, dass keine politische Ideologie, sei sie noch so nützlich, jemals überzeugend umgesetzt worden war. Am Ende war es eine Glaubensfrage, ob es ein Mittel geben könnte, die Menschheit zur Vernunft zu bewegen. Und selbst wenn Jonas nie religiös gewesen war, weil er Religion als Wissenschaftler für unseriös hielt, war ihm doch klar geworden, dass die Menschheit, bevor sie sich retten ließ, Zeichen und Wunder erwartete. Er war bereit, ein Zeichen zu setzen …

Es gebe Menschen, von denen man mehr erwarten durfte, die mehr