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Das Kreuzfahrtschiff »MS Mythos« ist auf dem Weg von Kiel nach Norwegen - die unbewältigte Vergangenheit der Passagiere im Gepäck. An Bord befinden sich der Verleger Holk Sonntag, der glaubt, schuld am Tod seiner Tochter zu sein, Guntram Fellner, ehemaliger Soldat der Wehrmacht, der ein finsteres Geheimnis hat, und Rentner Jürgen Wörner, der sicher ist, in einem der Passagiere seinen Stasi-Peiniger wiedererkannt zu haben. Margo Sebald will sich nur erholen. Doch als der junge Joan von der Service Crew plötzlich verschwindet, heftet sie sich an seine Spuren. Die Lage an Bord spitzt sich zu ...
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Seitenzahl: 338
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Mick Schulz
MS Mord
Kriminalroman
Mord an Bord Vom Kieler Ostseekai startet das Kreuzfahrtschiff »MS Mythos« seine Reise ins Reich der Fjorde. An Bord stellen sich einige Passagiere den dunkelsten Stunden ihrer Vergangenheit. Der Verleger Holk Sonntag glaubt, Mitschuld am Tod seiner Tochter zu haben. Guntram Fellner, ehemaliger Wehrmachtssoldat, erkennt sein Unrecht während der NS-Besatzungszeit in Norwegen, und der Rentner Jürgen Wörner entdeckt unter den Gästen seinen Stasi-Peiniger. Er entschließt sich zur Rache und stößt dabei auf eine Wahrheit, die er besser nie erfahren hätte. Margo Sebald folgt dem Rat ihres Therapeuten, sich nach katastrophaler Ehe und zwei Brustkrebsoperationen auf einer Kreuzfahrt zu erholen. Schon am ersten Tag begegnet sie dem Gentleman George, der sie vor einem verhängnisvollen Schritt bewahrt und nicht mehr von ihrer Seite weicht. Als der hilfsbereite Joan von der Service Crew spurlos verschwindet, beginnt Margo trotz Georges Warnungen mit ihren ganz eigenen Ermittlungen …
Geboren 1959 als Sohn einer Lehrerin und eines Redakteurs im rheinischen Bonn, brennt Mick Schulz schon früh für Literatur und Musik, entscheidet sich dann für die Musik und studiert Dirigieren am Mozarteum in Salzburg. Sein Weg führt ihn zunächst an die Oper, doch er bleibt der Literatur treu. Schulz beginnt Kurzgeschichten zu schreiben, Erzählungen und Romane folgen. Der Autor lebt und arbeitet im Harz bei Goslar. www.mickschulz.de
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Personen und Handlung sind frei erfunden.
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2018
Lektorat: Sven Lang
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Samot/shutterstock.com
ISBN 978-3-8392-5654-1
Für Adrian und Valentin als Talisman
Es ist zu bezweifeln, ob ein Vielgereister irgendwo in der Welt hässlichere Gegenden gefunden hat, als im menschlichen Gesichte.
Friedrich Nietzsche
Norwegen, Stavanger 1948
Ove verkaufte so viel wie möglich auf dem Fischmarkt, aber von jedem Fang fiel etwas für sie ab, selbst wenn es nur lausige Köpfe und Reste waren, die er im Handwagen nach Hause brachte. Mit Gewürzen und frischem Gemüse aus dem Garten kochte Tone daraus Fischsuppe, wie sie ihre Großmutter schon gekocht hatte. Diesmal war sogar ein ansehnliches Stück Dorsch übrig geblieben.
»Hier hast du«, hatte Ove gesagt, »und dass du es ja nicht zu lange brätst!«. Als müsste man ihr so was sagen. Derweil wolle er sich in der Stube etwas hinlegen und ausruhen. Nach Fusel hatte er auch gerochen …
In der Pfanne knisterte es und ein leiser Duft von Rosmarin zog durch die Küche. Sie hatte den Tisch gedeckt und öffnete die Tür zur Stube. Seit Ove die morsche Diele ausgewechselt hatte, konnte sie die Stube geräuschlos betreten. Kein Knarren, nur sein lautes Pusten war zu hören. Mit geöffnetem Mund lag er auf dem gelben Sofa, das wie ein Wunder den Krieg überlebt hatte, und schnarchte. An seinen Füßen steckten noch die Schuhe.
Ihr Blick ging zu den Schnitzereien auf der Kommode, Figuren aus Birkenholz, nicht sehr kunstvoll, derbe Rillen und Furchen im naturbelassenen Klotz, die Papa in den langen Wintermonaten mit seinem kleinen scharfen Messer hergestellt hatte. Ohne Erklärung konnte man kaum erkennen, wen oder was sie darstellen sollten. Doch jede Figur besaß einen ganz eigenen Ausdruck, trug ein Geheimnis.
Papa hatte nicht viel Geduld mit ihr und Mama gehabt und meistens wollte er seine Ruhe haben. Aber einmal hatte Tone es vor Neugierde nicht mehr ausgehalten und ihn gefragt.
»Es sind Trollgesichter«, hatte er geantwortet.
»Gute oder böse?«
»Gut und Böse gehören immer zusammen.« Und er hatte mit seiner harten Hand über ihr Haar gestreichelt.
Papa war tot, doch seine Gesichter waren noch da. Eines davon gefiel ihr besonders gut, aber das hatte sie nie jemandem verraten, schon gar nicht Papa. Sicher hätte er rote Ohren bekommen, wenn er erfahren hätte, was sie sich darunter vorstellte, und die Figur kurzerhand in den Ofen geworfen. Ihr Ausdruck erschien Tone sanft und verträumt, und damals, mit 16, hatte sie sich eingebildet, es wäre der sehnsuchtsvolle Blick eines verliebten Trolls. Als ihr zum ersten Mal der Gedanke gekommen war, hatte sie laut kichern müssen. Deshalb hatte sie es auch niemandem erzählt, nur Emma, ihrem Lieblingsschaf.
Sie nahm die Figur in die Hand, befühlte nachdenklich die zackigen Risse, die mit der Zeit kamen wie Falten. Dann stellte sie sich breitbeinig an das Kopfende des Sofas, sammelte alle Kräfte, holte weit aus und rammte die Kante des Klotzes gegen Oves Schläfe. Ein gewaltiger Krampf durchzuckte den ganzen Mann, seine Augenlider flogen auf, aber Tone hatte erneut ausgeholt und schlug ein zweites Mal zu. Der starke Körper, der sich eben noch aufbäumen wollte, erschlaffte und rührte sich nicht mehr. Nichts war zu hören, nur ihr eigenes Ächzen erfüllte den Raum.
Alles hätte noch gut werden können, dachte sie, während sie Oves nasse Schuhe aufschnürte. Es war nicht die Erfüllung gewesen, die sich ein Mädchen von der Ehe erhoffte, aber mit gutem Willen hätten sie das Beste daraus machen können. Und sie war bescheiden gewesen, hatte immer versucht, es ihm recht zu machen, auch wenn sie den Hof in die Ehe eingebracht hatte. Denn sie durfte dankbar sein, dass er sie überhaupt genommen hatte, nach all dem, was vorgefallen war. Sie hatte ihm auch vieles durchgehen lassen, seine Wutausbrüche und dass er anderen Frauen nachblickte. Aber jetzt war er zu weit gegangen, wollte sie von ihrem eigenen Hof vertreiben, ihn allein für sich und die andere haben …
Mit weit aufgerissenen Augen starrte er sie an. Jeden Tag sah sie in gläserne, tote Augen, wenn sie den Fang zerlegte. Sie zog ihm die Strümpfe von den Füßen und die Hosen von den hellblond behaarten Beinen. Die Wunde am Kopf blutete nicht so stark, wie sie befürchtet hatte. Sie dachte daran, wie oft er auf ihr gelegen und sich stöhnend in ihr ergossen hatte. Ein Kind hätte ihre Ehe vielleicht retten können …
Jetzt lag er nackt vor ihr mit eingeschlagenem Schädel. Sie zog ihren Rock aus und schlüpfte in seine Hose. Sie war nur wenig kleiner als er, ihre Füße hingegen waren deutlich schmaler und nicht so lang. Die Schuhe wirkten wie Boote daran. Aber im trüben Licht der Dämmerung würde es nicht auffallen. Sie drehte Oves weißen Körper zur Seite, legte die gewebte Decke darüber, zog dann seine Jacke an und setzte sich seine Wollmütze auf.
Vor der Haustür machte sie einigen Lärm. Es war die richtige Zeit. Die Küche von Nachbar Larsen war erleuchtet, jemand schaute aus dem Fenster und atmete kleine Wolken; Larsen war es selbst. Einen Moment befielen sie Zweifel, aber er würde kaum mehr als ihre Umrisse erkennen können, so wie sie seine. Sie hob den Arm zum Gruß, wie es Ove immer getan hatte, und entfernte sich schweigend in Richtung der Straße.
Nach einer guten Stunde schloss sie von außen die hintere Tür auf, die nach den Ställen ging, und spitzte beim Eintreten die Ohren. Sie hatte plötzlich Angst vor dem Anblick in der Stube, vielleicht waren die Trolle von der Kommode gesprungen, kletterten die Wände hoch oder tanzten wild umher, und Ove würde ihr mit blutendem Kopf den Weg versperren und schäbig grinsen. Doch es war still im Haus. Sie riss die Wollmütze vom Kopf und schnürte die Schuhe auf. Im Flur stank es nach verbranntem Fisch und in der Stube lag eine zugedeckte Leiche.
Vielleicht hatte Margo Sebald die Kreuzfahrt nach Norwegen nur gebucht, um dem hochgewachsenen Hünen mit milchweißer Haut zu begegnen, dessen muskulöser Körper von der großen Zehe bis zum Hals mit weichen hellblonden Haaren bedeckt war, an die man sich perfekt ankuscheln konnte …
Ausgerechnet so einer soll auf dich warten, auf eine mit zwei leeren Körbchen, die im Gesicht noch grün ist von der Chemo und morgens zwei Stunden vor dem Spiegel hart arbeiten muss, um ihrem Selfie vom Vortag zu ähneln?
Ein unangenehmer Wind zog um ihre Ohren. Der Himmel sah schwer aus und drohte, sich auf den Rathausturm von Kiel setzen zu wollen. Von Deck 14 aus wirkte die Stadt schutzlos, die Menschen unten am Ostseekai erschienen wie bemitleidenswerte Mehlwürmer, die jeden Augenblick einen Luftangriff von großen schwarzen Vögeln zu erwarten hatten.
Noch sind wir nicht ausgelaufen, noch kannst du springen und triffst genau unten vor den Füßen der Check-in-Halle auf die Betonplatten. Hast du dir das nicht immer gewünscht? Größer kann die Show nicht sein. Ein dankbares Publikum und tausendfacher Aufschrei. Vielleicht würde eine der alten Wachteln vor Schreck von ihrem Kabinenbalkon fallen, dann wärst du unten nicht so allein. Und für die Presse gäbst du ein Bild ab, wonach sich jeder Frühstücksleser die Finger leckt. Verdrehte Arme und Beine, aufgerissene, starre Augen, Rinnsale von rubinrotem Blut aus Mund und Nase. Dann folgen hektische Aktionen, Sirenengeplärr, sie versuchen, dich zu retten, natürlich vergeblich … ein beneidenswerter Abgang.
Margo trat zwei Schritte von der Brüstung zurück. Ihre rechte Hand zitterte. Sie hätte wissen müssen, dass jeder Versuch zwecklos war, Anders abzuschütteln. Er würde sie von einem Hinterhalt in den nächsten locken. Vielleicht hatte er sogar recht und es bliebe ihr eine Menge erspart, wenn sie ihm schon am Anfang der Reise nachgeben würde …
In dem Moment schloss sich ein fester Griff um ihr Handgelenk. »Hey!«, raunte ein sanfter Bariton neben ihr. »Nur die Sorgen über Bord werfen! Der ansehnliche Rest wird noch gebraucht.«
Sie wandte sich der Stimme zu. Die Träne in ihrem rechten Auge schien er nicht zu bemerken. Modebewusst bekleidet mit einem hellen Leinen-Jackett und einem blaugrün gemusterten Hemd war er anscheinend kein Mitglied der Crew, attraktiv, aber schon älter. Ihr fiel der amerikanische Filmschauspieler ein, der das Klischee für diesen Typ Mann abgab. »Sie können jetzt ruhig loslassen«, sagte sie.
»Aber nur, wenn Sie ganz sicher sind.«
»Das bin ich. – Ich danke Ihnen, auch wenn es nicht so dramatisch war, wie es offenbar gewirkt hat. Mit wem habe ich das Vergnügen?«
Ein ohrenbetäubendes Getöse schnitt die Antwort ab. Sie hielten sich nicht weit vom Schornstein auf. Nach dem dritten langen Signal begann das Schiff an der Kiellinie entlangzukriechen, und Margo bildete sich ein, eine leise Bewegung durch die stählernen Stockwerke unter ihren Füßen zu spüren.
»Nennen Sie mich, wie Sie wollen«, antwortete er in den sentimentalen Musical-Song hinein, der jetzt über Lautsprecher eingespielt wurde. Ihrem spöttischen Blick hielt er stand. Möglicherweise war er ein Betrüger und wollte sich auf diese Weise anschleichen. Sie hatte ja keine Ahnung, wer alles auf so einem Unglücksschiff verkehrte. Oder er war verrückt, ein verrückter Millionär oder ein durchgeknallter Professor. Respekt dafür, eine ausgeklügelte Masche und nicht ohne Charme, doch verrückt war sie selbst genug. »Vielen Dank für Ihre Freundlichkeit«, wiederholte sie, »aber …«
»Nein, im Ernst. Ich bin Ihr Schatten auf dieser Reise, und Sie bestimmen, wie dieser Schatten heißen soll. Darf ich Sie zum Sektempfang in die Lounge begleiten?«
*
Wie ein Floh auf der Pflugschar kam sich Holk Sonntag vor, als er den Panoramablick seiner Suite im Bug des Schiffes das erste Mal beanspruchte. Sie nahmen Kurs auf endlose graue Felder. Der Anfang von Bruckners Achter fiel ihm ein. Aus dem flirrenden Nichts, dem Urgrau, kriecht ein unscheinbares Ding … und bei Bruckner wurde die Apokalypse daraus.
»Einmal Urlaub in fünf Jahren und du buchst eine überteuerte Pauschalreise …« Ja, er hatte Winnies Wunsch ignoriert. Ihm war vollauf klar gewesen, dass er damit Bielers Angebot missachtet hatte, den Urlaub auf dessen Jacht zu verbringen, die in Waren/Müritz festmachte, natürlich ohne einen Cent dafür zu verlangen. Eine Woche, eine schlichte Woche, die sie sich endlich einmal gönnten, und wieder sollte er sich zum Gefangenen machen? Nur weil Bieler ihm seine Unterstützung angeboten hatte, wenn es eng werden sollte? Zugegeben, auch ihm stand das Wasser bis zum Hals wie den meisten mittelständischen Verlagen. Aber Sonntag hatte doch schon den lausigen Krimi von Bielers Frau bei Kaleidoskop erscheinen lassen. – Er hatte das so satt.
Dünne Streifen auf der Panoramascheibe. Regen. Eine Woche Fjorde im Regen und noch dazu Nebel. Womöglich würden sie die ganze Zeit verzweifelt zwischen den Felsen herumirren, morgens bis abends begleitet von Tutsignalen, damit die Pötte nicht kollidierten.
Wo waren seine Zigarillos? Rauchen nur auf dem Balkon. Der Fernseher bot jedenfalls alle gängigen Programme in bester Qualität. Ihm fiel ein, dass sie um fünf alle auf Deck3 erscheinen mussten, ausnahmslos, zu einer Sicherheitsübung nach EU-Verordnung. Das hatte Winnie natürlich nicht gepasst. »Es reicht doch völlig, wenn du dir das anschaust. Du kannst mich ja dann vor dem Seeungeheuer retten.«
»Ich werde nie wissen, wie man das macht, sich vor einem Ungeheuer zu retten«, hatte er erwidert. Sie hatte es ignoriert und festgestellt, dass es an Bord einen französischen Coiffeur gab und sie unmöglich mit den Haaren …
Ein Blick auf sein Handgelenk sagte ihm, dass noch eine gute Stunde zwischen jetzt und der Rettungsübung lag. Sollte er in eine der Bars gehen und sich einen Drink genehmigen? Das Einzige, was ihn bei den allgemeinen Aussichten locken konnte, auch wenn die Galle protestierte.
Zuerst meinte er, sich verhört zu haben, dann realisierte er das Klopfen. Es kam von der Tür zum Flur. Aber Winnie hatte eine Codecard wie er, warum sollte sie klopfen? Vielleicht funktionierte die Schließanlage wieder nicht richtig wie beim Einchecken, da hatte es endlos gedauert, bis das Schloss auf den Code reagiert hatte. Er wollte die Tür von innen öffnen, als es plötzlich doch klappte und …
»Oh, Sir«, sagte ein überraschter, junger Mann, »Service, Sir … bitte um Entschuldigung, ich dachte …« In der rechten Hand hielt er zwei Flaschen. »Wasser, Sir, für Sie, Sir, mit Gas und ohne Gas …«
Sein Gesicht war eine strahlende Sonne, während er die beiden Flaschen neben die Espressomaschine auf dem Sideboard anordnete, und seine Haut hatte die Farbe von Zimt. Er war hochgewachsen, nicht wie die Asiaten, die selten die eins siebzig überschritten, die Handflächen schimmerten hell. Afrikanischer Einschlag, dachte Holk Sonntag, auch nach der breiten Nase und den aufgeworfenen Lippen zu urteilen, die Augenbrauen und die Kopfform wirkten allerdings eher europäisch. Alles in allem eine ausgesprochen gelungene Mischung …
Jetzt drehte der junge Mann sich um. Sein Lächeln traf ihn frontal, was Holk fast verlegen machte. »Mein Name Joan, Sir … Ich Service für Sie … immer rufen Joan.«
»Danke«, murmelte Sonntag, »im Augenblick brauchen wir nichts. Nur meine Frau lässt fragen, ob sie auf die Sicherheitsübung verzichten könne. Sie fühlt sich heute nicht so gut.«
»Oh, Sir, leider Sir …« Wie er sich wand und um Verständnis buhlte, dass es keine Ausnahmen gebe, Vorschrift, Sir, alle Kabinen würden kontrolliert. »Übung ist nur kurz, Sir, sehr kurz, und dann Captain’s Party oben auf Deck 12 …«
»Schon gut«, sagte Sonntag, während ihm etwas auffiel. Er war doch nicht so perfekt, der junge Adonis, sein rechtes Ohr stand etwas ab und wirkte wie schief angewachsen. Er hätte in diesem Augenblick nicht sagen können, ob es ihn störte oder eher beruhigte.
»Einen schönen Abend, Sir«, sagte Joan und verbeugte sich kurz. »Nicht vergessen, wenn Wunsch, Joan rufen.«
Sonntag nickte nur. Als der Mann vom Service die Tür hinter sich zugezogen hatte, entschied er endgültig, in der großen Lounge einen Drink zu nehmen. Davor würde er sich umziehen und Winnie eine SMS schicken.
*
Wie die Heringe drängten sie sich während der Sicherheitsübung. Die glaubten doch nicht im Ernst, dass er sich bei Gefahrenmeldung in eine dieser Schwimmwesten zwängen würde. Wem konnte er, Guntram Fellner, mit seinen 94 schon noch nützlich sein? Außerdem würde es ihm nicht im Traum einfallen, das Schiff im Stich zu lassen wie dieser Hundsfott, dieser Italiener, von dem er in der Zeitung gelesen hatte. Für ihn gab es nur eine Möglichkeit, es wie die Kameraden zu machen, als sie die Blücher vor Oslo verloren geben mussten. Befehl ist Befehl. Und die meisten hatten den Befehl befolgt und waren bis zuletzt auf dem Schiff geblieben.
»Hilde, wie heißt dieses Schiff?«
»Es heißt ›Mythos‹, Opa.«
»Und ist es deutsch?«
»Ja.«
Wenigstens das. Seiner Meinung nach bedeutete die Reise zu viel Aufwand. Aber er wollte nicht der nörgelnde Alte sein, dem man nichts recht machen konnte, er wollte den Kindern das Gefühl lassen, ihm etwas zurückgegeben zu haben, bevor es zu spät war. Außerdem gab es diesen anderen Grund, aus welchem ihn diese Reise ebenso anzog, wie sie ihn abstieß …
Die Geblümte mit dem ausladenden Vorbau neben ihm rümpfte jetzt die Nase. Auch Hilde schien es zu riechen. »Ach, Opa!«, zischte sie ihm ins Ohr.
Was hieß hier Opa? Wozu die Aufregung? Schließlich hatte sie ihn selbst abgedichtet wie einen Säugling. Im Übrigen war der Sitz seiner elektrischen Minna aus Kunstleder und abwaschbar. So war das nun mal, wenn die Schließmuskeln den Befehl verweigerten und der Stoffwechsel desertierte. Dagegen war man machtlos. Vermutlich war es bei Hindenburg, Churchill und Adenauer nicht anders gewesen, und die Geschichte des 20. Jahrhunderts hatte mehr mit der Funktion der Schließmuskeln zu tun, als bisher angenommen.
»Sei doch froh, dass du hier wegkommst«, raunte er. Aber Hilde wandte sich gnadenlos ab und lauschte dem nutzlosen Vortrag auf dem Monitor wie einer Predigt ihres vergötterten Pfarrers Wilhelmi aus Oberbarmen.
*
Das Klappern und Klirren im Selbstbedienungsrestaurant schwoll an und die Menschen drängten sich immer mehr. Wo war seine Jutta? Jürgen Wörner befand sich auf der Höhe des zartrosa Beefs an Prinzessbohnen und dem Wildbraten mit Zucchinigemüse, weiter links begann die Theke mit vier Sorten Fisch, Blumenkohlröschen, weißem und grünem Spargel, hellen und dunklen Soßen, Kartoffeln, Rösti und Spätzle, gefolgt von exotischen Früchten und rot leuchtenden Erdbeeren mit Schlag, Schwarzbrot, Bauernbrot, Kürbiskernbrot, kalten Platten und dem Süßigkeitenmarathon. Auf der anderen Seite die Grillstation, an der ein strahlend weiß gekleideter Koch in Front der Menschenschlange eine ganze Hammelkeule zerlegte und mundgerecht portionierte, am Ende das Kids-Büfett und die Getränkemaschine mit den Gläserregalen.
Sein Blick ging die Fensterfront entlang und blieb am dritten Tisch von links haften. Da saß sie, seine Jutta, vertieft in den schiefergrauen Abendhimmel. Das Wetter war widerspenstig, aber man musste es hinnehmen. Und sie waren es gewohnt hinzunehmen. Was ihnen nach der Wende alles versprochen und dann nicht erfüllt wurde … Aber das stimmte ihn nicht wehmütig. Es war etwas anderes. Sie hatten sich gewünscht, einmal glücklich zu sein, nach allem. Kerstin und Jens waren aus dem Haus und lagen ihnen nicht mehr auf der Tasche. Sie wohnten günstig zur Miete mit kleinem Gärtchen, hatten beide eine auskömmliche Rente, wovon sie sich von Zeit zu Zeit etwas leisten konnten. Die besten Voraussetzungen, rund um die Uhr glücklich zu sein, doch es ging nicht. Auch wenn sie erst ein paar Stunden auf diesem Luxusliner waren, wusste er, dass sich daran bis zum Ende der Reise nichts ändern würde, Wetter hin, Wetter her. Und Jutta schien es auch zu wissen. Sie hatten alles zum Glücklich-Sein und doch ging es nicht. Es lag nicht einmal daran, dass sie beide aufpassen mussten, er wegen Blutdruck und sie wegen ihres Magens, schließlich hatte jeder etwas mit fast 70.
»Oh, Entschuldigung«, sagte ein hochgewachsener, schlanker Mann, der ihm beinahe den Teller in die Seite gerammt hätte. Er sah ihm dabei nicht ins Gesicht, sondern nur auf seinen Teller. Man schaute sich immer noch gegenseitig auf den Teller. Selbst hier, wo alles angeboten wurde und man sich unbegrenzt Nachschub holen konnte. Es würde sie immer geben, die Rechner, dachte er, die erst dann zufrieden waren, wenn sie glaubten, ihren Nachbarn ausgestochen zu haben. Die ewige deutsche Krankheit …
Auf seinem Teller lag nicht viel, zwei Scheiben von dem Schweinebraten mit brauner Soße, etwas Blumenkohl und Kartoffeln, für Jutta das gleiche. Bier hatte er schon vorher gezapft und an ihren Tisch gebracht. Sie aßen Schweinebraten wie zu Hause, dabei boten sich Delikatessen an, Austern und Oktopussalat, und sie hatten sich das alles verdient und bezahlt wie die anderen. Er konnte es sich selbst nicht erklären, warum ihn dieser Überfluss so melancholisch stimmte …
Mit den Tellern in der Hand setzte er sich in Bewegung. Mittlerweile waren alle Tische besetzt. Im Vorübergehen schnappte er ein paar Brocken Sächsisch auf. Keine Schau ohne Sachse. An einem anderen Tisch verschluckte sich ein Kleinkind und spuckte Spinat auf seinen Teller. Versehentlich streifte er die Schulter eines Herrn, der gedankenverloren vor seinem Rotwein saß. Als er sich entschuldigte, zuckte der nur mit den Mundwinkeln. Am Fensterplatz angekommen, setzte Jürgen Wörner seiner Jutta den Teller vor. Erst später, als das frische Bier seine Kehle hinunterrann, fiel ihm plötzlich auf, dass er diesem Zucken schon früher begegnet war …
Margo hatte lieber darauf verzichtet, den Gentleman von Deck 14, der möglicherweise ihr Leben gerettet hatte, in die Lounge zu begleiten. Irgendwie war er ihr unheimlich vorgekommen, auch hatte sie keine Lust auf Small Talk gehabt, musste noch auspacken und diese Sicherheitsübung absolvieren. Wenn er seine Ankündigung wahr machte, würde sie ihm ohnehin noch öfter begegnen. Seltsam, dass er gar nicht nach ihrem Namen gefragt hatte …
Gegen 19 Uhr saß sie in ihrem klimatisierten Appartement am Schreibtisch, der sich wegen der langen Spiegelfront auch als Toilettentisch eignete, und versuchte, sich auf ihre Lippen zu konzentrieren. Pink oder besser orange? Cool und aufreizend oder lieber warm und weich? Sie hatte sich entschieden, im Golden Gate zu speisen, im Prospekt beschrieben als das Bordrestaurant mit Ambiente. Es war ihr nach blendend weißer Tischdecke, exakt drapiertem Besteck, einer wie ein gespreizter Pfauenschwanz gefalteten Stoffserviette und dunkelrotem Wein in langstieligem Glasballon, dazu diskreter Swing vom Klavier bei Kerzenschein. Die Kulisse würde ihr Halt geben. Sie musste nur aufpassen, dass sie nicht plötzlich in Tränen ausbrach. Auch hatte sie kaum Appetit, aber das sei völlig normal, hatte Stubben gesagt. Der Hang zur Dramatik würde verfliegen und der Appetit komme allmählich wieder, wenn sie brav ihre Tabletten nehme. Sie vertraute ihm, er hatte sich als Therapeut bewährt, sie aus ihrem Depressionssumpf gezogen. Er hatte sie auch überzeugt, dass sie sich ohne schlechtes Gewissen frei fühlen dürfe, weil sie an Armins Tod keine Schuld treffe. Und es hatte gewirkt bis zu dem Tag, als die Diagnose Brustkrebs kam. Nach Chemo und Bestrahlung meldete sich auf einmal eine Stimme bei ihr, eine Männerstimme, die nur sie hörte, die sie Anders nannte und die auf hinterlistige Weise versuchte, sie zu zerstören …
Sie könne Anders nur besiegen, wenn sie ihre Nase so tief wie möglich in die Angelegenheiten anderer Leute stecke, hatte Stubben ihr geraten, dafür sei eine Kreuzfahrt wie geschaffen.
»Wie meinst du das?«, hatte sie etwas pikiert zurückgegeben.
»Frag die Leute aus, interessiere dich für ihre Geschichten, für ihren Geschmack, wen sie wählen und wen sie am liebsten ermorden würden –«
»Und dann?«
»Versprechen kann ich natürlich nichts. Aber wenn du ernsthaft damit angefangen hast, wirst du schon bald die heilsame Wirkung spüren. Und du hast immer die Entschuldigung, deiner Neugier aus gesundheitlichen Gründen nachgegeben zu haben.«
Dieser Quacksalber lebt ganz gut von seinem Geschwätz. Und die Patienten laufen ihm blind hinterher in ihrer jämmerlichen Vertrauenssucht. Schafe und Idioten, und du willst unbedingt dazugehören? – Takelst dich auf, um irgendeinem Kellner schöne Augen zu machen. Wie armselig muss man sein, um diesen Bordsklaven eine verlogene Schmeichelei abzunötigen? Sieh doch ein, dass du nur noch eine Gnadenfrist hast. Der Krebs hat gerade keinen Appetit, aber das ändert sich schnell, dann frisst er an einer anderen Ecke, wo die Strahlen ihn nicht erreichen können. Sei clever und mach vorher Schluss …
Ihr Mund fühlte sich plötzlich staubtrocken an. Die einzige Hoffnung für den Abend bestand darin, Anders mit Rotwein zu betäuben, wenn nötig mit einer ganzen Flasche. Sie griff zum Lippenstift, Pink lenkte besser ab von der Faltenansammlung, die sich seit der Behandlung in ihren Augenwinkeln ausbreitete. Wie sollte sie die Kreuzfahrt nur bis zum Ende durchstehen?
Klopfen an der Tür. Ob es wieder dieser Joan vom Service war? Reizend der Akzent und er sah wirklich gut aus, wenn man auf kreolische Katalanen stand. Sicher würden ihm in kürzester Zeit alle Frauen an Bord zwischen 14 und 84 zu Füßen liegen. In Barcelona geboren, hatte er ihr erzählt, Mutter aus Afrika, Vater spanischer Hafenarbeiter. Und er sei glücklich, dass er auf dem Schiff arbeiten dürfe.»Glücklich«, hatte er auf Deutsch gesagt, sogar ihren Namen hatte er schon gelernt: »Frau Sebald.«
Wieder klopfte es. Sie stand auf und warf einen Blick durch den Spion in der Kabinentür.
*
Zuerst waren Holk und Winnie Sonntag mit dem Lift nach oben in das Selbstbedienungsrestaurant gefahren. »Unerträglich, wie im Affenkäfig«, hatte Winnie gefunden. Der Andrang war wirklich immens gewesen und die Geräuschkulisse penetrant wie in einem Kaufhaus zum Schlussverkauf. Dann waren sie nach unten gefahren, um ihr Glück im Golden Gate zu versuchen. Ohne jeden individuellen Touch, so Winnies Meinung zu dem Ambiente, aber sie waren geblieben. Die Suppe lag hinter ihnen. Winnie hatte dazu geschwiegen, kein unbedingt schlechtes Zeichen. Hatte er sich schon zu ihrer neuen Frisur geäußert? – »Ich finde, der Coiffeur hat dich sehr gut getroffen, besonders das Sanftmütige in deinem Typ«, sagte er.
»Du wiederholst dich, Holk«, erwiderte sie, ohne von ihrem Tablet-PC aufzusehen. Wozu brauchten sie eigentlich eine Cheflektorin, wenn Winnie ihr nichts zutraute? »Du hast es doch selbst erlebt, wie einem die besten Manuskripte durch die Lappen gehen können, wenn der Lektor überfordert ist …«, begründete sie ihr ständiges Eingreifen.
Genau ein Mal war es passiert, ein einziges Mal. Gut, damals entging ihnen eine hübsche Summe und bis heute vielleicht das Doppelte, aber echte Bestseller waren nun einmal Ringeltäubchen und würden es immer bleiben, Planung hin, Marktanalyse her.
Am Nachbartisch in einiger Entfernung saß ein Pärchen, die meisten Tische waren noch unbesetzt. Im Gegensatz zu dem Schnellrestaurant war es direkt einsam hier, er hätte sich gern etwas unterhalten, auch über banales Zeug. Die Pianistin war die einzige weibliche Angestellte, fiel ihm auf. Nicht besonders originell, wie sie das Gershwin-Medley herunterspielte, konventionelle Harmonien, aber immerhin Livemusik. Das Pärchen am Nachbartisch unterhielt sich anscheinend gut, die Frau im kleinen Schwarzen und mit den pinken Lippen, die anfangs etwas verkrampft gewirkt hatte, entspannte sich sichtlich. Der Mann erinnerte ihn an – doch der Name des Schauspielers, der kürzlich die Anwältin geheiratet hatte, fiel ihm nicht ein. Für Kaffee machte er auch Reklame. Ihm kam spontan eine Idee. Wie wäre es mit Kaffeekapseln und Büchern? – Winnie in Großaufnahme, sie nimmt ihre Brille von der Nase und lächelt in die Kamera. Wenn sie gut gelaunt war, konnte sie sehr gewinnend lächeln. Dann sagt sie mit warmer, beinahe lasziver Stimme, in der Linken das Buch, in der Rechten baumelt die Brille: »Wenn ich nicht gerade X-Kaffee trinke, dann lese ich ein Buch vom Kaleidoskop-Verlag. Guter Geschmack verbindet.« Oder sollte sie nicht gleich auch Werbung für Brillen machen?
»Das Angus Steak Hawaii an jungem Kohlrabi-Gemüse und Kartoffelecken«, sagte der Kellner. »Bitte sehr, die Herrschaften, guten Appetit.«
Sie sahen fast alle gut aus, die Kellner, die hier arbeiteten, und alle waren sie jung. Beinahe hätte er es laut gesagt, konnte sich aber gerade noch beherrschen. Winnie hatte ihn ohnehin schon fixiert mit diesem Blick, der ihr verdammt noch mal nicht zustand. Er brauchte keinen, der auf ihn aufpasste, der sein Leben bewachte. Was bildete diese Kuh sich eigentlich ein? Als unscheinbare Brillenschlange hatte sie damals vor seinem Schreibtisch gestanden, und halb aus Mitleid hatte er sie eingestellt. So und nicht anders war sie in den Verlag gekommen, den er aufgebaut und den er in Düsseldorf zu einem Begriff gemacht hatte. Und jetzt tat sie, als hätte niemand außer ihr Ahnung vom Geschäft.
»Schmeckt es dir, mein Schatz?«, fragte er und zersägte das blutige Stück Fleisch auf seinem Teller.
*
Hilde hatte es zuerst nicht erlaubt, weil es sich draußen stark abgekühlt und sich der feuchte Nebel dazugesellt hatte. »Ach was, es ist Ende Mai!«, hatte Guntram darauf bestanden. Schließlich hatte sie nachgegeben, ihn bis zum Bauch aufwärts in eine Decke gewickelt, eine zweite um seine Schultern gelegt und ihn in seiner elektrischen Minna auf dem Balkon geparkt.
Nach ein paar Minuten stellte er fest, dass es stimmte, was sie gesagt hatte, es frischte auf, fühlte sich an wie März. Er hatte vergessen, dass der Sommer im Norden erst später kam. Die raue Seeluft rieb ihm über das Gesicht und ein paar Stockwerke unter ihm plätscherte die Ostsee, viele kleine Wellen, die scheinbar harmlos an der Oberfläche leckten, aber das Meer war ein riesiger Schlund und auf seinem Grund erstreckte sich ein endloser Friedhof.
Der Nebel war noch dicker geworden. Keine hundert Meter Sicht, wenn er sich nicht täuschte, denn seine Augen taugten nicht mehr. Er hatte Hilde gefragt, wann sie über Skagerrak und Kattegat in die Nordsee wechseln würden. Daraufhin hatte sie ihn wie ein Opossum angestarrt und nur mit den Schultern gezuckt. Warum verstand ihn niemand mehr? Vielleicht lag es daran, dass inzwischen zu viele Vorhänge gefallen waren. Und er war nicht unschuldig, jedes Schweigen war so ein Vorhang, jede Lüge.
Nach dem Essen hatte Alex ihn gefragt, ob er noch auf einen Cocktail mitkommen wolle, Max dürfe auch dabei sein, es gebe Cocktails ohne Alkohol. »Komm doch mit, Uropa«, hatte Max gebettelt. Maximilian war sein Liebling und ziemlich hell im Kopf für seine sechs Jahre. Einmal hatte er zu ihm gesagt: »Wenn ich alt bin, möchte ich auch so ein geiles Auto haben wie du«, und damit seinen elektrischen Rollstuhl gemeint. Guntram hatte seit Langem wieder einmal gelacht. Der Kleine konnte einem Mut machen …
Aber Hilde hatte ihm von der Seite einen warnenden Blick zugeworfen. Und er musste ihr wieder einmal recht geben. Ein Cocktail würde sofort durchschlagen, er hatte derzeit einen empfindlichen Magen, weiß der Himmel woher, oder war es die Aufregung? – Nie war er krank gewesen, »den eisernen Guntram« hatten sie ihn genannt, egal, was angesagt war, vor keiner Arbeit hatte er sich gedrückt. Das war der Grundstein seines Erfolges, der Firma und der Familie. Dass es Fellners gab, hatten sie vor allem seinem Durchhaltevermögen zu verdanken. Aber von den Zeiten, als es vor allem darum ging, wollte keiner mehr etwas hören. Heute zählten nur Innovation und Ideen, und jetzt rümpfte man die Nase, weil der alte Guntram nach Scheiße stank. Ja, so war es. Wenn er das laut aussprach, schimpfte Hilde mit ihm und sagte, dass man so nicht reden dürfe. Selbstverachtend wäre das, und Pfarrer Wilhelmi würde immer sagen, man dürfe sein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Kein Wunder, dass sie keinen abgekriegt hatte. Wer hört sich schon gern den ganzen Tag Pfaffensprüche an? Aber sie war seine Enkelin, und er liebte alle aus der Familie, ohne Ausnahme, man musste zusammenhalten, das machte die Stärke einer Familie aus.
Von irgendwo schimmerte ein rotes Signal durch die trübe Suppe. Nebenan auf dem Balkon hörte er, wie Stühle über den Boden gerückt wurden. Jemand räusperte sich, jetzt konnte Guntram es riechen, der Nachbar rauchte, Zigarre, eine Brasil. Er schnupperte ihrem Aroma nach. Warum hörte er auf Hildes albernes Geschwätz? Gab es für ihn mit seinen 94 einen vernünftigen Grund, auf eine Zigarre zu verzichten? Er schüttelte verständnislos den Kopf und während er den Tabakduft in seine Lungen sog, drang er in Gedanken durch den Nebelvorhang und blickte durch die Jahrzehnte, als er sich das erste Mal auf der Passage befand …
*
Als Jürgen Wörner von seinem Fensterplatz aus noch einmal einen Blick in das Gesicht des Mannes mit dem Zucken um den Mundwinkel werfen wollte, war der schon verschwunden, untergegangen in der geschäftigen Menge. Nur sein Glas stand noch da, das im selben Augenblick von einem Kellner abgeräumt wurde. Ein Wisch mit dem feuchten Lappen über die Tischplatte und keine sichtbare Spur mehr, kein Indiz dafür, dass der Mann jemals da gesessen hatte, dass er überhaupt existierte.
Jürgen öffnete den zweiten Kragenknopf. Immer wenn er sich aufregte, spürte er das Pulsieren seiner Halsschlagader. Sein Blutdruck war dann bei 190 oder sogar darüber, trotz der Medikamente. Das könne gefährlich werden, war die Meinung von Dr. Grabow aus Ludwigslust, seinem Hausarzt, er müsse Aufregung unbedingt vermeiden, sonst drohe ein Schlaganfall, und er wolle doch seine Rente so lange wie möglich genießen, den Staat schröpfen, wo man könne.
»Du hast einen knallroten Kopf«, sagte Jutta eine halbe Stunde später, als sie in einer Bar mit Buddelschiff und antikem Steuerrad aus Holz saßen und noch ein Bier tranken.
»Lass uns gehen, ich muss mich bewegen«, erwiderte er. »Wolltest du nicht nach einer Handtasche sehen?«
Jutta sah ihn erstaunt an. Er würde seiner Jutta nichts von dem Mann erzählen. Sie hatten sich geschworen: Vorbei ist vorbei. Aber vielleicht war es das, was falsch in ihrem Leben lief. Nichts löst sich von selbst, nichts kann man totschweigen. Es stellt sich nur tot und lauert auf den richtigen Zeitpunkt, um einen wieder anzufallen. Und dieses Zucken … Jürgen war sicher. Er erinnerte sich nicht mehr genau an das Gesicht des Mannes, aber an das Zucken. Und vielleicht an die Augen, er hatte ihm tief in die Augen gesehen, damals, nur kurz, Sekunden, aber das, was er da gesehen hatte …
»Guten Abend, liebe Gäste, hier spricht Ihr Kapitän von der Brücke. In 15 Minuten startet unsere nostalgische Schlagershow aus Ost und West mit dem Gesangs-und-Tanz-Ensemble der ›Mythos‹ im großen Theater. Viel Vergnügen dabei!«
Jutta bekam glänzende Augen. Wenn sie Schlager wollte, dann würden sie Schlager hören. Er fühlte sich dort wohl, so sich seine Jutta wohlfühlte. Vielleicht würde auch der Mann mit dem ZuckenLustauf Schlager haben. So ein Schiff hatte zwar jede Menge Decks und es passten locker 2.000 Passagiere hinein, aber vorn und hinten war Wasser. Jürgen würde ihm schon wieder begegnen und ihm noch einmal in die Augen sehen, ganz tief.
Kurz vor 12 waren die Schritte über ihr verstummt, und außer vereinzelten Stimmenfetzen vom Gang her vernahm Margo nur das gleichmäßige Geräusch der Klimabox in ihrer Kabine. Lieber hätte sie vom Bett aus dem Rauschen des Meeres zugehört, aber die Schiebetür zum Balkon schloss hermetisch, die See war ausgeknipst, sobald sie einrastete, und bei geöffneter Tür konnte sie nicht schlafen. Sie dachte an den Abend zurück.
Natürlich hatte sie das Gesicht durch den Spion in der Kabinentür sofort erkannt, als sich Anders einmischte: Selbst wenn er sich unsterblich in dich verknallt haben sollte, glaubst du wirklich, dass er sich im Bett mit deiner erbärmlichen Resterotik begnügen wird? Vermutlich spekuliert er, dass es bei dir etwas zu holen gibt, oder er ist ein abgebrühter Sadist, der dich heißmacht und dann in Eiswasser taucht, um zu genießen, wie es zischt. Bevor du dich auf solche Typen einlässt, gib dir lieber die Kugel …
In dem Moment hatte sie schon die Klinke gedrückt. »Woher kennen Sie meine Kabinennummer …?« war ihre erste, ziemlich unfreundliche Reaktion gewesen. Aber das machte ihn keineswegs verlegen. »Sie haben recht, frech von mir, mich danach zu erkundigen. Doch ich befürchtete plötzlich, dass Sie mich als Ihren Schatten nicht ernst nehmen könnten. Ja, ich weiß auch Ihren Namen, ich darf nur nicht sagen, woher.«
»Und wie ist bitte Ihr Name?«
»Wie ich schon sagte, das liegt ganz in Ihrem Ermessen.«
Einfach kindisch dieses Spiel.
»Also, was wollen Sie von mir?«
»Diese Frage kann ich Ihnen allerdings sehr präzise beantworten: Ich würde gern mit Ihnen essen gehen und wie ich annehmen darf …« Er grinste und genoss es anscheinend, den Augenblick exakt abgepasst zu haben. In seinem Aftershave lag eine Spur von Limone.
Ihr fiel auf, dass sie immer noch vor ihrer Kabine standen bei geöffneter Tür zum Flur, während die Leute an ihnen vorbeizogen. Vielleicht könnte es ein angenehmer Abend werden, dieser Mann hatte unzweifelhaft Humor, wenn ihm auch etwas Unseriöses, Suspektes anhaftete, aber direkt bedrohlich fand sie ihn nicht. Außerdem sah es besser aus, im Golden Gate mit Begleitung zu erscheinen. Im Stillen hegte sie die Hoffnung, dass er sie von Anders ablenken könnte. Sie musste nur vorsichtig sein, durfte ihm nicht zu viel von sich erzählen, und wenn er sie ernst nehmen sollte, schon gar nichts von Anders. Vielleicht würde es auch leichter werden als gedacht, ihn am Ende des Abends loszuwerden. Sie würde einfach »Nein« sagen, und ihr Schatten müsste mit schlechter Laune ins Bett gehen …
Der Rotwein und die Fischplatte im Golden Gate waren wirklich gut gewesen, gegrillter Kabeljau, Dorsch und natürlich Lachs, dazu gefüllte Auberginen und blanchierte Kartoffeln. Sie hatte nur wenig heruntergekriegt, aber sie konnte sagen, dass es ihr geschmeckt hatte. Nach langer Zeit wieder einmal. »Ich werde Sie George nennen«, hatte sie ihm gut gelaunt eröffnet.
»Und warum George?«
»George ist ein Mann, der jeder Situation gewachsen ist, den das Unglück immer verschont, der nicht einmal von einem Klavier getroffen wird, das aus dem dritten Stock fliegt und droht, auf ihn zu stürzen …« Und als sie das sagte, schien es ihr fast so, als hätte George genau im richtigen Augenblick ihr Leben gekreuzt. »Natürlich nur, wenn Sie einverstanden sind.«
Er lachte. »Wenn Sie meinen. Immerhin gab es einige Herrschaften aus Politik und Kunst, die diesem Namen zur Ehre gereichen: Washington, Orwell, Bizet …«
»Sieh an«, flachste sie, »George ist also auch ziemlich gebildet.«
Nach Anbruch der zweiten Flasche Rotwein war er so weit gegangen, ihr zu verraten, dass er im Finanzwesen tätig sei, ein einträglicher Beruf, aber nach fast 20 Jahren würde er bedauern, nicht Psychiater geworden zu sein. Dann säßen all die Gestörten von der Börse jetzt auf seiner Couch. Das sei wahrscheinlich noch einträglicher. Und sie hatte ihm von ihrem Vater erzählt, dem alten Benjamin, Oberstudienrat, der, solange er lebte, mit der ihm eigenen pädagogischen Gründlichkeit versucht hatte, ihre Träume zu liquidieren, die er für romantisch und infantil hielt. Seine erste Großtat war gewesen, ihr auszureden, eine berühmte Ausdruckstänzerin zu werden.
»Aber Ihr Vater kann Sie nicht mehr daran hindern, Ihren Traum doch noch wahr werden zu lassen, Margo«, hatte George seinen Charme spielen lassen. »Und wie ich sehe, sind Sie wie geschaffen für diesen Beruf …« Er hatte ihr gutgetan, dieser George …
Es war kurz vor zwei, sie brauchte frische Luft. Sie streifte den Bademantel über und zog die Schiebetür ein Stück auf. Das Rauschen und Platschen der Wellen war ganz plötzlich da, durch den kalten nächtlichen Fahrtwind bekam sie Gänsehaut auf ihren Schenkeln … Zum Abschluss hatten sie noch einen Sherry in einer der Bars genommen, und dann hatte George sie wieder überrascht: Er hatte auf jegliche zweideutigen Anspielungen verzichtet und war schon gar nicht darüber hinausgegangen. Lediglich bedankt hatte er sich für den schönen Abend und sich mit einem Lächeln verabschiedet.
Sie fühlte sich auf einmal stark, trat barfuß auf den Balkon hinaus und rief laut gegen die Nebelwand »Du bist ein Lügner, Anders!«, während sie den Handlauf der Brüstung festhielt. Sie horchte in sich hinein und wartete auf eine Antwort, eine schamlose, wie jede, die von Anders kam. Doch Anders schwieg.
Als Margo zwei Stunden später in ihrem Bett aufwachte, stand ihre Stirn in Schweiß. Sie hatte sich zu früh gefreut, Anders spielte wieder sein Spiel mit ihr. Sie setzte sich auf und trank hastig ein paar Schlucke Wasser aus der Plastikflasche, die unter dem Druck ihrer Finger knitterte wie ein Auto in der Schrottpresse.
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Ein fahler Lichtstreifen spiegelte sich im Grau der See, die Sonne war aufgegangen, aber der Nebel schien sich eingenistet zu haben. Gegen halb sechs am nächsten Morgen rauchte Holk Sonntag die zweite Zigarillo auf der Terrasse seiner Suite. Er hatte kaum geschlafen. Es lag nicht an den zwei Cocktails mit Wodka, die er zum Ausklang des Abends in der Jazz Bar getrunken hatte, denn seine Galle war friedlich geblieben. Es lag an dieser inneren Unruhe, die er nicht loswurde, dabei hatte er sich vorgenommen zu relaxen, nichts als zu relaxen …
Vielleicht hätte er den Urlaub nicht buchen sollen, auch nach ziemlich genau fünf Jahren waren sie noch nicht reif für einen gemeinsamen Urlaub, nicht stabil genug, wie ein Mediziner sagen würde. Aber für das, was ihre Ehe zur Hölle machte, gab es keinen Arzt. Winnie hatte wieder einmal recht, vielleicht hätten Bieler und seine Frau sie von sich selbst abgelenkt, und sie hätten eine gute Zeit gehabt auf deren Jacht im Naturpark Müritz, wo es von Fischottern und Eisvögeln nur so wimmelte.
Jedenfalls hatte Winnie vorgesorgt. Außer bei den Mahlzeiten und zwei Ausflügen würden sie sich in der Woche kaum begegnen. Zusätzlich hatte sie Wellness gebucht, in allen Varianten über den Tag verteilt, es warteten Vorträge, ein Klassiktrio im Wiener Café, abends Shows im Theater oder Kabarett im kleinen Saal auf sie, heute fand um elf ein Austernfrühstück mit Champagner auf dem Pooldeck statt. Auf jeden Fall konnte er auf der Habenseite verbuchen: Ihre Suite war geräumig – das hätte Bieler ihnen nicht bieten können, getrennte Schlafzimmer mit eigenem TV – und jeder hatte ein breites, leeres Bett für sich allein …