Munk - Jan Weiler - E-Book

Munk E-Book

Jan Weiler

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Beschreibung

Geistreich, tiefsinnig, humorvoll – Bestsellerautor Jan Weiler schreibt über die Liebe

Erfolgreich und allein – so steht der Architekt Peter Munk mit 51 Jahren da. Beziehungsweise liegt da, mit einem Herzinfarkt auf der Rolltreppe in der dritten Etage eines Kaufhauses. Er überlebt, doch es gibt niemanden, den er vom Krankenhaus aus benachrichtigen möchte. In der Rehaklinik trägt sein Therapeut ihm auf, in seiner Selbsterforschung bei den Menschen zu beginnen, die ihn zu dem Mann gemacht haben, der er ist. Und so blickt Peter Munk erstmals auf die dreizehn Frauen seines Lebens und auf die Lektion, die er von jeder einzelnen gelernt hat. Mit überraschendem Ausgang.

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Seitenzahl: 482

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JAN WEILER

MUNK

ROMAN

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Zitate S. 125, 130 und 218:Walter Benjamin, Gesammelte Schriften: IV: Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen. Band 1 Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1972

S. 81 MORNIN’ Musik & Text: Al Jarreau, David Walter Foster, Jay Joseph Graydon © Al Jarreau Music / Songs Of Universal, Inc. / Universal / MCA Music Publishing GmbH © Peermusic III Ltd. © Bluewater Music Services Corp.

© 2024 by Jan Weiler

© 2024 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung/Artwork: Jana Jacobs Grafikdesign, Baldham, unter Verwendung von iStockphoto (NSA Digital Archive)

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-28591-3V002

www.heyne.de

Inhaltsverzeichnis
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Achtzehn Monate später
Danke
Songs

1

Als Peter Munk zwei Tage nach seinem einundfünfzigsten Geburtstag auf der Rolltreppe des Globus zwischen der zweiten und dritten Etage einen Herzinfarkt erlitt, ergriff ihn weder Todesangst noch Verunsicherung, sondern reine Empörung. Das ist entschieden zu früh, dachte er, ganz entschieden zu früh und auch völlig der falsche Ort für so etwas.

Während er auf die Knie sank und nach Luft schnappte, dachte er weniger an die Gefahr dieser Attacke, sondern an jene, die am Ende der Rolltreppe drohte, wenn sein Schal, womöglich auch sein Mantel, unaufhaltsam in die Mechanik gezogen würden. In den wenigen Sekunden – es waren vierzehn –, die er benötigte, um auf der Treppe zu knien und zu begreifen, dass er einen Herzinfarkt erlitt, machte er sich mehr Gedanken über die betriebliche Störung, die er im Züricher Warenhaus Globus verursachte, als über jene in seinem Brustkasten. Und auch wenn Peter Munk sich diesen merkwürdigen Umstand in jenem Moment nicht klarmachte, so war genau dieses Verhalten einer der Gründe für seinen Herzinfarkt. Er besaß einfach keinen intakten Blick auf die wesentlichen Dinge des Lebens.

Später würde er oft darüber nachdenken, warum er im Augenblick dieser lebensgefährlichen Situation nicht um Hilfe rief, nicht einmal leise darum bat, sich nicht aufbäumte, keinen Ausweg aus ihr suchte, sondern lediglich fand, dass es dafür zu früh im Leben sei und ihm die Umstände leidtaten, die er dem Personal des Warenhauses sowie den Rettungssanitätern und allen Kunden bereitete, die vielleicht gerne ebenfalls in die dritte Etage des Globus gefahren wären.

Er selbst hatte dies getan, um ein Paar Handschuhe zu ersetzen, die ihm auf der Fahrt in die Schweiz am Morgen im Zug verloren gegangen waren. Vor der Rückfahrt nach einem geschäftlichen Termin nahm er die Gelegenheit wahr, in das Kaufhaus am Bahnhof zu laufen, rasch rasch, und die Handschuhe zu besorgen. Auch wenn er sicher war, dass er sie anschließend ohnehin wieder im Zug nach Freiburg liegen lassen würde. Es war nicht seine Art, Dinge zu verlieren, aber an diesem Tag war es geschehen und weil er sich seitdem in einer seltsamen Stimmung befand, schien es ihm bereits vor dem Kauf der neuen Handschuhe unausweichlich, dass er am kommenden Montag erneut günstigen Ersatz besorgen und dem Finder seiner guten, quasi ungetragenen Merola-Handschuhe ein schönes Leben wünschen würde.

Da sein Leben von solcherart Zweckpessimismus begleitet wurde, freute er sich immer sehr darüber, dass Feuerzeuge, Schlüssel, Telefone oder eben Handschuhe lange bei ihm blieben, was der Regelfall war, weil er ängstlich darauf bedacht war, dem Schicksal von Verlusten auszuweichen.

Das funktionierte hervorragend bei Dingen, nicht aber bei Menschen. Munk war mit einundfünfzig Jahren ledig und auch niemandem verbunden. Eigentlich war er allein, denn seine Eltern waren tot und seine Schwester Annegret lange ausgewandert. Australien. Weiter von ihm weg ging gar nicht. Die Geschwister gratulierten einander zum Geburtstag und wünschten ein frohes neues Jahr. Mehr Kontakt gab es nicht. Wenn sie nach Europa kam, erfuhr er das nur durch ihre Postings in sozialen Netzwerken. Sie meldete sich nicht bei ihm. Und er beschwerte sich nicht darüber. Seine einzige symbolhafte Reaktion auf ein Foto, das sie mit ihrem australischen Mann beim Zibelemärit in Bern zeigte, bestand darin, nicht darauf zu reagieren.

Peter Munk war bis vor Kurzem gerne und oft nach Zürich gekommen. Er fand, dort zu leben sei, wie in einem warmen Apfelkuchen zu wohnen. Allerdings empfand er den Ort als zu teuer und die Menschen zu abweisend, um sich dauerhaft niederzulassen. Der Grund für seine häufigen Besuche war vor drei Monaten hinfällig geworden, weil Nadja ihn verlassen und sich einem Perkussionisten zugewandt hatte, was bei Munk beträchtlichen Ekel hervorrief. Perkussionisten fand er das Letzte. Nadja und er waren ein Dreivierteljahr zusammen gewesen und in der Rückschau nahm sie damit einen guten Platz im oberen Mittelfeld ein, denn nur wenige hatte er länger an seiner Seite.

Als er vor Tagen den Termin in Zürich bestätigte, machte er sich Sorgen, ihr zu begegnen, vielleicht sogar in Begleitung von Conga-Klaus. Darauf hatte er keine Lust, beruhigte sich aber dann mit der selbsthypnotischen These, dass Zürich zwar nicht besonders groß war, aber nicht klein genug, um zwangsläufig aufeinanderzutreffen. Außerdem konnte er dies schon dadurch vermeiden, dass er die Stadt gar nicht richtig betrat, sondern mit dem Taxi vom Bahnhof zu seinem Termin bei einem Bauherrn in Zollikon fuhr und auf dieselbe Weise zurück. Wenn Bongo-Bernd nicht zufällig Taxifahrer war, ließ sich eine Begegnung mit beinahe hundertprozentiger Sicherheit ausschließen. Als er entschied, vor der Abfahrt des Zuges noch ins Globus zu gehen, war er nach dem geschäftlich erfolgreichen Tag, an welchem er sich zudem auf eine geradezu triumphal geschickte Weise vor seiner Ex-Freundin verborgen hatte, sicher, Nadja im Kaufhaus nicht über den Weg zu laufen.

Und dann stand sie einfach so an einem Verkaufstresen in der Parfümerie und fächelte sich Duft von einem Pappstreifen ins Gesicht. Jedenfalls glaubte er das. Es hätte sich um jede andere schlanke Züricher Dame mit blonden Haaren handeln können. Dafür sprach, dass die Frau einen Shearling-Mantel von Loro Piana trug, wie Munk ihn ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Dagegen sprach, dass er sie lediglich von hinten sah. Er hätte, um sich zu vergewissern, in einem angemessenen Bogen um sie herumlaufen müssen, um dann beiläufig von der Seite zu schauen, ob neben dem Mantel auch die Nase zu Nadja passte, eine Nase, die ebenso schmal wie lang war und durch ihre leicht nach oben zeigende Spitze auf eine ganz hinreißende Weise unverwechselbar.

Innerhalb von Sekunden wog Munk das Risiko, dabei von ihr entdeckt zu werden und ihr in die Augen sehen zu müssen, gegen die Möglichkeit ab, dass es sich um ganz jemand anderen handelte. Auch das fühlte sich für ihn nicht gut an, denn wenn er nun nachschaute, hieß das, dass sie ihm immer noch etwas bedeutete. Dass er Laufwege ändern würde, nur um sich zu vergewissern. Dass es ihm wichtig war, sie noch einmal zu sehen. Dass er womöglich enttäuscht wäre, wenn sie nicht Nadja war. Also entschied er, die Frau mit dem Mantel gar nicht richtig wahrgenommen zu haben, und lief zur Rolltreppe. Zwanzig Minuten hatte er noch, bevor sein Zug abfuhr, und wenn er bei den Handschuhen entschlussfreudig wäre, könnte er noch einen Espresso nehmen.

So eilte Peter Munk in die erste Etage des Globus, wechselte die Treppe und fuhr weiter in die zweite und dachte an nichts anderes als an die Frau in dem Mantel, und als er in der zweiten ankam, war er sich vollkommen sicher, dass es Nadja gewesen war. Er blieb am Ende der Rolltreppe stehen, wodurch eine ältere Dame gegen ihn stieß. Er trat einen Schritt vor, entschuldigte sich, blieb unschlüssig über die Frage, ob er umkehren und noch einmal nach unten fahren sollte, um sich zu vergewissern. Und dann? Konnte man womöglich noch einmal reden.

Sie hatten vor Wochen das letzte Mal gesprochen, nicht an Weihnachten und auch nicht an Neujahr geschrieben. Womöglich war der Perkussionist längst Vergangenheit und Nadja dachte selbst, dass es sich um einen ihren Munk verletzenden und dadurch schwer zu korrigierenden Irrtum gehandelt hatte. Und nun traute sie sich nicht, bei Munk anzurufen, und betäubte sich stattdessen mit einem Duft von Guerlain.

Munk fuhr zurück in die erste Etage, blieb abermals am Ende der Treppe stehen, anstatt zu gehen, dachte nach und verwarf die nun blödsinnige Idee, eine fremde Frau anzuglotzen, bloß weil sie ihn von fern an Nadja erinnerte, die er verloren hatte und die sicher Wichtigeres zu tun hatte, als an einem kalten Mittwoch Ende Februar nachmittags um 15:23 Uhr Parfüm auszuprobieren.

Und selbst wenn sie es war: Es würde nichts ändern. Ansprechen konnte er sie nicht, wie auch? »Was machst du denn hier?« Oder: »Sieh mal einer an, die Frau Bürklein kauft sich einen neuen Duft.« Vollkommen egal, was auch immer er sagen würde, es waren immer die Worte eines Verlassenen und eben niemals jene des interessanten Mannes, den sie kennengelernt hatte. Der konnte er für sie nicht mehr sein. Er hätte versuchen können, ihn vorzuspielen, nach Art eines Heiratsschwindlers aus Portofino. Doch vermutlich hätte sie ihn dabei durchschaut, ihn mit einem Blick entwaffnet und sich, eine Ausrede verwendend, schnell verabschiedet. Sie anzusprechen erschien ihm als eine Zumutung. Was für eine Dummheit.

Sie hatte die Beziehung zu Munk beendet, in einem zähen Gespräch, unter Tränen und doch vollkommen sicher. Er saß ihr in ihrem Lieblingscafé gegenüber, sprachlos, überrascht, ohne Argumente oder auch nur irgendeine Idee, wie er Nadja hätte halten können.

Diesem letzten Treffen war eine wochenlange Hängepartie vorausgegangen. Da kam er wochenends nach Zürich, wissend, dass sie es gar nicht wünschte. Oder sie besuchte ihn in Freiburg und sie gingen nur stumpf und stumm zum Kybfelsen und zurück, anstatt wie zuvor beim Wandern angeregt zu plaudern. Sie zog sich nicht mehr vor ihm aus und er schloss die Tür hinter sich, wenn er ins Bad ging. Es war, als zöge langsam und klamm ein Nebel zwischen ihnen auf, jedenfalls sahen sie einander nicht mehr, und wenn, dann mit Argwohn, denn natürlich spürte er, dass es nicht mehr stimmte, und er fragte sich, ob es jemals gestimmt hatte. Je dichter der Nebel wurde, desto unsicherer tasteten beide darin umher.

Aber Munk traute sich nicht, das Schweigen zwischen ihnen zu durchbrechen, aus Sorge davor, dass sie es dann aussprechen und es beenden würde. Er sprach es nicht an, hielt das für tapfer, bildete sich ein, dass es nur eine Durststrecke sei, auch wenn er wusste, dass voneinander zu lassen vermutlich das Beste war, was sie noch füreinander tun konnten. Als er es schließlich an jenem Mittag im Café nach einem doppelten Espresso und Streuselkuchen vom Blech – der schmeckte wie eine Henkersmahlzeit und ihm im Hals steckte – doch sagte, dass er nämlich das Gefühl habe, es sei in letzter Zeit anders und jedenfalls nicht mehr so schön, da wehrte sie sich nicht dagegen und rückte stockend mit ihren Wahrheiten heraus, mit einer mühsam vorgetragenen Trennungslyrik.

Sie sagte, dass sie innerlich um ihn gekämpft habe, dass er ihr niemals gleichgültig werden könne, dass sie jedoch wisse, dass es nicht mehr gehe. Und dass sie ihn seit vierzehn Tagen mit einem Perkussionisten betrüge, der übrigens namenlos blieb, was Munk erleichterte, weil er dadurch nicht in Versuchung geriet, im Internet nach ihm zu suchen. Das war auch insofern weise, als er sonst schnell recherchiert hätte, dass der Kerl nicht nur Perkussionist war, sondern auch Liegeradfahrer. Diese Entdeckung hätte seine Beziehung zu Nadja für ihn vermutlich nachträglich stark entwertet.

Wenn er sie nun in diesem Kaufhaus ansprach, würde er nicht nur seinen Mund öffnen, sondern damit auch seine noch nicht verheilte Wunde. Und womöglich auch ihre.

Eine Beklemmung bemächtigte sich seiner, Munk öffnete seine Jacke, weil ihm warm wurde. Er ballte die Hände zu Fäusten und streckte dann die Finger aus, immer abwechselnd. Sein linker Arm schmerzte. Er schüttelte ihn. Er vermutete das Trageband seiner Umhängetasche als Ursache für den Schmerz. Das Band drückte in die linke Schulter. Er nahm die Tasche ab und legte sie über die rechte. Dann fuhr er von der ersten Etage ins Erdgeschoss. Die letzten Stufen sprang er, um dann in Richtung der Parfümabteilung zu laufen.

Die Frau war weg.

Munk kehrte zurück in die erste Etage, diesmal eiliger, weil er wertvolle Minuten mit diesem Unsinn vergeudet hatte. Natürlich war es nicht Nadja gewesen. Schneller Wechsel in die zweite Etage, allerdings unter einem belastenden Schmerz im Oberkörper, den er auf diese Begegnung schob, die gar keine gewesen war. Aber sie machte ihn eng, so fühlte es sich jedenfalls an. In der zweiten Etage des Globus kurze Verschnaufpause. Munk sah auf die Uhr und entschied sich gegen den Kaffee, aber immer noch für die Handschuhe. Jetzt erst recht. Nach der kurzen Aufregung galt es, die Betriebstemperatur zu senken, Normalität herzustellen und die Scheißhandschuhe zu kaufen, damit er sich nicht hinterher vorwerfen musste, durchgedreht zu sein, bloß weil irgendeine fremde Frau einen Mantel trug, den er schon mal woanders gesehen hatte.

Er ärgerte sich, dass er diesem Gefühl, sie vielleicht noch nicht ganz verloren zu haben, überhaupt stattgegeben hatte. Es kam ihm albern vor, dass er zaudernd erst rauf, dann runter und schließlich ganz runtergefahren war, um dann doch wieder raufzufahren. Ein Kaufhausdetektiv hätte ihn wahrscheinlich verdächtig gefunden. Und er selbst fand sich auch verdächtig. Verdächtig dämlich.

Er nahm die Rolltreppe in die dritte Etage, griff sich plötzlich an den Hals, wo es schmerzte, bekam keine Luft mehr, machte sich bewusst, dass er dabei war, recht früh im Leben einen Herzinfarkt zu absolvieren, sank auf die Knie, fiel aber nicht vornüber, weil er nicht mit den Haaren oder Ohren in den Kamm der Treppe gesaugt werden wollte. Stattdessen glitt er beim Eintreffen in der dritten Etage mit den Kniescheiben sanft auf den Treppenabsatz, wurde dabei im Ganzen minimal angehoben und strandete gewissermaßen, einer Kegelrobbe ähnlich, am weitläufigen Strand der Herrenbekleidung. Sein Hals erschien ihm wie zugebunden, die Atemnot wuchs und endlich befasste er sich mit der Angst, hier an diesem Ort zu sterben. Der Mann, der auf der Stufe hinter ihm gestanden hatte, fiel über ihn und stürzte, Munk kippte auf die Seite und sein rechter Hosensaum glitt in einem sanften Takt von der Kante des Treppenabsatzes, um dann von jeder herannahenden Stufe angehoben zu werden und wieder herabzufallen.

Jemand drückte den Notschalter und die Rolltreppe hielt an. Zum Glück kamen die auf ihr fahrenden Kundinnen und Kunden recht schnell auf die naheliegende Idee, sich umzudrehen und die Treppe herabzugehen, anstatt über den sterbenden Munk zu steigen. Diese unempathische Geste glückte nur dem ersten Kunden, der dann über Munk stolperte, sowie zwei älteren Frauen, die mit einer Entschlossenheit über die beiden am Boden liegenden Männer hinwegstiegen, welche nur mit dem Ziel ihrer Fahrt, nämlich der Wahrnehmung eines fabelhaften Sonderangebotes für Zimmerli-Unterhosen, erklärbar war.

Munk sah nur Beine, er war ansonsten ganz bei sich, was für ihn, auch wenn die Umstände nicht glücklich schienen, trotzdem ein gutes Gefühl war. Dann bemerkte er, dass sich Menschen kümmerten, ein junger Mann beugte sich zu ihm herunter und redete auf ihn ein. Ein anderer zog den Jungen wie eine Kulisse zur Seite, um sich alsdann auf Munks Brust zu setzen und sein Herz zu stimulieren. Munk gelang es nicht, dem Mann mitzuteilen, dass er einen Infarkt habe und keinen Herzstillstand. Er wollte ihn auch nicht stören, weil er sich darüber freute, dass sich jemand so sehr um ihn bemühte. Kritik am Verfahren hätte vielleicht dazu geführt, dass das Engagement des Mannes zum Erliegen gekommen wäre, und das hätte Munk bedauert. Dann rief der Mann, der ihm beständig mit seiner Drückerei wehtat, dass das Herz wieder schlage, worauf er aufstand und seinerseits Platz machte für die Rettungssanitäter.

Das Letzte, was er sah, bevor ihm eine Sauerstoffmaske aufgesetzt wurde und er die Augen schloss, war das Gesicht einer Notärztin, die ihn duzte, was ihn wunderte. Sie sagte: »Was machst du bloß für Sachen.«

2

Die Herzklinik des Universitätsspitals befindet sich ganz in der Nähe vom Globus. Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten. Munks Erinnerungen an den Transport wurden später überlagert vom erst in der Rückschau erstarkenden Gefühl der Todesangst und der flackernden Unsicherheit, ob eine Notärztin oder nicht doch Nadja auf ihn heruntergesehen hatte. Dieser Gedanke beschäftigte ihn im Krankenwagen, während der professionelle Betrieb um ihn herum einsetzte, welchem er sich ergab, ohne zu fragen, wie lange die Fahrt dauern würde und ob es am Ankunftsort Herzspezialisten oder am Ende bloß Orthopäden gäbe, was er nicht begrüßen würde. Sein Anspruch, niemals die Kontrolle über eine Situation abzugeben oder die Verantwortung für sich selbst an jemanden zu delegieren, wich einer sanften Gleichmut, was auch mit der Gabe von gefügig machenden Schmerzmitteln zu tun hatte.

Auf dem Weg ins Spital legte man ihm bereits einen Venenzugang und verabreichte gefäßerweiternde Medikamente; man sprach in dem beruhigenden schweizerischen Dialekt auf ihn ein, der für ihn wie Kindersprache klang, und er hörte die Sirene, die, wie er, trotz der einsetzenden Wirkung der Medizin und der bangen Frage, ob Nadja ihn sterbend gesehen hatte, bemerkte, ganz ähnlich wie eine deutsche klang, bloß etwas tiefer. Er war von diesen unwichtigen Gedankengängen überrascht und in diese ebenso abseitige Überlegung hinein wurde schon die Hecktür des Krankenwagens geöffnet, worauf man ihn ans Tageslicht zerrte und unsanft umbettete, was in Anbetracht der Todesgefahr, in der er sich noch befand, so unwichtig war, dass man, wie ihm schien, doppelt so grob als nötig mit ihm umging.

Später suchte er nach weiteren Erinnerungen, aber es kam nichts hinzu, und jenes bisschen, was er rekapitulieren konnte, zog er in Zweifel, weil er kaum glauben konnte, dass er während eines Herzmuskel-Infarktes über die Verschiedenartigkeit deutscher und schweizerischer Martinshörner sinniert hatte. Er entdeckte in seinem Kopf nur noch ein Bild, nämlich jenes der Notärztin, die ihn packte, als der Krankenwagen einmal während der Fahrt schaukelte, sodass etwas herabfiel, vielleicht eine Spritze. Da öffnete er die Augen, sah über sich Schläuche baumeln und dann ganz kurz Oberkörper und Gesicht der maskierten Ärztin, die ihn festhielt und mit ihm sprach. Was sie sagte, konnte er nicht rekonstruieren. Wohl aber den Ton der Sirene.

Auch an die Tage auf der Intensivstation hatte er keine Erinnerung. Er wurde dort nach der Operation mit Monitoren überwacht, bevor er auf eine normale Station kam. Er fühlte sich wie in Watte gehüllt, hatte Schmerzen an, auf oder in der Brust und kein großes Zutrauen in seine Lebendigkeit, weil sie sich fragil und leihweise anfühlte. Immerhin begegneten ihm die Menschen um ihn herum freundlich und mit großer Zuversicht, was ihm gefiel und die großen Gefühle ermöglichte, denen er sich manchmal hingab, indem er zum Beispiel zu weinen begann, als eine der Schwestern morgens den Vorhang aufzog und sagte: »Sehen Sie, Herr Munk, wie die Sonne scheint. Ist das nicht ein schönes Geschenk?« Er weinte, weil er einsah, dass sie recht hatte – und weil er sich für dieses Geschenk bis zum akuten Verschluss eines seiner Herzmuskel-Gefäße nie bedankt hatte. Der Beginn des Tages war für ihn bis dahin eine mehr oder weniger langweilige Selbstverständlichkeit gewesen, mal begleitet von schönen Farben, mal verregnet oder vollkommen ohne jede bemerkenswerte äußere Form, ihm jedenfalls gleichgültig und banal zwangsläufig vorkommend. Nun zu bemerken, dass nichts und gar nichts am Tagesanbruch egal war, machte ihn regelrecht fertig. Ähnlich intensiv reagierte er, als eine der Schwestern sein Kissen aufschüttelte, damit er besser in der halb aufrechten Position liegen konnte, die ihm guttat. Vordem hätte er das als eine Service-Dienstleistung minderen Ranges eingestuft, nun erschien ihm das von freundlichen Worten begleitete Auffrischen des Kissens als die aufmerksame Geste, die es war. Er bedankte sich tränenreich dafür.

Natürlich waren das psychische Effekte des Überlebens, solche, von denen man weiß, dass sie mit der Zeit wieder abflauen, aber Peter Munk nahm sich vor, so viel wie möglich von der Sanftheit, die ihm seine Rettung ermöglichte, zu behalten.

Nachdem er auf die normale Station verlegt worden war, fragte man ihn, wer benachrichtigt werden müsse. Daran hatte er auch schon gedacht. Er nahm an, dass seine Mitarbeiter und Partner sich Sorgen um ihn machten. Aber er wollte sich ihnen nicht als Todkranker mit belegter Stimme offenbaren und er bat auch nicht darum, in seiner Firma anzurufen. Stattdessen diktierte er einem jungen Arzt die Nummer seines Anwaltes, der auch sein Freund war, zumindest sein Golfpartner. Hösch solle für ihn im Büro Bescheid sagen, dass er sich noch in der Schweiz befinde, sich dort einem kleinen und lange geplanten Eingriff unterzogen habe und nun noch eine kleine Weile dableiben müsse. Doch anstatt dies Hösch einfach auszurichten, gab der Arzt Hösch die Durchwahl von Munks Krankenbett.

Und so rief Frank Hösch am dritten Tag nach Munks Zusammenbruch bei seinem Freund und Mandanten an und fragte als Erstes, ob Munk eigentlich noch ganz bei Trost sei, einfach so, ohne ihn ins Vertrauen zu ziehen, in die Schweiz abzuhauen, um dort offenbar was machen zu lassen, und worum es sich handele, und er habe zwar immer gefunden, dass Munk ein ziemliches Gesichtsgulasch mit sich herumgetragen habe, ihm jedoch nie zugetraut, das ändern zu wollen, wofür es ohnedies zu spät sei.

Munk verging augenblicklich jede Lust, Hösch über die Umstände seines Krankenhausaufenthaltes aufzuklären oder überhaupt nur ein einziges Wort mit ihm zu wechseln. Dennoch kam ihm der Anruf hilfreich vor, weil er ihn an das Leben erinnerte, das er vor dem Herzinfarkt geführt hatte und mit jedem Tag seiner Genesung dringender hinter sich lassen wollte. Hösch erschien ihm wie ein Kurier aus jener Zeit, in der er Sonnenaufgänge nicht beachtet und Essen nicht richtig gekaut hatte. Er schickte ihn schließlich am Ende eines zehnminütigen Gespräches – in dem Hösch nicht einmal gefragt hatte, wie es ihm ging – mit der Nachricht in die Welt, dass Peter Munk sich entschlossen habe, eine kleine Auszeit zu nehmen. Zugegebenermaßen etwas plötzlich, geradezu rücksichtslos, auf jeden Fall krisenhaft, kennt man ja, Männer in dem Alter. Munk trug Hösch auf, dem Büro auszurichten, dass er in spätestens fünf Wochen wieder zur Arbeit komme, man solle ihn bis dahin in Ruhe lassen. Auch Hösch möge sich nicht mehr melden, es habe auch keinen Sinn, weil er alsbald das Krankenhaus verlassen werde, um andernorts die Rekonvaleszenz zu vertiefen. Adresse und Nummer werde er für sich behalten. Sein Mobiltelefon werde er nicht einschalten.

Diese Entscheidungen hatte Munk in dem Moment getroffen, als er sie seinem Freund, der inzwischen für ihn nicht mehr als ein aufdringlicher Bekannter war, dargelegt hatte. Sie waren eher eine spontane Reaktion auf dessen Geplapper, das er früher wohl für geistreich gehalten hatte, nun aber nicht mehr hören konnte und wollte. Es war, als habe er jahrelang irrtümlich das Geräusch einer Autobahn zu Meeresrauschen umgedeutet und sei jetzt erst darauf gekommen, dass es sich in Wahrheit um unerträglichen Lärm handelte.

Nachdem er aufgelegt hatte, spürte Munk den Drang, diesem Wunsch nach Veränderung, mehr noch: Erneuerung, stattzugeben. Er hielt fest, dass es Gründe gab, derentwegen er im Krankenhaus lag. Dass er sie nicht kannte. Oder nicht kennen wollte. Oder konnte.

Nachdem er erste Schritte auf dem Flur seiner Station gewagt hatte und die Medikamente eingestellt waren, traute Munk sich längere Konversationen zu. Vorher war ihm das Sprechen schwergefallen, er hatte auch keine Lust auf Unterhaltungen und erst recht keine Neugier auf den Fortgang seiner Geschäfte gehabt. Das wunderte ihn sehr, denn vor dem 26. Februar war er richtiggehend süchtig nach beruflichen Updates gewesen. Wenn er, was selten vorkam, über ein verlängertes Wochenende hinaus nicht in der Firma war, peinigte er seine Kollegen und Mitarbeiter mit Anrufen, in denen er sie zu Berichten nötigte oder ihnen seine Überlegungen zu ihrer Arbeit mitteilte. Er ließ sich Ideen und Pläne schicken, versah diese mit Anmerkungen und sendete sie wieder zurück. Er erteilte Aufträge, ließ sich über deren Ausführung informieren und verlangte nach Informationen, auch solchen, die ihn nicht betrafen. Er wollte über alles im Bilde sein. Immer.

Erst der Infarkt und in dessen Folge die allmähliche Sensibilisierung für seine fragile Lebendigkeit und schließlich der Anruf des steindummen Juristen Hösch bewegten Peter Munk tief in seinem Inneren, sodass er seinen Beruf zwar nicht anzweifelte, wohl aber die Art und Weise, wie er ihn ausübte. Jetzt nichts über den Alltag in seiner Firma wissen zu wollen, kam ihm seltsam, vor allem seltsam entspannend vor.

Und noch etwas beschäftigte ihn auf eine Weise, die er nicht kannte, nämlich der Umstand, dass er vollkommen allein auf der Welt war. Er hatte dies zuvor zu einer Tugendhaftigkeit verklärt, weil er sich für unfähig gehalten hatte, Kinder zu erziehen und Verantwortung für einen anderen Menschen zu übernehmen. Nicht einmal für ein Tier. Als ihm Freunde einmal vor einigen Jahren einen Goldfisch schenkten, gab er ihn sofort an seine Zugehfrau weiter und fragte nie wieder nach Verbleib oder Wohlergehen des Tieres. Sonst hätte er erfahren, dass Frau Zowolski den Fisch direkt nach Erhalt noch in Munks Badezimmer in die Toilette gegossen hatte und in dem runden Glas seitdem Bonbons für ihre zahlreichen Nichten und Neffen aufbewahrte.

Munk hatte nie die Absicht gehabt zu heiraten. Oder doch? Doch! Er hatte die Absicht gehabt, aber es hatte sich nicht ergeben, warum auch immer. Er kam nicht einmal auf den Namen der Frau, mit der er verlobt gewesen war. Das beschäftigte ihn, als er tastend an einem Geländer entlang die Station auf und ab ging. Wenn Nadja noch bei ihm gewesen wäre, hätte sie ihn besucht. Wobei: Wenn Nadja noch bei ihm gewesen wäre, hätte er vielleicht gar keinen Herzinfarkt erlitten. Weiß man’s?

Seine seit Jahrzehnten gelebte Erkenntnis, für sich selbst und alle anderen am ehesten ein Wohlgefallen zu sein, wenn er sich ihnen nicht zumutete, möglichst wenig Aufhebens machte und zumindest im Privaten verschwand, sobald Konflikte aufschienen, geriet ins Wanken, weil diese Form der Lebensführung ihn nicht nur von Verantwortung verschonte, sondern auch einsam machte. Wie er nach zwei Wochen feststellte, in denen sich keine Menschenseele bei ihm gemeldet hatte, nicht einmal seine eigene Schwester, die ihm nun fehlte.

Natürlich hatte niemand versucht, zu ihm durchzukommen, weil er alles getan hatte, um das zu verhindern. Da war er noch im alten Munk-Modus gewesen, den er infrage stellte, während er dabei zusah, wie der Inhalt von Infusionsbeuteln allmählich in den Zugang oberhalb seines Handgelenkes sickerte. Während er die Waschungen und Wundinspektionen über sich ergehen ließ. Während er die wenig ersprießliche Krankenhauskost mümmelte und während er mit Erstaunen feststellte, dass es unterschiedliche Nachtzeiten gibt, genau wie verschiedene Tageszeiten existieren. Dann lag er wach und dachte auch darüber nach, ob er träumte oder nicht im Gegenteil von besonderer, nie erlebter Klarheit war. Womöglich war das ganze Leben vorher eine Art Traum gewesen und er hatte sich im Unwirklichen aufgehalten, dort gearbeitet und nie geheiratet. Womöglich war er jetzt erst erwacht und bekam die Chance, diesen Traum hinter sich zu lassen. Oder Teile davon. Manches aus der Zeit vor dem Sturz auf der Rolltreppe erschien ihm richtig, aber das Mutterseelenalleinsein, das er nun spürte, kam ihm falsch, gefährlich, regelrecht bedrohlich vor. Er litt, wie er noch nie gelitten hatte.

Und nachdem er zunächst Erörterungen über seinen Zustand abgelehnt hatte und erst gar nichts über die Operation hatte wissen wollen, näherte er sich in seiner neuen Verletzlichkeit seiner Wunde. Er betrachtete sie, befühlte sie, als das Pflaster gewechselt wurde und die Schwester sagte, dass man sich dieses Wunder nicht vorstellen könne, dieses Meisterwerk von einem Herz, diesen klopfenden Apparat, wie sie es nannte. Auch da begann er, leise zu weinen, denn selbstverständlich hatte er nie über sein Herz nachgedacht. Wer macht das auch schon. Wer denkt jemals an den kleinen Finger seiner linken Hand, bis er wegen einer Ungeschicklichkeit bricht.

Als der Oberarzt mit einem ganzen Bataillon von Ärztinnen und Ärzten zur Visite kam und fragte, wie es ihm gehe, sagte Munk, dass er auf eine seltsame Weise schwach in seiner Seele sei, wie geläutert, obwohl er nichts verbrochen habe. Später kam der Arzt allein zurück und zog sich einen Stuhl heran. Er setzte sich und fragte Munk, ob er nun wissen wolle, was man mit ihm angestellt habe. Auf Munks schwaches Nicken erläuterte der Doktor, dass der Patient einen Herzinfarkt erlitten habe, den der Arzt aus medizinischer Sicht bemerkenswert fand, weil Munk sehr gut in Form sei. Die Frage, ob er rauche, verneinte Munk, um dann einzuschränken, dass er gelegentlich auf Partys eine Zigarette geraucht, in früheren Zeiten auch hier und da gekifft habe. Doch alles nicht regelmäßig und schon vor langer Zeit ganz eingestellt. Die Frage, ob er viel trinke, verneinte er ebenso wie jene nach Herzerkrankungen in der Familie. Dass er Sport trieb, sah man ihm an, und das Herz, das der Arzt nach einem routinierten Schnitt durchs Brustbein begutachtet hatte, sah nicht krank aus, ein angeborener Herzfehler war nicht zu erkennen.

Der Arzt fragte Munk freundlich, ob er zuletzt einem ungewöhnlichen Stress ausgesetzt gewesen sei, was Munk nicht beantworten konnte. Das lag daran, dass der Kummer über Nadja für ihn nicht ungewöhnlich gewesen war, sondern programmatisch am Ende jeder Beziehung stand. Und beruflich kam er sich nicht unter Druck gesetzt vor. Er selbst war der Druck und die Frage, ob er diesen fühlte, war insofern philosophischer Natur, als man ebenso gut fragen konnte, ob ein Krokodil weiß, dass es ein gefährliches Raubtier ist. Es ist, wie es ist. Munk zuckte mit den Schultern und sah den Arzt ratlos an.

Er fragte den Arzt, was er habe, und dieser antwortete, dass im Leben der Moment komme, in dem sich jeder Mensch klarmachen müsse, dass er nun einmal auf eine bestimmte Art sei, die viel Gutes habe, aber auch ihre Nachtseiten. Dass er dem nachspüren solle. Mit Zeit. Manche Leute verpassten die Chance, die ihnen solch eine Erkrankung biete, sagte der Arzt leise und fügte hinzu, dass Munk noch einmal darüber nachdenken solle, ob es nicht eine besondere Tragik gegeben habe. Ob nicht doch etwas gewesen sei, was er sich sprichwörtlich zu Herzen genommen habe. Etwas, das seine Arterien schon geraume Zeit habe verkalken lassen, sodass ihm nun in einer vierstündigen Operation ein Bypass habe gelegt werden müssen.

Da fing Munk wiederum an zu weinen und sagte, da sei nichts, um dann doch einzuräumen, dass es eine Trennung gegeben habe. Und dass er an diesem Nachmittag geglaubt habe, die Frau zufällig im Globus gesehen zu haben. Der Arzt stand auf und sagte, Munk solle dem Gefühl nachgehen, das er dort hatte. Ob er eines hatte. Was für eines das gewesen sei. Munk nickte – und begab sich auf eine lange Suche.

3

Die Rückkehr in seine Wohnung kam Munk vor wie ein Besuch in der Vergangenheit. Seine Nachbarin Frau Erbeck hatte die Post für ihn aufbewahrt und Frau Zowolski zunächst abbestellt, um sie einige Tage vor seiner Entlassung zu bitten, die Wohnung in Schuss zu bringen. Er klingelte bei Frau Erbeck, bedankte sich für ihre Mühe und übergab eine Schachtel Konfekt, die er für sie in Zürich gekauft hatte. Er wich ihren Fragen zu seiner Abwesenheit freundlich aus. Dies tat er nicht aus Grobheit, sondern weil er noch nicht wusste, wie man über einen überstandenen Herzinfarkt sprach. Es fehlten ihm das Vokabular und der Abstand dafür. Und er wollte besorgte Rückfragen zu diesem dramatischen Vorfall vermeiden. Frau Erbeck hätte angeboten, ihm behilflich zu sein, und das wollte er bestimmt nicht. Und da er sie auch nicht zurückweisen mochte, vermied er konkrete Auskünfte.

Der Kühlschrank war leer. Es fanden sich weder Staub auf den Möbeln noch jegliche Spur von Leben. Der Abfall war entsorgt, sämtliche Kleidung gebügelt, alle Schuhe waren geputzt, genau wie die Fenster. Sein Heim erschien ihm so aseptisch wie ein Mausoleum oder ein Labor. Munk ging umher, sah aus dem Fenster und fragte sich, ob er wohl einen Kaffee machen dürfe. So fremd war ihm sein Zuhause geworden.

Er hatte Frau Erbeck in der Woche nach der Operation angerufen und sie gebeten, regelmäßig nach dem Rechten zu sehen, weil er einen längeren Auslandsaufenthalt begonnen habe. Leider habe er vergessen, alles rechtzeitig zu organisieren. Sie kannte ihn nicht gut genug, um diese Lüge zu durchschauen. Wären sie befreundet gewesen, hätte sie ihm das nicht geglaubt, weil sie mit seinem rührenden Organisationstalent vertraut gewesen wäre. Möglich, dass sie ihn dann bisweilen damit aufgezogen hätte. So wie Nadja, die ihn oft amüsiert dabei beobachtete, wenn er für Reisen seinen Koffer packte. Sie bezeichnete diesen Vorgang als Klamotten-Tetris, weil Munk wie niemand sonst in der Lage war, den zur Verfügung stehenden Platz kreativ und lückenlos zu nutzen. Diese ihrer Meinung nach höchst unterhaltsame Gabe war eine Art Beifang seines Berufs, in dem es ihm vor allem darum ging, Räume auf Funktionalität hin zu entwerfen. Man hatte ihn vielfach dafür ausgezeichnet, dass seine Wohnkonzepte besonders heimelig, geradezu von altruistischem Instinkt hinsichtlich ihrer Bewohnbarkeit geprägt waren. Er wunderte sich über dieses Lob, weil er diesem Aspekt nicht mehr Aufmerksamkeit widmete als zum Beispiel jenem der statischen Umsetzbarkeit seiner Entwürfe.

Die Schönheit der Häuser, die nach seinen Plänen gebaut wurden, war seiner Auffassung gemäß kein Selbstzweck und erst recht keine Kunst, sondern sie diente dazu, der Existenz eines Hauses einen Sinn zu verleihen. Wenn die Menschen ebenso schuld- wie auch absichtslos ins Leben geworfen wurden, wovon Munk überzeugt war, konnten sie ihr Dasein auf dem Planeten zumindest dafür nutzen, einander ästhetisch ein Wohlgefallen zu sein. Niemanden zu belästigen, pure Freude zu erzeugen, galt demnach auch und vor allem für die Gestaltung ihres Lebensraumes. Munk trug dazu bei, indem er nach Meinung vieler Fachleute und seiner zahllosen Bewunderer die schönsten Häuser der Welt baute. Nicht die größten. Auch nicht die teuersten. Darauf legte er Wert. Teuer bauen konnte jeder Trottel. Für Munk bestand der Wert eines Bauwerks darin, zutiefst nützlich zu sein. Und Schönheit war für ihn ein Element der Nützlichkeit. Er maß ihr keine besondere Bedeutung zu, sie war eine pragmatisch absolvierte Teilaufgabe. Dass es dazu eines schöpferischen Talentes bedurfte, war ihm überhaupt nicht bewusst. Mit den Jahren hatte er aber immerhin gelernt, die Begeisterung der anderen für seine Arbeiten mit scheuer Freude anzunehmen.

Seine Wohnung roch nach nichts. Er ging herum und nichts rührte ihn. Es war, als sei er nicht von einer langen Reise zurückgekommen, sondern trete diese gerade erst an und mache sich mit einem Hotelzimmer vertraut. Er schaltete das Licht an und wieder aus und versuchte, sich in den Räumen nachzuspüren. Im Bad stellte er fest, dass die Zahnpastatube zerdrückt war. Schwer eingedellt und zur Hälfte verbraucht. Ganz genau wie ich, dachte er. Er nahm sie in die Hand und versuchte, sich daran zu erinnern, ob er in Eile gewesen war, als er an jenem Tag im Februar die kurze Dienstreise nach Zürich angetreten hatte. Er stand lange in seinem Mantel mit der Zahncreme in der Hand vor seinem Badezimmerspiegel, sah sich an, ohne sich zu erkennen. Plötzlich schossen ihm Tränen in die Augen, was er sich nicht erklären konnte. Aber er hatte im Krankenhaus gelernt, es einfach zuzulassen. Es war ein Gruß aus seiner Seele, so fasste er das auf. Er legte die Tube neben das Waschbecken und stürzte zu seinem Schreibtisch, nahm den Papierkorb, der darunterstand, und stellte ihn auf den Kopf, aber der Brief war nicht mehr darin. Die Putzfrau hatte ihn artig entsorgt.

Es war ein hilfloser und trauriger Brief gewesen, den er am Abend vor seiner Abreise verfasst hatte. Ein letzter Versuch, Nadja von sich zu überzeugen. Der Brief entstand unter dem schlechten Einfluss einer guten Flasche Brunello di Montalcino. Weil er wohl eingesehen hatte, dass er mit diesem Schreiben nichts als höchstens Mitleid hervorrufen würde, hatte er den Brief am Ende zerrissen und weggeworfen. Nun war dieses Schreiben verschwunden, genau wie die Flasche und das Glas, aus dem er getrunken hatte. Vielleicht weinte er auch deswegen, weil er spürte, dass er nach dem Infarkt nicht mehr in sein früheres Leben passte, er war heimatlos, auch da ihm seine Wohnung so fremd und unbehaust erschien.

Dennoch wäre er neugierig darauf gewesen, was er Nadja im Suff geschrieben hatte. Er konnte sich daran kaum erinnern. Womöglich hatte er für sich geworben. Vielleicht hatte er sie irgendeines Verhaltens beschuldigt oder ein dämliches Ultimatum gestellt. Alles Dinge, von denen jeder weiß, dass man sie nicht machen sollte. Und dann lässt man sich doch hinreißen. Zum Glück hatte er den Brief nicht eingeworfen.

Munk setzte sich an den Esstisch und sortierte die Post. Dabei wurde ihm bewusst, dass Frau Erbeck ihn wahrscheinlich durchschaut hatte, jedenfalls, wenn sie neugierig genug war, auf die Absender der Briefe zu schauen. Das Herzspital in Zürich schickte eine Rechnung, dazu kamen welche von der notärztlichen Bereitschaft, von Laboren und von der Radiologie sowie ein Schreiben vom Kaufhaus Globus. Darin stand, dass man hoffe, dass seine Genesung Fortschritte mache, und dass man sich freue, ihn schon bald wieder im Haus begrüßen zu dürfen. Darüber hinaus habe man eine kleine Note mit der Bitte um Begleichung beigefügt, die Notbremsung der Rolltreppe betreffend, welche Kosten verursacht habe.

Munk legte den Brief beiseite. Er konnte sich nicht erinnern, auf der Treppe einen Knopf gedrückt zu haben, und fühlte sich nicht zuständig. Die meisten anderen Briefe waren unwichtig. Er beschloss, die Rechnungen (bis auf jene des Kaufhauses) gleich zu bezahlen und alles andere wegzuwerfen. Als er seinen Rechner hochfuhr, fiel ihm ein, dass er seine Mails seit dem Globus nicht mehr gecheckt hatte. Der Posteingang verzeichnete 749 Mails, die es durch den Spamfilter geschafft hatten. Nichts davon dringend, eigentlich enttäuschend.

Lediglich die Bestätigung seines Reha-Platzes war ihm wichtig. Er druckte sie aus. Dann packte er für den nächsten Tag. Die Aussicht, vier Wochen in Gesellschaft von mehr oder weniger kaputten Opfern der Leistungsgesellschaft zu verbringen, um mit ihnen Wasser zu treten oder einen Medizinball von Stuhl zu Stuhl zu reichen, verstimmte ihn gar nicht. Dafür war er viel zu willfährig dem eigenen Schicksal gegenüber. Abends aß er in einem Restaurant, ohne dabei Alkohol zu trinken. Dann klingelte er nochmals bei Frau Erbeck und bat sie, noch weitere vier Wochen seine Post zu hüten.

Munk versuchte dann, alte Gewohnheiten aufleben zu lassen. Er stand lange vor seiner Plattensammlung, bevor er sich schließlich für eine seiner ältesten LPs entschied, Aladdin Sane von David Bowie, erschienen im gleichen Jahr wie er selbst, 1973. Er hatte das Wortspiel im Titel immer gemocht und jetzt gerade fühlte er sich auch wie ein kranker Bursche. Der erste Song knisterte durch die Lautsprecher, Mick Ronsons Gitarre schepperte in Munks Wohnzimmer. Munk hoffte auf eine Art Epiphanie, auf ein Wohlgefühl, ausgehend von der Musik. Er hoffte, dass sie ihm verlorene Vertrautheit zurückgab. So ging es ihm sonst: Er hörte Musik und entsann sich einer bestimmten Zeit oder Situation, die ihm behagte. Seine Plattensammlung war immer gut gewesen, um Wärme in ihm zu entfachen. Aber es tat sich nichts. Im Gegenteil. Die Platte machte ihn unruhig, richtiggehend ungnädig gegen sich selbst. Sie hielt ihn auf. Er nahm die Nadel aus der Rille und die Platte vom Teller, ließ sie ins Innencover gleiten und stellte das Album zurück, unschlüssig, was er sonst hören sollte. Er fürchtete, dass es ihm mit jedem anderen Album aus dem Regal ähnlich ergehen könnte.

Also schaltete er die Anlage aus und ging ins Bett. Vorher putzte er sich die Zähne. Ohne in den Spiegel zu schauen.

4

Nach eingehender Recherche, noch vom Züricher Krankenbett aus, hatte sich Munk für das Mönchhof-Resort entschieden. Dabei handelte es sich um ein Fünfsternehotel mit Beautyfarm, Spa und Wellnessbereich. Darin geschickt integriert befand sich auch eine klinische Abteilung. Auf diese Weise wurde es reichen Gästen mit Herzerkrankung ermöglicht, eine medizinische Reha zu absolvieren, ohne sich dabei krank fühlen zu müssen, oder noch schlimmer: daran erinnert zu werden, dass sie wie völlig normale Menschen einer Behandlung bedurften.

Der Mönchhof warb für sich als die ultimative Hideaway-Oase im Schwarzwald und bot den Gästen an, unter falschem Namen einzuchecken. Es gab Topmanager und Prominente, die darauf Wert legten, und dazu noch einige, die zwar in der Öffentlichkeit vollkommen unbekannt waren, aber ihr soziales Prestige anhoben, indem sie unter dem Aliasnamen »K. Lehmann« abstiegen, um dann vier Wochen ununterbrochen zu verkünden, dass dies nicht ihr richtiger Name sei, welcher aber nichts zur Sache tue, außer für Entführer und Fotografen der Boulevardpresse, welche man als »Lehmann« hoffentlich abgeschüttelt habe.

Vom Mönchhof hieß es ferner, dass dort nicht nur ausgebrannte Topkräfte der deutschen Wirtschaft nach Ruhe suchten, sondern auch osteuropäische Models nach solventen Ehemännern. Besonders in den frühen Monaten des Jahres sei die Bar abends mit Schönheiten bestückt, die nichts anderes im Sinn hätten, als geschwächte Geschäftsführer ins Unheil zu zerren. Hösch hatte ihm das erzählt. Man könne diese Frauen daran erkennen, dass sie am Abend keine Detox-Drinks oder Heilwasser oder Sellerie-Smoothies tränken, sondern Champagner. Dabei spähten sie die männlichen Gäste aus und sobald diese Detox-Drinks, Heilwasser oder Sellerie-Smoothies bestellten, nähmen sie Witterung auf und ließen nicht locker, bis ihre Opfer spätestens am dritten Abend Gin Tonic orderten, was die erste von vielen weiteren Sünden darstelle, an deren Ende eine prunkvolle Hochzeit begangen werde. Oft zum Nachteil verlassener Ehefrauen – und ihrer Gatten, die danach jahrelang gedemütigt und ausgebeutet würden und sich schließlich nicht einmal mehr die Mitgliedschaft im Tuniberg leisten könnten. Mit dem Golfen sei dann Feierabend. Alle Immobilien und auch die Autos seien da längst weg und in Russland zugelassen oder verkauft. Anwalt Hösch erzählte diese Schauergeschichte mit der moralischen Empörung derjenigen, die für solche Frauen aus vielen Gründen nicht infrage kommen.

Als Munk nach seiner Ankunft im Mönchhof einen Tee in der Bar nahm, saßen dann aber keine russischen Models dort, die man laut Hösch daran erkennen konnte, dass sie mit Swarovski-Steinen besetzte Joggingkleidung trugen. Während sein Gepäck aufs Zimmer gebracht wurde, trat er auf die Sonnenterrasse und versuchte, tief Luft zu holen, was sein Brustkorb mit einem eisigen Stich kommentierte. Augenblicklich sank Munk in sich zusammen und entfaltete wie demütig seinen Behandlungsplan, demzufolge er zunächst ärztliche Untersuchungen und ein Gespräch mit dem Chefarzt zu absolvieren hatte. Für die nächsten Tage überflog er die Reha-Maßnahmen und stieß dabei auf die Zeile »PT, Dr. Grenzmann«. Damit konnte er nichts anfangen und fragte den Chefarzt später, was »PT« für eine Anwendung sei. Der Chefarzt erklärte ihm freundlich, dass auch psychotherapeutische Gespräche der Genesung dienten.

Für Munk klang das wie eine Drohung. Er sprach ungern über sich und noch ungerner über seine Jugend, seine Familie oder frühkindliche Traumata, an die er sich ohnehin nicht erinnern konnte. Er mochte es, für sich und andere ein weißes Blatt Papier zu sein. Es beruhigte ihn, nicht in den Kaninchenbau seiner Seele kriechen zu müssen, wie es einige seiner Freunde taten. Es gab darunter fast niemanden, der nicht schon Meditations-Treatments, Rebirthing-Seminare, Verhaltenstherapien, Familienaufstellungen oder Visionsfasten probiert hatte. Und immer hieß es, das solle er ruhig auch mal machen, es werde ihn sich selbst näherbringen. Munk fürchtete nichts mehr als das.

Er ahnte, dass die Beschäftigung mit der Frage, warum er allein war, warum er keine Familie hatte und warum er plötzlich in einem Kaufhaus zusammenbrach, Antworten zeitigen konnten, die ihm nicht gefielen und weitere Fragen aufwarfen, deren Antworten noch bedrückender ausfielen. Andererseits bot ihm diese Erkrankung die Chance, sein Leben zu ändern.

Der Arzt im Züricher Spital hatte den Herzinfarkt als »gelbe Karte« bezeichnet und selbst Munk als leidenschaftlicher Fußball-Ignorant wusste, was das bedeutete. Er hatte die letzten Wochen grübelnd und zweifelnd und bisweilen voller tiefer Trauer verbracht. Manchmal befühlte er nachts, wenn er nicht schlafen konnte, in der Dunkelheit seine Narbe und es kam ihm dann vor, als streiche er über einen trockenen Pfirsichkern, als berührte er etwas, das nicht zu ihm gehörte. Es war ihm, als sei durch diese Wunde eine unheimliche Macht in ihn eingedrungen und habe dann die Haut an der Eintrittsstelle mit einer schorfigen Rinde verschlossen, die man nicht nur fühlen, sondern auch sehen sollte, um immer daran erinnert zu werden, dass man nun versehrt war, und die nun seine Persönlichkeit spiegelte wie ein Zwillingsbruder, den man jahrzehntelang nicht gesehen hat. Er sah sich selbst und fühlte sich doch fremd.

Munk beschloss, sich diesen Gesprächen zu öffnen, schon damit dieses Gefühl wegging. Es würde ihm nicht schaden, jedenfalls nicht mehr als dieser Herzinfarkt, den er immer noch zu spüren glaubte. Er lauerte regelrecht auf Unregelmäßigkeiten, so wie man einen Schluckauf bewacht. Manchmal vergaß er das aber auch für Stunden und stellte dann erschrocken fest, dass er offenbar in der Zwischenzeit nicht richtig auf sich aufgepasst hatte. Der Arzt sagte ihm, dass das normal sei. Er werde einige Zeit brauchen, um das zu bewältigen. Immerhin sei so ein Infarkt eine traumatische Angelegenheit. Schon deshalb seien die Sitzungen wichtig. Munk nahm sich aber vor, diese Gespräche mit verschränkten Armen zu führen, um damit eine gewisse Grundskepsis gegenüber dem Verfahren auszudrücken.

Am dritten Tag seines Aufenthaltes fand die erste Stunde bei Doktor Grenzmann statt. Davor hatte sich nichts Überraschendes abgespielt. Munk erhielt Anwendungen, manche davon angenehmer als andere. Er nahm sich täglich viel Zeit, um Zeitungen zu lesen und Tee zu trinken. In der Lounge mit Blick in den unergründlichen Schwarzwald fand er eine Ecke, in der er es lange aushielt. Komischerweise dachte er kaum an die Arbeit. Darüber war er verwundert, weil er in den fünfzehn Jahren davor eigentlich kaum etwas anderes getan hatte. Und nun war es ihm beinahe egal, wie die Geschäfte und Projekte sich in seiner Abwesenheit entwickelten. Er ahnte, dass man ihn nicht brauchte. Sein Büro war phasenweise auf über achtzig Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen angewachsen, die nichts anderes im Sinne hatten, als ihm mit ihren Beiträgen zu imponieren. Während der Corona-Pandemie hatten sie Personal abbauen müssen, aber es waren immer noch fünfzig Leute da. Er betrachtete es als Kompliment, wenn eine junge Architektin nach vier oder fünf Jahren die Firma verließ und sich selbstständig machte. Er ermutigte seine Mannschaft sogar dazu, weil er seine Haltung gegenüber der Architektur auf diese Weise in der ganzen Welt verteilte. Dass es zweimal zu Kundenübernahmen gekommen war, konnte er gut verschmerzen. Es waren genug Klienten da. Er sah auf die Uhr und machte sich um 13:50 Uhr auf den Weg zu Doktor Grenzmanns Behandlungsraum, vor welchem eine kleine Palme stand. Munk setzte sich auf den Barcelona Chair daneben und wartete, bis sich die Tür öffnete. Munk war immer der Ansicht gewesen, dass der Barcelona Chair ergonomisch ein furchtbares Missverständnis darstellte. Er war daher froh, als Grenzmann ihn in sein Zimmer bat.

Doktor Grenzmann schien auf Anhieb kein Mann des Wortes zu sein, jedenfalls schwieg er zunächst fünf Minuten, in denen sich Munk umsah und feststellte, dass die Aussicht aus Grenzmanns Behandlungszimmer noch besser war als jene von der Terrasse. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und fragte, ob der Arzt wisse, warum er hier sitze.

Der Therapeut hob eine rosa Mappe hoch und sagte, er habe sie gelesen, es stehe aber nicht viel über den Menschen Peter Munk darin. Dann fragte er, wer der sei. Munk hob die Schultern und sagte seinen Namen, mehr fiel ihm nicht ein. Grenzmann fragte noch einmal, wer da vor ihm sitze, und Munk zählte auf, was ihm einfiel: Architekt, Kollege seiner Kollegen und Kolleginnen, Nachbar, Freund. Partner von irgendwem oder Sohn war er ja nicht mehr. Und Bruder fiel ihm nicht ein. Aber er fand, das war schon sehr viel.

Grenzmann nickte sanft und fragte, wie er denn so sei, in diesen ganzen Zusammenhängen. Munk konnte mit der Frage kaum etwas anfangen und antwortete zögerlich, dass der Arzt dies doch bitte die anderen fragen möge. Er könne dies unmöglich beantworten. Dann fielen ihm doch einige Attribute ein und er zählte sie auf: pünktlich, gewissenhaft, freundlich, jedenfalls nicht besonders unfreundlich. Kein Geizhals. Grenzmann nickte abermals und sagte, das seien alles tugendhafte Eigenschaften, doch träfen sie auf sehr viele Menschen zu. Ob es etwas gebe, das nur ihn charakterisiere. Etwas, was er nur von sich sagen könne. Etwas, das ihn in seinen eigenen Augen definiere. Munk, der die ganze Zeit, wie er es sich vorgenommen hatte, mit verschränkten Armen dagesessen hatte, legte die Hände auf die Lehnen des Sessels, auf dem er saß, und dachte mit ehrlicher Anstrengung nach.

Er hatte vorher gewusst, dass es schwierig werden würde, und war davon ausgegangen, über irgendwelche Schicksalsschläge in seiner Kindheit berichten zu müssen. Aber mit diesen Fragen hier hatte er nicht gerechnet. Sie waren zumindest scheinbar von einer derartigen Banalität, dass er sich darüber ärgerte, sie nicht zackig beantworten zu können. Schließlich senkte er den Blick und fing an zu weinen, vollkommen gegen seinen Willen. Es war reine Trauer darüber, sich selbst nicht genug zu kennen, um auf diese einfachen Fragen Auskunft geben zu können.

Dabei ahnte er, dass es sich um eine Art therapeutischen Taschenspielertrick handelte. So konnte man vermutlich viele Patienten aus der Reserve locken, jedenfalls jene, die sich halb totgearbeitet hatten, damit sie sich nicht mit sich selbst beschäftigen mussten. Natürlich konnten die alle gar nichts von sich mitteilen. Nur von ihrer Funktion. Vermutlich stundenlang. Aber darüber hinaus gähnte Dr. Grenzmann wahrscheinlich in jeder zweiten Gesprächsstunde ein tiefes Nichts an.

Da Munk nichts Brauchbares äußerte, sagte Grenzmann, dass er bei der Aufzählung seiner Funktionen nichts von einer Partnerin oder einem Partner gesagt habe. Weil er keine habe, sagte Munk etwas düster. Die letzte Beziehung sei seit einiger Zeit beendet, es habe sich danach noch nichts Neues ergeben. Die Frage, ob er schon einmal verheiratet gewesen sei und ob er Kinder habe, verneinte Munk und fügte hinzu, auch dies habe sich nicht ergeben. Ob er das bedauere, fragte Grenzmann und Munk sagte, er sei sich nicht sicher. Aber vielleicht schon. Jetzt. Früher nicht.

Wie er in Beziehungen sei, war die nächste Frage. Munk sah sich im Raum um, als ob da jemand wäre, der ihm bei der Antwort helfen könnte, und sagte, er habe sich immer große Mühe gegeben, ein untadeliger Mensch zu sein. Das sei ihm so mitgegeben worden. Vor allem vom Vater. Grenzmann schien das zu gefallen. Er fragte, was der Vater ihm da so im Einzelnen beigebracht habe, und Munk bemerkte, dass er sich dem Therapeuten zu weit geöffnet hatte. Aber nun war es zu spät und er erzählte von seinem Vater. Eine Stunde lang. Oder länger. Am Ende war ihm, als habe er sich Blutstropfen aus dem kleinen Finger gedrückt. Man sticht hinein und zwingt einen Tropfen nach dem anderen heraus, bis der Finger klopft und man denkt, es sei kein bisschen Blut mehr im Körper. Dabei hat man nicht einmal einen Fingerhut gefüllt.

Am Ende verabschiedete Grenzmann seinen Patienten mit einer Aufgabe. Er solle sich über die Beziehungen seines Lebens Gedanken machen und eine Aufstellung der wichtigsten Personen anfertigen.

Dieser Auftrag ärgerte Munk. Er war diesem fremden Mann viel zu weit entgegengekommen. Er hatte sich zu schnell von den verschränkten Armen verabschiedet, sich auf fahrlässige Art einem Menschen geöffnet, dessen Absichten er nicht durchschaute. Ohne schuldig zu sein, dachte er darüber nach, in welcher Weise man seine Äußerungen später gegen ihn würde verwenden können, auch wenn er nicht wusste, aus welchem Grund das geschehen könnte.

Auch am zweiten Abend an der Bar keine einzige Osteuropäerin, sondern bloß erloschene Leistungsträger mit Gemüsesaft-Schnurrbärten. Munk stellte mit einem gemeinen Behagen fest, dass die meisten weit weniger gut dastanden als er. Lauter bleiche, mehrheitlich kahle und übergewichtige Sitzsäcke, geboren, um in einer Vorstandssitzung zu sterben. Doch dann stellte er fest, dass diese Leute, soweit sie ihre Erkrankungen aufgrund ihres Lebenswandels erworben hatten, ihm eigentlich etwas voraushatten, nämlich ein ausschweifendes oder zumindest ungesundes Leben. Er hingegen bewegte sich regelmäßig, ernährte sich weitgehend zuckerfrei, trank mäßig und hatte das Rauchen schon lange eingestellt – und saß trotzdem mit diesen Bademantelgestalten an der Bar eines Luxushotels, um sich als jüngster unter den Gästen von einem Herzinfarkt zu erholen. Der Distinktionsgewinn, den er gerade noch lächelnd verzeichnet hatte, schrumpfte bei dieser Erkenntnis rapide und verschwand endgültig, als der Mann neben ihm, Besitzer und Leiter eines globalen Marktführers für irgendwas mit Kabeln, ausführte, dass er bereits den dritten Infarkt hinter sich habe, und dies als Beleg für ein korrekt gelebtes Leben bezeichnete.

Danach besuchte Munk die Bar eine Weile nur noch, um sich seinen Abendcocktail aus Gemüse und exotischem Obst abzuholen und diesen dann in seiner Suite zu trinken. Er verbrachte zwei Tage mit einer Liste, auf welche er die wichtigsten Beziehungen seines Lebens notierte. Das fiel ihm schwer, weil er nicht wusste, nach welchen Kriterien er vorgehen sollte. Zählte neben seinen Eltern auch seine Schwester? Musste man dabei Höflichkeitskonventionen einhalten? Was war mit dem Physiklehrer, den er immer gemocht und inspirierend gefunden hatte, der ihm jedoch in der Abiturprüfung nur ein »befriedigend« zugestanden hatte? Was mit seinem in Schulzeiten besten Freund Ralf, zu dem er den Kontakt lange verloren hatte? Die Liste wurde immer länger. Er strich all jene, auf deren Nach- oder Vornamen er sich nicht mehr besinnen konnte, weil er fand, dass sie dann auch nicht wichtig seien. Diese Vorgehensweise erwies sich jedoch als trügerisch, je länger er darüber nachdachte. Dann trennte er sich von allen Lehrern und Lehrerinnen, weil er der Meinung war, dass es ihre Pflicht gewesen sei, eine große Rolle zu spielen. Sie seien berufsmäßig von Einfluss auf junge Menschen, das müsse man rückblickend nicht gesondert erwähnen.

Am schwersten tat er sich mit seinem Vater. Der hatte in vielerlei Hinsicht eine wichtige Funktion für Peter Munk gehabt. Nur wollte er dieses bigotte Schwein nicht mit einem Listenplatz ehren.

Munk hatte sich während seiner ganzen Kindheit und Jugend und weit darüber hinaus an seinem Vater abgearbeitet. Auch in der ersten Stunde mit dem Therapeuten Grenzmann war es weitgehend um Hermann Munk gegangen. Im Grunde wollte Munk immer nur diesen Felsen von einem Vater, dieses Gebirge von Macht und Blödheit, von ausgekochter Niedertracht und gemeingefährlicher Skrupellosigkeit hinter sich lassen. Dabei verdankte er diesem Vater seinen Beruf, in dem er so außerordentlich gut war. Letzteres womöglich gerade wegen seines Hasses auf den Bauunternehmer Hermann Munk.

In den Augen seines Sohnes war Munk senior maßgeblich für in Beton, Stein und Mörtel gegossene Scheißhaufen verantwortlich. Die Bauunternehmung Munk und Partner hatte über einen Zeitraum von dreißig Jahren großkotzige Verwaltungsgebäude und Firmensitze, stilbildend abweisende Ämter und Gerichtsgebäude, mehrere Gefängnisse und weitere Zweckbauten errichtet. Allesamt traumatische Zeugnisse der Großmannssucht von Auftraggebern und der ausführenden Baufirma. Wobei Hermann Munk in Wahrheit keine Partner hatte. Schließlich hätte er niemanden neben sich geduldet. Der Zusatz »und Partner« war von ihm gewählt worden, um seine Unternehmung größer erscheinen zu lassen. Ein symptomatisches Handeln für einen, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, möglichst viel Fläche mit hässlichen Bauten zu versiegeln.

Nachdem Hermann Munk die meisten Konkurrenten in der Umgebung weggebissen hatte, verlegte er sich darauf, Komplettangebote zu machen, in welchen er sich nicht nur für den Bau eines Unternehmenssitzes bewarb sondern auch sämtliche Entwurfsplanungen anbot. Auf diese Weise wuchs Munk und Partner zu einem wahren Baumonstrum heran, weil Kommunen, aber auch Firmen, gerne Geld sparten, indem sie so viele Gewerke wie möglich an einen Anbieter vergaben. Munk war günstig, seine Gebäude gerieten grauenhaft; ein Urteil, welches auch in der späteren Betrachtung von Fachleuten nicht revidiert wurde. Während zum Beispiel der Brutalismus ein Auf und Ab der Wertschätzung erlebte und mal als furchtbar und dann wieder als eklektizistischer Glücksfall der Architekturmoderne angesehen wurde, blieben Vater Munks Gebrauchshäuser immer, was sie von ihrer Fertigstellung an waren: Monumente unerbittlicher Verachtung von Mensch und Natur.

Hermann Munk lehnte es grundsätzlich ab, die Hervorbringungen seiner Baufirma zu diskutieren, zumal sie ihn steinreich machten. Außerdem befand er sich seiner Meinung nach stets auf der richtigen Seite der Moral, nämlich auf jener des Protestantismus, demzufolge das ganze Leben ein einziges Jammertal sei, welchem zu entrinnen nur durch fleißige und nie infrage gestellte Arbeit möglich sei. Seine Familie überzog er mit endlosen paternalistischen Monologen, einem Trommelfeuer erzprotestantischer Sorte, das er als Laienprediger auch der kleinen Gemeinde, der er angehörte, zuteilwerden ließ.

Peter Munk hasste seinen Vater aber nicht dafür, sondern für dessen Heuchelei, die man niemals in Einklang mit welchen Werten auch immer bringen konnte. Zwölfjährig ertappte er seinen Vater mit einer anderen Frau, es war wohl eine Angestellte, aber der Junge erkannte sie nicht, sondern nur den blassen Hintern des Vaters, der hinter der Frau an seinem Schreibtisch stand. Ein gutes Dreivierteljahr später hatte die Familie ein neues Kind. Ohne dass Mutter Munk sichtbar schwanger gewesen wäre, bekam Peter eine Schwester. Man konnte es für ein Wunder halten. Oder für eine Form von Adoption, die jedoch niemals thematisiert wurde. Dass seine Schwester eine andere Mutter hatte als er selbst, stand völlig außer Zweifel. Diese Frau tauchte nie wieder auf und Hilde Munk zog Annegret als Tochter auf, ohne jemals eine Silbe darüber zu verlieren, dass diese nicht ihr Kind war. Obwohl jeder es wusste.

Für Peter Munk war das verstörend und als er alt genug war, um gegen das Ungeheuer in den Krieg zu ziehen, konfrontierte er es mit seiner Zeugenschaft. Er stand vor dem riesigen Schreibtisch, auf dem sich leicht eine weibliche Person mit dem Kopf nach unten ablegen ließ, und sagte seinem Vater, was er gesehen hatte. Doch Hermann Munk stritt ab, er leugnete, er predigte, und als sein Sohn ihm auf den Kopf zusagte, dass er ihn für einen versauten Lügner hielt, schlug der ihm mit der flachen Hand so hart ins Gesicht, dass Peters Brille quer über jenen Schreibtisch flog. Dann bot der Vater dem Sohn eine Art Waffenstillstand an, indem er ihm in Aussicht stellte, den Laden einmal zu übernehmen, wenn er sich ehrenvoll verhielt. Aber Peter suchte seine Brille, setzte das verbogene Stück auf seine Nase und verließ das Arbeitszimmer seines Vaters, das er erst wieder nach dessen Tod betrat, genauer gesagt, nachdem die Entrümpler es leer geräumt hatten. Der verdammte Schreibtisch lag danach in einem Bauschuttcontainer und am liebsten hätte der junge Munk ihn noch mit Benzin übergossen und angezündet. Die Firma löste er auf, seine zu allem schweigende Mutter hatte dagegen keine Einwände.