Muse of Nightmares - Laini Taylor - E-Book
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Muse of Nightmares E-Book

Laini Taylor

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Beschreibung

Beide "Muse of Nightmares"-Hardcover-Bände in einem Paperback vereint

Gerade noch war Lazlo der unscheinbare Bibliothekar aus Zosma, der von der Verborgenen Stadt Weep träumte. Jetzt hängen die Hoffnungen all ihrer Bewohner an ihm, und der junge Mann steht vor einer unmöglichen Entscheidung: Entweder er rettet die Liebe seines Lebens - oder alle Bewohner von Weep. Sein Gegner ist unberechenbar, und ohne die Hilfe von Sarai kann er ihn nicht bezwingen. Doch ist die Liebe, die zwischen der Muse der Albträume und dem Bibliothekar wächst, stark genug, um alle Hindernisse zu überwinden?

Bestseller-Autorin Laini Taylor lädt in ihren Büchern voller Mythen, Traumwelten und großer Gefühle zum Wegträumen ein

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Seitenzahl: 759

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Inhalt

Cover

Weitere Titel

Titel

Impressum

Widmung

Teil I

1 Juwelen und Rebellion

2 Ungewohnte Schrecken

3 Käferpanzeraugen

4 Gegen das Unmögliche

5 Stechen und Ziehen

6 Monster

7 Irrlicht

8 Blutende Straßen

9 Die Garderobe eines Gottes

10 Geister sind nicht brennbar

11 Kannibalen und Jungfrauen

12 Feenlicht und Verlegenheit

13 Zähne

14 Figuren auf dem Zwingerbrett

15 Eine Teepause vor dem Ende der Welt

Teil II

16 Von den Sternen

17 Ein paar hübsche Träume

18 Grau

19 Erste Geisterdämmerung

20 Jede Menge Gefühle

21 Aus einer langen Ahnenreihe verschnupfter Nasen

22 Wollt ihr auch sterben?

23 Rote Finger

24 Blaues Gulasch

25 Isagols zerbrochenes Spielzeug

26 Schwindelschnelle Götterbrut

27 Die Lebenden und die Geister

Teil III

28 Verborgene Talente

29 Waberndes Nichts

30 Ein Festschmaus aus Traumtorten

31 Ein bissiger Geist

32 Bruchstellen

33 Unbetrauert

34 Schinkenschicksal

35 Dem gleichen Schicksal geweiht

36 Nichts Besonderes

37 Todesstrafe

38 Das Meer starrte zurück

39 Verräterische Stimme

40 Ansturm

41 Nichts weniger als alles

42 Die falsche Antwort

43 Wilde Strahlkraft

44 Piratengrinsen

45 Messertanz

46 Schlagendes Herz

Teil IV

47 Ein Geheimnis mit einem Geheimnis

48 Missgeburten

49 Brave Mädchen töten nicht

50 Hinter der Geschichte

51 Fröhliche Reise

52 Furcht ist eine fahlblonde Göttin

53 Ein Geschöpf voller Leerstellen

54 Zur verflixten Hölle

55 Friede, Freude, Honigtörtchen

56 Piraten der Verschlingenden See

57 Ungläubig euphorisch entsetzt

58 Ein letzter Wunsch

59 Ein Spiel, das niemand durch Töten gewann

60 Dünnes Eis

61 Flaschenpost

62 Wer es weiß

Teil V

63 Wenn es keine Drachen gäbe

64 Eine neue Generation von Wünschen

Epilog

Danksagung

Weitere Titel der Autorin:

Strange the Dreamer

Laini Taylor

Aus dem amerikanischen Englischvon Ulrike Raimer-Nolte

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Muse of Nightmares – Das Geheimnis des Träumers« &»Muse of Nightmares – Das Erwachen der Träumerin

Copyright © 2018 by Laini Taylor

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Muse of Nightmares«

Originalverlag: Little, Brown and Company; Hachette Book Group

This edition published by arrangement with Little, Brown and Company,New York, New York, USA. All rights reserved.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Cover: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung eines artwork von Evie Seo

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7517-1648-2

www.one-verlag.de

www.luebbe.de

Für meine Mom

Teil I

Elilith (gespr.: El∙lil∙lith), Subst.

Tätowierung rund um den Nabel; in der Stadt Weep erhalten Mädchen das Symbol, sobald sie zu Frauen werden.

Archaisch; abgeleitet von Eles (das Ich) & Lilithai (Schicksal); gemeint ist der Zeitpunkt, an dem eine Frau ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt und entscheidet, welchen Weg ihr Leben einschlagen soll.

1Juwelen und Rebellion

Kora und Nova hatten die Mesarthim noch nie gesehen, aber sie wussten alles über sie. So wie jeder. Sie wussten Bescheid über ihre Hautfarbe. »Blau wie Saphire«, sagte Nova, obwohl die beiden noch nie einen Saphir gesehen hatten. »Blau wie Gletschereis«, sagte Kora. Davon gab es genug, und man hatte es die ganze Zeit vor Augen. Außerdem wussten die beiden, dass Mesarthim ein Wort für ›Diener‹ war, allerdings nicht vergleichbar mit gewöhnlichen Mägden und Knechten. Sie waren die Zauberkrieger des Imperiums. Sie konnten fliegen oder Feuer speien, Gedanken lesen, sich in Schatten und wieder zurück verwandeln. Sie kamen und verschwanden durch Schnitte im Himmel. Sie konnten Wunden heilen, ihre Gestalt verändern, unsichtbar werden oder voraussagen, wie jemand sterben würde. Sie hatten kriegerische Gaben von unglaublicher Stärke. Natürlich nicht alles gleichzeitig. Jeder besaß nur ein einziges Talent, das dem Zufall überlassen war. Es war einfach da, schlummerte in jedem Einzelnen, so wie Kaminglut auf einen Windhauch wartet. Aber damit es aufflammen konnte, musste man zu den wenigen Gesegneten gehören, die das Glück hatten, erwählt zu werden.

So wie Koras und Novas Mutter erwählt worden war, an dem Tag vor sechzehn Jahren, als die Mesarthim das letzte Mal nach Rieva gekommen waren.

Damals waren die Mädchen noch im Wiegenalter gewesen, also erinnerten sie sich nicht an die blauhäutigen Diener und das schwebende Himmelsschiff aus Metall. Auch an ihre Mutter erinnerten sie sich nicht, denn die Mesarthim nahmen sie mit sich fort, damit sie eine von ihnen wurde. Sie kehrte nie zurück.

Früher einmal hatte sie Briefe aus Aqa, der Hauptstadt des Imperiums, geschickt. Dort waren, wie sie schrieb, die Menschen nicht nur weiß oder blau, sondern von jeder erdenklichen Farbe, und der kaiserliche Palast aus Göttermetall schwebte schwerelos von Ort zu Ort. Meine Lieblinge, hatte in ihrem letzten Brief vor acht Jahren gestanden, mein Trupp schifft aus, und ich weiß nicht, wann ich zurückkommen werde. Sicherlich seid ihr bis dahin erwachsene Frauen. Kümmert euch an meiner Stelle umeinander, und seid gewiss, gleichgültig was man euch erzählt: Hätte man mir die Wahl gelassen, dann hätte ich mich für euch entschieden.

Ich hätte mich für euch entschieden!

Im Winter erhitzten die Bewohner von Rieva flache Steine im Feuer und steckten sie zwischen die Felle auf den Schlaflagern, obwohl sie nachts schnell abkühlten und hart unter den Rippen lagen, wenn man aufwachte. Nun, diese sechs Worte kamen Kora und Nova vor wie Bettsteine, die nie ihre Wärme verloren oder blaue Flecken verursachten. Die beiden trugen sie überall mit sich herum. Oder besser gesagt, sie trugen sie zur Schau. Wie kostbare Juwelen. Wie eine jugendliche Rebellion. Wir werden geliebt stand auf ihren Gesichtern geschrieben, wann immer sie ihre Stiefmutter Skoyë niederstarrten oder sich weigerten, angstvoll vor ihrem Vater zu kuschen. Briefe anstelle einer Mutter, das war nicht viel. Und inzwischen blieb ihnen nur die Erinnerung, denn Skoyë hatte die Nachrichten ihrer Mutter ›aus Versehen‹ ins Feuer geworfen. Aber sie hatten auch einander. Kora und Nova: Gefährtinnen. Verbündete. Schwestern. Sie waren so unzertrennlich wie das Reimpaar eines Gedichts, das jede Bedeutung verliert, wenn man es aus dem Zusammenhang reißt. Ihre Namen hätten genauso gut zu einem einzigen verschmelzen können – Koraundnova –so selten wurden sie getrennt genannt. In diesen Ausnahmefällen wirkten die Mädchen unvollständig wie die zwei Hälften einer Muschel, deren Schale aufgebrochen ist. Jede war für die andere Seele und Heimat. Auch ohne Magie konnten sie die Gedanken der anderen lesen, dazu reichten flüchtige Blicke. Ihre Wünsche und Hoffnungen ähnelten sich wie eineiige Zwillinge, auch wenn sie selbst keine waren. Sie standen entschlossen Seite an Seite und blickten gemeinsam in die Zukunft. Was immer das Leben ihnen zumuten mochte, mit welchen Mängeln ihr Schicksal auch behaftet war, wenigstens wussten sie, dass sie einander hatten.

Und dann kamen die Mesarthim zurück.

*

Nova entdeckte sie als Allererste. Sie stand am Meeresstrand und hatte sich gerade aufgerichtet, um sich die Haare aus den Augen zu wischen. Dazu musste sie den Unterarm benutzen, denn in einer Hand hielt sie ihren Fischhaken und in der anderen das Speckmesser. Ihre Finger hatten sich klauenartig um die Griffe gekrampft. Nova war bis zu den Ellbogen wie ein einziges Gemetzel. Sie spürte, wie halb getrocknetes Blut eine klebrige Spur hinterließ, als sie mit dem Arm über ihre Stirn wischte. Dann glitzerte etwas am Himmel, und sie blickte suchend in die Höhe.

»Kora«, sagte sie.

Aber Kora hörte sie nicht. Ihr verschmiertes Gesicht glich einer stumpfen blassen Maske. Nur so ließ sich die Arbeit ertragen. Ihr Messer säbelte vor und zurück, doch ihre Augen waren blicklos, als hätte sie ihr Bewusstsein an einem angenehmeren Ort verstaut, da sie es für diese grässliche Tätigkeit nicht brauchte. Der Kadaver eines Uul türmte sich halb zerlegt zwischen den beiden auf. Über den Strand verstreut lagen Dutzende weitere Kadaver, an denen krumm gebeugte Gestalten herumsäbelten. Blut und Tran verklebten den Sand. Kreischend und flatternd kämpften Cyr um Gedärme, und das Flachwasser brodelte vor Dornenfischen und Greifschnabelhaien, die von dem süßlich-salzigen Gestank angelockt wurden.

Es war Schlachtsaison, die schlimmste Zeit des Jahres auf der Insel Rieva ... zumindest für Frauen und Mädchen. Für Männer und Jungen hingegen war es ein Genuss. Sie schwangen keine Fischhaken und Speckmesser, sondern Speere. Wenn sie ihre Beute erlegt hatten, schnitten sie die Stoßzähne ab, um daraus Trophäen zu schnitzen, und ließen den Rest einfach liegen. Für die Schlachtarbeit war das Weibsvolk zuständig, auch wenn dafür mehr Muskeln und Durchhaltevermögen nötig waren als fürs Töten. »Unsere Frauen sind stark«, prahlten die Männer auf dem Hochland des Kaps, wo sie vor Gestank und Fliegen sicher waren. Und stark waren sie tatsächlich. Außerdem waren sie ausgelaugt, grimmig, verbissen, zitternd vor Anstrengung und besudelt mit jeder denkbaren Körperflüssigkeit, die aus einem toten Körper tropfen konnte. So wie Nova, als ihr das ferne Glitzern ins Auge stach.

»Kora«, sagte sie erneut, und diesmal schaute ihre Schwester hoch, folgte ihrem Blick und starrte ebenfalls in den Himmel.

Fast war es, als hätte Nova nicht wirklich verarbeiten können, was sie dort sah. Doch sobald Koras Blick auf das Objekt fiel, durchfuhr beide der gleiche freudige Schreck.

Dort war ein Himmelsschiff.

Was bedeutete: Mesarthim.

Was wiederum bedeutete ...

Ein Fluchtweg. Fort vom ewigen Eis, von den Uuls und der Schinderei. Von Skoyës Tyrannei, der Gleichgültigkeit ihres Vaters und neuerdings – dringlich – fort von den Männern. Im Laufe des letzten Jahres hatten die Männer des Dorfes angefangen, im Vorübergehen stehen zu bleiben und zwischen Kora und Nova hin- und herzuschauen, als würden sie ein Huhn zum Schlachten aussuchen. Kora war siebzehn, Nova sechzehn. Ihr Vater konnte sie verheiraten, wann immer es ihm gefiel. Sein einziger Hinderungsgrund war bisher, dass Skoyë keine Lust hatte, auf ein Paar Arbeitssklavinnen zu verzichten. Die beiden verrichteten den Großteil der häuslichen Pflichten und hüteten auch noch die Horde ihrer kleinen Halbbrüder. Aber Skoyë konnte sie nicht ewig für sich behalten. Mädchen waren ›Gaben des Himmels, die es zu verschenken, nicht zu behalten galt‹. Tatsächlich waren sie eher wie Zuchtvieh zum Verkauf bestimmt, wie jeder Vater einer begehrenswerten Tochter in Rieva wusste. Kora und Nova waren hübsch, mit flachsblonden Haaren und strahlend braunen Augen. Ihre schmalen Handgelenke ließen die Kraft darin höchstens erahnen. Obwohl ihre Körperformen unter Schichten von Wolle und Uul-Leder gut verborgen waren, ließen sich Hüften schwerlich verstecken. Ihre Kurven waren sicherlich geeignet, um ein Bettlager warm zu halten, und außerdem waren sie bekannt dafür, hart zu arbeiten. Also würde es nicht mehr lange dauern. Spätestens zu Tiefwinter, wenn der Monat der Dunkelheit begann, würden sie verheiratet sein. Sie würden nicht länger zusammenleben, sondern im Haus des Mannes, der ihrem Vater das beste Kaufangebot gemacht hatte.

Am schlimmsten war nicht einmal, dass man sie trennen würde oder dass sie keineswegs den Wunsch hatten, Ehefrauen zu werden. Viel schlimmer war das nahende Ende ihrer gemeinsamen Lüge.

Das hier ist nicht unser Leben.

Solange sie sich erinnern konnten, hatten sie einander von einer besseren Zukunft erzählt, manchmal mit Worten, manchmal wortlos. Ein Blick zwischen ihnen hatte genügt, um überdeutlich auszusprechen, was sie dachten. Wann immer sie an einem Tiefpunkt angelangt waren – wenn zur Schlachtzeit ein Kadaver den nächsten ablöste, wenn Skoyë sie schlug, wenn die Essensvorräte früher endeten als die Winterzeit –, schürten sie ihre Lüge wie ein Herdfeuer. Das hier ist nicht unser Leben. Denk daran, wir gehören nicht hierher. Die Mesarthim werden zurückkommen und uns erwählen. Das hier ist nicht unser Leben. Ganz gleich, wie schlimm alles wurde, daran konnten sie sich klammern und durchhalten. Wären sie allein gewesen, ein Mädchen statt zwei, wäre die Lüge schon lange erloschen wie eine Kerzenflamme, die eine Kinderhand allein vorm Wind abschirmt. Aber sie waren nun einmal zu zweit und hauchten ihr immer wieder neues Leben ein. Sie liehen einander Hoffnung, sahen ihren Glauben in der anderen widergespiegelt, nie allein, nie ganz besiegt.

Nachts flüsterten sie einander zu, welche Gaben wohl in ihnen schlummerten. Mächtige, wie bei ihrer Mutter, da waren sie sicher. Sie waren dazu bestimmt, Zauberkriegerinnen zu werden, keine schuftenden Eheweiber, keine rechtelosen Töchter, und das Schicksal würde sie im Handumdrehen fort nach Aqa wirbeln. Dort würden sie das Kämpfen lernen, Göttermetall auf der Haut tragen, und eines Tages ebenfalls mit ihrem Trupp ausschiffen, durch einen Schnitt im Himmel, um Heldinnen des Imperiums zu werden, Blau wie Saphire und Gletschereis, makellos schön wie die Sterne.

Doch die Jahre vergingen, keine Mesarthim erschienen, und die Lüge zog sich in die Länge, bis sie immer durchscheinender wurde. Wenn sich die Blicke der beiden nun begegneten und nach der Hoffnung suchten, die sie gemeinsam nährten, entdeckten sie stattdessen wachsende Furcht. Was, wenn das hier doch unser Leben ist?

Jedes Jahr erkletterten Kora und Nova am Tiefwinterabend den eisig glatten Kliffweg, um kurz die Sonne auftauchen zu sehen, die danach einen Monat lang nicht wiederkehren würde. Der Verlust ihrer Lebenslüge war wie das Verschwinden der Sonne. Nicht für einen Monat, sondern für immer und ewig.

Und daher war der Anblick des Himmelsschiffs ... Es war, als würde das Licht zurückkehren.

Nova stieß einen Jubelschrei aus. Kora lachte vor Freude und Erleichterung, konnte sich aber einen Tadel nicht verbeißen. »Ausgerechnet heute?«, rief sie dem Schiff am Firmament entgegen. Ihr Gelächter perlte wunderbar über das Strandufer. »Wirklich?«

»Ihr hättet nicht schon letzte Woche kommen können?«, rief Nova und warf lachend den Kopf zurück, die Worte genauso freudig, erleichtert und mit rügendem Unterton wie bei ihrer Schwester. Sie beide waren klebrig vor Schweiß, stanken nach Blut und Innereien, hatten rote Augen von den scharfen Dünsten der Gedärme. Und ausgerechnet jetzt kamen die Mesarthim? Den ganzen Strand entlang, zwischen den ausgehöhlten, triefenden Körperhülsen halb ausgeweideter Tiere und Wolken von Stechfliegen, schauten nun auch die übrigen Frauen in die Höhe. Die Messer kamen zur Ruhe. Die leeren, abgestumpften Gesichter der Schlachterinnen füllten sich mit Ehrfurcht, als das Schiff näher schwebte. Es war aus dem Göttermetall gefertigt, strahlend blau und spiegelblank, fing die Sonne ein und brannte ein Funkenmuster in ihre Pupillen.

Welche Form die Himmelsschiffe der Mesarthim annahmen, wurde von den Gedanken ihrer Kapitäne bestimmt, und dieses glich einer riesigen Wespe. Die Flügel waren scharf wie Messerklingen, der Kopfteil ein spitzes Oval mit zwei großen Rundungen als Augen. Der Insektenrumpf war in einen Brust- und Bauchbereich unterteilt, den eine schmale Taille verband. Das Schiff hatte sogar einen Stachel. Es flog über sie hinweg, steuerte auf das Hochland des Kaps zu, und verschwand hinter den Felsbrocken, die als Windschutz das Dorf umzäunten.

Den beiden Schwestern klopften die Herzen bis zum Hals. Sie waren wie berauscht, zitterig vor Aufregung, Nervosität, Ehrfurcht und Hoffnung, weil sie trotz allem Recht behalten hatten. Mit Schwung versenkten sie die Speckmesser und Fischhaken im Uul und lösten ihre klammen Finger von den abgenutzten Schäften. Beide wussten, dass sie nicht zurückkommen würden, um ihr Werkzeug wieder einzusammeln.

Das hier ist nicht unser Leben.

»Was tut ihr da?«, fauchte Skoyë, als sie auf die Dünung zustolperten.

Die beiden ignorierten ihre Stiefmutter und ließen sich im Flachwasser auf die Knie sinken, um sich das eisige Nass über die Köpfe zu schütten. Der Meeresschaum war rostrot, Knorpelfetzen und Fett dümpelten auf den Wellen, aber der Spülsaum war immerhin sauberer als sie selbst. Sie schrubbten sich Haut und Haare, zuerst allein und dann gegenseitig. Dabei sahen sie sich vor, dass sie nicht zu tief ins Wasser gerieten, wo die Haie und Dornenfische um Platz rangen.

»Zurück an die Arbeit, ihr zwei!«, schimpfte Skoyë. »Ihr seid noch nicht fertig.«

Sie starrten ihre Stiefmutter ungläubig an. »Die Mesarthim sind hier«, sagte Kora, und das Wunder ließ ihre Stimme ganz warm klingen. »Sie werden uns testen wollen.«

»Nicht, bevor ihr mit dem Uul fertig seid. Bildet euch das gar nicht erst ein.«

»Mach die Arbeit doch selbst«, sagte Nova. »Dich brauchen sie schließlich nicht zu sehen.«

Skoyës Miene wurde noch säuerlicher. Sie war Widerworte nicht gewohnt, und außerdem hatte sie den Unterton von Novas Antwort deutlich vernommen. Skoyë war vor sechzehn Jahren getestet worden, und die Mädchen kannten das Ergebnis. Damals war jeder einzelne Bewohner von Rieva getestet worden, Wickelkinder ausgenommen, aber es hatte nur eine Auserwählte gegeben: Nyoka, ihre Mutter. Sie besaß eine Kriegsgabe von umwerfender Macht. Buchstäblich umwerfend, denn sie konnte Schockwellen aussenden, durch den Boden oder die Luft. Das Erwachen ihrer Gabe hatte das ganze Dorf zum Erbeben gebracht und einen Erdrutsch ausgelöst, unter dem der Pfad zu den stillgelegten Minen vergraben worden war.

Prinzipiell war Skoyës Talent ebenfalls eine Kriegsgabe, aber von lachhafter Stärke. Sie konnte das Gefühl piksender Nadeln hervorrufen ... zumindest für die kurze Dauer des Tests. Nur die Auserwählten durften ihre aktiven Gaben behalten und zwar ausschließlich im Dienst des Imperiums. Alle anderen mussten sich damit abfinden, wieder zu ihrem normalen Ich zu verblassen. Wertlos. Machtlos. Farblos.

Erbost holte Skoyë mit der Hand aus, um Nova eine Ohrfeige zu verpassen, aber Kora fing ihren Arm ab. Dabei sagte sie kein Wort. Sie schüttelte nur den Kopf. Skoyë riss sich los, und ihre Fassungslosigkeit war fast so groß wie ihre Rage. Die Mädchen hatten sie schon immer zu rasender Wut reizen können. Nicht durch Ungehorsam, sondern allein durch ihre Ausstrahlung: als wären sie unberührbar, über die Dorfbewohner erhaben, als würden sie aus unverschämter Höhe auf alle anderen herabschauen, obwohl sie dazu kein Recht hatten. »Ach, ihr glaubt wohl, man wird euch erwählen, nur wegen ihr!«, stieß sie hervor. Skoyë hätte vor Wut spucken können. Nyoka. Die perfekte Nyoka. Nicht genug, dass man sie auserwählt und von diesem höllischen, vereisten Inselfelsbrocken im Nirgendwo gepflückt hatte. Nein, sie blieb natürlich trotzdem allgegenwärtig. Im Herzen des Ehemanns, in den Tagträumen der Töchter und in den wohlwollenden Erinnerungen aller anderen. Nyoka war entkommen und durfte gleichzeitig als falsches Idealbild fortbestehen, für immer und ewig die hübsche junge Mutter, die zu Höherem berufen worden war. Skoyë kräuselte höhnisch die Lippen. »Bildet ihr euch ein, ihr seid besser als der Rest von uns? Oder dass sie es war?«

»Oh ja«, zischte Nova auf die erste Frage. »Ja und noch mal ja«, auf die zweite und dritte. Ihre Zähne waren gefletscht. Am liebsten hätte sie zugebissen. Aber Kora ergriff ihre Hand und zog sie fort, dem Fußpfad entgegen, der sich die Felsenhöhe emporwand. Sie strebten nicht als Einzige darauf zu. Auch alle übrigen Frauen und Mädchen hatten sich auf den Weg hinauf ins Dorf gemacht. Schließlich waren Fremde zu Besuch. Rieva befand sich am untersten Ende des Globus. Hätten Welten einen Abfluss für Dreckwasser, läge er genau hier. Fremde waren so selten wie vom Sturm verwehte Schmetterlinge, und diese waren noch dazu Mesarthim. Ein solches Schauspiel wollte niemand verpassen, selbst wenn die Uuls dafür am Strand verrotteten.

In der Luft lagen erregtes Geplauder, unterdrücktes Gelächter, fiebriges Stimmensurren. Von den anderen hatte sich keine um eine hastige Wäsche bemüht. Natürlich konnte man Kora und Nova nicht gerade als sauber bezeichnen, aber immerhin waren ihre Hände und Gesichter vom Schrubben frisch gerötet. Die salzfeuchten Haare hatten sie sich ordentlich mit den Fingern zurückgekämmt. Alle übrigen waren schmierig, fettig, voller dunklem Blut, und hielten teilweise sogar noch ihre Fischhaken und Messer umklammert.

Sie wirkten wie ein mordlüsterner Schwarm, der surrend aus einer Bienenwabe quoll.

Als sie das Dorf erreichten, stand das Wespenschiff mitten auf dem freien Platz. Die Männer und Jungen hatten sich darum geschart, und die Blicke, die sie ihren Frauen zuwarfen, waren voller Abscheu und Scham. »Ich bitte um Entschuldigung für den Geruch«, sagte der Dorfälteste Shergesh zu den geehrten Besuchern.

Und so sahen Kora und Nova die Mesarthim zum ersten Mal – oder vielleicht zum zweiten, denn vor sechzehn Jahren mussten sie als Babys in den Armen von Nyoka gelegen haben, während das Leben ihrer Mutter genau an diesem Platz eine radikale Wendung nahm.

Die Mesarthim waren zu viert, drei Männer und eine Frau. Sie waren tatsächlich so blau wie Gletschereis. Falls die Mädchen noch einen Rest von Hoffnung gehegt hatten, dass ihre Mutter sich unter ihnen befand, starb diese nun. Nyoka hatte genauso hellblondes Haar gehabt wie ihre Töchter. Diese Frau hingegen hatte schwarze Ringellocken. Was die Männer betraf, so war einer hochgewachsen mit geschorenem Kopf, und einem hingen dicke weiße Zöpfe bis zur Taille. Der letzte in der Reihe wirkte durchschnittlich, abgesehen von der blauen Haut. Zumindest auf den ersten Blick – braune Haare und ein unscheinbares Gesicht. Er war weder groß noch klein, weder schön noch hässlich, und dennoch hatte er etwas an sich, das den Blick gewaltsam auf sich zog und ihn von seinen Kameraden abhob. Vielleicht seine breitbeinige Haltung und das arrogant gehobene Kinn?

Ohne sichtbaren Grund war Kora und Nova sofort klar, dass er der Kapitän sein musste, der das Göttermetall zu einem Wespenkörper geformt und das Schiff hierher geflogen hatte. Er war der Schmied.

Von allen Gaben der Mesarthim – und es gab unzählige, die sich immerzu in weitere Mutationen ausfächerten und ein stetig wachsendes Register der Magie bildeten – stand nur eine an oberster Stelle. Jedes Neugeborene auf Mesaret besaß ein schlummerndes Talent, das erweckt wurde, wenn man das seltene blaue Element Mesarthium berührte, das auch Göttermetall genannt wurde. Doch nur eine Handvoll unter Millionen besaß die wertvollste Gabe: Diese wenigen vermochten das Göttermetall zu beeinflussen. Sie konnten das Mesarthium bearbeiten, so wie sonst ein gewöhnlicher Schmied mit gewöhnlichem Metall hantierte. Deshalb nannte man sie Schmiede, obwohl sie weder Feuer noch Hammer und Amboss benutzten, sondern bloß die Kraft ihres Geistes. Mesarthium war das härteste aller bekannten Materialien. Es blieb völlig unbeeindruckt von Schneidewerkzeugen, Hitze oder Säure und behielt nie auch nur einen Kratzer zurück. Aber vom Geist eines Schmieds ließ es sich beliebig formen und reagierte auf seine Gedankenbefehle. Nur wer die Gabe besaß, konnte das Metall aus den Minen fördern, ihm Gestalt geben und erstaunliche Eigenschaften in ihm wecken. Die Schmiede konnten mit Mesarthium bauen, darin fliegen, sich geistig mit ihm verbinden, sodass es regelrecht lebendig wirkte.

Von dieser Gabe träumten die Dorfkinder, wann immer sie Diener spielten. Jetzt flüsterten sie sich erhitzt und eifrig zu, wie ihre eigenen Schiffe aussehen würden: geflügelte Haie, schwerelose Schlangen, metallische Greifvögel, Dämonen und Riesenrochen. Manche Vorschläge waren weniger bedrohlich: Singvögel, Libellen und Meerjungfrauen. Aoki, der zu Koras und Novas kleinen Halbbrüdern gehörte, verkündete stolz, sein Schiff würde aussehen wie ein Hintern.

»Die Tür ist dann das Po-Loch«, kiekste seine Knabenstimme, und er zeigte bei sich auf die entsprechende Stelle.

»Gütige Thakra, hoffentlich wird Aoki kein Schmied«, sandte Kora ein geflüstertes Stoßgebet an die weltenwandernde Seraphim, die sie in ihrer kleinen Felsenkirche verehrten.

Nova unterdrückte ein Lachen. »Ein fliegender Arsch als Kriegsschiff wäre wirklich furchterregend«, sagte sie. »Wenn sich herausstellt, dass ich eine Schmiedin bin, sollte ich ihm die Idee vielleicht stibitzen.«

»Nein, solltest du nicht«, sagte Kora. »Unser Schiff wird natürlich ein Uul, in zärtlicher Erinnerung an unsere Heimat.«

Diesmal konnten sie ihr Lachen nur ungenügend dämpfen, sodass ihr Vater sie hörte. Ein Blick von ihm brachte sie zum Schweigen. Darin war er wirklich gut. Sie fanden, die passende Gabe für ihn hätte gelautet: Stimmungstöter, Feind jedes Gelächters.

Tatsächlich hatte seine Testung ergeben, dass er ein Elementar war. Er konnte Objekte zu Eis gefrieren lassen, was ebenfalls zu seinem Charakter passte. Allerdings war sein Talent gering, genau wie Skoyës und das aller anderen Bewohner von Rieva ... und im Grunde von fast jedem auf der Welt. Starke Gaben waren selten. Genau deshalb wurden die Diener auch auf Reisen wie diese geschickt, testeten Leute an jedem denkbaren Ort und suchten die Nadeln im Heuhaufen, um sie in ihre Reihen aufzunehmen.

Kora und Nova wussten, dass sie zu den Nadeln gehörten. So musste es einfach sein.

Ihre heitere Laune wurde jäh fortgewischt, was nicht so sehr am strafenden Blick ihres Vaters lag, sondern an den Mienen der Diener, als diese die versammelten Frauen betrachteten ... und rochen. Sie konnten ihren Ekel kaum verbergen. Einer murmelte seinem Nachbarn etwas zu, der darauf ein kurzes harsches Lachen ausstieß, als hätte er Husten. Kora und Nova konnten es ihnen nicht einmal verdenken. Der Gestank war selbst dann grotesk, wenn man an ihn gewöhnt war. Wie musste er erst auf Leute ohne Uul-Erfahrung wirken, die nie im Leben gezwungen gewesen waren, ein solches Untier zu enthäuten oder auszuweiden? Der Gedanke war schmerzhaft, denn für die fremden Besucher waren sie beide nur Teil eines abstoßenden Menschengewühls, ununterscheidbar von den anderen. In ihren Köpfen formte sich der gleiche verzweifelte Satz. Den Schwestern war nicht klar, dass sie im selben Moment dasselbe dachten, allerdings wäre keine der beiden überrascht gewesen, hätte sie es gewusst.

Seht her, flehten sie in Richtung der Mesarthim. Ihr müsst uns sehen.

Und als hätten sie den Gedanken laut ausgesprochen, nein, als hätten sie ihn geschrien, brach einer der vier mitten im Reden ab, drehte sich um und starrte sie an.

Die Schwestern waren starr vor Schreck. Sie umklammerten gegenseitig ihre von der Arbeit steifen Finger und schauderten unwillkürlich vor seinem Blick zurück. Bei dem Mann handelte es sich um den hünengroßen Diener mit dem kahlgeschorenen blauen Haupt. Er hatte sie gehört. Offenbar war er ein Telepath. Seine Augen bohrten sich in ihre, und ... er tauchte in sie ein. Er durchstreifte sie wie ein Windhauch das Gras, blätterte ihr Innerstes auf. Er sah sie, genau wie sie es sich gewünscht hatten. Dann sagte er etwas zu der Frau, und sie wandte sich an Shergesh.

Der Dorfälteste kräuselte bei ihren Worten wenig erfreut die Lippen. »Vielleicht die Jungen zuerst ...«, setzte er an.

Doch die Frau sagte: »Nein. Ihr habt Dienerblut bei euch. Wir werden mit den beiden anfangen.«

Und so wurden Kora und Nova in das Wespenschiff geführt. Die Tür schmolz hinter ihnen zu.

2Ungewohnte Schrecken

Für Sarai waren Albträume wie die Luft zum Atmen gewesen. Seit ihrem sechsten Lebensjahr, viertausend lange Nächte, hatte sie die Träume von Weep durchschritten, Horrorvisionen gesehen und erschaffen. Sie war die Muse der Albträume. Ihre Mottenspäher hatten sich auf jeder Braue der Stadt niedergelassen, und weder Mann, Frau noch Kind waren vor ihr sicher gewesen. Sie kannte das Leid und die Scham der Menschen, ihre Ängste und Schmerzen, und sie hatte gedacht ... sie hatte mit Sicherheit geglaubt, jeder Schrecken sei ihr bekannt und nichts könne sie mehr überraschen.

Doch zu diesem Zeitpunkt hatte sie auch noch nicht in einem Blumenbeet des Zitadellengartens knien müssen, um ihren eigenen Körper zur Einäscherung vorzubereiten.

Das arme Ding lag zerbrochen zwischen weißen Blüten und ergab einen wunderhübschen Farbkontrast: blaue Haut, rosarote Seide, zimtfarbene Haare, rotes Blut.

Siebzehn Jahre lang war das hier ihr Ich gewesen. Diese Füße waren in rastlosen Kreisen über den Zitadellenboden getigert. Mit diesen Lippen hatte sie gelächelt, Motten in den Himmel geschrien und Regenwasser aus silbernen Prunkbechern getrunken.

Ihr ganzes Selbst war darin verankert, in dem Fleisch und den Knochen, die vor ihr lagen. Doch der Tod hatte sie herausgerissen und gehäutet, sodass dieser Körper nun nicht mehr war als ... ja, was? Ein Objekt. Ein Artefakt ihres beendeten Lebens. Und gleich würden sie ihn verbrennen.

Es würde immer wieder neue, ungewohnte Schrecken geben. Das wusste sie jetzt.

3Käferpanzeraugen

Letzte Nacht wäre die Zitadelle der Mesarthim beinah vom Himmel gestürzt und hätte die Stadt Weep unter sich begraben. Wer diese Tragödie überlebt hätte, wäre spätestens in den Fluten des unterirdischen Flusses Uzumark umgekommen, der sich seinen Weg an die Oberfläche gebahnt hätte.

Aber nichts davon war geschehen, denn Lazlo hatte die kolossale Zitadelle aufgefangen – Lazlo Strange, der Fremdländer und Träumer, der sich auf unerklärliche Weise selbst als einer der Götter entpuppt hatte. Er hatte den Sturz des Engels aufgehalten, und so waren nicht alle gestorben. Nur Sarai.

Nun ja, und der Explosionist, aber das hatte wohl jeder als gerechte Strafe empfunden. Während Sarai einfach Pech gehabt hatte. Sie war von der glatten blauen Metallhand des Erzengels gerutscht, geradewegs über den Rand, in die Tiefe gefallen und gestorben. Doch das war noch nicht das Ende des Schreckens gewesen, denn ihre Seele hatte ihren Körper verlassen und quälend langsam begonnen, sich in Luft aufzulösen. Wenn man ein langes Leben hinter sich hatte, wenn man seiner Existenz müde war, fühlte sich der Übergang vielleicht wie Frieden an. Aber Sarai war keineswegs bereit gewesen. In ihrer Vergänglichkeit kam sie sich vor, als wollte die Welt sie verzehren, zersetzen, sich einverleiben wie einen Blutstropfen in einem Wasserglas oder ein Hagelkorn, das auf einer roten Zunge schmolz.

Und dann ... hatte etwas die Auflösung gestoppt.

Genauer gesagt: Minya.

Das kleine Mädchen war stärker als der ganze verzehrende Schlund der Welt. Sie hatte Sarai mit ihrer Gabe abgefangen und gerettet. Eben noch war Sarai allein und hilflos gewesen, mitgerissen vom Sog der Vergänglichkeit, dann plötzlich stand sie als ihr gewohntes Selbst im Zitadellengarten. Das Erste, was sie mit Geisteraugen erblickte, war Minya. Voller Dankbarkeit umarmte Sarai sie und vergaß vor Erleichterung den ganzen hässlichen Streit zwischen ihnen.

Dass Minya ihre Umarmung nicht erwiderte, bemerkte Sarai nicht. Zu sehr wurde sie von tiefer Glückseligkeit durchflutet. Sie war so dankbar, zurück zu sein – noch da zu sein. Vergessen war ihr tiefer Wunsch, der Zitadelle zu entfliehen – sie war einfach froh, wieder Zuhause zu sein. Sarai schaute sich um und sah alle versammelt: Ruby, Sparrow, Feral, die Ellens und andere Geister, und ...

Lazlo.

Lazlo war hier, eine strahlend blaue Gestalt mit Feenlicht in den Augen. Sein Anblick erschien ihr wie ein Wunder. Eben noch wäre sie fast wie ein Atemzug in die Dunkelheit gesogen worden, doch nun verwandelte sich der Atem in Gesang. Sie war tot, doch wiedergeboren als Musik. Sie war gerettet, überglücklich und flog geradewegs auf ihn zu. Lazlo fing sie auf, und sein Gesicht strahlte vor Liebe. Tränen liefen ihm über die Wangen, und Sarai küsste sie fort. Ihr lächelnder Mund traf auf seinen.

Sie war ein Geist, er war ein Gott, und ihre Küsse fühlten sich an, als hätten sie einen Traum zuerst verloren und dann wiedergefunden.

Lazlos Lippen strichen über ihre Schulter neben dem schmalen Riemen ihrer rosa Seidenwäsche. Genau dort hatte er ihre Traumschulter geküsst – letzte Nacht, als sie gemeinsam in die weichen Daunen seines Betts gesunken waren. Nun tat er das Gleiche mit ihrer Geisterschulter, und Sarai neigte den Kopf, um ihm ins Ohr zu flüstern.

Worte drängten über ihre Lippen, ein süßes Versprechen. Die beiden hatten nie von Liebe gesprochen. Ihnen war so wenig Zeit geblieben, und nun wollte Sarai keine Sekunde mehr verschwenden. Doch die Worte, die aus ihrem Mund kamen, waren alles andere als süß. Und sie stammten nicht von ihr.

Darin bestand die dunkle Seite von Minyas Gabe. Ja, das kleine Mädchen fing Seelen auf, band sie an die Welt, gab ihnen Form und bewahrte sie vor der Auflösung.

Gleichzeitig besaß sie absolute Kontrolle.

»Wir werden ein kleines Spiel spielen«, hörte Sarai sich selbst sagen. Die Stimme gehörte ihr, doch der Tonfall nicht. Er war scharf und süßlich zugleich, wie eine Messerklinge, von der Zuckerguss tropft. Minya sprach durch sie. »In Spielchen bin ich gut, das wirst du sehen.« Sarai wollte die Worte aufhalten, aber es gelang ihr nicht. Ihre Lippen, ihre Zunge, ihre Stimme befanden sich nicht länger unter ihrer Kontrolle. »Ich erzähle dir jetzt, wie es läuft. Es gibt nur eine Regel. Du tust alles, was ich sage, oder ich lasse ihre Seele wieder los. Na, wie klingt das?«

Alles, was ich sage.

Oder ich lasse ihre Seele wieder los.

Sarai fühlte, wie Lazlo sich versteifte. Er trat zurück, um ihr ins Gesicht zu schauen. Das Feenlicht war aus seinen Augen verschwunden und durch eine Furcht ersetzt, die Sarais eigene widerspiegelte. Allmählich wurde ihnen klar, wie ihre neue Realität aussah.

Als Geist war Sarai zu Minyas Sklavin geworden, und das kleine Mädchen ergriff diese Gelegenheit. Solange sie die Fäden von Sarais Seele in der Hand hielt, war auch Lazlo ihre Marionette.

»Wenn du verstanden hast, musst du nur nicken«, sagte sie.

Lazlo nickte.

»Nein«, stieß Sarai hervor, bestürzt und entsetzt. Einen Moment lang bildete sie sich ein, sie hätte die Kontrolle über ihre Stimme zurückgewonnen. Dann wurde ihr schlagartig klar, dass Minya ihr dieses eine Wort erlaubt haben musste. Was auch immer Sarai von nun an tat, wurde entweder von Minya erzwungen oder zugelassen. Gütige Götter. Sie hatte sich geschworen, dass sie nie wieder Minyas krankhaften Zielen dienen würde, und nun war sie ihre willenlose Leibeigene.

So sah nun die Szene im Zitadellengarten aus: ein friedliches Blütenmeer, aufgereihte Pflaumenbäume und dazwischen das Metall, das Lazlo als Blockade von den Wänden geschält hatte, um den Angriff von Minyas Geistern aufzuhalten. In der erstarrten Welle aus Mesarthium steckten noch ihre Waffen fest, und ein gutes Dutzend Geister lauerte dahinter. Ruby, Sparrow und Feral kauerten am Geländer der Terrasse. Das metallene Reittier Rasalas stand fast unbeweglich, nur die riesige Brust hob und senkte sich und gab ihm einen Anschein von Lebendigkeit. Über allem zog der weiße Greifvogel, den sie Irrlicht nannten, seine Kreise am Himmel.

Und inmitten des Gartens, auf einem Totenlager aus weißen Blumen, lag blau, zimtfarben, seidenrosa und blutrot Sarais Leichnam. Über ihn hinweg trafen sich Sarais und Lazlos Blicke auf der einen Seite und Minyas auf der anderen.

In ihrem unnatürlichen Körper wirkte sie sehr klein und jung. Ihre Kleidung bestand noch immer aus den fünfzehn Jahre alten Lumpen, die sie im Säuglingstrakt getragen hatte. Das runde, weiche Gesicht war kindlich, doch in den dunklen Augen blitzte grausamer Triumph. So dürr, zerbrechlich und schmuddelig sie auch aussah, ihr brennender Blick passte nicht zu diesem Bild und genügte, ihre wahre Macht zu enthüllen. Schlimmer noch: einen gnadenlosen Fanatismus, der sich die eigenen Gesetze schrieb und zum Gebot erhob.

»Minya«, flehte Sarai. Ihr wirbelte der Kopf von allem, was sich verändert hatte – ihr Tod, Lazlos Magie –, und doch war der Rest anscheinend beim Alten geblieben. Hass und Furcht bestimmten noch immer das Leben in Weep, von Menschen und Götterbrut. »Siehst du denn nicht, dass alles anders ist? Wir sind frei.«

Frei. Das Wort war wie Musik. Schwerelos. Sie konnte geradezu sehen, wie es Form annahm und schimmernd durch die Luft wirbelte, als wäre es eine ihrer Motten.

»Frei?«, wiederholte Minya. Bei ihr schimmerte und wirbelte gar nichts.

»Ja!«, bestätigte Sarai mit Nachdruck. Denn das war die Antwort auf all ihre Probleme. Lazlo war die Antwort. Vor lauter Tod und Wiederauferstehung hatte sie eine Weile gebraucht, um endlich das große Ganze zu sehen. Aber nun griff sie mit beiden Händen nach diesem Hoffnungsschimmer wie nach einer Rettungsleine. Ihr ganzes Leben lang war die Götterbrut in einem himmlischen Kerker gefangen gewesen, der keinen Fluchtversuch erlaubte, kein Entkommen, noch nicht einmal das Schließen der Türen. Sie hatten in dem Glauben gelebt, dass früher oder später die Menschen auftauchten und es ein Blutbad geben würde. Bis letzte Woche waren sie überzeugt gewesen, dass sie die Opfer sein würden. Minyas Armee hatte das geändert. Statt zu sterben konnten sie nun töten. Aber danach würden sie immer noch hier gefangen sein, bloß mit Leichen zur Gesellschaft. Hass und Furcht wären dann nicht länger ein Erbe ihrer Eltern, sondern nigelnagelneu von ihnen selbst geschaffen.

So musste die Zukunft jetzt nicht mehr aussehen. »Lazlo hat Kontrolle über das Mesarthium«, sagte Sarai. »Genau diese Gabe haben wir immer gebraucht. Er kann die Zitadelle von hier fortbringen.« Sie schaute Lazlo an, damit er ihre Hoffnung bestätigte. Sein Anblick entfachte eine kleine Explosion in ihr, Funken tanzten warm und leuchtend in ihrem Innern. Sie sagte: »Jetzt können wir leben, wo immer wir wollen.«

Minya betrachtete sie ausdruckslos, dann schwang ihr Blick zu Lazlo hinüber.

Er konnte nicht erraten, was das kleine Mädchen dachte. In ihrem Blick stand keine Neugier, keine Frage, ihre Augen wirkten schwarz und blank wie Käferpanzer. Aber er griff nach derselben Rettungsleine wie Sarai und hoffte. »Das ist wahr. Ich kann die magnetischen Felder spüren. Wenn ich die Anker entferne, dann glaube ich –« Er unterbrach sich. Das hier war kein guter Augenblick, um unsicher zu erscheinen. »Ich weiß, dass wir fliegen können.«

Welch ein schicksalhafter Moment. Der Himmel dehnte sich einladend in alle Richtungen. Sarai spürte den Ruf der Freiheit, genau wie Ruby, Sparrow und Feral. Die drei kamen näher, auch wenn sie sich immer noch aneinanderklammerten. Nach all den Jahren, die sie hilflos hier oben verbracht hatten, versteckt und voller Angst, gab es eine Alternative. Sie konnten Weep einfach hinter sich lassen.

»Ein Hurra auf den Retter von allem und jedem«, spöttelte Minya mit einer Stimme, die so kühl war wie ihr Blick. »Aber bevor du anfängst, die Reise zu planen, solltest du wissen: Ich bin noch nicht fertig mit Weep.«

Fertig mit Weep. Sarais Mund wurde ganz trocken. Der Satz war leichthin gesagt, als würde Minya über etwas Banales wie das Wetter reden. Dabei ging es um Rache.

Um das Abschlachten von Menschen.

Sie hatten sich in letzter Zeit bis aufs Blut gestritten, und all die hässlichen Worte, die Minya ihr dabei entgegengeschleudert hatte, lärmten nun durch Sarais Kopf.

Du machst mich krank. Du bist schwach.

Du bist erbärmlich. Du bringst uns alle um.

Sie konnte mit den Beleidigungen umgehen, sogar mit dem Wort Verrat, auch wenn es sie verletzte. Aber was ihr jegliche Hoffnung nahm, war Minyas Blutdurst:

Ich habe erst genug, wenn die Menschen für alles bezahlt haben.

Was immer Minya tat, was immer sie war, wurzelte ausschließlich in dem Massaker, das die Menschen begangen hatten. Gewiss hatte es seit Anbeginn der Zeit keinen so reinen, ungetrübten Zorn gegeben wie Minyas. Zum ersten Mal wünschte Sarai sich etwas, das sie nie zuvor begehrt hatte, nämlich die Gabe ihrer Mutter. Isagol, die Göttin der Verzweiflung, hatte Gefühle manipulieren können. Wäre Sarai dazu fähig gewesen, hätte sie Minya nur zu gerne von ihrem Hass befreit. Aber dazu war sie nicht fähig. Sie taugte nur zu Albträumen.

»Minya, bitte«, flehte Sarai. »Haben nicht alle schon genug gelitten? Das hier ist die Chance auf einen Neuanfang. Wir sind nicht wie unsere Eltern. Wir müssen keine Monster sein.« Kaum hörbar fügte sie hinzu: »Bitte mach uns nicht zu Monstern.«

Minya neigte den Kopf. »Wir? Monster? Du verteidigst den Vater, der dich im Kindbett ermorden wollte. Der große Götterschlächter, der große Babyschlächter. Wenn es das ist, was man tun muss, um ein Held zu sein, Sarai –« Sie bleckte ihre kleinen, spitzen Milchzähne und schnarrte: »Dann bin ich lieber ein Monster.«

Sarai schüttelte ihren Kopf. »Mir geht es nicht darum, ihn zu verteidigen. Sondern um uns. Wir haben die Wahl zu entscheiden, wer und was wir sein wollen.«

»Tja, du nicht«, blaffte Minya. »Du bist tot. Und ich wähle Monster!«

Damit erstarb Sarais letzte Hoffnung. Besonders groß war ihre Zuversicht von Vornherein nicht gewesen, denn sie kannte Minya zu gut. Schmerzlich wurde ihr bewusst, dass sie als Geist sogar zu der Tat gezwungen werden konnte, die sie so lange abgelehnt hatte: ihren eigenen Vater zu töten, den Götterschlächter, Eril-Fane. Und was dann? Wohin würde Minyas Rache sie alle führen? Wie genau wollte sie das Massaker vergelten? Und wie viele würden sterben müssen, damit sie zufrieden war?

Sarai drehte sich zu Lazlo um. »Hör mir zu«, sagte sie hastig, weil sie fürchtete, dass Minya ihr die Stimme nehmen würde. »Auf keinen Fall darfst du tun, was sie von dir will. Du weißt nicht, wie sie ist.« Schließlich hing im Grunde alles von Lazlo ab. Ohne seine Macht war Minya keine Gefahr für die Stadt, jedenfalls nicht mehr oder weniger als früher. Sie würde weiter in der Zitadelle gefangen bleiben und keine Möglichkeit haben, ihre Feinde zu erreichen. »Nur du kannst sie aufhalten«, wisperte Sarai.

Lazlo hörte ihre Worte, aber sie wirkten wie unbekannte Hieroglyphen, die noch auf die Entzifferung warteten. Zu viel stürmte gleichzeitig auf ihn ein. Sarai war gestorben. Er hatte ihren zerschmetterten Körper in seinen Armen gehalten. Ihr Leichnam lag vor ihm. So sah das Ende aus, das war einfach ein Fakt in der Welt, die er kannte. Doch gleichzeitig war sie hier, und er hielt sie in den Armen. Nur ihren Geist, das war ihm klar, und doch konnte er es nicht wirklich glauben. Sie fühlte sich so real an. Er ließ seine Hand ihren Rücken hinuntergleiten und spürte ihre warme Haut unter dem feinen Seidenstoff. »Sarai«, sagte er, »jetzt wo ich dich habe, lasse ich dich nie wieder los. Ich werde nicht erlauben, dass Minya deine Seele dem Jenseits überlässt. Darauf gebe ich dir mein Wort.«

»Versprich so etwas nicht! Du darfst ihr auf keinen Fall helfen, Lazlo. Nicht um meinetwillen, nicht um alles in der Welt. Versprich mir das!«

Lazlo blinzelte wie benebelt. Er konnte sich damit nicht abfinden. Sarai war die Göttin, die er in seinen Träumen gefunden hatte, mit der er durch den Sternenhimmel gefallen war. Er hatte ihr den Mond gekauft, ihren blauen Nacken geküsst und sie gehalten, während sie weinte. Sarai hatte ihn gerettet. Sie hatte ihm das Leben gerettet, und er hatte versagt, als es galt, das Gleiche zu tun. Nun war es ganz undenkbar, sie noch einmal im Stich zu lassen. »Was willst du damit sagen?«, fragte er heiser.

Sarai hörte seine Zerrissenheit. Seine Stimme war außergewöhnlich. So rau und doch durchtränkt von Emotionen. Fast schien der Klang eine fühlbare Textur zu besitzen, wie die zärtliche Berührung einer schwieligen Hand. Sarai wollte sich für immer davon streicheln lassen. Stattdessen zwang sie sich zu einer bitteren Antwort. Zwar durchpulste sie noch immer das entsetzliche Gefühl der Auflösung, trotzdem war sie von jedem Wort überzeugt, als sie sagte: »Ich überlasse mich lieber dem Jenseits, als zu deinem Ruin und dem Tod der ganzen Stadt zu werden.«

Lazlo schüttelte den Kopf. Er hatte Weep gerade erst gerettet. Niemals könnte er der Stadt schaden. Aber Sarai zu verlieren, war ebenso undenkbar. War das wirklich die Wahl, vor der er stand? »Das kannst du nicht von mir verlangen.«

Minya wählte den Augenblick, um sich einzumischen. »Wirklich, Sarai, was denkst du dir dabei?«, rügte sie, als hätte sie Mitleid mit Lazlos Not ... als würde Sarai ihn in diese unmögliche Lage bringen, nicht sie selbst. »Glaubst du, er könnte einfach zuschauen, wie du dich auflöst, und das mit seinem Gewissen vereinbaren?«

»Du musst gerade von Gewissen reden!«, rief Sarai. »Dabei würdest du seines ohne Zögern in zwei Hälften reißen!«

Minya zuckte mit den Schultern. »Tja, zwei Hälften ergeben immer noch ein Ganzes.«

»Nein, tun sie nicht«, sagte Sarai bitter. »Das weiß ich wohl am besten.« Minya hatte sie zu dem gemacht, was sie war: Die Muse der Albträume. Früher hatte sie ihren Hass wie einen schützenden Panzer getragen, aber die Jahre in den Träumen der Menschen hatten sie geprägt, und er war ihr abhandengekommen. Seitdem hatte sie nichts mehr, um sich gegen das Leid in Weep abzuschirmen. Sie war innerlich zerrissen und trug den Schmerz mit sich herum wie eine offene Wunde. Zwei Hälften ergaben kein Ganzes. Sie blieben immer zwei blutige, klaffende Hälften. Eine Seite von ihr stand loyal zu ihrer Familie aus Götterbrut, die andere hatte einsehen müssen, dass die Menschen ebenfalls leidende Opfer waren.

»Du Arme«, spöttelte Minya. »Bin ich vielleicht schuld daran, dass ihr alle so schwache Nerven habt?«

»Frieden zu wollen statt Krieg, ist nicht schwach.«

»Aber wegzulaufen schon«, fauchte Minya. »Und deshalb werde ich es auch nicht tun!«

»Hier geht es nicht um Weglaufen. Wir haben endlich die Freiheit, Weep zu verlassen –»

»Das ist keine Freiheit!«, unterbrach Minya sie lautstark. »Wie können wir frei sein, wenn es keine Gerechtigkeit gibt?« Ihr Zorn flammte erneut auf. Er war nie ganz fort, schwelte im Untergrund und loderte beim geringsten Anlass empor. Der Gedanke, dass die Mörder ungestraft davonkommen sollten und der Götterschlächter sorglos durch die sonnenbeschienenen Straßen von Weep spazierte, entfachte ein wahres Höllenfeuer in ihren Herzen. Sie konnte nicht fassen – würde niemals begreifen –, wieso Sarai ihre Sicht nicht teilte. Was war mit ihr verkehrt, dass ihr das Massaker so gar nichts bedeutete? Rasend vor Wut zischte sie: »Aber in einem hast du recht. Alles hat sich geändert. Jetzt müssen wir nicht mehr darauf warten, dass sie zu uns kommen.« Mit einem berechnenden Blick zur geflügelten Bestie Rasalas stellte sie fest: »Wir können die Stadt besuchen, wann immer wir wollen.«

Die Stadt besuchen.

Minya in Weep.

Lazlo und Sarai standen dicht zusammen, seine Hand lag noch immer warm an ihrem Rücken. Sie fühlte, wie es ihn bei dem Gedanken durchzuckte, Minya könnte hinunter in die Stadt gelangen, und ihr selbst ging es genauso. Sie konnte die Szene geradezu vor sich sehen: ein kleines, zerlumptes Mädchen mit Käferpanzeraugen, gefolgt von einer Geisterarmee. Minya würde die Toten auf ihr eigen Fleisch und Blut hetzen. Jedes ausgelöschte Leben würde einen weiteren Soldaten für ihr Heer bedeuten. Wer konnte sich solch einer Kriegsmacht entgegenstellen? Die Tizerkan waren stark, aber es gab nur wenige von ihnen, und Geister konnte man nicht verletzen oder töten.

»Nein«, protestierte Sarai erstickt. »Lazlo wird dich nicht nach Weep bringen.«

»Natürlich wird er das, wenn er dich liebt.«

Eben noch hatte Sarai das Wort Liebe süß auf ihren Lippen geschmeckt, doch aus Minyas Mund klang es obszön. »Oder etwa nicht?«, fragte das kleine Mädchen und durchbohrte Lazlo mit ihren dunklen Augen.

Was sollte er darauf erwidern? Beides schien undenkbar. Als Lazlo den Kopf schüttelte, war das nicht als Antwort gemeint. Er fühlte sich schwindelig, als würde er den Boden unter den Füßen verlieren, und versuchte nur, einen klaren Gedanken zu fassen. Aber Minya verstand die Bewegung als Ablehnung, und ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen.

Sie wusste weder, woher dieser Fremde gekommen war, noch wie er Götterbrut sein konnte, aber eines stand für sie fest: Sie hatte gewonnen. Obwohl er Skathis' Gabe besaß, hatte sie ihn besiegt. Begriffen die beiden das nicht? Minya hatte sie völlig in der Hand, und trotzdem diskutierten sie, als wäre ihre Meinung von Belang.

Das hier war keine Verhandlung.

Wann immer Minya beim Zwingerspiel gewann – also jedes Mal –, warf sie das Spielbrett um und ließ die Steine in alle Richtungen fliegen, damit der Verlierer auf Händen und Knien herumkriechen musste, um alles wieder einzusammeln. Verlierer sollten wissen, wo ihr Platz war. Wenn nicht, musste man sie eben daran erinnern. Aber wie, in diesem Fall?

Nichts hätte leichter sein können. Der Fremde hielt Sarai, als würde sie ihm gehören. Aber da irrte er sich. Er konnte Sarai nicht festhalten, wenn Minya entschied, sie ihm wegzunehmen.

Und genau das tat sie.

Sie riss Sarai aus seinem Griff. Dafür brauchte sie keinen Muskel zu rühren. Sie befahl einfach der Materie, aus der Sarai bestand, ihr zu gehorchen. Natürlich hätte sie es aussehen lassen können, als würde Sarai sich aus eigenem Antrieb bewegen, aber schließlich wollte sie den beiden eine Lektion erteilen. Also packte sie Sarai bei den Handgelenken, den Haaren, ihrem ganzen Ich. Und zog.

4Gegen das Unmögliche

Lazlo fühlte sich, als würde er sich mit bloßen Fingerspitzen am Rest seines Verstandes festkrallen. Die ganze Welt schien sich rasend schnell zu drehen, und er fürchtete, dass sie ihn jeden Moment abschütteln und fortschleudern würde wie die Druckwelle der nächtlichen Explosion. Bestimmt lag es zum Teil daran: Er hatte sich auf dem Straßenpflaster den Schädel aufgeschlagen. Noch immer pulsierte der Schmerz. Das Schwindelgefühl kam und ging. Ein Rauschen und Klingeln füllte seine Ohren, die noch vor Kurzem geblutet hatten. Rote Tropfen waren an seinem Hals angetrocknet, vermischt mit dem Staub der Explosion, aber das war nur ein geringer Bruchteil des Bluts, das an ihm klebte. Seine Arme und Hände, seine ganze Brust waren dunkel verfärbt, weil er Sarai getragen hatte. Die grausame Realität – was konnte realer sein als Blut? – ließ ihn zwischen Trauer und Unglauben schwanken.

Für alle Ewigkeit würde ihn der Anblick verfolgen, wie ihr Körper rücklings über das schmiedeeiserne Tor gekrümmt hing, während Blut aus den Spitzen ihrer langen Haare tropfte.

Doch die Kette von wunderlichen und horrenden Ereignissen war mit ihrem Tod nicht zu Ende gewesen. Die Welt war nicht länger so, wie Lazlo sie in Zosma gekannt hatte – zumindest jene außerhalb seiner Märchenbücher. Weep war ein Ort, wo Motten magisch waren und Götter real, wo Engel ein Dämonenheer besiegt und einen Scheiterhaufen errichtet hatten, der die Größe eines Berges besaß. Hier war der Tod nicht das Ende. Sarais Seele war in Sicherheit, wieder erdgebunden. Nur dass ein schmuddeliges kleines Mädchen nun ihr Schicksal in den Händen hielt und es vor ihnen beiden baumeln ließ wie ein Spielzeug an der Schnur.

Als Minya sie aus seinen Armen riss, wurde seine Verzweiflung bodenlos, ein Abgrund von unendlicher Tiefe. Er versuchte, sie festzuhalten, doch je stärker seine Finger zupackten, desto mehr waberte sie hindurch, als wolle er nach dem Spiegelbild des Mondes greifen.

Bis vor Kurzem hatte das Märchen von Sathaz, der sich in den Mond verliebte, zu Lazlos Lieblingsgeschichten gehört. Jetzt verabscheute er es. Schließlich handelte es davon, dass gewisse Dinge unmöglich waren und man Frieden damit schließen sollte. Aber das konnte Lazlo nicht länger. Während Sarai aus seinen Armen verschwand, wurde ihm klar: Er konnte statt Frieden nur den Krieg wählen.

Ein Krieg gegen das Unmögliche. Gegen das monströse Kind vor ihm. Nicht mehr und nicht weniger.

Aber ... wie sollte er gegen sie ankämpfen, wenn sie Sarais Seele in den Händen hielt?

Er presste die Zähne zusammen, damit keine unbedachten Worte aus seinem Mund drangen. Sein Atem zischte dazwischen hervor, die Hände ballten sich zu unnützen Fäusten. Aber sein Zorn war zu groß, als dass sein Körper ihn ganz hätte fassen können. Lazlo hatte noch nicht wirklich begriffen, dass er jetzt mehr als ein gewöhnlicher Mann war. Die Grenzen seines Ichs hatten sich verschoben. Er war Fleisch und Blut, Knochen und Geist, und gleichzeitig war er Metall.

Rasalas brüllte aus voller Kehle. Solange das Geschöpf zu Skathis gehört hatte, war es abscheulich gewesen, aber nun war es ein Teil von Lazlo, und sein Anblick war majestätisch. Halb Spektral, halb Ravide wirkte es geschmeidig und kraftvoll, mit einem verzweigten Geweih aus spiegelndem Metall. Der Körper war so fein ausgearbeitet, dass sich das Mesarthium-Fell unter den Fingern weich anfühlte. Lazlo hatte nicht beabsichtigt, sein Reittier brüllen zu lassen, aber es war zu einer Erweiterung seines Ichs geworden, und als er die Zähne zusammenpresste, öffnete stattdessen Rasalas seinen Rachen.

Dieses Geräusch ... Unten in der Stadt hatte das Geschöpf einen Schrei puren Leids ausgestoßen, nun kündete es von einem Zorn, der die ganze Zitadelle erzittern ließ.

Minya spürte den Klang durch ihren Körper vibrieren, aber zuckte nicht einmal mit der Wimper. Schließlich wusste sie, wessen Wut hier zählte, und Lazlo wusste es ebenfalls. »Ich spreche leider kein Biestisch«, sagte sie, als das Brüllen verhallt war, »aber ich hoffe, das war kein Nein.« Minya klang ungerührt, geradezu gelangweilt. »Du erinnerst dich wohl an die Regel des Spiels. Schließlich gab es nur eine.«

Tu alles, was ich sage, oder ich lasse ihre Seele wieder los.

»Ja, ich erinnere mich«, sagte Lazlo.

Sarai schwebte stocksteif an Minyas Seite, mitten in der Luft, als würde sie an einem Haken baumeln. In ihren Augen standen Panik und Hilflosigkeit.

Lazlo war sicher, dass dies der Moment war, in dem er die unmögliche Wahl treffen musste – zwischen der jungen Frau, die er liebte, und einer ganzen Stadt. Ein Brausen füllte seine Ohren. Er hob beschwichtigend die Hände. »Bitte, tu ihr nichts.«

»Dann zwing mich nicht dazu«, spuckte Minya zurück.

Hinter Lazlo ertönte ein unterdrücktes Geräusch, halb ungläubiges Keuchen, halb Aufschluchzen. So leise es war, reichte es doch, um die bedrohliche Atmosphäre aufsplittern zu lassen. Minyas Blick huschte zu Ruby, Sparrow und Feral, die kaum wussten, wo ihnen der Kopf stand. Erst das Kippen der Zitadelle, dann Sarais Sturz und die Ankunft eines Fremden, der sie tot zurückbrachte. Ein Schock nach dem anderen und nun auch noch das hier.

»Was tust du?«, fragte Sparrow fassungslos. Sie starrte Minya verstört an. »Du kannst doch nicht ... du kannst Sarai nicht benutzen wie eine Marionette.«

»Offensichtlich doch«, erwiderte Minya, und zum Beweis ließ sie Sarai ruckartig nicken.

Der Anblick war grotesk, verstärkt durch das Flehen in Sarais Augen. Darin bestand die einzige Schwäche von Minyas Gabe. Sie konnte nicht verhindern, dass ihren versklavten Geistern das Entsetzen am Blick abzulesen war. Vielleicht gefiel es Minya aber auch einfach besser so.

Ein weiterer gequälter Laut drang aus Sparrows Kehle. »Hör damit auf!«, rief sie und ging entschlossen vorwärts, um Sarai von Minya fortzuziehen – nicht, dass sie auch nur die geringste Chance gehabt hätte –, aber dann stoppte sie abrupt vor dem Leichnam, der ihr im Weg lag. Theoretisch hätte sie darüber hinwegsteigen oder ihn umrunden können, doch der Anblick ließ sie ruckartig stehen bleiben und starren. Bisher hatte sie den Körper nur von Weitem gesehen, als Lazlo ihn auf der Terrasse abgelegt hatte. Aus der Nähe ließ die brutale Realität ihr den Atem stocken. Ruby und Feral erschienen neben ihr und starrten ebenfalls. Ruby stieß ein ersticktes Wimmern aus.

Der Körper war aufgespießt worden, von einem grausigen, zerfledderten Loch durchbohrt, und die langen Haare waren eine blutig klebrige Masse.

Die drei schauten zwischen Sarai und Sarai hin und her – vom Leichnam zum Geist, dann wieder zum Leichnam – und versuchten, beides in Einklang zu bringen. Hier lag ihr Körper auf dem Boden, leblos und ausgedient, dort hing er starr in der Luft, eine Zwingerfigur in einem erbarmungslosen Spiel.

»Sie ist tot, Minya«, sagte Sparrow, und zwei Tränen rannen über ihre Wangen. »Sarai ist gestorben.«

Mit einem kleinen Schnauben sagte Minya: »Das ist mir bewusst, danke.«

»Wirklich?«, fragte Feral. »Ich meine, weil du es für ein Spiel hältst.« Seine eigene Stimme kam ihm dünn vor, wenn er sie mit dem Fremden verglich, und unbewusst begann Feral tiefer zu sprechen, um Lazlos maskulinen Klang nachzuahmen. »Schau sie an, Minya«, sagte er und zeigte auf den Körper. »Das ist kein Spiel. Ihr Leben ist zu Ende.«

Minya schaute tatsächlich hin, doch falls Feral eine Reaktion erwartet hatte, wurde er enttäuscht. »Glaubst du, ausgerechnet ich weiß nicht, was der Tod ist?«, fragte sie mit amüsiert geschürzten Lippen.

Oh, Minya kannte den Tod. Schließlich hatte er sie zu dem gemacht, was sie war: ein ewiges Kind, das niemals erwachsen wurde, niemals vergaß und niemals vergab.

Lazlo konnte nicht wissen, wie ungewöhnlich es war, dass die drei sich gegen Minya auflehnten. Bisher hatte das immer nur Sarai gewagt, und nun war sie dazu nicht mehr in der Lage. Also sprachen die anderen für sie, liehen Sarai ihre Stimmen, da sie selbst zur Stummheit verurteilt war. Sie stießen die Worte in hastigen Atemzügen hervor, ihre Wangen brannten violett. Es war beängstigend und gleichzeitig befreiend, als ob sie eine Tür aufstießen, die sie bisher nicht einmal zu berühren gewagt hatten. Lazlo war dankbar für ihre Hilfe, konnte aber nur hoffen und warten, ob Minya auf die drei hören würde.

»Minya«, sagte Ruby, »lass sie gehen.«

Minya drehte sich zu Lazlo um. »Hm, und willst du auch, dass ich sie gehen lasse?«, fragte sie mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen.

»Nein!«, sagte er schnell, denn ihre Absicht war überdeutlich. Sie sprach davon, Sarais Seele der Vergänglichkeit zu überlassen. Er musste an die vielen Märchen denken, in denen ein unklar formulierter Wunsch sich gegen den Wünschenden kehrte.

»Du weißt genau, was ich meine«, sagte Ruby ungeduldig. »Wir sind eine Familie. Wir versklaven uns nicht gegenseitig.«

»Das sagst du nur, weil du es nicht kannst«, gab Minya zurück.

»Selbst wenn ich könnte. Sowas würde mir nie einfallen!«, behauptete Ruby nicht allzu überzeugend.

»Wir benutzen unsere Magie nicht gegeneinander«, sagte Feral. »So lautet deine eigene Regel.«

Schon, als sie noch klein gewesen waren, hatte Minya ihnen dieses Versprechen abgenommen. Sie alle hatten mit der Hand auf den Herzen geschworen und sich daran gehalten – nun ja, abgesehen von einer gelegentlichen Regenwolkendusche oder verbranntem Bettzeug.

Minya musterte die drei, die sich um den Fremden versammelt hatten. Offenbar bildeten sie nun eine gemeinsame Front. Ironisch zog sie die Worte in die Länge, als wären die anderen zu schwer von Begriff, um das Offensichtliche zu verstehen. »Wenn ich bei Sarai keine Magie einsetzen würde, hätte sie sich schon aufgelöst.«

»Dann tu ihr mit deiner Gabe etwas Gutes«, bat Sparrow. »Du kannst doch ihre Seele festhalten und ihr trotzdem den freien Willen lassen. Genau wie bei den Ellens.«

Sparrows unschuldige Feststellung hatte einen Haken. Die zwei Geisterfrauen, von denen sie aufgezogen worden waren, zeigten im Moment nämlich keinen Anschein von freiem Willen. Sonst hätten sie sicher nicht hinter der Metallbarriere gewartet, die Lazlo im Kampf gegen Minya errichtet hatte, sondern sich wie üblich gluckenhaft eingemischt und alle herumkommandiert.

Sie taten nichts dergleichen, was der Gruppe erst jetzt dämmerte. Schock und Empörung schlugen eine neue Richtung ein. »Minya«, sagte Feral entsetzt, »du hast doch nicht angefangen, die Ellens zu kontrollieren?«

Undenkbar. Die beiden hatten keine Ähnlichkeit mit dem Rest von Minyas trauriger Geisterarmee. Sie verabscheuten die Götterbrut nicht, sondern liebten sie und wurden zurückgeliebt. Sie waren getötet worden, weil sie die Kinder vor dem Götterschlächter hatten beschützen wollen. Ihre Seelen waren die allerersten gewesen, die Minya an jenem düsteren Tag eingefangen hatte, als sie sich plötzlich allein mit vier Wickelkindern in einem blutbesudelten Gefängnis wiederfand. Ohne die Ellens wäre sie nie zurechtgekommen, und genau wie Sparrow sagte, tat Minya ihnen mit ihrer Gabe etwas Gutes. Ja, sie hatte ihre Seelen mit unsichtbaren Fäden an sich gebunden, wie bei allen anderen Geistern, aber nur, damit sie sich nicht auflösten. Minya ließ ihnen den freien Willen. Angeblich.

Ihr Gesicht verzog sich, und ein Ausdruck von Schuld huschte darüber hinweg, nur um gleich wieder zu verschwinden. »Ich brauchte die beiden, um die Zitadelle zu verteidigen«, sagte sie mit einem vernichtenden Blick in Lazlos Richtung. »Nachdem er meine Armee drinnen eingeschlossen hatte.«

»Und jetzt verteidigst du nichts mehr«, stellte Feral fest. »Also lass die beiden in Ruhe.«

»Gut, meinetwegen«, sagte Minya.

Die Geisterfrauen erschienen, traten hinter der Barriere hervor, sichtlich befreit. Ellen die Große hatte ihren typischen strengen Habichtblick aufgesetzt. »Meine Engel, meine Vipern«, sagte sie, als sie sich näherte. Sie schien regelrecht durch die Luft zu gleiten, und ihre Füße berührten den Boden nicht. »Hört mit dem Gezänk auf, ja?« Zu Minya gewandt sagte sie in einer Mischung aus Zuneigung und Tadel: »Ich weiß, dass du aufgebracht bist, aber Sarai ist nicht der Feind.«

»Sie hat uns verraten.«

Ellen die Große schnalzte mit der Zunge. »Aber nicht doch. Sie hat sich bloß geweigert zu tun, was du von ihr wolltest. Das ist kein Verrat, Herzchen. So etwas nennt man eine Meinungsverschiedenheit.«

Ellen die Kleine, die jünger und schmächtiger war als ihre matronenhafte Namensvetterin, fügte humorvoll hinzu: »Du tust doch auch nie, was ich von dir will. Ist es vielleicht jedes Mal ein Verrat, wenn du dich lieber versteckst als dich baden zu lassen?«

»Das ist was anderes«, murmelte Minya.

Für Lazlo, der dieser Szene zusah und gleichzeitig das quälende Gefühl hatte, seine Herzen würden in einer Schraubzwinge stecken, war der Tonfall des ganzen Dialogs bizarr. Alles klang so beiläufig und überhaupt nicht passend zu der Tatsache, dass Minya Sarais Seele als Geisel genommen hatte. Die beiden hätten genauso gut ein Kind dafür schelten können, dass es einen Hundewelpen zu fest drückte.

»Lasst uns erst einmal entscheiden, was zu tun ist«, sagte Feral mit seiner neuen, tieferen Stimme. »Alle zusammen.«

Sparrow fügte bittend hinzu: »Minya, hier geht es doch um uns.«

Ein winziges Wort mit riesiger Bedeutung. Besitzergreifend dachte Minya, dass es nur dank ihr überhaupt ein uns anstelle von Knochenresten gab. Und trotzdem scharten die anderen sich um einen Mann, den sie nie zuvor gesehen hatten, als wäre sie die Außenseiterin.

Oder nein. Sie starrten Minya an, als wäre sie der Feind. Diesen Blick kannte sie gut. Fünfzehn Jahre lang hatte jede Seele, die von ihr eingefangen worden war, sie genauso angeschaut. Sie überlief ein Gefühl ... ein erregter Schauer von ... Vorfreude? Jedenfalls war es genauso mitreißend, schoss durch ihre Adern wie geschmolzenes Mesarthium und gab ihr das Gefühl, unbesiegbar zu sein.

Es war Hass.