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Beide "Strange the Dreamer"-Hardcover-Bände in einem Paperback vereint
Lazlo Strange liebt es, Geheimnisse zu ergründen und Abenteuer zu bestehen. Zumindest auf dem Papier, denn außerhalb der Buchseiten erlebt der junge Bibliothekar nur wenig Aufregendes. Am liebsten verliert er sich in Geschichten über die sagenumwobene Stadt Weep. Als eines Tages Freiwillige für eine Expedition dorthin gesucht werden, steht für Lazlo sofort fest, dass er dabei sein muss. Doch Weep hütet ein düsteres Geheimnis, das alle Bewohner in Angst und Schrecken versetzt. Und dann ist da auch noch dieses blauhäutige Mädchen, welches Lazlo immer wieder in seinen Träumen begegnet ...
Lass dich von Bestseller-Autorin Laini Taylor entführen in eine Welt voller Träume, Abenteuer, Liebe und Poesie!
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Seitenzahl: 804
Cover
Weitere Titel
Titel
Impressum
Widmung
Prolog
Teil I
1 Die Mysterien von Weep
2 Der Traum wählt den Träumer
3 Die Gesammelten Werke des Lazlo Strange
4 Der vaterlose Gott des Glücks
5 Wunder zum Frühstück
6 Papier, Tinte, Jahre
7 Unerreichbare Träume
8 Tizerkan
9 Eine einzigartige Gelegenheit
10 Held einer Legende
11 Zwölfmond
Teil II
12 Das Küssen von Geistern
13 Fegefeuersuppe
14 Wunderschön und voller Monster
15 Die älteste Geschichte der Welt
16 Einhundert Splitter aus Dunkelheit
17 Die Muse der Albträume
18 Die Knochen erschlagener Dämonen
19 Ein Schatten dunkler Zeiten
20 Die Neuigkeiten eines Toten
21 Das ungelöste Problem von Weep
22 Muster aus Licht und Dunkelheit
Teil III
23 Nicht länger verborgen
24 Obszönität. Verhängnis. Götterbrut.
25 Die Nacht und die Besucher
26 Gebrochene Seelen
27 Eine andere Welt
28 Leben und Überleben
29 Die übrigen Kinder
30 Gestohlene Namen, gestohlener Himmel
31 Vipern und Engel
32 Der Zeitraum zwischen Albträumen
33 Kinder, die das Dunkel fürchten
34 Geist eines Bibliothekars
35 Unscharfe Tinte
36 Zum Mondhändler
37 Ein ganz entzückendes Blau
38 Alle werden sterben
39 Gespenstische Feinde
Teil IV
40 Von Mitleid und Gnade
41 Feenlicht
42 Gott oder Monster, Monster oder Gott
43 Eine ziemlich unschreckliche Dämonin
44 Ein außergewöhnlicher Vorschlag
45 Das Azoth eines Strange
46 Nur ein Traum
47 Schrecken und Albträume
48 Kein Ort dieser Welt
49 Mystischer Schleier
50 Einen Tag zu überstehen
51 Memmen und Kümmerlinge
52 Brillant und angesengt
53 Besudelte Herzen
54 Mit Haut und Haaren
55 Unglauben
56 Traumschmiede
57 Die geheime Sprache
58 Pflaumengroße Wut
59 Grau wie ein Regentag
60 Eine kleine Merkwürdigkeit
61 Hitzige, abstoßende Fäulnis
62 Eine stille Apokalypse
63 Schwerelos
64 In welcher denkbaren Welt?
65 Windfall
66 Gott und Geist
67 Unmöglicher Frieden
Muse of Nightmares
Laini Taylor
Aus dem amerikanischen Englischvon Ulrike Raimer-Nolte
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
»Strange the Dreamer – Der Junge, der träumte« &»Strange the Dreamer – Ein Traum von Liebe«
Copyright © 2017 by Laini Taylor
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Strange the Dreamer«
Originalverlag: Little, Brown and Company; Hachette Book Group
This edition published by arrangement with Little, Brown and Company,New York, New York, USA. All rights reserved.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung eines artwork von Evie Seo
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7517-1649-9
www.one-verlag.de
www.luebbe.de
Für Alexandra. Du bist einzigartig.
Am zweiten Sabbat des Zwölfmonds fiel in der Stadt Weep ein Mädchen vom Himmel.
Ihre Haut war blau, ihr Blut war rot.
Ihr Rücken brach beim Aufprall auf ein schmiedeeisernes Tor, das unter ihrem Gewicht einsackte. Dort hing sie nun in einer unnatürlichen Krümmung, graziös wie eine Tempeltänzerin, die sich in die Arme eines Geliebten sinken lässt. Ein feucht glänzender Dorn hielt sie an ihrem Platz fest. Er ragte aus ihrem Brustkorb, glitzernd wie eine Brosche. Ihr Körper bebte kurz, als ihr Geist sich losriss, und Knospen von Fackellilien regneten aus ihren langen Haaren.
Später sagten die Leute, es seien keine Blüten gewesen, sondern die Herzen von Kolibris.
Später hieß es auch, sie habe ihr Blut nicht vergossen, sondern es geweint. Sie habe kopfüber sterbend noch anzüglich mit der Zunge über ihre Lippen geleckt und eine Schlange erbrochen, die zu Rauch zerbarst, sobald sie die Erde berührte. Es hieß, ein Mottenschwarm sei um sie herumgeschwirrt und habe fieberhaft versucht, sie davonzutragen.
Dieser Teil stimmte. Nur dieser.
Natürlich waren die Motten zum Scheitern verurteilt. Sie waren kaum größer als die staunenden Münder von Kindern, und selbst ein Dutzend von ihnen konnte nur an den dunkler werdenden Haarsträhnen zupfen, bis ihre Flügel von Blut verklebt erschlafften. Dann wirbelten sie zusammen mit den Blüten in einem Windstoß fort, der verdreckt und erstickend die Gasse entlangbrauste. Die Erde bäumte sich auf. Der Himmel schwankte. Durch wabernden Rauch schnitt ein seltsames Leuchten so blendend hell, dass die Menschen von Weep die Augen zusammenkniffen. Rundherum war nur noch wirbelnder Straßenschmutz, glühendes Licht und der Gestank von Salpeter. Es hatte eine Explosion gegeben. Sie hätten allesamt umkommen können, aber nur das Mädchen war aus einem Winkel des Himmels geschüttelt worden und gestorben.
Ihre Füße waren nackt, ihr Mund in der Farbe von Zwetschgen verfärbt. Ihre Kleidertaschen steckten voller Pflaumen. Sie war jung und wunderhübsch, ihr Gesicht überrascht und leblos.
Im Übrigen war ihr Körper blau.
So blau wie blasse Opale, wie Kornblumen, wie Libellenflügel, wie der Himmel im Frühling, bevor die Sommerhitze einsetzt.
Jemand schrie. Der Schrei pflanzte sich fort. Nicht etwa, weil ein Mädchen tot war, sondern weil sie blaue Haut hatte, was in der Stadt Weep eine ganz eigene Bedeutung besaß. Nachdem der schwankende Himmel und die bebende Erde wieder zur Ruhe gekommen waren, nachdem die letzten Qualmwolken von der Explosionsstelle hochzischelten und sich verzogen, setzten sich die Schreie trotzdem weiter fort. Eine Stimme steckte die andere an, wurde durch die Luft übertragen wie eine Seuche.
Der Geist des blauen Mädchens sammelte sich und hockte losgerissen auf der speerscharfen Spitze des Zauns, die eine Handbreit aus der stillen Brust ragte. Bei dem Anblick keuchte der Geist des Mädchens erschrocken, legte den unsichtbaren Kopf in den Nacken und schaute trauervoll in die Höhe.
Die Schreie hörten gar nicht wieder auf.
Und am anderen Ende der Stadt, auf einem monumentalen, keilförmigen Sockel aus spiegelblankem Metall, begann eine Statue sich zu regen, als sei sie von dem Tumult erwacht, und hob langsam den mächtigen gehörnten Kopf.
Shrestha (gespr.: Schres∙ta), Subst.
Wenn ein Traum wahr wird – aber nicht für den, der ihn erträumt hat.
Archaisch; abgeleitet von Shres, dem vaterlosen Gott des Glücks. Man glaubte, bei mangelhaften Opfergaben würde er die Bittsteller bestrafen, indem er ihren Herzenswunsch für jemand anderen in Erfüllung gehen ließ.
Namen können verloren gehen oder in Vergessenheit geraten. Das wusste niemand besser als Lazlo Strange. Der Name, den er zuerst gehabt hatte, war mit seiner Familie gestorben und für immer verstummt, wie ein Lied, das keiner mehr sang. Vielleicht war es der Name eines alten Geschlechts gewesen, über Generationen benutzt, bis er wie ein polierter Kupferkessel glänzte. Vielleicht hatte jemand ihn liebevoll ausgesucht. Das stellte er sich gerne vor, aber er hatte keine Ahnung. Er hatte nur Lazlo und Strange. Den Nachnamen trugen alle Findelkinder im Königreich Zosma. Auf Lazlo hatte ihn ein Mönch getauft und zwar nach einem Onkel ohne Zunge.
»Man hat sie ihm auf einer Strafgaleere herausgeschnitten«, erklärte Bruder Argos, als Lazlo alt genug war, um so etwas zu verstehen. »Mein Onkel war immer unheimlich still, genau wie du als Baby, deshalb hatte ich wohl den Gedanken: Lazlo. Ich musste in diesem Jahr so viele Findelkinder taufen, dass ich genommen habe, was mir gerade in den Kopf kam.« Nach einer Pause fügte er beiläufig hinzu: »Hab sowieso nicht geglaubt, dass du überlebst.«
In jenem Jahr brach das Königreich Zosma in die Knie und blutete einen gewaltigen Schwall von Männern für einen Krieg aus, bei dem es um gar nichts ging. Natürlich begnügte der Krieg sich nicht nur mit Soldaten. Felder wurden niedergebrannt, Dörfer geplündert, Banden heimatloser Bauern durchschwärmten das verwüstete Land und kämpften mit den Krähen um Abfälle. So viele starben, dass man die Fuhrwerke zweckentfremden musste, mit denen sonst Diebe zu den Galeeren gebracht wurden, um stattdessen Waisenkinder in die Klöster zu schaffen. Sie wurden herbeigekarrt wie Lämmer zum Schlachthof, so erzählten die Mönche, und über ihre Herkunft wussten sie wenig zu sagen. Manche waren wenigstens alt genug, um ihre eigenen Namen zu kennen, aber Lazlo war bloß ein Wickelkind, noch dazu ein kränkliches.
»Grau wie ein Regentag warst du«, sagte Bruder Argos. »Hab erwartet, dass du stirbst, aber du hast gegessen, geschlafen und irgendwann wieder eine normale Farbe bekommen. Nie geweint, nicht ein einziges Mal. Das war unnatürlich, aber uns hast du deshalb umso besser gefallen. Keiner von uns ist Mönch geworden, um als Amme zu enden.«
Worauf der kleine Lazlo hitzig zurückgab: »Und keiner von uns ist geboren geworden, um als Waise zu enden.«
Aber er war nun einmal ein Waisenkind, ein Strange, und obwohl er zu Fantastereien neigte, gab er sich darüber nie irgendwelchen Illusionen hin. Selbst als kleiner Junge war ihm klar, dass ihn keine grandiosen Enthüllungen erwarteten. Niemand würde ihn suchen kommen, und er würde nie erfahren, wie sein wahrer Name lautete.
Vielleicht war das der Grund, warum das Mysterium von Weep ihn so völlig gefangen nahm.
Eigentlich gab es sogar zwei Mysterien: ein altes und ein neues. Das alte hatte in seinem Geist die erste Tür geöffnet, aber es war das neue, das schließlich hineinschlüpfte, sich zurechtrollte und mit einem zufriedenen Grunzen niederließ – ungefähr wie ein Drache in einer behaglichen Schatzhöhle. Und dort blieb es ... das Mysterium, tief in seinem Geist ... und dünstete über Jahre hinweg einen Hauch Rätselhaftigkeit aus.
Das Mysterium handelte von einem Namen, oder genauer gesagt um die Entdeckung, dass Namen nicht nur verlorengehen oder in Vergessenheit geraten konnten, sondern dass es möglich war, sie zu stehlen.
Als es geschah, war Lazlo gerade fünf Jahre alt, nur ein elternloser Findling in der Zemona-Abtei. Wie so oft hatte er sich in den alten Obstgarten geschlichen, wo Nachtflügler und Seidenschwirrer hausten, um dort allein zu spielen. Der Winter war gerade hereingebrochen, die Bäume waren schwarz und kahl. Unter seinen Füßen knirschte bei jedem Schritt eine dünne Frostkruste. Die Nebelwolke seines Atems begleitete ihn wie ein anhänglicher Geist.
Die Angelusglocke ertönte, und ihre Bronzestimme überrollte die Mauern des Schafstalls und des Obstgartens in klangvollen, langsamen Wellen. Sie rief zum Gebet. Wenn er jetzt nicht hineinging, würde seine Abwesenheit auffallen, und dann würde man ihn züchtigen.
Er ging nicht hinein.
Lazlo fand immer Mittel und Wege, sich alleine fortzustehlen, und seine Beine waren stets mit Striemen von der Haselgerte übersäht, die an einem Haken mit seinem Namen baumelte. Das war es ihm wert. Hauptsache fort von den Mönchen, den Regeln, den Pflichten und einem Leben, das ihn zwickte wie zu enge Schuhe.
Er wollte spielen.
»Kehrt um, wenn ihr wisst, was gut für euch ist«, warnte er seine unsichtbaren Feinde. Er hielt ein ›Schwert‹ in jeder Hand: Äste eines Apfelbaums, schwarz und stabil, die Enden mit Zwirn umwickelt, um daraus Griffe zu machen. Lazlo war ein schmächtiges, unterernährtes Kind mit zerschnittener Kopfhaut, weil die Mönche bei der Rasur gegen Läuse öfter mit der Klinge abrutschten, aber seine Haltung war von vollendeter Würde. Ohne Zweifel war er in diesem Moment ein Krieger, zumindest in seinem eigenen Kopf. Und nicht irgendein Krieger, sondern ein Tizerkan, der furchtloseste von allen. »Kein Fremdländer«, verkündete er seinen Gegnern, »hat jemals die Verbotene Stadt zu Gesicht bekommen. Und solange ich atme, wird das auch nie einem gelingen.«
»Dann haben wir ja Glück«, antworteten die Gegner und erschienen ihm im Zwielicht echter als die Mönche, deren Gesang von der Abtei herüberdriftete. »Denn lange wirst du nicht mehr atmen.«
Lazlos graue Augen verengten sich zu Schlitzen. »Ihr glaubt, dass ihr mich besiegen könnt?«
Die schwarzen Bäume rauschten bedrohlich. Lazlos Geisteratem eilte mit einem Windstoß davon, um sogleich vom nächsten Atemzug ersetzt zu werden. Sein Schatten breitete sich riesenhaft aus, und vor seinen Augen gleisten Bilder uralter Kriege, geflügelter Wesen, einer Berghöhe aus geschmolzenen Dämonenknochen, und der fernen Stadt dahinter ... einer Stadt, die sich in den Nebeln der Zeit verloren hatte.
So lautete das erste Mysterium.
Er hatte es von einem senilen Mönch namens Bruder Cyrus erfahren. Der Alte war ein Invalide, und den Waisenjungen fiel die Aufgabe zu, ihm seine Mahlzeiten zu bringen. Er war kein freundlicher Mann. Kein großväterlicher Freund oder Mentor. Seine Klammerhände hatten einen schrecklich festen Griff. Wie alle wussten, hielt er die Jungen manchmal stundenlang an den Handgelenken gepackt und zwang sie, unzählige wirre Glaubensregeln zu wiederholen oder Widernatürlichkeiten aller Art zu bekennen, die sie kaum verstanden und gewiss nicht begangen hatten. Sie alle fürchteten ihn und seine knorrigen Raubvogelfinger. Die älteren Jungen stellten sich nicht etwa schützend vor die jüngeren, sondern schickten sie an eigener Stelle in seine Zellenhöhle. Lazlo war genauso verängstigt wie der Rest von ihnen, dennoch bot er freiwillig an, dem Bruder alle Mahlzeiten zu bringen.
Wieso?
Weil Bruder Cyrus Geschichten erzählte.
Das war nichts, worüber man in der Abtei lächelnd hinwegsah. Geschichten waren im besten Fall eine Ablenkung von der spirituellen Einkehr, im schlimmsten Fall ehrten sie falsche Götter oder verführten zur Sünde. Aber Bruder Cyrus war über solche strikten Regeln längst hinaus. Sein Geist hatte sich aus der Verankerung gerissen und trieb ziellos dahin. Er schien nie zu verstehen, wo er sich befand, und seine Verwirrung brachte ihn zur Weißglut. Wenn er wütete, wurde sein Gesicht verbissen und rot, und die Spucke flog nur so. Doch er hatte auch ruhige Momente: immer dann, wenn er durch eine Kellertür seiner Erinnerung entschlüpfen konnte, zurück in die eigene Kindheit und zu den Geschichten, die seine Großmutter ihm erzählt hatte. Er kannte weder die Namen der anderen Mönche noch die Gebete, die Jahrzehnte lang seine einzige Berufung gewesen waren, aber die Geschichten quollen nur so aus ihm heraus, und Lazlo hörte zu. Er sog sie auf wie ein Kaktus den Regen.
Im Süden und Osten des Kontinents Namaa – weit, weit entfernt vom nördlich gelegenen Zosma – erstreckte sich eine riesige Wüste, die man den Elmuthaleth nannte. Sie zu durchqueren war eine Kunst, die nur wenige zur Vollendung gebracht hatten. Und diese wenigen hüteten das Wissen darüber wie einen kostbaren Schatz. Denn irgendwo jenseits der Leere lag eine Stadt. Sie war nur ein Gerücht, eine Fabel. Allerdings eine handfeste Fabel, denn aus ihr traten wahre Wunder hervor, wurden von Kamelen durch die Wüste getragen und befeuerten die Fantasie aller Völker der Welt.
Die Stadt hatte einen Namen.
Die Kameltreiber sprachen davon und brachten neben ihren Wunderwaren auch den Namen der Stadt und ihre Geschichten mit. Das alles fand seinen Weg in ferne Länder – der Name, die Waren, die Geschichten – und erschuf Visionen von glitzernden Kuppeldächern, zahmen weißen Hirschen, Männern mit blendend polierten Krummsäbeln und Frauen von solcher Schönheit, dass sie die Sinne zum Schmelzen brachten.
So blieb es viele Jahrhunderte. Die Wunder zierten die Wände ganzer Palastflügel, und ganze Regalreihen in den Bibliotheken füllten sich mit den Geschichten. Händler wurden reich. Abenteurer wurden übermütig und zogen aus, um die Stadt endlich mit eigenen Augen zu sehen. Keiner kehrte zurück. Sie war ein verbotener Ort für alle Faranji –Fremdländer. Und wer die Durchquerung des Elmuthaleth überlebte, so hieß es, wurde als Spion hingerichtet. Doch das hielt die Leute nicht davon ab, es zu versuchen. Drohe einem Mann mit einem Verbot, und schon wird er nach dem Verwehrten verlangen, als würde sein Seelenheil davon abhängen. Erst recht, wenn es sich dabei um einen Quell unvergleichlicher Reichtümer handelt.
Viele wagten den Versuch.
Keiner kehrte zurück.
Der Wüstenhorizont gebar einen Sonnenaufgang nach dem anderen, und es schien, als würde sich nie etwas ändern. Aber dann, vor zwei Jahrhunderten, kamen die Karawanen plötzlich nicht mehr. An den westlichen Vorposten des Elmuthaleth – Alkonost und den anderen – hielt man Ausschau nach den hitzeflimmernden Silhouetten von Kamelzügen, die aus der Leere heraustreten sollten wie immer, aber das taten sie nicht.
Sie kamen nicht.
Immer noch nicht.
Und immer noch nicht.
Keine Kamele, keine Reiter, keine Wunder, keine Geschichten. Nie mehr. Man hatte zum allerletzten Mal von der Verbotenen Stadt gehört, von der Unsichtbaren Stadt, von der Verlorenen Stadt, und dieser Teil des Mysteriums hatte in Lazlos Geist die entscheidende Tür geöffnet.
Was war geschehen? Gab es die Stadt noch? Er wollte alles darüber wissen. Also übte er sich darin, Bruder Cyrus unauffällig an den Ort seiner Träumereien zu führen und sammelte die Geschichten wie kostbare Kleinode. Lazlo hatte keinen Besitz, nicht einen einzigen Gegenstand, aber von Anfang an fühlten sich die Legenden wie sein ganz persönlicher Goldschatz an.
Die Kuppeldächer der Stadt, sagte Bruder Cyrus, waren durch Seidenbänder miteinander verbunden, auf denen Kinder wie Seiltänzer balancierten. Mit ihren Umhängen aus bunten Federn sausten sie von Palast zu Palast, und alle Türen standen ihnen offen. Selbst die Vogelkäfige wurden nie geschlossen, damit die Vögel frei kommen und gehen konnten. Überall wuchsen wunderliche Früchte, bereit zum Pflücken, und auf die Fensterbretter wurden Kuchen gestellt, von denen jeder kosten durfte.
Lazlo hatte noch nie einen Kuchen gesehen, geschweige denn probiert. Er hatte Prügel dafür bezogen, das Fallobst von den Apfelbäumen zu essen, selbst wenn vor Würmern kaum Frucht übrig war. Diese Vision von Freiheit und Überfluss verzauberte ihn. Gewiss, sie lenkte von spiritueller Einkehr ab, doch auf die gleiche Art, wie der Anblick einer Sternschnuppe die Qual eines leeren Magens vergessen ließ. Zum ersten Mal zog er in Betracht, dass es vielleicht andere Arten des Lebens geben konnte als die gewohnte, die er kannte. Bessere, glücklichere.
Die Straßen der Stadt, sagte Bruder Cyrus, waren mit Lapislazuli gepflastert und wurden peinlich sauber gehalten, um die ellenlangen Haare der Damen nicht zu beschmutzen, die stets offen getragen wurden und ihnen nachzüngelten wie gewitterschwarze Seide. Elegante weiße Hirsche durchwanderten die Straßen wie Stadtbürger, und mannsgroße Reptilien trieben im Fluss. Erstere nannte man Spektrale, und die Substanz ihrer Geweihe – Spektralys, oder kurz Lys – war kostbarer als Gold. Letztere hießen Svytagor und besaßen rosenrotes Blut, das als Elixier der Unsterblichkeit galt. Außerdem Raviden – Raubkatzen mit Fängen wie scharfe Sicheln – und Vögel, die menschliche Stimmen imitieren konnten. Daneben besondere Skorpione, deren Stich übermenschliche Kräfte verlieh.
Und natürlich gab es die Tizerkan-Krieger.
Sie trugen Schwerter namens Hreshtek, mit deren Klingen man einen Mann von seinem Schatten absäbeln konnte, und Skorpione in Messingkäfigen an ihren Gürteln. Vor dem Kampf schoben sie einen Finger durch eine kleine Öffnung, um sich stechen zu lassen. Unter dem Einfluss des Gifts wurden sie unaufhaltbar.
»Ihr glaubt, dass ihr mich besiegen könnt?«, forderte Lazlo seine Baumgegner heraus.
»Wir sind Hunderte«, erwiderten sie, »und du bist allein. Was denkst du?«
»Ich denke, ihr solltet jede Legende glauben, die ihr je über die Tizerkan gehört habt, umkehren und nach Hause gehen!«
Ihr Gelächter klang wie das Knarren von Ästen, und Lazlo blieb keine Wahl, als zu kämpfen. Er steckte seinen Finger in den kleinen schiefen Käfig aus Zweigen und Garn, der von seinem Kuttengürtel baumelte. Darin befand sich kein Skorpion, sondern nur ein von der Kälte benommener Käfer, doch Lazlo biss bei dem eingebildeten Stich die Zähne zusammen und spürte, wie das Gift machtvoll in seinen Adern erblühte. Dann hob er beide Klingen, die Arme zu einem V gereckt, und brüllte.
Er brüllte den Namen der Stadt. Wie Donner, wie Lawinenhall, wie der Kriegsschrei der Seraphim, die auf Feuerflügeln gekommen waren, um die Welt von Dämonen zu säubern. Seine Gegner stolperten zurück. Sie starrten mit offenen Mündern. Das Gift sang in seinem Blut, und er war mehr als menschlich. Ein Wirbelwind. Ein Gott. Sie versuchten zu kämpfen, waren ihm jedoch nicht im Geringsten gewachsen. Seine Schwerter glichen Blitzen, während er die Feinde, immer zwei um zwei, allesamt entwaffnete.
Bei dem Spiel waren seine Tagträume so lebendig, dass die Wirklichkeit für ihn ein echter Schock gewesen wäre. Hätte er beiseitetreten und sehen können, wie ein kleiner Junge durch das frost-steife Farndickicht gebrochen kam und mit Ästen wedelte, dann hätte er sich selbst kaum wiedererkannt, so völlig hatte er vor seinem geistigen Auge den Platz des Kriegers eingenommen, der gerade hundert Feinde entwaffnete und strauchelnd nach Hause schickte. Triumphierend warf er den Kopf zurück und stieß seinen Kriegsschrei aus, der lautete ...
... der lautete ...
»Weep!«
Lazlo erstarrte verwirrt. Sein Mund hatte das Wort hervorgestoßen wie einen Fluch, der einen Nachgeschmack von Tränen hinterließ. Er hatte in sein Gedächtnis gegriffen, genau wie kurz zuvor, aber ... der Name der Stadt war fort. Lazlo versuchte es erneut und fand wieder nur Weep. Es war, als würde man die Hand nach einer Blume ausstrecken und stattdessen plötzlich eine Nacktschnecke oder ein durchnässtes Taschentuch in den Fingern halten. Seine Gedanken scheuten zurück, aber er konnte trotzdem nicht aufhören, es wieder zu versuchen. Jedes Mal war noch schlimmer als das vorige. Er tastete verzweifelt nach etwas, von dem er wusste, dass es eben noch vorhanden gewesen war, doch fischte immer nur das schreckliche Wort Weep hervor, ölig und falsch, nassklamm wie ein Albtraum, mit einem Nachgeschmack bitterer Tränen. Lazlos Mund verzog sich. Ihm schwindelte und gleichzeitig überkam ihn die wahnsinnige Gewissheit, dass der Name gestohlen worden war.
Gestohlen. Aus seinen Gedanken.
Lazlo fühlte sich ganz krank. Beraubt, innerlich ausgehöhlt. Er rannte den Hügel hinauf, krabbelte über niedrige Steinmauern, stürmte quer durch den Schafpferch, am Kräutergarten vorbei und durch das Kloster, wobei er noch immer seine Schwerter aus Apfelästen trug. Blind für alles und jeden, aber dafür sahen ihn die anderen. Es gab eine Regel, die verbot, im Kloster zu rennen, und außerdem hätte er ja eigentlich bei der Abendmesse sein sollen. Lazlo lief geradewegs zur Zelle von Bruder Cyrus und schüttelte ihn wach. »Der Name«, stieß er keuchend hervor. »Der Name ist nicht mehr da. Die Stadt aus den Geschichten. Sag mir, wie sie heißt!«
Er wusste im tiefsten Inneren, dass er ihn nicht einfach vergessen hatte. Hier geschah etwas Anderes, dunkel und fremdartig. Doch immerhin bestand noch die Möglichkeit, dass Bruder Cyrus sich vielleicht ... vielleicht erinnern konnte und dadurch alles wieder ins rechte Lot kam.
Aber Bruder Cyrus sagte: »Wovon redest du, dummes Balg? Sie heißt Weep –« Und Lazlo hatte gerade noch Zeit zu sehen, wie sich das Gesicht des alten Mannes verwirrt verkrampfte, bevor eine Hand seinen Kragen ergriff und ihn aus der Tür riss.
»Wartet«, bettelte er. »Bitte.« Ohne Erfolg. Man schleifte ihn den ganzen Weg bis zum Arbeitsraum des Abts, und als er diesmal gezüchtigt wurde, bekam er nicht die Haselgerte zu spüren, die in einer Reihe mit den Gerten aller anderen Jungen hing, sondern einen seiner Apfeläste. Jetzt war er kein Tizerkan mehr. Es brauchte keine hundert Feinde. Ein einziger Mönch genügte, um ihn zu entwaffnen und mit seinem eigenen Schwert zu verprügeln. Ein schöner Held war er. Lazlo humpelte noch Wochen später, und man verbot ihm, Bruder Cyrus wiederzusehen, denn sein Besuch hatte den Alten so aufgebracht, dass man ihm ein Beruhigungsmittel hatte einflößen müssen.
Danach war es vorbei mit den Geschichten und den kleinen Fluchten. Zumindest galt das für den Obstgarten und alle anderen Orte, die sich nicht in seinem eigenen Kopf befanden. Die Mönche hatten ein scharfes Auge auf ihn und waren entschlossen, die Sünde von ihm fernzuhalten. Ebenso jede Art der Freude. Denn wenn Freude auch nicht ausdrücklich sündig war, ebnete sie sicher den Weg dorthin. Man hielt ihn beschäftigt. Wenn er nicht arbeitete, betete er. Wenn er nicht betete, arbeitete er. Immer unter ›angemessener Aufsicht‹, damit er nicht erneut, einem Geschöpf der Wildnis gleich, zwischen den Bäumen verschwinden konnte. Nachts schlief er wie ein Toter, oder zumindest wie ein Totengräber, und war selbst fürs Träumen zu erschöpft. Es wirkte, als sei das Feuer in ihm erstickt, der Donner und Lawinenhall, der Kriegsschrei, der Wirbelwind, allesamt ausgelöscht.
Was den Namen der verschwundenen Stadt betraf, so blieb er ebenfalls verschwunden. Lazlo würde sich jedoch immer daran erinnern, wie sich das Wort in seinen Gedanken angefühlt hatte: Kalligraphie, mit Honig geschrieben. Das war die passendste Beschreibung, die er (oder sonst jemand) finden konnte. Denn nicht nur er und Bruder Cyrus waren betroffen. Wo immer der Name vorher zu finden gewesen war – auf den Einbänden der Bücher mit den Legenden der Stadt, in den alten vergilbten Dokumenten von Kaufleuten exotischer Waren oder hineingeflochten in die Erinnerungen aller Menschen, die je davon gehört hatten –, etwas hatte ihn einfach ausgelöscht und Weep an seine Stelle gesetzt.
Das war das neue Mysterium.
Das war, wie Lazlo nie bezweifelte, echte Magie.
Lazlo wuchs heran.
Niemand wäre auf die Idee gekommen, ihn als glücklich zu bezeichnen, aber es hätte schlimmer kommen können. Unter den Klöstern, die Findelkinder aufnahmen, befand sich auch ein Orden von Flagellanten. Ein anderes hatte sich auf Schweinezucht spezialisiert. Aber die Zemona-Abtei war berühmt für ihr Skriptorium. Die Jungen wurden früh darin unterwiesen, wie man Schriften kopierte – aber nicht las; das hatte Lazlo sich schon selbst beibringen müssen –, und wer halbwegs Talent besaß, wurde an die Schreibtische gesetzt. Talent hatte Lazlo genug, und möglicherweise wäre er sein ganzes Leben dort geblieben, über eine Tischplatte gebeugt, während sein Hals sich stetig mehr nach vorne krümmte, statt aufrecht zu wachsen. Doch dann verdarb sich eines Tages ein Ordensbruder an schlechtem Fisch den Magen und wurde krank. Das war tatsächlich Glück. Oder vielleicht Schicksal. Man erwartete einige Manuskripte in der Großen Bibliothek von Zosma, und Lazlo wurde damit beauftragt, sie abzuliefern.
Er kam nie zurück.
Die Große Bibliothek war nicht einfach ein Ort, um Bücher aufzubewahren. Sie war eine Stadt für sich, ein ummauertes Refugium für Poeten und Astronomen und jegliche weitere Art von Gelehrten und Denkern, die sich innerhalb dieser Bandbreite befanden. Der Ort umschloss neben den riesigen Archiven auch die Universität mit ihren Laboren und Gewächshäusern, Anatomischen Theatern und Musikräumen, und es gab sogar ein Sternobservatorium. Dieses ganze Ensemble war im ehemaligen Herrscherpalast angesiedelt worden, weil der Großvater der augenblicklichen Königin sich einen prachtvolleren gebaut hatte, der den Fluss Eder überspannte. Die leeren Gebäude hatte er der Gelehrtengilde zum Geschenk gemacht. Sie thronten auf dem schmalen Kamm des Zosimos, der messerscharf aus der Stadt Zosma aufragte wie eine Haifischflosse, und waren noch aus Meilen Entfernung zu sehen.
Von dem Moment an, als Lazlo das Tor durchschritt, spürte er nur ehrfürchtiges Staunen. Ihm klappte buchstäblich die Kinnlade herunter, als er den Pavillon der Gedanken vor sich sah. So lautete der grandiose Name für den ehemaligen Ballsaal, in dem nun die philosophischen Schriften der Bibliothek aufbewahrt wurden. Bücherregale wuchsen vierzig Fuß hoch bis zu einer erstaunlichen, reich bemalten Decke. Die Einbände aus Leder schimmerten in Edelsteinfarben, und der Golddruck darauf funkelte im Glavenlicht wie Tieraugen. Die Glaven selbst waren perfekt polierte Kugeln, die zu Hunderten von der Decke hingen. Sie erstrahlten in einem so klaren weißen Licht, wie Lazlo es in der Abtei nie zuvor gesehen hatte. Dort glichen sie eher rauen, rötlichen Steinbrocken. Männer in grauen Roben bewegten sich auf rollenden Leitern hin und her. Sie schienen durch die Luft zu schweben, und Schriftrollen flatterten ihnen wie Flügel nach, wenn sie von einem Regal zum nächsten glitten.
Es kam Lazlo ganz unmöglich vor, diesen Ort wieder zu verlassen. Er fühlte sich wie ein Wanderer in einem verwunschenen Wald. Jeder weitere Schritt verstärkte den Zauber, und so ließ er sich willig hineinziehen, von Raum zu Raum. Ein Instinkt schien ihn zu leiten und führte ihn verborgene Treppen hinab bis zu einem Untergeschoss voller dick verstaubter Bücher, deren Schlummer seit Jahren ungestört geblieben war. Nun schreckte Lazlo sie auf. Es kam ihm vor, als würde er sie erwecken, während sie dasselbe mit ihm taten.
Er war dreizehn und hatte schon jahrelang nicht mehr Tizerkan gespielt. Genauer gesagt hatte er überhaupt nicht gespielt oder sich andere Fehltritte erlaubt. In der Abtei war Lazlo nur eine weitere Gestalt in Grau, die gehorchte, arbeitete, betete, Psalmen sang, betete, arbeitete, betete, schlafen ging. Kaum einer der Brüder erinnerte sich noch an seine frühere Wildheit. Sie schien ihm abhandengekommen zu sein.
Doch tatsächlich hielt sie sich nur in der Tiefe versteckt. Die Geschichten waren alle noch da, jedes einzelne Wort, das er von Bruder Cyrus gehört hatte. Ein Winkel seines Bewusstseins hegte sie wie einen geheimen Schatz aus Gold.
An diesem Tag wurde der Schatz schlagartig größer. Viel größer. Die Bücher unter der Staubschicht enthielten Geschichten: Märchen, Sagen, Mythen und Legenden. Ihr Inhalt umspannte die ganze Welt und reichte Jahrhunderte oder mehr zurück. Vollständige Regale, wunderbare Reihen aus Bücherborden, waren Geschichten aus Weep gewidmet. Er zog einen der Bände heraus, mit mehr Ehrfurcht als jemals bei den heiligen Texten der Abtei, blies den Staub fort und begann zu lesen.
Tage später fand ihn ein älterer Bibliothekar, aber nur, weil er nach ihm gesucht hatte. Er trug einen Brief des Abts in der Tasche seiner Robe. Ansonsten hätte Lazlo wer weiß wie lange dort unten hausen können, einem Höhlenjungen ähnlich, und sich womöglich zu einem echten Wilden entwickelt: das Wolfskind der Großen Bibliothek, fließend bewandert in drei toten Sprachen und allen Geschichten, die je darin geschrieben wurden, aber zerlumpt wie ein Bettler in den Gassen des Grins.
Stattdessen nahm man ihn als Lehrling auf.
»Die Bibliothek hat ihren eigenen Willen«, sagte der alte Meister Hyrrokkin, während er Lazlo eine verborgene Treppe hinaufführte. »Wenn sie einen Jungen stibitzt, sollte sie ihn behalten.«
Lazlo hätte kaum besser in die Bibliothek gepasst, wäre er selbst ein Buch gewesen. In den Tagen, die folgten – und den Monaten und Jahren, während er zu einem Mann heranwuchs –, sah man ihn kaum ohne einen aufgeschlagenen Wälzer vor der Nase. Er las beim Gehen. Er las beim Essen. Die Bibliothekare hegten den Verdacht, dass er sogar beim Schlafen las oder vielleicht überhaupt nicht schlief. Wenn er ausnahmsweise von den Seiten aufschaute, wirkte er immer, als würde er aus einem Traum erwachen. ›Lazlo der Träumer‹ nannten sie ihn deshalb, oder auch etwas abfällig den ›Traumtänzer Lazlo‹. Es half seinem Ruf nicht gerade, dass er zuweilen beim Lesen in Wände hineinlief und seine Lieblingsbücher aus einem verstaubten Kellergeschoss stammten, das zu betreten sich niemand sonst die Mühe machte. So trieb er dahin, den Kopf voller Mythen und immer halb in einer anderen Welt verloren, die aus Geschichten gesponnen war. Dämonen und Flügelschmiede, Seraphim und Geister, er liebte sie alle. Wie ein Kind glaubte er an Magie und wie ein Bauerntölpel an Spukgespenster. Seine Nase war gebrochen, weil ihm gleich am ersten Tag als Lehrling ein dicker Märchenband darauf gefallen war, und das, munkelte man, verriet wohl alles Nötige über Lazlo Strange: Kopf in den Wolken, lebt in seiner eigenen Welt, nur Märchen und Hirngespinste.
Das meinten die Leute, wenn sie ihn einen Träumer nannten, und sie hatten nicht Unrecht. Aber ihnen entging das Wesentliche. Eine tiefere Wahrheit. Denn Lazlo hatte einen Traum, der ihn beharrlich leitete und der so sehr ein Teil von ihm geworden war, dass es sich anfühlte wie eine zweite Seele unter seiner Haut. Seine ganze Gedankenlandschaft war davon geprägt, eine zerklüftete, überwältigende Wildnis, passend zu einem kühnen, großartigen Traum. Zu kühn und zu großartig für jemanden von seiner Sorte. Das war ihm klar. Aber der Traum wählt nun einmal den Träumer, nicht umgekehrt.
»Nun, was hast du diesmal für Lesestoff, Strange?«, fragte Meister Hyrrokkin, kam herbeigehinkt und stellte sich hinter ihn an den Auskunftstresen. »Einen Liebesbrief, will ich hoffen.«
Der alte Bibliothekar äußerte diesen Wunsch ungebührlich oft. Er ließ sich auch nicht davon abschrecken, dass die Antwort immer Nein lautete. Lazlo lag seine übliche Replik schon auf der Zunge, doch nach einer Gedankenpause sagte er: »Könnte man so nennen.« Er hielt das Schriftstück in die Höhe, das vom Alter vergilbt und spröde war.
Ein Hoffnungsfunke erleuchtete das verblasste Braun von Meister Hyrrokkins Augen, doch als er seine Brille zurechtgerückt hatte und auf das Papier schaute, verschwand der zufriedene Schimmer. »Das scheint mir eher eine Rechnung zu sein«, stellte er fest.
»Stimmt, aber eine Rechnung für was?«
Skeptisch kniff Meister Hyrrokkin die Augen zusammen, um zu lesen. Dann gab er plötzlich ein bellendes Lachen von sich, bei dem jeder Kopf in dem großen, stillen Saal herumfuhr. Sie befanden sich hier nämlich im Pavillon der Gedanken. Gelehrte in scharlachroten Roben saßen über lange Tische gebeugt, und alle schauten von ihren Schriftrollen und Büchern auf, um sie mit scharfem Tadel zu beäugen. Meister Hyrrokkin nickte entschuldigend in die Runde und reichte Lazlo das Schriftstück zurück. Es handelte sich um eine alte Rechnung für eine sehr große Lieferung Aphrodisiaka, bestellt von einem längst verstorbenen Herrscher. »Anscheinend hatte er den Beinamen ›König der Minne‹ nicht bloß wegen seiner Poesie, was? Aber was treibst du da? Hoffentlich nicht das, wonach es aussieht. Um Gottes Willen, Junge. Sag mir, dass du deinen freien Tag nicht damit verbringst, Rechnungen zu archivieren.«
Lazlo war kein Junge mehr. Zumindest äußerlich ähnelte er dem schmächtigen Findelkind mit zerschnittenem Kahlkopf nicht im Geringsten. Er war hoch aufgeschossen und hatte sich die Haare lang wachsen lassen, sobald er den Mönchen mit ihren stumpfen Rasierklingen entkommen war. Seine dunkle, schwere Mähne band er mit Buchbinderzwirn zusammen und machte sich sonst wenig Gedanken darum. Seine Brauen waren dunkel und buschig, seine Gesichtszüge kantig und breit. ›Grobschlächtig‹, hätte man sagen können, oder sogar ›ganovenhaft‹ wegen der gebrochenen Nase, die im Profil einen scharfen Winkel bildete und von vorne gesehen deutlich nach links geknickt war. Insgesamt wirkte sein Aussehen roh und ungeschliffen. Nur seine Träumeraugen passten nicht zu alledem: groß, grau und unbedarft. Im Moment vermochten sie dem Blick von Meister Hyrrokkin nicht ganz standzuhalten. »Keineswegs«, sagte Lazlo wenig überzeugend. »Wie verrückt müsste man sein, um seinen freien Tag mit dem Archivieren von Rechnungen zu verbringen?«
»Also, was tust du dann hier?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ein Palastverwalter hat eine alte Truhe voller Rechnungen in einem Keller entdeckt. Ich werfe nur einen Blick darauf.«
»Nun ja, das ist eine schockierende Verschwendung deiner Jugend. Wie alt bist du jetzt? Achtzehn?«
»Zwanzig«, erinnerte Lazlo ihn, obwohl er in Wahrheit nicht sicher sein konnte. Als Junge hatte er sich seinen Geburtstag nach dem Zufallsprinzip ausgesucht. »Und Ihr habt Eure Jugend auf die gleiche Weise verschwendet, Meister.«
»Genau, ich bin ein warnendes Beispiel! Schau mich doch an.« Lazlo tat es. Er sah eine gebeugte, verblichene Männergestalt mit einem Pusteblumenflaum aus Haaren, Bart und Brauen. Dieser Wildwuchs überwucherte das Gesicht in einem solchen Maße, dass nur eine kleine spitze Nase und runde Brillengläser herausschauten. Lazlo fand, dass der Meister einem aus dem Nest gefallenen Eulenküken ähnelte. »Willst du dein Leben als halbblinder Eremit beenden, der durch die Eingeweide der Bibliothek hinkt?«, fragte der Alte. »Sieh zu, dass du vor die Tür kommst, Strange. Atme die frische Luft, schau dich um. Ein Mann sollte Falten um die Augen haben, weil er auf den Horizont gestarrt hat, nicht vom Lesen bei dämmrigem Licht.«
»Ein Horizont? Was ist denn ein Horizont?«, fragte Lazlo mit unschuldiger Miene. »Ist das so etwas wie das Ende eines Buchregals?«
»Nein«, sagte Meister Hyrrokkin. »Nicht im Geringsten.«
Lächelnd wandte sich Lazlo wieder seinen Rechnungen zu. Nun ja, wenn man es so ausdrückte, wirkten die Schriftstücke sogar in seiner Vorstellung langweilig. Tatsächlich handelte es sich um uralte Lieferscheine und Ladungsverzeichnisse, was eventuell ein Quäntchen spannender klang. Sie stammten aus einer Zeit, als der Palast noch die königliche Residenz gewesen war und Güter aus allen Ecken der Welt hierher geströmt waren. Außerdem archivierte Lazlo sie nicht. Er überflog sie nur und hielt Ausschau nach den verräterischen Schnörkeln eines bestimmten seltenen Alphabets. Lazlo suchte, wie er es eigentlich immer tat, nach Hinweisen auf die Verborgene Stadt –so nannte er sie in Gedanken, denn Weep hatte immer noch einen Beigeschmack von Tränen. »Nur einen Moment, dann gehe ich nach draußen«, beruhigte er Meister Hyrrokkin. Er nahm sich die Worte des alten Mannes zu Herzen, auch wenn es nicht so wirkte. Tatsächlich hegte er keineswegs den Wunsch, den Rest seiner Tage in der Bibliothek zu verbringen, halbblind oder nicht. Er setzte seine ganze Hoffnung darauf, dass er eines Tages mit Augen voller Lachfältchen auf einen Horizont starren würde.
Allerdings war der Horizont, an den er dabei dachte, sehr weit weg.
Und außerdem, unglücklicherweise, verbotenes Gebiet.
Meister Hyrrokkin deutete auf ein Fenster. »Dir ist hoffentlich bewusst, dass wir dort draußen Sommer haben?« Als Lazlo nicht antwortete, fügte er hinzu: »Große orange Sonnenscheibe am Himmel, reichlich Dekolleté beim schöneren Geschlecht. Sagt dir das etwas?« Immer noch keine Reaktion. »Strange?«
»Was?« Lazlo schaute auf. Er hatte kein Wort gehört. Stattdessen hatte er gefunden, wonach er gesuchte hatte: einen Stapel Rechnungen aus der Verborgenen Stadt. Das hatte seine ganze Aufmerksamkeit gefordert.
Der alte Bibliothekar seufzte dramatisch. »Du musst wohl tun, was du nicht lassen kannst«, sagte er. Seine Stimme klang halb resigniert und halb nach düsterer Prophezeiung. »Aber sieh dich vor. Die Bücher mögen unsterblich sein, wir sind es nicht. Eines Morgens gehst du ahnungslos nach unten in die Sammlung, und wenn du wieder hochkommst, hast du einen Bart bis zum Bauch und noch kein einziges Liebesgedicht an ein Mädchen verfasst, dem du beim Eislaufen auf dem Eder begegnet bist.«
»Lernt man so Mädchen kennen?«, fragte Lazlo nur halb im Scherz. »Nun, der Fluss wird erst in ein paar Monaten zufrieren. Bis dahin habe ich also Zeit, meinen Mut zu sammeln.«
»Nichts da! Mädchen sind kein Phänomen, das nur in der Zeit der Winterruhe auftritt. Geh jetzt! Pflück ein paar Blumen und finde eine, der du sie schenken kannst. So einfach ist das. Schau nach freundlichen Augen und breiten Hüften, verstehst du? Hüften, Junge. Du hast nicht wirklich gelebt, bevor du dein Haupt auf eine schöne, weiche –«
Glücklicherweise wurde er unterbrochen, weil ein Gelehrter sich mit einer Frage an ihn wandte.
Man hätte von Lazlo eher verlangen können, sich eine neue Hautfarbe zuzulegen, als sich einem Mädchen zu nähern und es anzusprechen. Geschweige denn sein Haupt auf ein schönes, weiches Was-auch-immer zu betten. In seinem Leben zwischen Abtei und Bibliothek war er nahezu keiner weiblichen Person begegnet, erst recht keiner jungen. Er hatte nicht den Schimmer einer Idee, was er in so einem Fall sagen sollte. Im Übrigen nahm er an, dass wenige Mädchen es begrüßen würden, Avancen von einem mittellosen Lehrling der Bibliothek zu bekommen, der noch dazu eine schiefe Nase und den zweifelhaften Namen Strange mitbrachte.
Der Gelehrte entfernte sich, und Meister Hyrrokkin setzte seine Ermahnungen fort. »Das Leben wird dir nicht einfach so passieren, Junge«, sagte er. »Du musst es beim Schopfe packen. Wie heißt es doch: Der Geist wird träge, wenn man sich keiner Passion hingibt.«
»Mit meinem Geist ist alles in Ordnung.«
»Was schon beweist, dass du dich auf einem tragischen Irrweg befindest. Du bist jung. Dein Geist sollte nicht bloß ›in Ordnung‹ sein, sondern eine Sprudelquelle der Vitalität.«
Mit dem Geist war in diesem Gespräch nicht die Seele gemeint. Nichts so Abstraktes. Es ging um den Geist des Leibes – eine klare Flüssigkeit, die vom zweiten Herzen durch ein Gefäßnetzwerk gepumpt wurde, doch weit unauffälliger und mysteriöser als der Hauptkreislauf. Welche Funktion es besaß, hatte die Wissenschaft nicht endgültig feststellen können. Menschen konnten weiterleben, auch wenn das zweite Herz stehen blieb und der Geist in den Adern erstarrte. Aber die Flüssigkeit hatte eine Verbindung zur Vitalität oder ›Passion‹, wie Meister Hyrrokkin es ausdrückte. Ohne den zweiten Kreislauf wurde man gefühlskalt und lethargisch. Geistlos.
»Vielleicht solltet Ihr Euch lieber um Euren eigenen Geist kümmern«, sagte Lazlo. »Dafür ist es nie zu spät. Ich bin sicher, viele Witwen würden sich gerne von einem solch romantischen Eremiten umwerben lassen.«
»Das war anmaßend, mein Junge.«
»Anmaßend vielleicht, aber nicht unangemessen.«
Meister Hyrrokkin seufzte. »Ich vermisse die Zeit, als du in rechtschaffener Furcht vor mir gelebt hast. Auch wenn sie nur kurz war.«
Lazlo lachte. »Das habt Ihr den Mönchen zu verdanken. Sie haben mir Ehrfurcht vor dem Alter eingebläut. Ihr habt mich davon befreit, und für Eure Lehren werde ich immer dankbar sein.« Er sagte es mit Wärme in der Stimme, und dann – Lazlo konnte sich nicht helfen – huschte sein Blick wieder zu den Listen in seiner Hand zurück.
Der Alte sah es und stieß ein unwirsches Schnauben aus. »Schon gut, schon gut, amüsier dich mit deinen Rechnungen. Aber ich gebe nicht auf. Was nützt es, alt zu sein, wenn man den jungen Leuten nicht seine großartigen Vorräte an Lebensweisheiten aufdrängen kann?«
»Und wozu ist man jung, wenn man nicht alle Ratschläge in den Wind schlagen kann?«
Meister Hyrrokkin grummelte vor sich hin und wandte seine Aufmerksamkeit einem Stapel Folianten zu, die gerade an den Tresen zurückgebracht worden waren. Lazlo tat das Gleiche mit seiner bescheidenen Entdeckung. Stille herrschte im Pavillon der Gedanken, nur unterbrochen vom Rollen der Leitern und dem Wispern umgeblätterter Seiten.
Und dann, nach einem Moment, von einem leisen, überraschten Pfiff Lazlos. Seine Entdeckung war, wie sich herausstellte, doch nicht so bescheiden.
Meister Hyrrokkin hob interessiert den Kopf. »Noch mehr Liebestränke?«
»Nein«, sagte Lazlo. »Schaut hier.«
Der Alte rückte wie üblich umständlich seine Augengläser zurecht, dann starrte er kurzsichtig auf das Papier. »Ah«, sagte er mit leidgeprüfter Miene, »noch mehr Mysterien aus Weep. Ich hätte es wissen müssen.«
Weep. Der Name traf Lazlo wie ein schmerzhafter Stich hinter den Augen. Die Herablassung traf ihn ebenfalls, auch wenn sie nicht überraschend kam. Normalerweise behielt Lazlo das Ausmaß seiner Faszination für sich. Niemand verstand sie, und erst recht wollte niemand sie teilen. Früher einmal hatten die Verborgene Stadt und ihr Schicksal ein ziemliches Maß an Neugier geweckt, aber nach zwei Jahrhunderten blieb kaum mehr als eine Fabel. Was den gespenstischen Moment des Namenswechsels anging, so hatte er wenig Aufmerksamkeit erregt. Nur Lazlo hatte gespürt, wie es geschah. Andere erfuhren erst später davon, aus allmählich durchsickernden Gerüchten. Für sie blieb höchstens das Gefühl zurück, etwas vergessen zu haben. Es gab Leute, die von einer Verschwörung oder einer Feindeslist munkelten, doch die meisten stülpten sich entschlossen ihre Scheuklappen über und entschieden, dass der Name schon immer Weep gelautet hatte. Alle gegenteiligen Behauptungen seien bloß Humbug und Feenstaub. Es gab schlicht keine andere sinnvolle Erklärung.
Vor allem nicht Magie.
Lazlo wusste, dass Meister Hyrrokkin kein Interesse hatte, doch seine Aufregung war zu groß, um sich darum zu scheren. »Lest es einfach«, sagte er und hielt dem Alten das Schriftstück unter die Nase.
Meister Hyrrokkin las und wirkte kein bisschen beeindruckt. »Nun, was soll damit sein?«
Was soll damit sein? Unter den aufgelisteten Waren – Gewürzen, Seidenstoffen und ähnlichem – befand sich ein Eintrag für Konfekt aus Svytagorblut. Davon hatte Lazlo bisher nur in Märchen gehört. Man hielt es schon für reine Folklore, dass die Flussungeheuer überhaupt existierten, geschweige denn, dass aus ihrem rosaroten Blut ein Elixier der Unsterblichkeit gewonnen werden konnte. Aber hier stand es nun, gekauft und bezahlt durch das Königshaus von Zosma. Genauso gut hätte man Drachenschuppen auf die Liste setzen können. »Blutkonfekt«, sagte er und zeigte auf den Eintrag. »Seht Ihr denn nicht? Es war real.«
Meister Hyrrokkin schnaubte. »Eine Rechnung macht es real? Wäre es das gewesen, würden die Käufer heute noch leben und könnten dir selbst davon erzählen.«
»Keineswegs«, widersprach Lazlo. »In den Geschichten heißt es, dass man nur dann unsterblich bleiben konnte, wenn man regelmäßig davon aß. Nachdem die Lieferungen aufhörten, war das nicht mehr möglich.« Er zeigte auf das Datum der Rechnung. »Zweihundert Jahre alt. Vielleicht stammt das hier sogar von der allerletzten Karawane.«
Die letzte Karawane, die jemals aus dem Elmuthaleth aufgetaucht war ... Lazlo sah eine leere Wüste vor sich, eine untergehende Sonne. Hinweise auf das Mysterium hatten stets einen belebenden Effekt auf ihn wie ein Trommelschlag, der seinen Puls beschleunigte. Das galt für beide Pulse, den aus Blut und den des Geistes. Die Rhythmen seiner zwei Herzen waren verwoben wie der Synkopentakt zweier Hände auf verschiedenen Trommeln.
Als Neuling in der Bibliothek war er sicher gewesen, hier Antworten zu finden. Zum einen gab es die Bücher in dem staubigen Kellergeschoss, aber darüber hinaus noch viel mehr. Die ganze Weltgeschichte, so schien es ihm, war an diesem wundersamen Ort in Buchdeckel gebunden, in Schriftrollen gewickelt und auf Regalen archiviert. Naiv hatte er gedacht, auch die geheimsten Antworten müssten hier verborgen liegen, und man bräuchte nur Geduld und den Willen, sie zu finden. Beides besaß Lazlo, und so suchte er nun seit sieben Jahren. Er durchforschte alte Tagebücher, Briefbündel, Spionageakten, Landkarten, Verträge, Handelsaufzeichnungen, Sitzungsprotokolle königlicher Sekretäre und alles andere, was es auszugraben gab. Je mehr Lazlo erfuhr, desto größer wuchs der geheime Schatz in ihm und füllte inzwischen nicht nur einen Winkel, sondern strömte über und erfüllte sein ganzes Bewusstsein.
Von dort hatte er sich auch auf Papier ergossen.
Während seiner Kindheit in der Abtei waren Geschichten Lazlos einziger Besitz gewesen. Hier war er reicher. Nun besaß er Bücher.
Seine eigenen Bücher, um genau zu sein: seine Worte, mit eigener Hand geschrieben und sorgfältig in Fadenheftung vernäht. Die Einbände bestanden nicht aus Leder und Blattgold wie im Pavillon der Gedanken. Er musste sich mit Schlichterem begnügen. Zu Anfang hatte er Papier aus den Abfallkörben gefischt, halb beschriebene Seiten, fortgeworfen von verschwenderischen Gelehrten. Zum Vernähen hatte er sich mit den abgeschnittenen Enden von Buchbinderzwirn begnügen müssen, die bei Reparaturen in der Buchwerkstatt übrig blieben. Tinte war schwer aufzutreiben, doch auch hierbei halfen ihm unwissentlich die Gelehrten. Manche warfen Fässchen fort, an deren Boden noch ein halber Daumenbreit schwappte. Lazlo hatte die Tinte mit Wasser verlängern müssen, deshalb füllten geisterhaft blasse Worte seine ersten Bände, doch nach ein paar Jahren Lehrlingszeit hatte er nun Anrecht auf ein armseliges Gehalt, das ihm zumindest ermöglichte, Tinte zu kaufen.
Inzwischen hatte Lazlo eine Menge Bücher. Sie standen ordentlich auf dem Fensterbrett seiner kleinen Kammer. Darin enthalten waren sieben Jahre Forschung und jeder kleinste Hinweis auf die Stadt Weep und ihr doppeltes Mysterium.
Was sie nicht enthielten, waren Antworten.
Irgendwann im Laufe der Zeit hatte Lazlo sich damit abgefunden, dass er nichts dergleichen entdecken würde, nicht in all den Wälzern auf den unglaublich vielen Regale. Und wie könnte es auch anders sein? Hatte er sich wirklich eingebildet, dass die Bibliothek von allwissenden Feen bestückt wurde, die das gesamte Weltgeschehen aufzeichneten, egal wie geheim oder weit entfernt? Natürlich nicht. Falls es Antworten gab, dann im Süden und Osten des Kontinents Namaa, am anderen Ende des Elmuthaleth, von wo nie jemand zurückgekehrt war.
Gab es die Verborgene Stadt noch? Lebten ihre Bewohner? Was war vor zwei Jahrhunderten geschehen? Und was vor fünfzehn Jahren?
Welche Macht konnte einen Namen aus der Erinnerung der ganzen Welt austilgen?
Lazlo wollte losziehen und es herausfinden. Das war sein Traum, kühn und großartig: dorthin zu reisen, einmal um die halbe Welt, und die Mysterien selbst zu lösen.
Natürlich war es unmöglich.
Aber seit wann hielt das einen Träumer vom Träumen ab?
Meister Hyrrokkin war immun gegen Lazlos Staunen. »Das sind nur Geschichten, Junge. Fantastereien. Krimskrams. Es gab kein Elixier der Unsterblichkeit. Wenn überhaupt, dann war es angedicktes Blut mit Zucker.«
»Aber schaut Euch den Preis an«, versteifte sich Lazlo. »Hätte man solche Summen für Blut mit Zucker ausgegeben?«
»Was wissen wir schon darüber, wie Könige ihr Geld herauswerfen? Das bedeutet gar nichts, außer dass jemand reich und leichtgläubig war.«
Lazlos Begeisterung begann nachzulassen. »Ihr habt recht«, musste er zugeben. Die Rechnung bewies bloß, dass etwas namens Blutkonfekt verkauft worden war, nicht mehr und nicht weniger. Trotzdem war er nicht bereit, ganz aufzugeben. »Immerhin legt der Text nahe, dass die Svytagor real waren.« Er zögerte. »Vielleicht.«
»Mag sein, aber was nützt das?«, meinte Meister Hyrrokkin. »Wir werden es nie erfahren.« Er legte Lazlo eine Hand auf die Schulter. »Du bist kein Kind mehr. Ist es nicht an der Zeit, dich davon zu lösen?« Sein Mund war vor Pusteblumenflaum nicht sichtbar, nur eine angedeutete Linie zuckte lächelnd, wo der Schnurrbart seinen Vollbart überlappte. »Du hast genug Arbeit für geringen Lohn. Warum willst du dir unbezahlt noch mehr aufbürden? Niemand wird es dir danken. Bibliothekare sind dafür da, Bücher zu finden. Überlass es den Gelehrten, nach Antworten zu suchen.«
Er meinte es gut. Das wusste Lazlo. Der Alte war durch und durch ein Geschöpf der Bibliothek. Ihr Kastensystem erschien ihm als das eherne Gesetz einer perfekten Welt. Innerhalb dieser Mauern herrschten die Gelehrten als Oberschicht und alle anderen waren ihre Diener – besonders die Bibliothekare, deren Aufgabe lautete, sie bei ihrer wichtigen Arbeit zu unterstützen. Gelehrte hatten an der Universität studiert. Bibliothekare nicht. Selbst wenn sie einen genauso klugen Kopf besaßen, fehlte ihnen das nötige Gold. Ihre einzige Ausbildung bestand in der Lehrlingszeit. Je nach Meister mochte das bedeuten, dass sie gelehrter waren als die Gelehrten. Aber schließlich kann auch ein Butler seinen Herren an Vornehmheit übertreffen, und dennoch wird er immer der Butler bleiben. Gleiches galt für die Bibliothekare. Niemand verbot ihnen, die Bücher zu studieren, solange ihre Pflichterfüllung nicht darunter litt. Doch es verstand sich von selbst, dass sie damit nur privat ihren Horizont erweiterten, ohne der Welt der Wissenschaft etwas hinzuzufügen.
»Warum sollten die Gelehrten allein das Vergnügen haben?«, meinte Lazlo. »Niemand studiert die Geschichte von Weep.«
»Weil das Thema tot und begraben ist«, sagte Meister Hyrrokkin. »Gelehrte beschäftigen sich mit Dingen, die wichtig sind.« Er legte sanften Nachdruck auf wichtig.
Und genau in diesem Moment, wie um seine Worte zu unterstreichen, schwangen die Flügeltüren auf und ein Gelehrter marschierte herein.
Der Pavillon der Gedanken war früher ein Ballsaal gewesen. Seine Türen waren doppelt so hoch wie gewöhnlich und fast dreimal so breit. Die meisten Gelehrten, die ein und aus gingen, fanden es angemessen, eine Hälfte zu öffnen und leise hinter sich zu schließen. Nicht so dieser Mann. Er legte je eine Hand auf die beiden massiven Flügel und gab ihnen einen Stoß. Als sie vibrierend gegen die Wände krachten, war er bereits hindurch und seine Stiefelabsätze hallten auf dem Marmorboden wider. Kein flatterndes Gelehrtengewand behinderte seine langen, selbstsicheren Schritte. Er verabscheute volles Ornat, außer zu zeremoniellen Anlässen, und trug stattdessen eine elegante Reitkleidung aus Überrock und Kniehosen, dazu hohe schwarze Stiefel und eine Duellklinge am Gürtel. Sein einziges Zugeständnis an die Tradition war die Krawatte, stets im Scharlachrot der Gilde. Er war kein einfacher Gelehrter, dieser Mann, sondern eine gloriose Verkörperung des Forschertums: die bekannteste Persönlichkeit in ganz Zosma, abgesehen von der Königin und dem Hierarchen, und populärer als jeder andere. Jung, strahlend, von Goldglanz umgeben. Er war niemand anderes als Thyon Nero, der Alchemist, zweiter Sohn des Herzogs von Vaal und Patensohn der Königin.
Beim Krachen der Tür hoben sich alle Köpfe. Doch statt der Verärgerung, die Meister Hyrrokkins Lachen erregt hatte, spiegelte sich auf den Gesichtern zuerst Überraschung und dann entweder Bewunderung oder Neid wider.
Meister Hyrrokkins Reaktion war pure Ehrfurcht. Der Anblick des Alchemisten ließ ihn aufleuchten wie eine Glavenlampe. Früher einmal wäre es Lazlo genauso ergangen. Jetzt nicht mehr. Allerdings schaute niemand in seine Richtung, um zu bemerken, dass er wie ein ängstliches Beutetier erstarrte und beim Näherkommen des ›Goldsohns‹ in sich zusammenschrumpfte. Zielstrebige Schritte marschierten genau auf den Tresen zu.
Ein solcher Besuch war außergewöhnlich. Für dergleichen hatte Thyon Nero seine Diener und Assistenten. »Eure Lordschaft«, sagte Meister Hyrrokkin und richtete sich so gerade auf, wie sein alter Rücken es erlaubte. »Wir sind geehrt von Eurem Besuch. Aber Ihr hättet Euch nicht die Mühe machen müssen, selbst zu kommen. Gewiss habt Ihr wichtigere Dinge zu tun, als Besorgungen zu erledigen.« Der Bibliothekar warf Lazlo einen Seitenblick zu. Hier, falls es Lazlo entgangen sein sollte, war das bestmögliche Beispiel für einen Gelehrten, der sich mit ›wichtigen Dingen‹ beschäftigte.
Und was waren das für Dinge, auf die Thyon Nero seinen Scharfsinn richtete?
Nichts Geringeres als die treibende Lebenskraft des Universums: ›Azoth‹, die geheime Essenz, nach der alle Alchemisten seit Jahrhunderten suchten. Im Alter von sechzehn Jahren war es ihm gelungen, sie zu destillieren. Seitdem hatte er wahre Wunder gewirkt und unter anderem das edelste Ziel seiner altehrwürdigen Kunst erreicht, die Verwandlung von Blei in Gold.
»Sehr freundlich, Meister Hyrrokkin«, sagte dieser Inbegriff von Brillanz, gesegnet mit dem Gesicht und der Klugheit eines Gottes. »Aber ich dachte, dass ich besser selbst kommen sollte.« Er hielt eine aufgerollte Buchliste in die Höhe. »Damit niemand sich fragt, ob bei der Bestellung ein Fehler vorliegt.«
»Ein Fehler? Das wäre gewiss nicht nötig gewesen, Eure Lordschaft«, versicherte Meister Hyrrokkin. »Bei einer Bestellung von Euch gibt es keine Diskussionen, ganz gleich, wer sie abgibt. Wir sind hier, um zu dienen, nicht um Fragen zu stellen.«
»Ich bin froh, das zu hören«, sagte Nero mit einem Lächeln, das bekannt dafür war, ganze Salons voller Damen in stumme Verwirrung zu stürzen. Dann schaute er geradewegs Lazlo an.
Der Augenkontakt kam so unerwartet, dass er wie ein plötzlicher Schwall Eiswasser wirkte. Lazlo hatte sich nicht gerührt, seit die Türflügel aufgekracht waren. Das geschah ihm immer, wenn Thyon Nero sich in der Nähe befand. Sein Körper erstarrte, und er fühlte sich genauso unsichtbar, wie der Alchemist ihn behandelte. Lazlo war an schneidendes Schweigen gewöhnt und an einen kalten Blick, der durch ihn hindurchging, als würde er nicht existieren. Deshalb war der Blickkontakt ein Schock und die folgenden Worte ein noch größerer. »Und was ist mit dir, Strange? Bist du ebenfalls hier, um zu dienen, oder stellst du lieber Fragen?« Der Tonfall war leutselig, doch das Glimmen in den blauen Augen Neros erfüllte Lazlo mit düsteren Vorahnungen.
»Um zu dienen, Eure Lordschaft« antwortete er. Seine Stimme war so zerbrechlich wie das vergilbte Papier in seiner Hand.
»Gut.« Nero hielt seinen Blick fest, und Lazlo musste gegen den Drang ankämpfen, die Augen abzuwenden. So starrten sie sich an, der Alchemist und der Bibliothekar. Zwischen ihnen lag ein Geheimnis, das wie alchemistisches Feuer brannte. Selbst der alte Meister Hyrrokkin spürte es und schaute nervös zwischen den beiden jungen Männern hin und her. Nero sah aus wie ein Sagenprinz, von dem man sich am Lagerfeuer erzählt, nichts als Schimmer und Glanz. Lazlo hatte seit dem Wickelkindalter immerhin keine graue Haut mehr, aber seine Lehrlingsrobe war grau, genau wie seine Augen, als sei diese Farbe Ausdruck seines Schicksals. Er war ein stiller Mensch und besaß das Talent, unbemerkt zu bleiben wie ein Schatten. Thyon ähnelte einem Leuchtfeuer, das alle Blicke auf sich zog. Alles an ihm war so schnittig und elegant wie frisch geglättete Seide. Er hatte einen Leibdiener für seine Rasur, der die Klinge täglich schärfte, und seine Schneiderrechnung hätte ausgereicht, ein ganzes Dorf zu ernähren.
Dagegen bestand Lazlo nur aus rauen Kanten: Sackleinen im Vergleich zu Neros Seide. Seine Robe war schon gebraucht gewesen, als er sie vor einem Jahr erhalten hatte. Der Saum zerfaserte vom Hinwegschleifen über die groben Steinstufen der Archivkeller. Außerdem war die Kleidung viel zu weit, sodass seine Gestalt regelrecht darin verschwand. Die beiden Männer waren gleich groß, doch Nero stand da, als würde er für einen Bildhauer posieren, während Lazlo nervös die Schultern einzog. Was wollte Nero von ihm?
Der Alchemist wandte sich wieder dem alten Bibliothekar zu. Er hielt den Kopf erhoben, sodass sein perfektes Kinn zur Geltung kam. Wenn er mit jemandem sprach, der kleiner war als er selbst, senkte er stets nur die Augen, nicht das Haupt. Er reichte dem Alten seine Bestellung hinüber.
Meister Hyrrokkin entrollte das Papier, rückte seine Brille zurecht und las. Dann rückte er die Brille wieder zurecht und las noch einmal. Er schaute hoch. Zuerst sah er Nero an, dann Lazlo.
Und in diesem Moment wusste Lazlo Bescheid. Ihm war klar, was auf dem Bestellformular stand. Ein taubes Gefühl breitete sich in ihm aus. Es war, als hätten Blut und Geist gleichzeitig zu zirkulieren aufgehört, genau wie der Atem in seiner Lunge.
»Lasst alles in meinen Palast bringen«, sagte Nero.
Meister Hyrrokkin öffnete verwirrt den Mund, ohne dass ein Ton herauskam. Sein Blick huschte wieder zu Lazlo, doch das Glavenlicht spiegelte sich in den Brillengläsern, sodass seine Augen nicht zu erkennen waren.
»Vielleicht sollte ich die Adresse aufschreiben?«, fragte Nero. Seine Leutseligkeit war reiner Hohn. Jedermann kannte den Palast aus rosafarbenem Marmor, den die Königin am Flussufer für ihn hatte errichten lassen. Und Nero wusste, dass jeder es wusste. Die Adresse war sicher nicht der entscheidende Punkt.
»Natürlich nicht, Eure Lordschaft«, sagte Meister Hyrrokkin. »Es ist nur, äh ...«
»Gibt es ein Problem?«, fragte Nero in einem wohlwollenden Ton, der nicht zur Schärfe in seinen Augen passte.
Ja, dachte Lazlo. Ja, es gibt ein Problem. Aber der Blick reichte, um Meister Hyrrokkin einknicken zu lassen. »Nein, Eure Lordschaft. Gewiss ... gewiss ist es eine große Ehre.« Die Worte waren wie ein Dolchstoß in Lazlos Rücken.
»Wunderbar«, sagte Nero. »Damit wären wir also fertig. Ich erwarte die Lieferung bis heute Abend.« Und er marschierte aus der Bibliothek, wie er gekommen war. Seine Stiefelabsätze schallten auf dem Marmorboden, und alle Blicke folgten ihm.
Lazlo drehte sich zu Meister Hyrrokkin um. Seine Herzen hatten wohl doch nicht aufgehört zu schlagen, denn sie flatterten schnell und unstet wie ein paar gefangene Motten. »Sagt mir, dass es nicht wahr ist«, forderte er.
Noch immer verwirrt hielt der alte Bibliothekar ihm schlicht die Bestellung entgegen. Lazlo nahm sie. Er las sie. Seine Hände zitterten. Das Formular enthielt, was er befürchtet hatte.
In Neros kühner, schwungvoller Handschrift stand dort: Die Gesammelten Werke des Lazlo Strange.
Meister Hyrrokkin fragte, vollständig perplex: »Was in aller Welt will Thyon Nero denn mit deinen Büchern?«
Der Alchemist und der Bibliothekar – sie hätten nicht unterschiedlicher sein können. Als habe Shres, der vaterlose Gott des Glücks, sie nebeneinander gestellt und seinen Korb voller Geschenke zwischen ihnen aufgeteilt: jede Gabe für Thyon Nero, eine nach der anderen – bis auf die allerletzte, die er vor Lazlos Füßen in den Dreck fallen ließ.
»Sieh zu, was du daraus machen kannst«, hätte er wohl mit einem Anflug von Bosheit gesagt, wenn es solch einen Gott tatsächlich gegeben hätte.
Für Thyon Nero: ein Adelstitel, Reichtum, Schönheit, Charme, Brillanz.
Für Lazlo Strange als einzigen Rest, den er aus dem Staub aufheben und abklopfen konnte: Ehrgefühl.
Vermutlich wäre es sogar besser für ihn gewesen, wenn Nero auch das noch bekommen hätte.
Genau wie Lazlo war Thyon Nero während des Krieges geboren worden. Doch mit dem Krieg ist es wie mit dem Glück. Die Leute werden davon in verschiedenem Ausmaß getroffen. Thyon wuchs im Schloss seines Vaters auf, fern vom Anblick und lästigem Geruch des Leids. Am selben Tag, als ein grauhäutiges, namenloses Findelkind auf einen Karren gepackt und zur Zemona-Abtei gebracht wurde, hatte der Goldsohn seine Taufe und wurde nach einem Kriegsheiligen benannt, der einst die Barbaren aus Zosma vertrieben hatte. Zu der prunkvollen Zeremonie war der halbe Hofstaat eingeladen. Er war ein kluges, wunderhübsches Kind, und obwohl seinem älteren Bruder der Titel und Landbesitz zufielen, bekam er alles andere – Liebe, Aufmerksamkeit, Lachen, Applaus – und forderte es auch lautstark ein. Während Lazlo ein stilles Baby war, das unter der strengen Hand unwilliger Mönche aufwuchs, entwickelte Thyon sich zu einem kleinen, charmanten Tyrannen, der alles verlangte und noch mehr bekam.
Lazlo schlief zusammengepfercht mit den anderen Jungen, ging hungrig zu Bett und wachte frierend auf.
Thyons Babywiege hatte die Form eines Kriegsschiffes mit Masten und echten Segeln. Sie besaß sogar kleine Kanonen und war so schwer, dass zwei kräftige Kindermädchen gebraucht wurden, um Thyon in den Schlaf zu wiegen. Seine Haare hatten eine erstaunliche Farbe, ähnlich der Sonne auf Freskenmalereien, die man anstarren kann, ohne schmerzhaft geblendet zu werden. Deshalb durfte er sie lang wachsen lassen, obwohl das für Jungen nicht üblich war. Nur zu seinem neunten Geburtstag wurden sie einmal geschnitten, und seine Patentante, die Königin, ließ sich einen meisterhaften Halsschmuck daraus weben. Zum Ärger aller Goldschmiede wurde es daraufhin ein regelrechter Modetrend, sich mit Ketten aus Menschenhaar zu schmücken. Allerdings konnte keine der Nachahmungen die Strahlkraft des Originals erreichen.
Von dem Moment an, als die Königin ihn bei der Taufe zum Patensohn nahm, wurde er nur noch ihr ›Goldsohn‹ genannt, und vielleicht war sein Lebensweg damit vorgezeichnet. Namen haben Macht, und Thyon wurde von frühester Jugend mit Gold in Verbindung gebracht. Also war es überaus treffend, dass er beim Besuch der Universität bald seinen Platz in der Akademie der Alchemisten fand.