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Arbeitslos, von der Familie verstoßen und vom LKW überfahren. Jackpot. Doch der letzte Gedanke eines 34-jährigen NEET wird erhört: „Könnte ich doch nur noch einmal von vorne anfangen!“ Und so findet er sich als Rudeus Greyrat, Sohn eines Ritters und einer Heilerin, mit allen Erinnerungen an sein altes Leben in einer Welt voller Schwerter, Magie und Dämonen wieder. Mit Feuereifer übt er sich in der Magie und im Schwertkampf, wobei er Roxy, seiner Magistra, auch schon mal das Höschen stibitzt. Vor allem aber will er seine Fehler aus der Vergangenheit nicht wiederholen. Er ergreift die Gelegenheit und stürzt sich voller Tatendrang in das Abenteuer seines zweiten Lebens, mit dem festen Entschluss, diesmal alles anders zu machen!
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Seitenzahl: 290
Cover
Farbseiten
Prolog
Kapitel 1: „Bin ich in einer anderen Welt?“
Kapitel 2: Das distanzierte Dienstmädchen
Kapitel 3: Das Lehrbuch der Magie
Kapitel 4: Die Magistra
Kapitel 5: Schwerter und Magie
Kapitel 6: Gründe für Respekt
Kapitel 7: Freunde
Kapitel 8: Schwer von Begriff
Kapitel 9: Notfall-Familientreffen
Kapitel 10: Das Leid mit dem Wachsen
Kapitel 11: Der Abschied
Bonusstory: Die Mutter der Familie Greyrat
Charakterdesign Entwürfe
Über JNC Nina
Impressum
Farbseiten
Inhaltsverzeichnis
Das war ich: vierunddreißig, ohne Job und obendrein noch obdachlos. Ich war klein und dick, wirklich kein Hingucker, aber eigentlich ein netter Kerl – und ich bereute mein ganzes Leben.
Auf der Straße war ich erst vor drei Stunden gelandet. Davor war ich der klassische, klischeehafte Hikikomori. Ich ging nie aus dem Haus und hatte rein gar nichts aus meinem Leben gemacht. Aber dann starben ganz plötzlich meine Eltern. Da ich das Haus nie verließ, fehlte ich natürlich auch bei der Beerdigung und während der Totenriten.
Auf alle Fälle wurde ich danach echt beeindruckend vor die Tür gesetzt.
Ich war Meister darin, an Wände und den Boden zu klopfen, wenn ich etwas wollte. Aber so dreist, wie ich mich bisher hatte durchfüttern lassen, hatte ich nun keinerlei Freunde mehr.
Am Tag der Beerdigung war ich gerade dabei, mir einen runterzuholen, als meine Geschwister, noch in Trauerkleidung, zu mir ins Zimmer stürmten und mir ein Schriftstück hinknallten, in dem sie mich offiziell aus der Familie verstießen. Als ich sie ignorierte, zertrümmerte mir mein jüngerer Bruder mit einem Baseballschläger den Computer, der mir wichtiger als mein Leben war. Mein älterer Bruder blieb angesichts dieser Zerstörungswut nicht untätig – er stürzte sich auf mich und schlug mich windelweich. Er hatte einen schwarzen Gürtel im Karate.
Ich schluchzte die ganze Zeit erbärmlich und hoffte, dass es einfach vorüberging. Aber meine Geschwister warfen mich mit nichts als den Kleidern auf dem Leib aus dem Haus. Und so lief ich durch die Stadt, in meiner Seite ein pochender Schmerz. Ich hatte offenbar mindestens eine gebrochene Rippe.
Die gehässigen Beschimpfungen, die sie mir nachwarfen, als ich das Haus verließ, werden mir bis in alle Ewigkeit in den Ohren klingen. Was sie sagten, war so grob, dass es unerträglich war, es zu hören. Ich war am Boden zerstört.
Was zum Teufel hatte ich überhaupt falsch gemacht? Ich hatte doch nur die Trauerfeier für meine Eltern geschwänzt und zu unzensierten Loli-Pornos 5 gegen Willi gespielt.
Und nun? Wie ging’s weiter?
Na ja, rational betrachtet kannte ich die Antwort: Einen Teil- oder Vollzeitjob suchen, eine Wohnung finden und mir was zu essen kaufen. Die Frage war nur: wie? Ich wusste ja nicht mal, wie man sich einen Job sucht.
Ja, okay, irgendwie schon. Es wäre nicht verkehrt, als Erstes die Arbeitsagentur Hello Work aufzusuchen – aber ich war wirklich seit mehr als zehn Jahren nicht mehr aus dem Haus gegangen, also hatte ich keinen blassen Schimmer, wo es so etwas gab. Ich hatte auch irgendwann mal gehört, dass diese Agentur nur Arbeitsangebote vermittelte. Man musste dann mit seinem Lebenslauf zur betreffenden Firma gehen, wenn sie einen zum Vorstellungsgespräch einluden.
Ein Vorstellungsgespräch in einem fleckigen Sweatshirt, voller Schweiß und Blut. Oberklasse. Ja nie im Leben! Wer würde denn jemanden einstellen, der aussah wie ein Psychopath? Klar, Eindruck würde ich mit Sicherheit machen, den Job bekäme ich aber nie.
Wo kaufte man überhaupt die Vordrucke für einen Lebenslauf? In einem Schreibwarengeschäft? Einem Convenience Store? In der Nähe gab es zwar Conbinis, aber ich hatte kein Geld.
Okay, mal angenommen, das wäre alles kein Problem. Mit etwas Glück könnte ich mir von einer Bank oder so etwas Geld leihen, mich mit neuen Klamotten ausstaffieren und mir auch Lebenslaufformulare und etwas zum Schreiben besorgen.
Aber dann fiel mir ein, dass in einem Lebenslauf die Angabe einer Adresse obligatorisch war ...
Mir kam die Erkenntnis: Ich war am Arsch. Mein ganzes Leben war am Arsch.
Und dann begann es zu regnen.
„Ach komm ...“
Der Sommer war vorbei und es war kühl geworden. Das alte Sweatshirt, das ich schon seit Jahren trug, war im Nu vom kalten Regen durchnässt und raubte meinem Körper ohne jede Gnade die kostbare Wärme.
„Ach, wenn ich doch nur noch mal von vorne anfangen könnte“, rutschte mir unwillkürlich heraus.
Ich war nicht schon von Geburt an so ein Versager gewesen. Ich war als dritter Sohn in eine eigentlich ganz wohlhabende Familie geboren. Insgesamt hatte ich zwei ältere Brüder, eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder.
Schon in der Grundschule lobten mich alle, weil ich für mein Alter ziemlich intelligent war. Ich war zwar kein guter Schüler, dafür hatte ich aber ein geschicktes Händchen bei Videospielen und sportlich war ich auch. In meiner Klasse kam ich mit allen gut aus.
In der Mittelschule trat ich dem Computerclub bei, las Zeitschriften und sparte mein Taschengeld, um mir einen eigenen PC zu bauen. Meine Familie, die Computer nicht mal buchstabieren konnte, interessierte sich nicht dafür.
Erst in der Oberschule – nein, eher im letzten Jahr der Mittelschule – ging dann alles den Bach runter. Ich beschäftigte mich nur noch mit meinem Computer, sodass ich die Schule komplett vernachlässigte. Im Nachhinein betrachtet war das wahrscheinlich der Auslöser für alles andere.
Ich glaubte nicht, für eine gute Zukunft lernen zu müssen. Ich hielt es für sinnlos. So kam es, dass ich an einer Schule landete, die Gerüchten zufolge als die schlechteste Schule der Präfektur galt, auf die nur die unterste Unterschicht ging.
Aber ich war trotzdem überzeugt, es irgendwie zu schaffen. Ich spielte ja gar nicht in der gleichen Liga wie der Rest dieser Idioten. Mir genügte es zu wissen, dass ich schon könnte, wenn ich nur wollte.
Falsch gedacht.
An das, was dann kam, kann ich mich bis heute lebhaft erinnern. Ich stand in der Schlange am Pausenstand der Schule, um mir mein Mittagessen zu kaufen, doch plötzlich drängte sich jemand vor. Natürlich beschwerte ich, der rechtschaffene Junge, der ich war, mich bei dem Kerl. Ich verpasste ihm mit eigentlich seltsamem Selbstbewusstsein, übermäßig pubertär veranlagt, einfach eine rechte Gerade mitten in die Fresse.
Aber wie es der Zufall wollte, war der Kerl nicht nur älter als ich, sondern einer der richtig fiesen Schlägertypen, die in der Schule auch richtig einen auf dicke Hose machten. Er und seine Kumpels droschen mir das Gesicht zu Brei und hängten mich wie bei einer Kreuzigung splitternackt am Schultor auf.
Natürlich knipsten sie auch Fotos ohne Ende, die sich in der Schule wie ein Lauffeuer verbreiteten. In der Schulhierarchie fiel ich in den Negativbereich, und ab diesem Zeitpunkt war ich überall nur noch als „Mini-Wini“ bekannt.
Ich ging über einen Monat lang nicht mehr zur Schule und verkroch mich in meinem Zimmer. Mein Vater und meine älteren Brüder sahen zwar, in welchem Zustand ich war, aber mit ihren Sprüchen wie „Kopf hoch, Brust raus“, „Niemals aufgeben“ und so konnte ich nichts anfangen. Ich habe das alles ignoriert.
Es war doch nicht meine Schuld. Wer in aller Welt würde sich unter solchen Umständen noch in die Schule trauen? Niemand, genau. Egal, was die anderen sagten, ich blieb standhaft. Und in meinem Zimmer. Alle anderen in meinem Jahrgang hatten die Bilder gesehen und lachten mich aus. Da war ich mir sicher.
Ohne das Haus zu verlassen, mit Computer und Internet, konnte ich so viel Zeit totschlagen, wie ich wollte. Ich wurde durch das Internet beeinflusst, interessierte mich für alles Mögliche und machte auch alles Mögliche. Ich kaufte Modellbausätze, bemalte Figuren und startete meinen eigenen Blog. Meine Mutter gab mir dafür so viel Geld, wie ich ihr rausleiern konnte, fast so, als wolle sie mich bei all dem unterstützen.
Aber egal, was es war, jedes dieser Hobbys gab ich innerhalb eines Jahres wieder auf. Jedes Mal, wenn jemand etwas besser konnte als ich, verlor ich jegliche Motivation. Für einen Außenstehenden sah es wahrscheinlich so aus, als würde ich einfach nur rumgammeln und meinen Spaß haben. In Wirklichkeit war ich in meinem Schneckenhaus eingesperrt und hatte allein eben nichts Besseres zu tun.
Nein. Eigentlich war das nur eine weitere Ausrede. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wäre ich Mangaka geworden und hätte einen dummen kleinen Webmanga ins Netz gestellt, oder hätte ich doch wenigstens eine Light Novel geschrieben und als Fortsetzungsroman veröffentlicht oder eben etwas Ähnliches. Es gab viele Leute, die in einer ähnlichen Situation waren wie ich, die so etwas taten.
Über solche Leute hatte ich mich immer lustig gemacht.
„Boah, was für Bullshit“, schnaubte ich spöttisch, wenn ich ihre Werke sah, und spielte mich als Kritiker auf, obwohl ich selbst gar nichts zustande brachte.
Ich wollte wieder zur Schule – am liebsten in die Grundschule oder vielleicht in die Mittelschule. Verdammt, sogar ein oder zwei Jahre in der Zeit zurück, das würde doch schon reichen. Nur ein klein bisschen mehr Zeit ... dann könnte ich doch was reißen! Ich hatte bisher vielleicht alles immer nur halbherzig gemacht, aber da könnte man doch zumindest ansetzen. Wenn ich mich wirklich anstrengen würde, könnte ich ein Profi in einer Sache werden, der Beste musste ich doch gar nicht sein.
Ich seufzte. Warum hatte ich mir eigentlich noch nie die Mühe gemacht, etwas zu erreichen?
Ich hatte Zeit gehabt. Selbst wenn ich diese Zeit nur in meinem Zimmer vor dem Computer verbracht hatte, hätte ich viel tun können. Auch wenn ich nicht der Beste war, hätte ich irgendwas schaffen können, wenn ich mich auch nur halbwegs zusammengerissen hätte.
Manga oder Light Novels wären doch cool gewesen. Oder auch Videospiele oder Programmieren. Wie auch immer, mit der richtigen Anstrengung hätte ich etwas erreicht, damit Geld verdienen können und ...
Nein. Das war jetzt nicht mehr von Bedeutung. Ich hatte mich nun mal nicht angestrengt. Selbst wenn ich in die Vergangenheit zurückkehren könnte, würde ich nur wieder irgendwo hängen bleiben und von einem ähnlichen Hindernis aufgehalten werden. Ich hatte nie geschafft, Dinge zu bewältigen, die für normale Menschen keinerlei Problem darstellten, und war deshalb nun mal hier gelandet.
„Nanu?“ Plötzlich hörte ich inmitten des Regens jemanden streiten. Zoffte sich da jetzt wer? Das war nicht gut. Ich wollte nicht in so etwas hineingezogen werden. Doch trotzdem marschierten meine Füße automatisch weiter in diese Richtung.
„Ey Alter, du hast doch ...“
„Nein, DU hast doch ...“
Was ich vorfand, waren drei Oberschüler, offensichtlich in ein Liebeshändel verwickelt. Es waren zwei Jungen und ein Mädchen, in heutzutage schon fast altmodischen Schuluniformen. Die Jungen in militärisch anmutenden Jacken mit Stehkragen, das Mädchen in Matrosenuniform. Ein besonders großer Bursche war mit dem Mädchen in ein Wortgefecht verwickelt. Der andere Junge hatte sich zwischen die beiden gestellt, um sie zu beschwichtigen, aber es war offensichtlich vergebliche Liebesmüh.
Jawoll. Been there. Done that.
Dieser Anblick weckte alte Erinnerungen. Damals in der Mittelschule hatte ich eine langjährige Freundin, die recht schnuckelig war. Damit meine ich, dass sie die Viert- oder Fünftschönste der Klasse war. Sie trug ihr Haar sehr kurz, weil sie in der Leichtathletikmannschaft war. Von zehn Leuten, an denen sie auf der Straße vorbeiging, drehten sich mindestens zwei oder drei um und sahen ihr nach. Allerdings gab es da diesen einen Anime, auf den ich damals total abfuhr, und daher hatten Leichtathletinnen einen Pferdeschwanz zu haben. So hatte sie für mich auch etwas nicht so Hübsches an sich.
Sie wohnte ganz in der Nähe, sodass wir fast die ganze Grund- und Mittelschule in derselben Klasse waren und in der Mittelschule gingen wir häufig zusammen nach Hause. Wir hatten uns oft unterhalten, aber auch oftmals gestritten. Leider. Bis heute bringen mich die Stichworte „Mittelschule“, „Jugendfreundin“ und „Leichtathletik“ jedes Mal zum Schuss.
Ich glaube, ich habe mal Gerüchte gehört, dass sie vor etwa sieben Jahren geheiratet hat. Und mit „Gerüchten“ meine ich, dass ich meine Geschwister im Wohnzimmer belauscht habe.
Wir hatten sicherlich keine schlechte Beziehung. Wir kannten uns, seit wir klein waren, und konnten daher ziemlich offen miteinander reden. Ich glaube nicht, dass sie sich je in mich verknallt hatte, aber wenn ich eifriger gelernt hätte und auf dieselbe Oberschule gekommen wäre wie sie, oder wenn ich dem Leichtathletikteam beigetreten wäre, hätte das vielleicht die richtigen Signale gesendet. Und wenn ich ihr dann gesagt hätte, was ich für sie fühlte, wären wir vielleicht zusammengekommen.
Jedenfalls haben wir uns auf dem Heimweg gestritten, genau wie diese drei Kids hier. Oder, wenn es gut lief, haben wir uns nach der Schule in einem leeren Klassenzimmer verabredet und dort unanständige Dinge getan.
LOL, das könnte glatt aus einem der Pornogames sein, die ich immer gespielt habe.
Na, die haben ja wirklich ein real life.
Und da war er: Ein LKW raste direkt auf die Dreiergruppe zu. Der Fahrer war zusammengesackt und am Steuer eingeschlafen.
Die Kids hatten ihn noch nicht bemerkt.
„Ah, hey! Achtung! Achtung!“, rief ich – oder versuchte es zumindest. Ich hatte seit über einem Jahrzehnt kaum laut gesprochen, und meine ohnehin schon schwachen Stimmbänder hatten sich durch die Schmerzen in meinen Rippen und die Kälte des Regens noch weiter verkrampft. Alles, was ich zustande brachte, war ein jämmerliches Krächzen, das vom Rauschen des Regens verschluckt wurde.
Ich muss ihnen doch helfen!, dachte ich, aber gleichzeitig kam mir auch ein Warum ich? in den Sinn. Aber mir war klar, täte ich nichts, würde ich es fünf Minuten später bereuen. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich es bereuen würde, wenn ich mit ansehen müsste, wie drei Teenager von einem rasenden Lastwagen zu Matsche verarbeitet würden.
Es war besser, sie zu retten. Ich musste etwas tun.
Höchstwahrscheinlich würde ich tot am Straßenrand enden, aber ich dachte mir, dass zumindest ein bisschen Befriedigung nicht so schlecht sei. Ich wollte meine letzten Momente nicht in Reue verbringen.
Ich stolperte mehr, als ich lief. Nach mehr als zehn Jahren, in denen ich mich kaum bewegt hatte, reagierten meine Beine kaum. Zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich mir, ich hätte mehr Sport getrieben. Meine gebrochenen Rippen verursachten enorme Schmerzen, fast wäre ich bewusstlos geworden. Zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich mir auch, ich hätte mehr Kalzium zu mir genommen.
Autsch. Wegen der Schmerzen konnte ich kaum laufen.
Trotzdem lief ich. Ich rannte. Ich konnte rennen.
Der Junge, der vorhin rumgebrüllt hatte, bemerkte den herannahenden Lastwagen und zog das Mädchen dicht an sich heran. Der andere Junge hatte weggeschaut und den LKW noch immer nicht bemerkt. Ohne zu zögern, packte ich den Ahnungslosen am Kragen und zerrte ihn mit aller Kraft hinter mich in Sicherheit.
Einer gerettet, bleiben noch zwei.
In diesem Augenblick sah ich den LKW direkt vor mir. Ich hatte zwar den Jungen gerettet, aber dabei hatte ich mit ihm einfach nur den Platz getauscht und mich selbst in Gefahr gebracht. War so klar. Der Trägheitssatz. Ich hatte die Bewegung meiner Hundert-Kilo-Masse nicht rechtzeitig bremsen können.
Gerade als mich der LKW erfasste, glaubte ich, hinter mir ein Leuchten zu sehen. Zog gleich mein Leben an mir vorbei, wie es immer hieß? Es dauerte nur einen Moment, also konnte ich es nicht sagen. Es ging alles so verdammt schnell. Na, ich hatte auch nicht wirklich ein Leben gehabt.
Der LKW, der mehr als das Fünfzigfache meines Gewichts auf die Waage brachte, schleuderte mich gegen eine Betonwand. „Huarrgh!“ Es presste mir die Luft aus den Lungen, dabei rang ich immer noch krampfhaft nach Sauerstoff, weil ich so schnell gerannt war.
Ich konnte nicht mehr sprechen, aber ich war nicht tot. Die Fettpölsterchen mussten mich gerettet haben. Aber der Lastwagen bewegte sich weiter. Er drückte mich weiter gegen den Beton, zerquetschte mich wie eine Tomate, und dann war ich tot.
Als ich aufwachte, bemerkte ich als Erstes ein unangenehm grelles Licht. Ich blinzelte, doch alles war schneeweiß, und ich sah erst mal gar nichts.
Doch als sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten, war vor mir eine junge Blondine, die mich neugierig anschaute. Es war wirklich ein schönes Mädchen ... nein, Korrektur: eine schöne junge Frau.
Ui. Wer ist denn das?
Neben ihr stand ein ebenfalls noch ziemlich junger Mann, der mich unbeholfen anlächelte. Er sah stark aus; er wusste garantiert genau, was er wollte. Wow, und was für Muckis!
Er hatte braunes Haar und erweckte einen Eindruck, als sei er vollkommen von sich überzeugt ...
Solche Angebertypen waren mir prinzipiell sofort unsympathisch, aber seltsamerweise fühlte ich hier gar nicht so. Wahrscheinlich, weil sein Haar nicht gefärbt war, sondern von Natur aus ein schönes Braun hatte.
„─ ─ ─ × ─ ─ ××××.“
Die Frau sah mich an und sagte mit einem Lächeln etwas zu mir. Hm? Was sagt die denn da? Es klang undeutlich und ich hatte Mühe, auch nur ein Wort zu verstehen. Nein. Eigentlich verstand ich gar keins. Das war doch kein Japanisch, oder?
„────×××××────×××× ...“
Auch der Mann sagte etwas, und auch er sah mich liebevoll an. Hey, ernsthaft: Was wollen die von mir?!
„──××──×××.“
Von irgendwoher kam eine dritte Stimme. Eine Person, die ich nicht sehen konnte. Ich wollte mich aufrichten und fragen, wo ich denn war und wer diese Leute waren. Ich lebte zwar jahrelang ganz abgekapselt, aber das hieß ja nicht, dass ich kommunikationsgestört war. So viel brachte ich doch noch zustande!
„Wääh, wäääh.“
Aus meinem Mund kam allerdings nur ein Wimmern und Weinen. Auch meinen Körper konnte ich nicht bewegen. Meine Finger und Arme konnte ich zwar rühren, aber ich konnte mich nicht aufsetzen. Und dann nahm mich der Mann auf den Arm.
Ey, Mann! Hallo? Ich wiege zwei Zentner! Mich hebt man doch nicht so einfach ... Obwohl ... Wenn ich seit Wochen im Koma gelegen habe, habe ich vielleicht abgenommen ... Es war ja ein ziemlich schlimmer Unfall, in den ich verwickelt gewesen war. Es war gut möglich, dass ich nicht mit allen Gliedmaßen davongekommen war.
Mein Leben wird die reinste Hölle werden.
★ ★ ★
Ein Monat verging und mir war die Erkenntnis gekommen: Ich war wiedergeboren worden und zwar als Baby.
Das konnte ich schließlich bestätigen, nachdem ich hochgehoben und meinen Körper sehen konnte, als ich in die Wiege gelegt wurde. Aber warum hatte ich immer noch alle meine Erinnerungen an mein früheres Leben? Nicht, dass ich mich beschwert hätte. Eine Reinkarnation mit Erinnerungen – diese Fantasie hatte doch sicher jeder schon mal. Dass sie aber Realität wird, hätte ich nie erwartet.
Bei den beiden Personen handelte es sich offenbar um meine neuen Eltern. Sie mussten so um die Anfang zwanzig sein. Auf jeden Fall waren sie deutlich jünger als ich in meinem früheren Leben. Für mein vierunddreißigjähriges Ich waren sie praktisch noch Kinder.
Irgendwie war ich eifersüchtig, dass sie in diesem Alter schon eine Familie gegründet hatten.
Wie mir am ersten Tag schon aufgefallen war, war ich nicht in Japan gelandet. Die Sprache war anders, meine Eltern sahen nicht aus wie Japaner und auch die Kleidung sah aus wie eine Art Volkstracht. Es gab keinerlei elektrische Haushaltsgeräte (eine Art Zofe in Uniform wischte das Zimmer nur mit einem Lappen!!), und das Geschirr und die Möbel waren aus Holz und recht grob gefertigt. In einer Industrienation war ich schon mal nicht.
Wir hatten nicht einmal elektrisches Licht, nur Kerzen und Öllampen. Aber vielleicht waren sie auch einfach nur arm wie die Kirchenmäuse und konnten die Stromrechnung nicht bezahlen.
O Gott ... ob das wirklich der Fall war? Aber wenn sie ein Dienstmädchen hatten, konnten sie doch keine armen Schlucker sein, oder? Na ja, vielleicht war sie ja eine verarmte Verwandte. Könnte doch sein. Die würde doch sicher zumindest beim Putzen helfen.
Natürlich wollte ich noch mal von vorne anfangen, aber in eine Familie hineingeboren zu werden, die so arm war, dass sie nicht einmal die Stromrechnung bezahlen konnte, war ein miserabler Start in die Zukunft.
★ ★ ★
Ein weiteres halbes Jahr verging.
Nach sechs Monaten, in denen ich den Gesprächen meiner Eltern gelauscht hatte, verstand ich nun die Sprache einigermaßen. Meine Englischnoten waren nie die besten gewesen, aber es schien zu stimmen, dass die stets gepredigte full immersion im Land der Fremdsprache den Spracherwerb förderte. Oder hatte ich in diesem Körper ein besonderes Talent? Ich hatte das Gefühl, dass ich mir ungewöhnlich gut Dinge merken konnte, vielleicht weil ich noch jung war.
Ab diesem Zeitpunkt konnte ich dann auch krabbeln. Mobil zu sein, war eine wunderbare Sache. Ich war noch nie so dankbar, meinen Körper bewegen zu können.
„Lässt du den Kleinen nur eine Sekunde aus den Augen, ist er schon über alle Berge.“
„Ist doch gut, wenn er ein so lebhaftes Kind ist. Bei seiner Geburt habe ich mir echt Sorgen gemacht, weil er gar nicht geweint hat.“
„Er weint ja bis heute nicht.“
Ich war mental nicht gerade in dem Alter, in dem man jammert, weil man Hunger hat. Ich jammerte dann, wenn ich versuchte, mir nicht in die Hose zu machen, was mir aber regelmäßig misslang.
War man erst mal in der Lage, sich fortzubewegen, selbst wenn es nur durch Krabbeln ist, gewann man verschiedenste Erkenntnisse: Ich war definitiv in das Haus einer reichen Familie geboren worden. Es war ein zweistöckiger Holzbau mit mindestens fünf Räumen. Und das Dienstmädchen war wirklich angestellt. Auch wenn ich erst angenommen hatte, dass es meine Tante oder so sei. Aber da sie mit meinen Eltern so förmlich sprach, war es unwahrscheinlich, dass sie zur Familie gehörte.
Dann: Meine Familie lebte wirklich auf dem Land. Vom Fenster aus blickte man auf eine friedliche Landschaft. Inmitten der Weizenfelder gab es nur vereinzelt ein paar andere Häuser. Es war wirklich alles sehr ländlich. Es gab keine Telefonmasten oder Straßenlaternen, es gab vermutlich nicht mal ein Kernkraftwerk in der Nähe. In manchen Ländern wurden die Stromkabel ja unterirdisch verlegt, aber wenn das auch hier der Fall sein sollte, war es seltsam, dass wir in unserem Haus keinen Strom hatten.
Das war mir schon zu viel Ländlichkeit. Es nervte. Ich war die Annehmlichkeiten der Zivilisation gewohnt. Nach meiner Reinkarnation hätte ich schon gerne zumindest einen Computer in die Finger bekommen.
Das änderte sich eines Nachmittags.
Da ich nichts zu tun hatte, wollte ich einfach am Fenster sitzen und hinausschauen. Ich kletterte wie immer auf einen Stuhl, aber dann blieb mir der Mund offenstehen: Mein Vater fuchtelte im Garten mit einem Schwert herum.
Hä? Was? Was macht der denn da?
Mein Vater war doch echt zu alt für solch eine Kinderei, oder? Fantasy-Schwertkampf ... Das war doch total pubertär!
Oh, Scheiße ...
In einem Schreckmoment rutschte ich vom Stuhl.
Meine Babyhändchen klammerten sich an den Stuhl, konnten aber mein Gewicht nicht halten, die Schwerkraft tat das ihre, und ich landete auf dem Hinterkopf.
„Arrrgh!“
Ich schlug mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden auf und hörte sofort einen Alarmschrei. Ich sah, wie meine Mutter den Armvoll Wäsche, den sie trug, fallen ließ. Die Farbe wich ihr aus dem Gesicht und sie schlug die Hände vor den Mund. Sie eilte entsetzt herbei und nahm mich auf den Arm.
„Rudi!! Geht’s dir gut?!“
Als sie mir jedoch ins Gesicht blickte, entspannte sie sich und streichelte mir beruhigend die Brust.
„Ja, alles gut mit dir, ne?“
Hey, Madame! Obacht mit meinem Kopf. Wenn man sich den anhaut, sollte man ihn nicht viel bewegen.
So wie sie in Panik geraten war, musste ich einen ziemlich bösen Sturz hingelegt haben. Ich war direkt auf den Kopf geplumpst und hätte fortan dumm sein können. Andererseits wäre dann ja alles beim Alten. Höhö.
Ich spürte einen pochenden Schmerz. Ich versuchte, nach dem Stuhl zu greifen, aber ich hatte keine Kraft. Da sich meine Mutter auch gar nicht mal aufregte, blutete ich wohl auch nicht. Höchstwahrscheinlich bekam ich nur eine Beule oder so.
Sie nahm meinen Kopf genaustens unter die Lupe. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie die Sache, Verletzung hin oder her, ziemlich ernst nahm. Schließlich legte sie mir ihre Hand auf den Kopf.
„Nur um auf Nummer sicher zu gehen ... »Lass diese göttliche Kraft Nahrung sein, die dem, der seine Kraft verloren hat, die Kraft verleiht, wieder aufzustehen – Heilung!«“
WTF?!
War das gerade das „Heile, heile Segen“ hierzulande? Oder war meine Mutter genauso eine Fantasy-Spinnerin wie mein schwertschwingender Vater? Das ideale Paar: Schwertkämpfer heiratet Heilerin?!
Doch justament als ich das dachte, leuchtete die Hand meiner Mutter schwach auf, und der Schmerz verschwand augenblicklich.
Hä, was?
„Sodala. Jetzt ist wieder alles heile. Weißt du, deine Mami war mal eine ganz berühmte Abenteurerin“, erzählte sie mir voller Stolz.
In meinem Kopf herrschte Verwirrung. Schwert, Kämpfen, Abenteuer, Heilen, Arien ... Mir schwirrte der Kopf.
Ernsthaft, was war das denn gerade? Was hat die eben gemacht?
„Ist was?“ Weil meine Mutter so geschrien hatte, spähte mein Vater nun durchs Fenster. Er war ganz verschwitzt, vermutlich von seinem Schwerttraining.
„Hör mal, Rudi hätte sich fast schwer verletzt ... Er ist auf einen Stuhl geklettert.“
„Ach, Jungs sind eben so. Der hält das schon aus.“
Meine Mutter – immer leicht hysterisch, wohingegen meinen Vater so etwas komplett kaltließ. Der ganz normale Alltag bei uns. Aber dieses Mal ließ es meine Mutter nicht darauf beruhen, vielleicht, weil ich auf den Kopf gefallen war.
„Schatz, das Kind ist noch nicht einmal ein Jahr alt. Du solltest dir wirklich mehr Sorgen machen!!“
„Ich habe es doch schon so oft gesagt: Was ihn nicht umbringt, macht ihn stärker. Ist doch okay, wenn er hinfällt. Und du kannst ihn doch sowieso wieder heilen, wenn er sich wehtut.“
„Aber was ist, wenn er sich so schlimm verletzt, dass ich ihn eben nicht mehr heilen kann?“
„Ach komm, das passt schon.“
Er nahm uns beide in den Arm. Meine Mutter lief rot im Gesicht an.
„Du hast dir doch selber schon Sorgen gemacht, weil er anfangs nicht geweint hat. Aber wenn er wirklich so ein kleiner Lausbub ist, dann packt er das schon ...“
Er gab meiner Mutter einen Kuss.
Oh, oh. Es geht wieder los.
Dann brachten sie mich im Nebenzimmer ins Bett und gingen nach oben, um mir ein Geschwisterchen zu machen. Das wusste ich, weil aus dem Obergeschoss dann immer viel Gequietsche und Gestöhne in mein Zimmer drang. Jupp. Die hatten wohl ein real life.
Aber das gerade war schon Magie, oder?
★ ★ ★
Von da an begann ich, aufmerksam zuzuhören, was meine Eltern und das Dienstmädchen sagten. Dabei fiel mir auf, dass sie viele Wörter benutzten, die mir nicht geläufig waren. Die meisten davon waren die Namen von Ländern, Regionen und Gebieten – alles eindeutig Eigennamen, die ich noch nie gehört hatte.
Das musste doch heißen ... Nein, das hieß definitiv: Dies war nicht die Erde, sondern eine Parallelwelt. Eine Welt mit Schwertern und Magie.
Und mir kam die Erkenntnis: Das müsste ich doch dann auch können, oder? Schließlich war dies ein Ort der Fantasie, der nicht denselben Regeln des gesunden Menschenverstands gehorchte wie mein früheres Leben.
Ich konnte als normaler Mensch leben und die für diese Welt normalen Dinge tun. Fiel ich hin, rappelte ich mich eben wieder auf, rückte mir das Krönchen zurecht und machte einfach irgendwie weiter.
Mein früheres Ich war voller Bedauern gestorben, mit einem Gefühl der Hilflosigkeit und der Frustration darüber, dass ich im Leben nichts erreicht hatte. Aber: Ich hatte ja dazugelernt.
Mit all dem Wissen und der Erfahrung aus meinem früheren Leben konnte ich jetzt endlich etwas erreichen. So! In dieser Welt mache ich alles anders!
Lilia hatte früher im Harem des Asura-Palasts ihren Dienst als Kammerzofe und Leibwächterin getan. Normalerweise verrichtete sie die Arbeit einer Zofe, aber man erwartete von ihr, dass sie zu den Waffen griff und ihre Herrin verteidigte, wenn es nötig war. Als Zofe erfüllte sie ihre Aufgaben pflichtgetreu, ohne Fehl und Tadel. Ihr Talent mit dem Schwert jedoch ... Darüber breitete man besser den Mantel des Schweigens aus.
Eines Tages wurde sie mit einem Attentäter, der es auf die neugeborene Prinzessin abgesehen hatte, in einen Kampf verwickelt und mit einem Dolch am Bein verletzt. Die Klinge war jedoch vergiftet gewesen. Mit einem Gift, das die Königsfamilie hätte töten sollen, ein Gift, gegen das es kein Gegengift gab.
Die rasche Versorgung der Wunde durch Heilmagie und die Versuche eines Arztes, das Gift zu neutralisieren, retteten Lilia das Leben, doch sie hatte bleibende Schäden davongetragen. Im täglichen Leben war sie zwar nicht beeinträchtigt, aber sie konnte nicht mehr schnell laufen, und jemanden anzugreifen, stand mittlerweile auch außer Frage.
Lilias Leben als Schwertkämpferin war damit Geschichte. Sie wurde kurzerhand aus dem Palast entlassen und sie konnte auch voll und ganz nachvollziehen, warum. Sie war nun mal nicht mehr in der Lage, ihrer Aufgabe nachzukommen. Obwohl sie nun ihren Lebensunterhalt verloren hatte, war sie dennoch heilfroh, nicht heimlich hingerichtet worden zu sein und damit auch noch ihr Leben zu verlieren. Und so verließ Lilia die Hauptstadt.
Der Drahtzieher hinter dem Mordanschlag auf die Prinzessin war nicht gefunden worden. Da sie die Abläufe im Harem genau kannte, wusste Lilia sehr wohl, dass sie möglicherweise als Sündenbock dienen sollte. Oder hatte der Palast sie vielleicht entlassen, um den tatsächlichen Täter hervorzulocken, der hinter dem ganzen Komplott steckte?
Sie hatte sich sowieso schon immer gefragt, warum man eine Frau von so niederer Geburt wie sie überhaupt im Harem angestellt hatte. Vielleicht wollten sie ein einfaches Dienstmädchen einstellen, das man jederzeit leicht loswerden konnte.
Wie auch immer. Zu ihrer eigenen Sicherheit musste Lilia nun so weit wie möglich von der Hauptstadt weg. Unabhängig davon, ob der Palast sie wirklich als Köder benutzte, hatte sie keine Beschäftigung mehr, nichts hielt sie mehr zurück.
Sie hatte keiner Pflicht mehr nachzukommen.
Über diverse Postkutschen erreichte sie schließlich das Fürstentum Fittoa, ein riesiges landwirtschaftlich geprägtes Gebiet an den Grenzen des Königreichs. Abgesehen von der Zitadelle von Roa, der Stadt, in der der Lokalfürst residierte, gab es in der Region nur Weizenfelder über Weizenfelder.
Hier beschloss Lilia, sich nach Arbeit umzusehen.
Da sie auf einem Bein hinkte, stand eine Schwertkampfkarriere nicht mehr zur Debatte. Ihr Können würde zwar noch für eine Lehrerin der Schwertkunst reichen, aber sie zog es vor, als Dienerin zu arbeiten, vor allem, weil die Bezahlung besser war. Hier im Grenzland gab es viele, die mit einem Schwert umgehen und es anderen beibringen konnten. Es gab weitaus weniger voll ausgebildete königliche Kammerzofen, die in der Lage waren, die Leitung eines ganzen Haushalts zu übernehmen. Wenn das Angebot niedrig ist, steigt der Preis.
Eine Anstellung als Zofe beim Fürsten von Fittoa oder sogar bei den hochrangigen Adligen, die ihm dienten, war eine heikle Angelegenheit. Die Leute in diesen Kreisen hatten einen direkten Draht in die Hauptstadt. Wenn sie herausfanden, dass sie eine ehemalige Zofe im königlichen Harem gewesen war, würde sie höchstwahrscheinlich wieder in ein politisches Ränkespiel hineingezogen werden. Doch Lilia wollte damit nichts zu tun haben. Sie war dem Tod schon einmal von der Schippe gesprungen, und das reichte ihr.
Nichts gegen die Prinzessin, aber irgendwelche Erbfolgekriege sollten ohne ihr Wissen ablaufen. Lilia wollte leben, so wie es ihr beliebte.
Das Problem war, dass weniger wohlhabende Familien es sich nicht leisten konnten, ihre Dienste in Anspruch zu nehmen. Es erwies sich als ziemlich schwierig, eine Stellung zu finden, die sowohl sicher war als auch anständig bezahlt wurde.
★ ★ ★
Sie war bereits einen Monat in Fittoa herumgewandert, da fiel Lilia schließlich eine Stellenanzeige ins Auge. Ein Ritter von niedrigem Rang im Dorf Buena suchte eine Haushälterin. Gesucht war jemand mit Erfahrung in der Kindererziehung, der auch als Hebamme fungieren konnte.
Das Dorf Buena war ein kleiner Weiler an der Grenze von Fittoa, mitten im Nirgendwo, um nicht zu sagen: voll in der Pampa. Die Lage war ungünstig, aber ansonsten war es genau das, wonach Lilia gesucht hatte. Dass ihr potenzieller Arbeitgeber Ritter war, wenn auch nur von niederem Adel, war ein weiterer unerwarteter Segen.
Aber am meisten stach ihr der Name ihres Arbeitgebers ins Auge. Sie kannte ihn: Paul Greyrat.
Paul war ein Schüler von Lilias ehemaligem Meister gewesen. Eines Tages, als sie noch bei ihrem Meister in der Ausbildung war, war er als Sohn einer Adelsfamilie in der Trainingshalle aufgetaucht. Offensichtlich war er nach einem Streit von seinem Vater verstoßen worden und musste nun im Trainingsraum schlafen, um ordentlich im Schwertkampf ausgebildet zu werden.
Paul hatte zu Hause bereits Unterricht im Schwertkampf genossen, und obwohl er einen anderen Stil praktizierte, dauerte es nicht lange, bis seine Fähigkeiten die von Lilia übertrafen. Sie war darüber nicht sehr erfreut, aber im Nachhinein betrachtet hatte sie sowieso nie ein Talent dafür gehabt.
Paul schwitzte das Talent hingegen quasi aus jeder Pore aus. Eines Tages verließ er jedoch abrupt die Trainingshalle, nachdem er aus Gründen, die Lilia nicht kannte, für großes Aufsehen gesorgt hatte. Seine letzten Worte bei seinem Aufbruch waren: „Ich werde Abenteurer.“
Der Mann war wie ein Wirbelsturm.
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Es war sieben Jahre her, dass Lilia Paul das letzte Mal gesehen hatte. Und seitdem war er nicht nur Ritter geworden, sondern hatte auch noch eine Frau gefunden?! Sie wusste nicht, was für ein bewegtes Leben er hinter sich hatte, aber wenn er immer noch der Mann war, an den sie sich erinnerte, dann war er gar kein schlechter Kerl. Wenn er wüsste, dass sie in Schwierigkeiten steckte, würde er ihr wahrscheinlich helfen.
Und wenn er das nicht täte ... nun, dann würde sie einfach ein paar Dinge aus der guten alten Zeit erwähnen. Sie hatte einige Geschichten in petto, die sie bei Bedarf auspacken konnte. Mit solchen Überlegungen machte sie sich auf den Weg nach Buena.
Paul empfing Lilia mit offenen Armen. Seine Frau Zenith sollte bald ein Kind bekommen, und das Paar war ziemlich aufgeregt. Lilia verfügte über das nötige Know-how, da sie schon die Prinzessin auf die Welt geholt hatte und danach mit der Kinderpflege betraut war. Außerdem war sie keine Wildfremde. Und so bekam sie den Job.
Die Bezahlung war auch besser, als Lilia sich erhofft hatte. Für sie war es wie ein wahr gewordener Traum.
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Und dann wurde das Kind geboren.
Die Geburt selbst verlief problemlos, genau wie nach Lehrbuch. Es gab keinerlei Komplikationen.
Doch als es schließlich auf der Welt war, weinte das Kind nicht. Lilia brach der kalte Schweiß aus. Das Gesicht des Säuglings war ausdruckslos, Mund und Nase waren zwar frei, aber der Junge gab keinen Laut von sich. Sie dachte erst, es sei eine Totgeburt gewesen, doch sie konnte den warmen Puls des Babys und die Bewegungen seiner Atmung spüren.
Trotzdem weinte er nicht. Lilia erinnerte sich an etwas, das sie von einem der Dienstmädchen gehört hatte, das sie unterrichtet hatte: Kinder, die bei der Geburt nicht weinten, waren meist irgendwie nicht normal.
Doch genau in diesem Moment ertönte:
„Wäääh! Rubääh!“
Das Baby sah Lilia ins Gesicht und weinte. Vor Erleichterung fiel Lilia ein Gebirge vom Herzen.
Sie wusste nicht genau warum, aber es schien, als würde alles gut werden.
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