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Dieser Band enthält folgende Romane (449) Geisterhafte Vergangenheit (Carol East) Haus der Schatten (Alfred Bekker) Schreckensgalerie (Alfred Bekker) Dunkler Reiter (Alfred Bekker) Die junge Lehrerin Maureen Stanley tritt in einem kleinen Ort ihre erste Stellung an und mietet von dem etwas merkwürdig wirkenden Jason Cormick ein Haus, auf dem eine Art Fluch zu liegen scheint. Die Vormieterin endete im Wahnsinn. Sie glaubte von einem unheimlichen, schwarz maskierten Reiter verfolgt zu werden. Und genau dieser unheimliche Reiter scheint es auch auf Maureen abgesehen zu haben. Alfred Bekker ist Autor zahlreicher Romane und Erzählungen mit einer Gesamtauflage von über 4,5 Millionen Exemplaren. Außerdem ist er Verleger und Jazz-Musiker.
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Mystic Thriller Viererband 4003 - Vier Romane in einem Band!
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Geisterhafte Vergangenheit
Haus der Schatten
Schreckensgalerie
Dunkler Reiter
Dieser Band enthält folgende Romane
Geisterhafte Vergangenheit (Carol East)
Haus der Schatten (Alfred Bekker)
Schreckensgalerie (Alfred Bekker)
Dunkler Reiter (Alfred Bekker
Die junge Lehrerin Maureen Stanley tritt in einem kleinen Ort ihre erste Stellung an und mietet von dem etwas merkwürdig wirkenden Jason Cormick ein Haus, auf dem eine Art Fluch zu liegen scheint. Die Vormieterin endete im Wahnsinn. Sie glaubte von einem unheimlichen, schwarz maskierten Reiter verfolgt zu werden. Und genau dieser unheimliche Reiter scheint es auch auf Maureen abgesehen zu haben.
Alfred Bekker ist Autor zahlreicher Romane und Erzählungen mit einer Gesamtauflage von über 4,5 Millionen Exemplaren. Außerdem ist er Verleger und Jazz-Musiker.
Alfred Bekker
© Roman by Author /
© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
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Originaltitel: "Dunkle Vergangenheit"
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Carla de Verese blieb unwillkürlich stehen. Ihre großen, dunklen Augen verengten sich. Angestrengt schaute sie über die Straße. Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig ging ein Mann, scheinbar in Gedanken vertieft.
Carla vergaß den Trubel um sich und den dichten Verkehr auf der Straße. Sie beschattete mit der Linken ihre Augen und schaute hinüber, bis ihre Augen zu tränen begannen.
Das gibt es nicht! hämmerte es hinter ihrer hübschen Stirn. Sie ließ die Linke sinken und schüttelte den Kopf, daß ihre langen, schwarzen Haare flogen. Und dann lief sie einfach los. Sie kümmerte sich nicht um den dichten Verkehr. Sie hörte nicht die hupenden Autos und die quietschenden Bremsen. Auch nicht das Schimpfen der Autofahrer, die ihre Fahrzeuge im letzten Moment zum Stehen brachten, ehe Carla unter die Räder geriet. Sie lief einfach zwischen den Autos hindurch und konnte nicht ihren Blick vom gegenüberliegenden Bürgersteig lassen. Der Mann war noch da. Und er sah genauso aus wie Fernandos - John Fernandos! Aber der konnte er unmöglich sein, denn John Fernandos... war tot! Seit Jahren nun schon. Er starb unter tragischen Umständen, und sie hatte lernen müssen, diesen seinen Tod zu verkraften.
Nein, es konnte nicht den geringsten Zweifel geben. Wie oft war dieses Bild vor ihrem geistigen Auge aufgetaucht, das Bild in der Leichenaufbewahrung. Man hatte sie geladen, um seine Leiche zu identifizieren. Welch entsetzlicher Anblick, aber sie hatte sofort gewußt, daß sie die Leiche ihres Geliebten vor sich hatte. Sie hatte geschrieen und getobt. Mit Gewalt hatte man sie aus der Kühlkammer des gerichtsmedizinischen Institutes entfernen müssen. Tagelang hatte sie jegliche Nahrung verweigert. Sie hatte keine Sekunde mehr schlafen können. Wenn sie es auch nur gewagt hatte, kurz die Augen zu schließen, war sofort das schrecklich entstellte Gesicht ihres toten Geliebten vor ihrem geistigen Auge aufgetaucht. Ein Anblick, der sich in ihr Denken regelrecht festgefressen hatte, wie mit Säure.
Ein Jahr lang hatte sie psychiatrische Behandlung benötigt. Sonst hätte sie ihrem Leben längst ein Ende bereitet. Erst danach hatte sie endlich begonnen, das Unabänderliche zu akzeptieren: John Fernandos war unwiderruflich tot. Er würde niemals mehr zu ihr zurückkehren. Alles das, was zwischen ihnen gewesen war, ausgelöscht durch die kalte Hand des unbarmherzigen Todes.
Und jetzt schossen die Tränen in ihre Augen zurück, nach Jahren, in denen sie nicht mehr hatte weinen können. Sie wollte seinen Namen hinausschreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie brachte nicht einmal ein Krächzen hervor. Und die schlanke, schöne, südländisch wirkende Frau mit den endlos langen Beinen wie die von einer Tänzerin, erreichte endlich mit wehenden Rockschößen den Bürgersteig, auf dem sie John Fernandos gesehen hatte - einen quicklebendigen John Fernandos. Aber die wenigen Sekunden, als die Tränenflut ihren Blick verschleiert hatte, waren entscheidend gewesen: Der Mann war spurlos verschwunden, als hätte es ihn niemals gegeben.
Sie wirbelte mit angehaltenem Atem mehrmals um sich selbst. Ihre Hände fuhren durch die Luft, als wollten sie Halt suchen. Die Tränen liefen ihr die Wangen herunter, aber sie verschleierten nicht mehr ihren Blick. Sie sah glasklar, genauso klar wie vom anderen Bürgersteig, als sie herübergeschaut und diesen Mann gesehen hatte.
Er kann es nicht gewesen sein! Es ist unmöglich! hämmerten jetzt wieder ihre Gedanken. Du hast entweder geträumt oder du bist einer Verwechslung anheim gefallen. Es ist weit genug über die Straße, daß man etwas sehen könnte, was nicht wirklich sein kann. Eine gewisse Ähnlichkeit vielleicht, mehr nicht. Und du bist gleich durchgedreht. Ein wahres Wunder, daß du diese unüberlegte Hatz über die belebte Straße überhaupt mit heiler Haut überstanden hast. Es gibt also doch noch umsichtige Autofahrer in dieser Stadt. Zumindest heute morgen und genügend, daß sie mich haben überleben lassen.
Sie wich der drängelnden Menschenmasse aus und ließ sich von ihr bis zur Hausfassade treiben. Dort lehnte sie ihren heißen Rücken gegen den kühlenden Stein. Bevor die Mittagshitze, die für diese Jahreszeit typisch war, so richtig begann, spendeten die Häuser noch genügend kühle Frische, die sie über die Nacht aufgenommen hatten. Carla war auf dem Weg zu ihrer Arbeit. Sie hatte einen Sekretärinnenjob bei einem bekannten Immobilienmakler angenommen. Etwas anderes hatte sie nicht kriegen können. Schließlich hatte sie nie einen ordentlichen Beruf erlernt. Trotzdem war sie reich gewesen - und im gewissen Sinne auch mächtig! Wegen John hatte sie alles aufgegeben. Und dann hatte der Tod ihr das letzte genommen, was sie in diesem Leben noch besessen hatte.
Sie knirschte mit den Zähnen. Etwas, was überhaupt nicht ihrer ansonsten eher sanften Art entsprach. Entschlossenheit trat in ihre Miene. Auch das kannte man so ganz und gar nicht an ihr. Sie stieß sich von der Hausfassade ab und lenkte ihre Schritte zur nächsten Kreuzung. Diesmal wollte sie nicht einfach über die Straße laufen, sondern warten, bis die Fußgängerampel grün zeigte.
Doch dann verhielt sie wieder im Schritt. Dieser Mann... ER war in die andere Richtung gelaufen. Und ohne es zu wollen machte sie kehrt, um in dieselbe Richtung zu gehen. Sie tat es unter einem unerklärlichen Zwang, der allerdings nicht von außen auf sie einwirkte. Erst nach einigen Schritten wurde es ihr überhaupt bewußt, und sie kannte sogleich auch die Begründung: Ich muß diesen Mann finden. Ich muß mich mit eigenen Augen davon überzeugen, daß es nur eine Verwechslung war.
Und wieder schüttelte sie den Kopf, daß die Haare flogen. Passanten schauten sie erschrocken an. Carla de Verese achtete nicht auf sie. Sie beschleunigte ihre Schritte. Ja, sie mußte diesen Mann finden - und damit ihr Seelenheil, das sie sich in den letzten Jahren so mühselig erkämpft hatte. Sonst drehte sie wieder durch. Sonst kamen alle Erinnerungen wieder zurück - vor allem an diesen gräßlichen Anblick des toten John Fernandos.
*
Ihre Suche blieb ergebnislos, und Carla de Verese verspätete sich dadurch auch noch um über eine Stunde auf ihrem Arbeitsplatz. Dabei war sie auf die Arbeit zwingend angewiesen. Zwar konnte sie mit ihrem schmalen Gehalt, das sie dafür bekam, kaum große Sprünge machen und sich nicht einmal ein Auto leisten, aber ansonsten: Sie überlebte! Sie hatte eine winzige, aber hübsche Wohnung, die eigentlich größer gar nicht zu sein bräuchte, wie sie sich immer wieder selbst einredete, hatte satt zu essen, genügend Kleider, seit sie gelernt hatte, lieber dort zu kaufen, wo es besonders günstig war... Was wollte sie also mehr? Schließlich hatte sie auf diese Weise in den letzten Jahren all das Schreckliche aus der Vergangenheit nicht nur vergessen, sondern endgültig überwunden.
Aber die Begegnung mit diesem Phantom, das sie für John gehalten hatte... Es hatte alles schlagartig geändert. Jetzt auf einmal kamen ihr Zweifel an der Richtigkeit ihrer Lebensweise. Sie war einst eine echte de Verese gewesen. In dieser Familie war es geradezu ein Sakrileg, überhaupt so etwas wie Arbeit auch nur in Erwägung zu ziehen.
Sie preßte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und verdrängte diese ketzerischen Gedanken sogleich wieder. Nein, es war doch nicht das erste Mal in all den Jahren, daß solche Gedanken versuchten, in ihrem Denken Fuß zu fassen. Und wenn sie es versuchten, brauchte sie sich nur umzusehen. Das Leben, das sie zur Zeit führte, hatte sie zufriedener gemacht als sie es je hätte werden können - als eine echte de Verese. Dabei trug sie heute nur noch diesen Namen, mehr nicht. Sie war keine de Verese mehr, weil sie alles getan hatte, aus dem Familienclan ausgestoßen zu werden. Nur den Namen hatten sie ihr nicht aberkennen können. Ja, sie hatte ihn auch nicht aus eigenem Antrieb ablegen dürfen. Nicht so ohne weiteres jedenfalls, denn es gab Gesetz und Ordnung, und dazu gehörte es halt eben auch, daß man seinen Namen nicht völlig problemlos ganz nach Gutdünken ändern konnte. Wenigstens nicht, wenn man zu wenig Geld dazu hatte, und die Hilfe ihrer ehemaligen Familie wollte sie dafür nun wirklich nicht in Betracht ziehen. Obwohl die sicherlich nicht eine Sekunde gezögert hätten, ihr alles zu bezahlen, um sie damit endgültig loszuwerden - auch betreffend ihres Namens.
Seltsam, daß mir ausgerechnet jetzt all diese Gedanken kommen! dachte sie, als sie das riesige Bürogebäude betrat. Sie nickte dem Portier freundlich zu. Ein paarmal schon hatte sie mit dem älteren Mann gesprochen. Belanglose Worte mit einem netten Menschen. Es hatte beiden gutgetan, nicht immer nur die üblichen Klagen zu hören. Diese ständige Unzufriedenheit all ihrer Zeitgenossen... Ja, es tat gut, wenn man trotz seiner eher kargen Verhältnisse Zufriedenheit verspüren konnte, und das war Carla de Verese nun wirklich schon seit Jahren: zufrieden! Dabei gab es in der Tat nur einen einzigen Wermutstropfen: Sie vermißte nach wie vor John Fernandos, ihre einzige große Liebe!
Es schauderte ihr. Das war wie Schüttelfrost. Sie wurde doch nicht etwa krank?
Nein, das waren nur diese Gedanken, die sie so sehr quälten und die sie einfach nicht wieder losbekam, seit sie dieses Phantom von einem längst Verstorbenen gesehen hatte. Und wenn sie es sich noch so oft einhämmerte: John ist tot! Die Gedanken ließen sich nicht wieder abschalten. Was, wenn er...? - Es kann nicht sein! Es ist unmöglich! Ich habe das gerichtsmedizinische Gutachten gesehen. Den Gebißbefund. Den Knochenbefund. Die Gewebeproben... Der Tote, das war eindeutig niemand anderes als John Fernandos. Und schließlich... Ich habe ihn selber gesehen - tot, verstümmelt, gräßlich zugerichtet...
Sie mußte einen Weinkrampf gewaltsam unterdrücken und ignorierte die besorgten Blicke des Portiers, der natürlich nicht nur bemerkte, daß sie sich verspätet hatte, sondern auch, in welchem Zustand sie sich befand - so unübersehbar aufgewühlt, wie sie daher kam.
Sie betrat den Fahrstuhl und drückte wie in Trance das gewünschte Stockwerk. Um diese Zeit war kaum etwas los in der Halle und bei den Fahrstühlen. Das große Gedränge war vorbei. Kein Wunder, wenn man sich so verspätete wie sie heute.
Sie erreichte das Stockwerk, in dem sich das große Immobilienbüro befand, und verließ den Lift. Kurz blieb sie stehen. Sie war ein wenig unschlüssig. Aber dann lenkte sie ihre Schritte nicht in die Richtung, in der sie ihren Arbeitsplatz hatte, sondern sie ging direkt zum Bürovorsteher. Der wußte natürlich längst, daß sie nicht pünktlich erschienen war. Also, wieso einfach so tun, als sei nichts geschehen? Sie wollte direkt in die Höhle des Löwen und Farbe bekennen. Sie wollte einfach behaupten, verschlafen zu haben. In dieser Firma war man mit Entlassungen schnell bei der Hand, und kaum jemand hatte einen guten Festvertrag. Höchstens in den oberen Rängen. Nicht, wenn man einfache Schreibarbeiten erledigte wie Carla.
Sie hatte als ungelernte Kraft angefangen, hatte noch nicht einmal Grundkenntnisse am Computer besessen. Da konnte man keine hohen Ansprüche stellen und mußte froh sein, wenn man überhaupt irgendwo angenommen wurde. Es war für sie ja auch prompt ein Gefühl wie an Weihnachten gewesen: Ihr erster Arbeitsplatz überhaupt in ihrem Leben! Auch wenn sie eigentlich überwiegend völlig öde Registratur-Arbeiten erledigen mußte, für die sich andere zu schade waren. Auch diese mußte ja schließlich irgend jemand erledigen. Warum also nicht sie? Und sie hatte in Abendkursen eine Menge dazu gelernt. Inzwischen war sie keineswegs immer noch dieses Dummerchen, das nicht einmal wußte, wo man so einen Computer überhaupt einschalten mußte, geschweige denn, was man damit eigentlich anfangen sollte.
Es hatte ihr nichts genutzt. Sie war keinen Millimeter gestiegen dadurch. Alle Jobs, die es in der Firma gab, waren bereits besetzt. Bevor jemand befördert wurde, stellten die lieber jemand neu ein, der vor allem wenig Ansprüche stellte, dabei aber eine ganze Menge an Wissen, Können und Arbeitseifer mitbrachte. So war das nun einmal im modernen Berufsleben. Wer nicht mithalten konnte, der durfte gehen. Das soziale Aus bei jemandem, bei dem die Miete den größten Teil des Einkommens schon wegfraß.
Solcherlei Gedanken unterdrückte Carla nicht, denn sie halfen ihr, wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzufinden. Jetzt spielte die morgendliche Begegnung auf der Straße längst nicht mehr diese Rolle wie noch vor wenigen Minuten. Jetzt war sie innerlich wieder gefestigt, auch wenn ihr das Herz bis zum Hals schlug, als sie an die Tür des Bürovorstehers klopfte. Sie hatte Angst - vor Entlassung, vor dem sozialen Aus. Es hätte ihr wirklich eine ganze Menge ausgemacht, ihre hübsche, kleine Wohnung aufzugeben. Die war nun schon seit Jahren ihr Zuhause. Auch wenn sie noch niemals einen Gast darin empfangen hatte, weil Carla de Verese sich bemüht, möglichst nicht den geringsten privaten Kontakt zu pflegen. Sie galt allgemein als zurückhaltend und - vor allem - unnahbar. Außer flüchtigen und eher belanglosen Gesprächen am Arbeitsplatz gab es kaum etwas bei ihr. Nach Feierabend floh sie regelrecht in ihre kleine Wohnung und schloß hinter sich ab, als befürchtete sie, die schnöde Welt da draußen könnte ihr da drinnen etwas anhaben.
Manchmal wurden Witze darüber gemacht, aber nur verhohlen. Denn Carla galt andererseits als fleißig und hilfbereit. Es war ihr niemals etwas zuviel. Und in all den Jahren hatte sie sich niemals krank gemeldet, auch wenn sie nicht immer so völlig gesund gewesen war, und sie hatte sich auch niemals verspätet.
Das war ihre letzte Hoffnung: Vielleicht würde der Bürovorsteher dessentwegen ein Einsehen haben?
"Herein!" brummte jemand verstimmt.
Oh, das klang überhaupt nicht gut. Carla öffnete die Tür und trat ein, in leichter Demutshaltung, den Kopf etwas gesenkt. Mehr aus den Augenwinkeln sah sie den alternden Bürovorsteher hinter seinem altmodischen Schreibtisch.
"Aha, Sie sind es!" brummte er anstatt einer Begrüßung. Als Carla den Mund öffnete, um etwas zu sagen, unterband er es mit einer ärgerlichen Handbewegung. "Sie haben ja Nerven, einfach zu spät zu kommen, sich nicht einmal zu entschuldigen und dann auch noch hier bei mir hereinzuplatzen! Ruhe jetzt! Ich will Ihre Ausreden gar nicht hören. Ich weiß nur, daß ich Ihretwegen Ärger wittere, und das kann ich mir nicht leisten. Auch wenn Sie es wahrscheinlich nicht begreifen: Ich bin zu alt, mir einen anderen Job zu suchen. Wenn ich Ärger wittere, weiche ich aus. Das heißt, ich sehe es nicht ein, für andere den Kopf hinzuhalten. Sie bedeuten Ärger für mich, also reagiere ich entsprechend: Sie räumen Ihren Schreibtisch und kommen mir nie mehr unter die Augen. Kapiert?"
"Aber ich...", stammelte Carla de Verese. Alles in ihr begehrte auf.
"Hinaus!" brüllte der Bürovorsteher.
Seine diesbezügliche Handbewegung war so gebieterisch und sein Tonfall so unmißverständlich, daß Carla gar nicht mehr anders konnte: Sie wandte sich ab und schickte sich an, wie ein begossener Pudel das Büro zu verlassen.
"Moment noch!" hielt sie seine Stimme auf. Sie wagte es gar nicht mehr, ihn anzuschauen. "Wenn Sie den Schreibtisch geräumt haben, melden Sie sich bei unserem obersten Chef: Mister Steve Barney! Der fragt seit einer Stunde schon nach Ihnen. Und ich mußte ihm sagen, daß ich leider nichts über Ihren Verbleib weiß. Das ist das mit Abstand Schlimmste, was mir in meiner gesamten Laufbahn jemals passiert ist!"
Gern hätte Carla zu ihm gesagt: "Dann müßten Sie ja ein besonders glücklicher Mensch sein, wenn es wirklich nichts Schlimmeres gibt!" Aber sie verkniff sich das natürlich und ging einfach hinaus.
Draußen erst kam ihr zu Bewußtsein, was der Bürovorsteher eigentlich zu ihr gesagt hatte: Sie sollte sich beim obersten Chef Mister Steve Barney persönlich melden? Der würde schon seit einer Stunde nach ihr fragen?
Jetzt schlug ihr das Herz nicht mehr bis zum Hals, sondern es blieb schlicht und einfach stehen!
*
Carla hatte keine Lust, erst zu ihrem Schreibtisch zu gehen. Viel zu räumen hatte sie dort sowieso nicht. Aber eigentlich hatte sie auch keine Lust, diesen Mister Steve Barney aufzusuchen, der innerhalb der Firma als eine Art Graue Eminenz galt, unerreichbar für so eine kleine Angestellte wie sie, Carla. Wenn sie schon entlassen war, wollte sie einfach das Bürogebäude verlassen und sich in ihre Wohnung verkriechen, so lange, bis ihr endlich einfiel, was in ihrer schlimmen Situation zu tun war.
Aber dann dachte sie: Dieser Steve Barney will ausgerechnet mich sprechen? Wozu? Was ist passiert? Das muß ja ganz etwas Schlimmes sein, wenn der sich persönlich um mich bemüht.
Zwar war sie sich keinerlei Schuld bewußt, aber sie wollte es jetzt doch wissen. Ja, bevor sie das Bürogebäude für immer verließ, wollte sei Gewißheit haben: Was hatte den Bürovorsteher so gegen sie aufgebracht, daß er sie fristlos auf die Straße gesetzt hatte?
Der hatte doch nur Angst um seinen eigenen Job! redete sie sich ein. Der geriet in Panik, weil er sich genauso wenig vorstellen konnte, was der mächtige Steve Barney von so einer kleinen, unbekannten Angestellten wie mir wollte.
Sie machte sich auf den Weg. Steve Barney thronte zwei Stockwerke höher. Sie mußte den Fahrstuhl benutzen, weil die Tür zur Treppe geschlossen war.
Als die Fahrstuhltür sich in Barney's Stockwerk vor ihr öffnete, sah sie sich sogleich flankiert von zwei uniformierten Sicherheitsleute, die anscheinend direkt zum Schutz von Steve Barney abgestellt waren. Der war also anscheinend noch wichtiger als sie ohnedies vermutet hatte. Denn Carla de Verese war noch niemals hier oben gewesen. Noch nicht einmal in der Nähe. Wie denn auch?
Die beiden Uniformierten überraschten sie: Sie schienen sofort zu wissen, wer sie war! Sie dienerten kurz, und der eine sagte höflich: "Würden Sie uns bitte begleiten? Mister Steve Barney erwartet Sie bereits. Sie sind spät dran, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf."
Eine seltsame Art, mit einer kleinen Angestellten umzugehen, die zum obersten Boß gerufen wurde, weil sie etwas ausgefressen hatte! Carla wunderte sich von Sekunde zu Sekunde mehr.
Unterwegs keimte in ihr ein schlimmer Verdacht, der sich nur mühsam unterdrücken ließ. War das nicht ein rundherum ungewöhnlicher Tag? Erst die Begegnung auf der Straße, die sie sich viellicht nur eingebildet hatte, dann dieses hier... Zufälle?
Der Verdacht keimte stärker. Bis sie das Heiligtum der Firma erreichte. Niemand brauchte Carla zu sagen, daß der mächtige Steve Barney, der sich rühmte, seine Immobilienfirma vor vielen Jahren sozusagen aus dem Nichts geschaffen und innerhalb relativ kurzer Zeit zu solch ungeahnter Blühte gebracht zu haben... Ja, daß dieser Steve Barney grundsätzlich mit Sir angeredet werden wollte. Sie taumelte mehr in das Büro als daß sie es betrat und schaute sich anschließend um, als sei ihr im höchsten Maße schwindlig.
Ja, das konnte einem in diesem Büro auch tatsächlich werden: schwindlig! Steve Barney hatte sein Büro vollgestopft mit Antiquitäten, die wohl einen unschätzbaren Wert hatten, nicht nur insgesamt gesehen, sondern auch repräsentiert von gewissen Einzelstücken. Das war Reichtum und damit auch Macht. Niemand brauchte Carla de Verese das zu erklären.
Und Steve Barney selber war ein kleinwüchsiger, viel zu fett geratener Mann, der sich nun aus seinem viel zu wuchtigen Sessel erhob und dabei ächzte und stöhnte wie bei einer Schwerstarbeit.
"Ich bin untröstlich, meine Liebe!" rief er aus. "Das hat die Welt noch nicht gesehen!"
Carla meinte natürlich, es handele sich um ihre Verspätung, auch wenn sie diesen Aufwand dessentwegen als absolut übertrieben fand. Sie hub zu einer Entschuldigung an, aber Steve Barney ließ sie gar nicht zu Wort kommen. Er watschelte ihr entgegen und winkte die beiden Uniformierten hinaus, die hinter ihr stehengeblieben waren. Erst als sie allein waren, reichte Barney ihr seine Rechte.
Carla stierte darauf und wollte es nicht fassen. Und dann ergriff sie die Hand doch. Sie fühlte sich feucht und glitschig an, und Carla war froh, als sie wieder loslassen konnte.
"Untröstlich bin ich!" rief er wieder und rang dabei mit den Händen. "Da habe ich in meinem eigenen Büro eine echte de Verese arbeiten, als kleine Angestellte, und weiß es nicht einmal!"
Jetzt schrillten in Carla sozusagen sämtliche Alarmglocken. Ihr Verdacht auf dem Weg hierher... Ihr Familie! Holte sie jetzt die Vergangenheit ein? Was wollten sie noch von ihr? Sie war eine Verstoßene, und sie wollte nicht zurück. Um keinen Preis der Welt. Lieber würde sie verhungern oder Schlimmeres erleiden. Sie war keine de Verese mehr, auch wenn sie noch deren Namen trug. Sie haßte den ganzen Clan, sofern sie überhaupt dahingehend zu hassen imstande war.
"Eine echte de Verese! Oh mein Gott!" Er rang mal wieder mit den Händen und wirkte dabei gar nicht mehr so reich und mächtig. Auch nicht mehr wie eine Art Graue Eminenz.
"Wer hat es ihnen denn gesagt?" erkundigte sich Carla mißtrauisch und wunderte sich dabei, wie ruhig ihre Stimme klang.
Er hielt verdattert inne und schaute sie an. "Der Bürovorsteher!" behauptete er. Er machte eine Handbewegung wie ein Dirigent, der die Aufmerksamkeit seiner Musiker erregen wollte. "Ein reiner Zufall, heute morgen. Wie unterhielten uns beiläufig. Dabei kam die Rede auf einmal auf Sie, Miß de Verese. Er dachte sich wohl gar nichts dabei, und ich fiel aus allen Wolken."
Er lügt! stelle Carla nüchtern fest. Wäre es wirklich so gewesen, hätte der Bürovorsteher sie ganz anders behandelt. Nein, in Wahrheit hatte der Bürovorsteher nicht die geringste Ahnung. Er war einfach nur in Panik geraten, weil Barney so nachdrücklich sie zu sprechen gewünscht hatte. Wäre er im Bilde gewesen, was Barney wirklich von der Tatsache hielt, daß sie eine geborene de Verese war, hätte er es niemals gewagt, sie zu entlassen. Ganz im Gegenteil...
"Aha?" machte sie ruhig.
Steve Barney war mal wieder verdattert. "Äh, ja...", stotterte er. "So war es halt gewesen." Er floh regelrecht zu seinem Sessel zurück. Dort nahm er erst einmal umständlich Platz. "Aber bitte, meine Liebe, so setzen Sie sich doch!" Eine einladende Geste zur Besucherecke. Carla schaute hinüber und folgte tatsächlich der Bitte: Sie setzte sich in einen der Sessel und legte pedantisch langsam die Beine übereinander. Ihr langer Rock verhüllte ihre Beine bis fast zu den Knöcheln. Aber Steve Barney hatte sowieso keinen Blick dafür. Er war viel zu nervös.
Was steckt hinter der Sache? fragte sich Carla verzweifelt. Wirklich die Familie? Aber wieso?
Sie fragte nicht danach, weil sie überzeugt davon war, daß Barney ihr niemals die Wahrheit gesagt hätte. Jetzt rutschte er wieder von seinem Sessel, umrundete seinen Schreibtisch und watschelte auf Carla de Verese zu. "Äh, nun, ich komme doch besser zu Ihnen, Miß de Verese. Äh, ja..." Er setzte sich auf einen anderen Sessel, aber so, daß der Tisch zwischen ihnen beiden blieb. Zufall war das nicht. Barney wagte es gar nicht, ihr in die Augen zu schauen. "Ich wäre absolut untröstlich, wenn Sie mir dessentwegen böse wären, daß ich Sie jahrelang als kleine Angestellte in meinem Hause habe arbeiten lassen."
"Wenn es mir nicht gepaßt hätte, hätte ich es nicht getan!" belehrte Carla ihn kühl. Sie wußte nicht, wie sie die Situation einschätzen sollte, nahm sich jedoch vor, neutral zu bleiben. Einfach abwarten, wie sich die Dinge überhaupt noch entwickeln würden.
Kurz schaffte er es, sie anzuschauen, aber dann wanderte sein unsteter Blick wieder in eine andere Richtung, verlor sich irgendwo in der Ecke des geräumigen Büros, verfing sich an einer der antiken Skulpturen, die dort standen. "Sie werden hiermit befördert, Miß Carla de Verese! Sie sind jetzt Maklerin mit Fixum. Sagen wir... das Zwanzigfache Ihres bisherigen Gehaltes? Äh, wenn Ihnen das nicht zu wenig erscheint? Nun, Sie bekommen natürlich darüber hinaus noch für jeden Ihrer Abschlüsse die volle Provision. Die Firma erhält die andere Hälfte. So wie üblich. Nur mit dem Unterschied, daß die Provision nicht mit dem Fixum verrechnet wird. Ah, nein, ich sehe schon, Sie sind nicht einverstanden. Also gut, Miß Carla de Verese, reden wir nicht länger um den heißen Brei herum. Sie sind ja lange genug in der Firma, um die Gepflogenheiten zu kennen. Ich kann Ihnen ja nichts vormachen. Sie bekommen nicht das Zwanzigfache, sondern das Dreißigfache ihres bisherigen Gehaltes. Die Kasse ist bereits angewiesen, Ihnen einen angemessenen Vorschuß zu geben. Sagen wir mal... in Höhe Ihres zehnfachen Monatsgehaltes? Dann können Sie augenblicklich frei darüber verfügen."
"Und wozu das alles?" unterbrach jetzt Carla seinen Redeschwall. "Was hat Sie denn wirklich dazu bewogen? Doch nicht der Bürovorsteher! Dieses Unschuldslamm hat nicht die geringste Ahnung. Wenn er erfährt, was Sie da mit mir veranstalten, bekommt der Arme wahrscheinlich auf der Stelle einen Herzinfarkt. Er hat mich nämlich vor wenigen Minuten fristlos entlassen - und das nur, weil Sie nach mir verlangt haben!"
"Er hat... was?" Die Stimme von Steve Barney überschlug sich dabei. Er war im höchsten Maße aufgebracht.
"Also, wenn Sie jetzt vorhaben, den Bürovorsteher nun seinerseits zu feuern, muß ich Sie warnen... Sir!"
"Nein, nein, nicht Sir! Für Sie doch nicht, Miß Carla de Verese. - Äh, nun, wenn Sie es wünschen: Was soll ich denn ihrer Meinung nach mit ihm machen?"
Er wirkte von einer Sekunde zur anderen wieder völlig ruhig.
"Gar nichts!" entschied Carla. "Und könnte ich jetzt endlich erfahren, was passiert ist? Was hat Sie darauf aufmerksam gemacht, daß ich für Sie arbeite - und was bewog Sie zu dieser ungewöhnlichen Beförderung? Was oder wer?"
Steve Barney hielt es in seinem Sessel nicht mehr länger aus. Er sprang erstaunlich behende auf und rannte zum Fenster. Dort blieb er stehen, den Rücken Carla zugekehrt, die Hände hinten verschränkt. Er wippte ein paarmal auf den Fußballen auf und ab, und dann sagte er brüchig, ohne sich zu ihr umzusehen: "Tut mir leid, aber das kann und will ich Ihnen nicht sagen. Es wäre besser gewesen, Sie hätten die Lüge mit dem Bürovorsteher akzeptiert."
Und dann wandte er sich Carla zu. Sie erschrak, denn sie erkannte Todesangst in seinem Gesicht. "Bitte, Miß Carla de Verese, ich flehe Sie an: Akzeptieren Sie mein Angebot! Bitte! Verlangen Sie meinetwegen, was Sie wollen. Alles! Selbst meinen Posten, wenn Sie es wünschen. Treten Sie mich, schlagen Sie mich, demütigen Sie mich, tun Sie mit mir, was immer Ihnen einfallen mag... Nur, schlagen Sie mein Angebot nicht aus. - Bitte!"
Das war mehr als nur Todesangst. Das war Angst vor etwas, das noch viel schlimmer war als der Tod jemals hätte sein können.
Carla de Verese stand jetzt ebenfalls auf. Sie nickte grimmig. "Regen Sie sich ab, guter Mann, ich werde es tun!"
Seine Erleichterung war im wahrsten Sinne des Wortes grenzenlos. Er machte Anstalten, herbei zu eilen, wohl um Carla die Füße zu küssen, aber Carla sah es rechtzeitig kommen und winkte mit beiden Händen ab. Sie betrachtete den mächtigen Steve Barney. Mächtig und reich und das innerhalb relativ kurzer Zeit? Mit wem war er einen Pakt eingegangen? In wessen Schuld stand er? Wie hatte er diesen Erfolg bezahlt?
Sie schüttelte den Kopf. Nein, es ging sie im Grunde genommen nichts an, sondern blieb das Problem von diesem Steve Barney. Etwas anderes war von viel größerem Interesse: Wer hatte so plötzlich Interesse an ihrer Person, daß er zu solch drastischen Mitteln griff? Und nicht nur das, sondern vor allem auch: Was war sein Motiv?
Und sie brauchte nicht lange in ihrer Vergangenheit zu forschen, um nachempfinden zu können, warum Steve Barney eine solche Angst verspüren konnte. Sie kannte all jene Dinge, all jene dunklen Geheimnisse, war sogar lange genug selber ein Teil davon gewesen. Bis sie John Fernandos kennen und lieben gelernt hatte. Er hatte sie aus diesem Sumpf befreit, nur mit seiner aufopfernden Liebe. Bis in den Tod.
Und eigentlich weit darüber hinaus! wurde ihr auf einmal bewußt. Sonst hätte ich nicht jahrelang dieses bescheidene, wenn auch unvergleichlich zufriedenere Leben führen können. Zufriedenheit und Glück, ja, das waren Gefühle, die ich vorher genauso wenig gekannt hatte wie das Gefühl mit Namen... Liebe! John hat mich dies alles gelehrt. Und das war nicht umsonst gewesen. Nichts und niemand kann dies zunichte machen. Keine Macht der Welt.
Sie lächelte jetzt, denn sie wußte, daß sie niemals eine solche Angst hätte empfinden können wie dieser Steve Barney. Wozu auch? Angst in dieser Art konnten nur Menschen empfinden, die nicht einmal ahnten, was es bedeutete, den inneren Frieden gefunden zu haben. Und Carla hatte ihn gefunden. Auch wenn sie John für immer verloren hatte, ihre große Liebe. Denn der Tod hatte eines nicht vermocht: Diese Liebe zum Erlöschen zu bringen!
*
"Und was nun?" erkundigte sie sich freundlich.
Steve Barney starrte sie an, als würde er sie jetzt zum ersten Mal sehen.
"Äh, wie?"
"Nun, ich meine, Sie haben mich ja nun befördert, geben mir eine ganze Menge Geld... Aber was soll ich dafür tun? Nur meinen Namen spazierentragen, den Sie auf einmal so völlig toll finden? Das wäre mir zu wenig. Nein, ich will auch etwas tun dafür."
Er schüttelte er den Kopf und wedelte dann in einer Geste der Verzweiflung mit den Armen. "Das darf doch nicht wahr sein!" Er erschrak und fügte rasch hinzu: "Nein, das hat jetzt nichts mit Ihnen zu tun, Miß de Verese, zumindest nicht direkt, sondern nur indirekt. Ich hadere nämlich mit mir selber und meiner Nachlässigkeit. Wie konnte ich es nur vergessen? Nun, tatsächlich, ich hätte da schon einen Auftrag für Sie..."
Er hielt inne und beobachtete Carla aus halb zusammengekniffenen Augen. Wollte er sie erst einschätzen, ehe er ihr sagte, um was es sich handelte?
Carla hatte auf einmal ein höchst ungutes Gefühl. Sie ahnte auf einmal, daß das ganze Theater in einen Umstand einmündete, über den sie jetzt erst etwas erfahren sollte. Und die Angst war von Barney abgefallen wie ein lästiger Mantel. Er wirkte jetzt so, wie man es bei einem Mann in seiner Stellung vermutete: Eiskalt und berechnend.
Es machte Carla sozusagen doppelt stutzig. Sie schaute sich ein weiteres Mal in dem feudal eingerichteten Büro um. Diesmal tat sie es aus einem völlig anderen Gesichtpunkt heraus. Sie hatte schließlich ihre tiefgreifenden Erfahrungen sammeln können in der dunklen Vergangenheit ihres Daseins. Auch wenn sie das meiste vergessen hatte: Sie wußte immer noch vieles, wovon gewöhnliche Menschen nicht einmal etwas ahnten. Auch wenn sie es permanent verdrängte und sich endgültig entschieden hatte, lieber ein ganz normaler Mensch zu sein als etwas anderes, was sie inzwischen aus tiefstem Herzen verabscheute. Nein, sie wollte es eigentlich überhaupt nicht zulassen, daß Informationen aus ihrer Vergangenheit in ihr jetziges Bewußtsein sickerten, um sie Dinge sehen zu lassen, die sie mit normalen Menschenaugen nicht zu sehen in der Lage gewesen wäre.
Sie erschrak jetzt ihrerseits: Nein, das waren nicht nur einfach Antiquitäten von unschätzbarem Wert, sondern das waren... Kultgegenstände! Nicht irgendwelche, sondern Gegenstände von besonderer Bedeutung.
Ihr Blick blieb an einer Skulptur hängen. Eine sehr häßliche Skulptur würde jeder Laie meinen. Der Kunstliebhaber würde nur den hohen Wert sehen, und Carla de Verese wiederum erkannte jetzt endlich, was sie bedeutete: Sie zeigte eine halbnackte Frau mit verzerrten Gesichtzügen, die sich wie unter Peitschenhieben wand, obwohl ihre makellosen, nackten Schultern völlig unverletzt waren. Ein Kunstliebhaber hätte ihre Geste vielleicht als lasziv eingeschätzt, doch Carla wußte es besser: Diese Skulptur zeigte eine Hexe mitten in einem Ritual, in dem sie ihre eigene Körperlichkeit mit einbrachte.
Carla schaute zu Barney und erkannte das triumphierende Blitzen in dessen Augen. Er hatte sehr wohl bemerkt, daß Carla erst jetzt die Bedeutung der antiken Gegenstände bewußt wurde, und das war für ihn offensichtlich wie ein Sieg.
Ein Sieg worüber - oder: wofür?
Carla de Verese verstand es nicht. Sie lächelte jetzt unergründlich, um ihre wahren Gefühle und Gedanken zu verschleiern. "Ich habe die Angst gesehen bei Ihnen, Barney - vorhin erst. Jetzt ist die Angst gewichen. Aber sie hat mehr verraten als Worte es jemals vermocht hätten: Sie wissen, worauf Sie sich eingelassen haben, um Macht und Reichtum zu erlangen, und Sie hätten diese Angst nicht verspürt, ja, wären nicht einmal in der Lage dazu, wüßten Sie nicht auch, daß der Preis, den Sie dafür eines Tages zahlen müssen, viel zu hoch ist. Denn alles auf dieser Welt hat seinen Preis. Und nicht nur auf dieser Welt, glauben Sie mir. Ich bin eine de Verese und weiß, wovon ich spreche. Was glauben Sie, warum ich eine Abtrünnige geworden bin und von der Familie verstoßen wurde? Sie haben mich jetzt wieder reaktivieren sollen, sozusagen. Jetzt endlich habe ich das durchschaut, und Sie meinen, gewonnen zu haben. Irren Sie sich nicht, Barney. Besser, wenn Sie weiterhin Angst haben. Ich meine es nur gut mit Ihnen: Bevor Sie noch leichtsinnig werden! - Und was ist nun mit meiner Aufgabe, die ich als Gegenleistung wahrnehmen soll?"
Er zuckte mit den Achseln und lächelte jetzt seinerseits unergründlich, um seine wahren Gedanken und Gefühle vor ihr zu verschleiern. Er hatte also ihr kleines Spiel durchschaut, und es ließ ihn deshalb kalt. Carla durfte nicht den Fehler machen, diesen Mann zu unterschätzen.
"Sie sind befördert worden zur Maklerin mit hohen Kompetenzen. Solche brauchen natürlich nur ganz besondere Objekte zu taxieren und zu vermitteln. Dabei haben Sie völlig freie Hand, Miß de Verese. Das ist Ihnen zugesichert. - Äh, übrigens, die entsprechenden Verträge werden bereits gefertigt. Sie können Sie wahrscheinlich heute noch unterschreiben - gemeinsam mit mir. Es wird sogar ein Notar mit anwesend sein, damit Sie sehen, daß ich es wirklich ernst meine."
"Und das Objekt, das Sie als erstes für mich vorgesehen haben?"
"Ein Haus besonderer Bauart. Großherrschaftlich, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich weiß, es paßt eigentlich nicht so recht in diese Gegend. Eine Stunde Fahrt, also außerhalb der Stadt. Ich habe eine Karte. Der Besitzer hat es mir heute erst angeboten. Ich habe es also selber noch nicht gesehen."
"Dann war der Besitzer heute aber recht früh dran, nicht wahr?"
"Ja, das war er tatsächlich."
"Selbst wenn ich mich nicht um über eine Stunde verspätet hätte, wäre ich ihm wohl kaum noch begegnet?"
"Nun, Sie werden ihn sicher kennenlernen, denn er erwartet Sie bereits in seinem Haus. Sie sollen so schnell wie möglich hinkommen und es taxieren. Er will Ihren sachkundigen Rat. Und auch ich bin der Meinung, daß niemand anderes als Sie den wahren Wert dieses Anwesens einzuschätzen weiß - und natürlich, ob es diese Wertschätzung auch auf dem freien Immobilienmarkt finden wird!"
"Was macht Sie da so sicher? Ich war bis heute eine kleine Sekretärin, die überwiegend langweilige Registraturarbeiten für Sie erledigte, sozusagen unter-ferner-liefen."
"Oh, Miß de Verese, ich bin sogar hundertprozentig sicher, denn Sie hätten diese Arbeit nicht jahrelang in meiner Firma gemacht, wenn Sie nicht Wert darauf gelegt hätten, Ihr wahres Licht unter den Scheffel zu stellen, wie man so schön sagt. Sie werden dieses Anwesen allein deshalb schon so richtig einschätzen können, weil Sie eben eine de Verese sind. Das allein ist schon Reputation genug."
"Glauben Sie? Oder hat derjenige, der heute morgen dieses Angebot unterbreitet hat und vor dem Sie eine solche Angst zu haben vermögen, Ihnen nicht auch nahegelegt, daß es besser für Sie sei, dies zu glauben?"
Steve Barney brachte sogar ein entwaffnendes Lächeln zustande, das auf Carla ehrlich gewirkt hätte, wäre sie nicht vom Gegenteil so überzeugt gewesen.
Sie nickte. "Also gut, Barney: Geben Sie mir den Auftrag. Ich will es wissen. Es hat keinen Sinn, den Kopf in den Sand zu stecken. Außerdem habe ich sowieso keine Wahl. Wenn ich Ihr großzügiges Angebot ausschlage, sitze ich mittellos auf der Straße. Was selbstverständlich weniger schlimm wäre als das, was Sie in einem solchen Fall erwarten würde. Aber, keine Bange, ich werde schon tun, was man von mir erwartet. Und sei es auch nur, um die Hintergründe in Erfahrung zu bringen."
Barney konnte seine Erleichterung nicht mehr länger leugnen. Sie stand ihm zu offensichtlich ins Gesicht geschrieben.
Diensteifrig eilte er zum Schreibtisch und schnappte sich einen kleinen Stapel Papiere. Wortlos überreichte er sie an Carla.
"Und wie soll ich hinkommen? Eine Stunde Fahrt sind ja nicht viel, aber wenn man kein Auto hat...?"
"Oh, verzeihen Sie, Miß de Verese, daß ich schon wieder vergeßlich war. Ich weiß ja, daß Sie kein eigenes Auto besitzen." Papiere und Schlüssel lagen schon bereit, wie Carla jetzt erst entdeckte. Er nahm sie und reichte sie ihr. "Mein Wagen. Sie können meinen Wagen haben, Miß de Verese. So lange, bis Sie ihren Firmenwagen bekommen. Den können Sie selbstverständlich auch selber aussuchen, wenn Sie es wünschen. Äh, ja, Sie wissen ja, wo mein Wagen für gewöhnlich steht, wenn ich ihn nutzen will. Natürlich nicht in der Tiefgarage, sondern vor dem Gebäude. Die entsprechende Anweisung ging schon hinaus. Einer der Sicherheitskräfte wurde damit beauftragt, den Wagen vor das Haus zu fahren und auf Sie zu warten. Äh, es wäre mir zwar persönlich lieb, wenn Sie sich beeilen würden, aber - mit Verlaub - Sie haben ja völlig freie Hand. Tun Sie, was Sie wollen - und wie sie es wollen. Sie haben den Wagen zu Ihrer freien Verfügung. Selbst wenn Sie erst morgen fahren würden..." Er brach ab und wirkte ein wenig verwirrt.
"Zuviel der Ehre", sagte Carla anzüglich. "Aber ich werde selbst dieses Angebot von Ihnen annehmen. Erst will ich ja mal sehen, welche Papiere Sie mir hier überließen."
"Äh, Sie können selbstverständlich auch einen persönlichen Chauffeur haben, wenn Sie es wünschen!" beeilte sich Barney noch zu versichern.
Carla winkte ab. "Nein, vorerst noch nicht. Ich bin es gewöhnt, allein zu handeln. Also, Mister Barney, es hat mich gefreut, Sie einmal persönlich kennengelernt zu haben, aber ob die Gelegenheit wirklich so erfreulich war, wird sich wohl erst erweisen müssen. Nicht wahr, Mister Barney?"
Damit verließ Carla einfach das Büro. Auch auf die Vorzimmerdame achtete sie nicht. Genauso wenig wie bei ihrem Kommen. Sie ging zum Fahrstuhl, mit den Papieren in der Hand, auf die sie nicht einmal einen Blick geworfen hatte, wartete geduldig, bis der Fahrstuhl sich öffnete und betrat ihn dann mit hölzernen Schritten.
Sie lehnte sich gegen die Wand und schloß die Augen. Das Summen der sich schließenden Tür erreichte sie kaum.
Zwar hatte sie vergessen, einen Knopf zu drücken, aber der Lift sank auch so schon abwärts. Sie hielt derweil die Augen geschlossen und war bemüht, das Chaos in ihrem Innern zu bewältigen.
Sie wußte nicht, was sie von alledem halten sollte. Es war nicht einfach nur ungewöhnlich, sondern es war ihr, als würde ihre dunkle Vergangenheit mit eiskalten Klauenhänden nach ihr greifen. Sie ahnte, daß eine bestimmte Absicht hinter allem steckte. Nur - welche? Noch konnte sie keinen Sinn hinter all diesem Geschehen erkennen.
*
Als die Lifttür sich wieder öffnete, riß sie unwillkürlich die Augen auf. Ihr Blick fiel hinaus in die Eingangshalle des Bürohochhauses. Aber das war es nicht, was sie irritierte, sondern der Anblick des Mannes, der offensichtlich den Fahrstuhl gerufen hatte und jetzt genauso überrascht dastand.
Ehe die Lifttür sich wieder schließen konnte, griff er vor und hielt sie fest. Der Türkontakt reagierte und unterbrach den Schließvorgang.
"Carla!" rief der Mann. "Ich suche dich überall. Man sagte mir, man hätte dich entlassen! Sogar an deiner Wohnung war ich schon. Dachte, du wolltest nur nicht aufmachen - wie sonst. Und jetzt stehst du hier so einfach im Fahrstuhl?"
Carla mußte unwillkürlich lachen, aber dieses lachen klang ein wenig zu bitter. Glenn Steinberg? Der smarte Mann mittleren Alters mit der sportlichen Figur und dem jungenhaften Lachen... Ein ehemaliger Kollege, der sich vor über einem Jahr selbständig gemacht hatte. Inzwischen schien sein Immobiliengeschäft zu florieren. Mehrmals hatte er ihr den Vorschlag gemacht, zu ihr überzuwechseln. Aber genau das hatte sie nicht gewollt. Sie hatte sich nach dem Tod von John auf eigene Beine stellen wollen. Dies war ihr gelungen, und sie wollte diesen Erfolg durch nichts und niemand gefährden.
Glenn Steinberg war wirklich ein netter Kerl, und sie konnte sich durchaus vorstellen, daß sich viele Frauen glücklich geschätzt hätten, seine Gunst zu erringen... Aber sie gehörte nicht dazu. Ja, sie hatte noch nicht einmal eine platonische Freundschaft zugelassen. Auch wenn Glenn Steinberg sich noch so sehr darum bemüht hatte. Deshalb hatte sie auch heute morgen keinen Gedanken daran verwendet, daß von seiner Seite her vielleicht Hilfe kommen könnte, wenn sie nach der Entlassung wirklich auf der Straße landete.
Nein, sie hatte weder an ihn gedacht, noch an den zweiten im Bunde: Boris Mehnert. Sie waren nun schon seit Jahren um sie bemüht und sich gegenseitig zum Teil recht auffällig im Weg dabei. Um nicht zu sagen: Sie gebärdeten sich gern wie Rivalen. Dabei wollte sich Carla weder für den einen noch für den anderen entscheiden. Deshalb ließ sie ja auch nicht einmal eine platonische Freundschaft zu: Sie fürchtete zu sehr die Rivalitäten zwischen den beiden, die dadurch nur noch stärker zutage getreten wären.
Sie verließ endlich den Lift und trat in die Eingangshalle hinaus.
"He, was suchst du eigentlich hier, Glenn?"
"Wie ich schon sagte: Ich suchte dich!"
"Aber, was soll das denn? Wer hat dir denn überhaupt gesagt, ich sei entlassen?"
"Na, wer schon? Boris natürlich."
"Wie bitte? Du willst mir hier erzählen, Boris habe dich angerufen, weil man mich entlassen habe?"
"Genauso ist es. Also kann die Rivalität doch gar nicht so groß sein zwischen uns beiden, nicht wahr?" Glenn brachte ein Grinsen zustande, das jedoch gleich wieder erlosch und einer besorgten Miene Platz machte. "Er machte sich Sorgen um dich. Was wird aus dir, wen du den Job verlierst? Ja, nun, hast du ihn überhaupt verloren? Arbeitest du nicht mehr im Büro?"
"Ich sollte meinen Schreibtisch räumen. Ja, das stimmt. Ich war noch nicht einmal dort. Sollen sie doch behalten, was ich an persönlichen Dingen darin habe. Viel ist es ohnedies nicht. Und das, was mir etwas bedeutet, habe ich daheim und nicht im Schreibtisch."
"Es klingt reichlich bitter, Carla. Also stimmt es, was Boris gesagt hat! Er macht sich sogar mächtig Sorgen um dich. Auch, weil du überhaupt nicht mehr im Büro aufgetaucht bist. Selbst wenn er mir die meiste Zeit am liebsten Gift geben würde: Die Sorge um Dein Wohlergehen war stärker."
"Und du hast gleich alles stehen und liegengelassen, um nach mir zu suchen?" fragte Carla kopfschüttend.
Die Stimme von Glenn klang leicht ärgerlich, als er antwortete: "Ja, Carla, das habe ich! Wann endlich begreifst du, daß ich nicht nur ein Mann bin, der sich in dich verliebt hat, sondern auch ein Freund? Du bist eine nette junge Frau, die niemandem etwas Böses antun könnte. Es ist nicht allein deine Schönheit. Ich würde es auch für dich tun, wenn du - nun, sagen wir mal..."
"Wenn ich stockhäßlich wäre?" Carla mußte lachen.
"Ja, lache nur, Carla, aber es ist so! Auch wenn du es nicht begreifen willst, daß es so etwas wie Freundschaft wirklich gibt auf dieser Welt. Aber nein, du kapselst dich ja lieber von allem und jedem ab."
"Jetzt klingst aber DU reichlich bitter, mein Freund!" sagte Carla und nickte ernst. Sie nahm Glenn am Arm. "Komm, Glenn, hier ist nicht der richtige Ort für solcherlei Gespräche. Glaube mir, es ist besser, wenn wir das Gebäude so schnell wie möglich verlassen."
"Hast du etwas sogar Hausverbot? Aber, Carla, was, um alles in der Welt, hast du denn überhaupt angestellt? Kein Mensch wird doch so schnell entlassen, wenn er jahrelang eine zuverlässige Kraft war. Auch nicht, wenn er sich mal verspätet."
"Na, Boris hat dir ja ganz schön viel gesteckt, wie mir scheint. Aber beruhige dich erst einmal: Nein, ich habe kein Hausverbot. Ich will mit dir nur ins nächstbeste Café, wo es sich unbeschwerter reden läßt."
"In ein Café?" echote er verständnislos.
Carla zog ihn einfach mit sich. Sie winkte dem Portier zu, der besorgt herübersah. Klar, er hatte Glenn Steinberg hereingelassen, weil er ihn immer noch gut kannte. Auch Glenn winkte dem Portier freundlich zu. Sie traten vor das Bürohochaus.
Carla schaute sich suchend um. Dort hinten war der Parkplatz von Steve Barney. Einer der Wachmänner stand neben dem Sportwagen, den Barney bevorzugte, um zur Arbeit zu fahren. Der Wachmann hatte ihn bereits vorgefahren, denn normalerweise war das Fahrzeug in der Tiefgarage in einem gesonderten Teil, wo nur die allerteuersten Autos ganz besonders geschützt standen.
Ein Ferrari, wenn Carla nicht irrte. Aber sie kannte sich mit so etwas nicht besonders aus. Sie wußte eigentlich nur, daß dieser Wagen sündhaft teuer war. Und den stellte Barney ihr einfach so zur Verfügung?
Glenn entging es, daß Carla aufmerksam hinüberschaute.
Der Wachmann entdeckte sie endlich. Carla winkte ihm abwehrend zu. Der Wachmann stutzte. Aber dann verstand er: Er sollte noch weiter abwarten. Carla zog Glenn Steinberg mit sich.
*
Glenn Steinberg gab sich nervös wie nie zuvor, seit Carla ihn kannte. Er machte sich tatsächlich die schlimmsten Sorgen um sie und fürchtete natürlich, daß sie alle Angebote seinerseits ablehnen würde. Daß sie eben lieber auf der Straße endete als von irgend jemandem Hilfe anzunehmen. Das schien sogar seine größte Sorge zu sein.
Carla spannte ihn ein wenig auf die Folter. Nicht ganz absichtlich, denn sie wußte einfach nicht, was sie ihm sagen sollte. Er wußte nichts von ihrer Vergangenheit. Niemand wußte etwas. Als wäre sie aus dem Nichts aufgetaucht.
Im gewissen Sinne bin ich das ja auch. Zumindest so etwas ähnliches ist mit mir geschehen - dank John Fernandos.
Sie verdrängte die Gedanken daran, wartete, bis der Kellner das Gewünschte gebracht hatte. Sie nippten beide lustlos an ihrem Espresso. Und dann hielt Glenn es nicht mehr aus. Fast gleichzeitig mit Carla, die endlich etwas sagen wollte.
"Was ist nun wirklich passiert?" fragte Glenn. "Bitte, Carla, mach doch kein Geheimnis aus deiner Situation."
"Es ist nichts Schlimmes passiert", versuchte Carla, ihn zu beruhigen.
Er reagierte genau gegensätzlich: Natürlich nahm er jetzt an, sie wollte ihn nur beruhigen, wollte ihm vielleicht sogar eine Lüge auftischen.
"Ich wurde auch nicht entlassen, wie Boris angenommen hat", fuhr Carla fort. "Niemand in der Abteilung weiß etwas. Es ist eigentlich nur klar, daß ich meinen alten Arbeitsplatz verloren habe. Aber nicht, weil mich Steve Barney entlassen hat, sondern nur deshalb, weil ich befördert wurde."
"Wie bitte?" entfuhr es dem entgeisterten Glenn Steinberg. "Das ist doch wohl nicht dein Ernst?"
"Ist schon seltsam, Glenn, wie wenig du mir zutraust: Du wolltest mich die ganze Zeit für dein Geschäft haben, und jetzt nimmst du an, ich sei so völlig ungeeignet dafür, daß ich niemals befördert werden könnte, oder was?"
Er schüttelte den Kopf. "Nein, Carla, das meinte ich ganz und gar nicht. Ich kann es nicht deshalb nicht glauben, weil ich dich etwa für unfähig halte, sondern weil ich Steve Barney kenne. ER ist ein Seelenfresser und Leuteschinder. Warum sollte er eine Kraft, die bisher eine so geringe Rolle spielte wie du, von heute auf morgen befördern?"
Carla nickte ihm zu. "Das allerdings habe ich mich auch gefragt. Aber es ist, wie es ist: Ich bin ab heute eine seiner führenden Maklerinnen. Ich habe einen eigenen Geschäftsbereich, den ich mir allerdings erst noch aufbauen muß. Den ersten Auftrag habe ich auch bereits. Der Kunde erwartet mich sogar schon."
"Ein Kunde? Und er wartet auf dich? Aber... Aber wieso sitzen wir dann hier herum?"
"Deinetwegen! Ich finde es gut, daß du dir Sogen machst. Die mache ich mir nämlich auch. Denn ich habe den Eindruck, daß Barney nicht ganz freiwillig handelte."
Glenn verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, während sich Carla verzweifelt fragte: Was kann ich ihm eigentlich anvertrauen? Wie weit kann ich gehen, bis er mich für total verrückt hält? Ja, ich habe seine Hilfe immer abgelehnt. Seine und auch die von Boris. Weil ich sowieso jegliche Hilfe abgelehnt habe, grundsätzlich. Aber das ist vorbei. Ich werde zum ersten Mal fremde Hilfe in Anspruch nehmen müssen, weil ich nicht mehr glaube, daß ich dies hier allein durchstehe. Aber wenn ich etwas Falsches sage, mache ich alles gleich wieder zunichte, noch ehe es richtig begonnen hat. Andererseits: Wenn ich ihm nicht die Wahrheit sage... Wie soll er mir dann überhaupt helfen können?
Carla hatte die Papiere die ganze Zeit unter ihren Arm geklemmt, die Barney ihr überlassen hatte. Glenn war so in Sorge, daß er sie nicht einmal bemerkt hatte. Jetzt knallte sie die Papiere auf den Tisch. "Das sind die Unterlagen. Ich sollte eigentlich zuerst hineinschauen, ehe ich hinfahre, nicht wahr? Ich weiß noch nicht einmal, wo genau das Anwesen liegt, das ich besichtigen und taxieren soll. Der Besitzer, der es verkaufen will, soll ja nicht gerade glauben, ich sei ein völliger Laie, nicht wahr?"
"Dann...", hub Glenn an, verstummte aber sofort wieder. Er schaute auf die Papiere, ohne sie anscheinend richtig zu sehen. Er blinzelte und schaute wieder Carla an. "Dann brauchst du meinen Rat oder was? Dann hast du mich hier in dieses Café geschleppt, um mich zu fragen, was du tun sollst?"
Sie schüttelte den Kopf. "Nein, mein lieber Glenn, das ist es nicht. Ich will es einmal so ausdrücken: Es ist das kleinste Problem. Aber ich habe heute morgen, auf dem Weg zur Arbeit, auf der anderen Straßenseite einen Mann gesehen, den ich zunächst für meinen verstorbenen Verlobten hielt: John Fernandos. Aber John ist tot. Das ist sicher. Ich habe seine Leiche identifiziert, und die gerichtsmedizinische Untersuchung..."
Sie brach ab und kniff kurz die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.
"Nein, Glenn, erspare mir bitte die Erwähnung der Einzelheiten. Es kann sich nur um eine verblüffende Ähnlichkeit handeln. Um mehr nicht. Ich habe ihn aus den Augen verloren, jenen Fremden, und jetzt glaube ich, daß er sich mir absichtlich gezeigt hat. Vielleicht hat er mich danach sogar absichtlich in die Irre geführt? Und gleichzeitig, in der Firma, in der ich arbeite... Ja, da hat sich etwas gravierend geändert. Zumindest für mich: Steve Barney steht in der Schuld von jemandem, der Wert darauf legte, daß ich befördert wurde, und ich nehme sogar an, daß dieser Auftrag hier ebenfalls damit zu tun hat."
Glenn winkte mit beiden Händen ab. "Moment mal, Carla, der Reihe nach: Du glaubst, John gesehen zu haben?" Natürlich kannte er die Geschichte von dem tragischen Unglück. Sie hatte sie ihm erzählt, damit er begreifen sollte, warum es für sie völlig unmöglich war, jemals wieder einen Mann lieben zu können. Er hatte es akzeptiert, aber dennoch niemals die Hoffnung aufgegeben.
Carla betrachtete ihn. Liebte dieser Mann sie wirklich so sehr? Oder was war es sonst, was er für sie empfand? Vielleicht war es ja auch nur echte Freundschaft ihr gegenüber. Und um Freunde sorgt man sich doch auch. Es ist auch Liebe, wenn auch eine andere Art Liebe als die bei einem Liebespaar.
Sie spürte ein warmes Gefühl in ihrer Brust und wußte dabei, daß sie Glenn Steinberg genauso mochte. Nein, keine Liebe, sondern tiefe Freundschaft, gegen die sie sich lange genug mit aller Macht gewehrt hatte. Nicht nur, weil für sie seit John keine Bindung mehr in Frage kam, sondern auch, um niemanden da mit hineinzuziehen, in das, was man persönliches Schicksal nennt. Denn ihr Schicksal war schon ziemlich absonderlich, genauer betrachtet...
Auf einmal erschrak sie. Ja, sie wollte niemanden da mit hineinziehen, aber wenn sie jetzt die Hilfe von Glenn in Anspruch nahm, dann tat sie dies doch. Ausgerechnet auch zu einem Zeitpunkt, wo vielleicht die Gefahr für einen Außenstehenden am größten war. Denn die Macht, die hinter allem steckte, war zu einigem fähig. Zwar wußte sie nicht, was diese Macht vor hatte und auch nicht, was ihr Motiv war, aber sie mußte damit rechnen, daß diese Macht es nicht zuließ, daß ihr jemand in die Quere kam. Auch kein Glenn Steinberg.
"Was ist plötzlich los mit dir, Carla?" rief Glenn Steinberg aus. Er hatte die plötzliche Gemütsänderung an ihr bemerkt.
Sie antwortete nicht sofort, denn in diesem Augenblick schaute sie an ihm vorbei in Richtung Tür. Dort war soeben jemand eingetreten. Kein Fremder. Jedenfalls nicht für sie.
"John!" entfuhr es ihr, und das war wie ein Entsetzensschrei und nicht bloß eine Feststellung.
*
Glenn Steinberg fuhr sofort herum. Aber da geschah es: Noch während Glenn Steinberg sich herumdrehte, verschwand der Neuankömmling - von einer Sekunde zur anderen. Soeben hatte er noch an der Tür gestanden, die hinter ihm selbständig ins Schloß geglitten war - und im nächsten Augenblick war er weg, als habe er sich in Luft aufgelöst.
Carla schlug entsetzt die Hände vor das Gesicht. Nein, sie glaubte keine Sekunde daran, daß sie sich nur etwas vormachte, daß sie halluzinierte. Sie wußte es besser. Es war jene Macht, die hinter allem steckte und deren Motiv sie nicht kannte. Es konnte doch nichts Negatives sein, denn immerhin war sie befördert worden? Als würde diese Macht es gut mit ihr meinen - besonders gut sogar. Aber warum dann diese Gaukeleien?
Sie ließ die Hände wieder sinken. Glenn schaute von der Tür zu Carla und dann wieder zurück zur Tür. "Aber, Carla, da ist überhaupt niemand!"
Carla winkte schwach ab. "Ich weiß: Jetzt nicht mehr!"
"Was soll das heißen: jetzt nicht mehr? So schnell kann niemand verschwinden."
"Nein? Nicht so schnell, als hätte er sich einfach in Luft aufgelöst?" Es klang anzüglich. Glenn schaute sie nur an.
"Entschuldige, Glenn, es war nicht so gemeint. Ich wollte dich nicht provozieren, wollte mich nicht über dich lächerlich machen. Die ganze Angelegenheit ist auch alles andere als lächerlich." Sie schöpfte tief Atem. Dann platzte es aus ihr heraus: "Ich habe Angst! Genauso wie Steve Barney. Nein, vielleicht nicht ganz so sehr, aber es reicht, um daran zu denken, endlich deine Hilfe anzunehmen. Weil ich sie wohl bitter nötig habe. - Andererseits..."
"Mein Angebot steht - nach wie vor, Carla!"
"Welches Angebot?"
"Was immer du willst, Carla: Ich werde dir helfen."
"Auch wenn auf dich Schlimmeres als sogar der Tod wartet?"
"Was sind denn das für Formulierungen? Carla, ich bitte dich. Du siehst überall John Fernandos herumlaufen, sogar hier im Café. Aber außer dir sieht ihn niemand. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, aber es beweist mir, daß du tatsächlich Hilfe brauchst."
"Dabei eigentlich nicht", sagte Carla tonlos. "Denn ich sehe nicht John Fernandos, sondern ein Trugbild oder einen Doppelgänger. Was auch immer... Jemand legt es jedenfalls darauf an, daß ich glaube, er müsse es sein. Und dieser Jemand hat für meine Beförderung gesorgt. Indem er Angst und Schrecken verbreitete. Steve Barney hatte eine Angst, wie du sie wahrscheinlich noch niemals bei einem Menschen gesehen hast."
"Und du? Hast du denn eine solche Angst schon gesehen - zuvor?" Es war keine Frage, die wirklich beantwortet werden wollte. Er hatte es nur gesagt, um Carla vorzumachen, wie absurd ihre Redeweise eigentlich klang.
Aber Carla wußte es besser. Sie wußte, daß sie keineswegs übertrieb. Ganz im Gegenteil: Sie hatte nun doch beschlossen, Glenn zumindest teilweise einzuweihen. Im Moment sah es zwar so aus, als sei es ein Fehler, weil Glenn ihr wohl niemals glauben konnte und sie ihn nicht soweit in Gefahr bringen wollte, daß er es am eigenen Leib erfuhr, wie wirklich alles war... Nun, sie wollte dennoch weitermachen.