Mythische Blicke. Weiblich - Monika Pichler-Kranich - E-Book

Mythische Blicke. Weiblich E-Book

Monika Pichler-Kranich

4,9

Beschreibung

Cora ist Lehrerin am Gymnasium. Auf den ersten Blick wirkt sie, wie eine ganz normale Frau… Eine Frau, die mit dem Alltag unserer Zeit zurechtkommen muss. Und doch ist ihr Schicksal nicht frei erfunden, sondern dem Mythos der Persephone nachempfunden. Die Göttin der Unterwelt, die von Hades geraubt und in die Unterwelt entführt wurde. Ein jahrtausendealter Archetypus. In diesem Roman begegnen uns - wie in einer Zeitdehnung - die mythischen Gestalten der Persephone und ihrer Familie als menschliche Gestalten unserer Gegenwart.

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Über dieses Buch:

Cora ist Lehrerin am Gymnasium. Auf den ersten Blick wirkt sie wie jede andere moderne Frau. Eine Frau, die mit dem Alltag unserer Zeit zurechtkommen muss. Und doch ist ihr Schicksal nicht frei erfunden, sondern dem Mythos der Persephone nachempfunden. Die Göttin der Unterwelt, die von Hades geraubt und in die Unterwelt entführt wurde. Ein jahrtausendealter Archetypus. In diesem Roman begegnen uns – wie in einer Zeitdehnung – die mythischen Gestalten der Persephone und ihrer Familie als menschliche Gestalten unserer Gegenwart.

Über die Autorin:

Monika Pichler-Kranich lebt in Berndorf bei Salzburg. Seit ihrem Studium der Klassischen Philologie in Salzburg beschäftigt sie sich intensiv mit den griechischen und römischen Mythen der Antike und ihrer Bedeutung für unsere Zeit.

„Mythische Blicke. Weiblich“ ist ihr erster veröffentlichter Roman.

Inhaltsverzeichnis:

Persephone

Demeter

Juno

Callisto

Leto

Anhang

Persephone

Du, Königin Persephone, wurdest von Hades entführt und zu seiner Gemahlin gemacht. Deine Mutter Demeter – erzürnt – erzwingt deine Rückkehr in die Oberwelt. Nicht vollständig. Nicht für immer. Die eine Hälfte des Jahres verbringst du nun bei den Menschen in der Oberwelt, die andere in der Unterwelt bei deinem Mann.

Während Persephone auf der Lichtung spielt und sich bald Veilchen, bald weiße Lilien pflückt, sich voll kindlicher Freude den Korb und die Taschen ihres Kleides anfüllt und mit den anderen Mädchen wetteifert, wer die meisten Blumen einsammelt, da wird sie fast zugleich gesehen, begehrt und entführt von Hades, dem Gott der Unterwelt.

Ovid: Metamorphosen V, 395

Drei Uhr. Um sechs wird der Wecker läuten. An Schlaf ist nicht zu denken. Ungewohnte Geräusche haben mich geweckt. Mein Bett steht unter dem Fenster in der Dachschräge. In meinem Schlafzimmer befinden sich außer dem Bett keine weiteren Möbel. Schnee ist gefallen. Ich warte, bleibe noch etwas liegen unter der schweren Decke, dann schlüpfe ich heraus. Ziehe eine dicke schwarze Wolljacke über mein schwarzes Nachtkleid an und dazu dicke Wollsocken. Draußen dehnt sich der Winterhimmel. Ich trete hinaus auf den Balkon. Rauche. Die Stadt liegt in tiefem Schlaf. Die meisten Lichter in den Wohnungen sind verloschen. Schnee fällt vom Himmel. Leise und beharrlich. Mein Balkon ist voller Pflanzen, die im Freien überwintern können. In Kunststofftöpfen, die aussehen wie aus Terrakotta. Tontöpfe oder Hochbeete sind zu schwer. Rosen, Narzissen, Krokus, Iris, Veilchen, Hyazinthen, Ginko, Myrte, über hundert Pflanzen. Alles ist mit Gartenfolie bedeckt.

Kein Licht auf dem Nebenbalkon. In der Nachbarwohnung sind neue Mieter eingezogen. Eigentlich wollte ich den ganzen Stock mieten. Doch die Kosten waren zu hoch. Weder Hanno, mein Ehemann, noch mein Onkel Henry wollten mir so viel Geld schenken, nicht einmal borgen. Unrealistisch. Ich atme den Rauch ein, ziehe ihn tief in meine Lungen.

Ich verbringe viele Nächte schlaflos. Meine Schultasche ist bereits gepackt, steht im Flur. Die Unterlagen vorbereitet, die Tests korrigiert. Alles fertig. Gut.

In der Nacht ticken die Schuluhren ungehört, bewegen sich ihre schwarzen Zeiger auf den weißen Ziffernblättern ungesehen.

Eigentlich müsste ich schlafen. Wenn es schneit, muss ich in der Früh Zeit für das Schneeschaufeln einplanen. Das kalte Auto. Eis von der Windschutzscheibe kratzen. Die Schneekruste zu meinen Füßen. Schneepflüge werden unterwegs sein. Ich schüttle den Kopf. Ach was. Ich muss nicht schlafen. Ich habe Unterricht bis vierzehn Uhr, nachmittags frei. Nachmittags kann ich schlafen. Alles auf den Kopf stellen. Ich schlafe nachmittags und in der Nacht arbeite ich, in der Ruhe der Nacht. Schreibe Geschichten, korrigiere Hausaufgaben, Tests und Schularbeiten. Bereite die einzelnen Unterrichtsstunden vor. Alles ist gut organisiert und funktioniert. Die Schüler sind in diesem Jahr eher ruhig und friedlich, wenig problematische Kinder. Wenigstens bis jetzt. Ich habe alles gut im Griff. Alles vorbereitet, alles korrigiert. Keine Probleme. Keine Arbeiten ohne Noten. Überall ist mir die Entscheidung leicht gefallen. Die Punkte ergaben ein klares Notenbild.

Schnee fällt senkrecht vom Himmel. Leise bedeckt er die Geräusche der Stadt. Lange Zeit ist die Nebenwohnung leer gestanden und ich habe mich der Illusion hingegeben alleinige Besitzerin des Dachgeschosses zu sein. Ich wickle mich tiefer in meine Wolljacke ein. Schnee jagt mir keine Angst ein. Die Vorstellung von ewiger Kälte, ewigem Schneefall. Alles verschwindet in einer weißen Schneedecke. Der Kältetod soll ein angenehmer Tod sein. Man schläft ein und träumt von Wärme.

Mein Selbstmordfreund hat mir das alles genau erzählt. Er hat sich einen Suizidkoffer zusammengestellt mit Gift, Seil, Messer und Schnaps. Sogar mit einem Ziegelstein. Lange hatte er von diesem Koffer nur erzählt, bis er anfing, alle zu langweilen. Dann hat er ihn mitgenommen zu Partys und Einladungen. Ein morbider Spaß. Todessehnsucht. Mein Selbstmordfreund bringt sich nicht um. Er redet nur davon.

Schneeflocken tanzen durch die Luft wie Asche. Die Dächer der Stadt ragen hervor wie schmutzige Eisberge. Von oben vermittelt die Stadt den Eindruck von Spielzeug für Riesenkinder, die es einfach achtlos liegengelassen haben.

Plötzlich öffnet sich auf der Terrasse nebenan eine Tür. Schnell springe ich zurück, verstecke mich im Türrahmen. Ein Mann tritt hinaus ins Freie. Licht fällt auf seine Gestalt. Er ist jung. Ein Adonis. Ich lehne mich zurück in die Dunkelheit meiner Wohnung. Doch er bleibt stehen. Klar und deutlich zeichnet sich seine Gestalt vor dem nächtlichen Winterhimmel ab. Ich stehe in der Dunkelheit. Starre hinaus auf die fremde Gestalt. Schnee rieselt auf die Dächer und die Stadt scheint jeden Schneekristall aufzusaugen. Ich beginne leise zu lachen, löse mich vom Türrahmen, gleite lautlos in das Innere meiner Wohnung. Ich bin in Sicherheit. In meiner Wohnung ist es dunkel wie in einem Bergwerk. Ich verschließe die Balkontür, ziehe die Vorhänge zu, kontrolliere alle Schlösser. Kein Problem. Alles verschlossen. Alles in Ordnung.

In der Dunkelheit finde ich mich gut zurecht, ich zögere ein bisschen, dann drehe ich trotzdem das Licht auf. Es taucht das Wohnzimmer in ein Halbdunkel. Ich ziehe mich in meine kleine Küche zurück. Koche Tee. Wähle den grünen Tee, keinen Schlaftee. Wenn ich um vier Uhr einschlafe und um sechs aufstehen muss, holt mich der Wecker aus dem Tiefschlaf. Dann bin ich wie gerädert. Unmöglich. Ich muss hellwach sein, wenn ich unterrichte.

Meine Gedanken kreisen um den neuen Nachbarn. Ein junger Mann. Er dringt in mein Leben ein. Hat mir nicht noch heute Nachmittag die Frau aus dem ersten Stockwerk Genaueres über die neuen Mieter erzählt? Zwei Männer. Angeblich ein Großvater mit seinem Enkel. Ein provisorisches Namenschild neben ihrer Wohnungstür. Kinyras. Ein fremdklingender Name. Fremd und seltsam. Der Enkel ein junger Mann. Schwarze Lederjacke, sieht teuer aus. Warum schläft er nicht? Sein Alter schätze ich auf siebzehn. Siebzehn, achtzehn Jahre. Das Alter meiner Schüler in der achten Klasse. Maturaklasse.

Ich greife in das Regalfach und ziehe mein Küchennotizbuch heraus. In jedem Zimmer habe ich ein eigenes Notizbuch. Das Küchennotizbuch hat einen lila Kunstledereinband, passend zu den Küchenvorhängen. Das Zusammenspiel der verschiedenen Farben, ihre Schönheit beruhigt mich. In der Nacht muss ich vorsichtig sein. Der Schlafmangel überreizt leicht meine Phantasie. Traumbilder verschwimmen mit der Realität. Meine Phantasie muss gezügelt werden. Diszipliniert. Ich muss mich beruhigen. Ich habe verschiedene Atemtechniken erlernt. Buddhistisches Denken. Buddhistische Philosophie. Das Herz der Wirklichkeit ist die Vergänglichkeit. Alles, was zu existieren scheint, verändert sich in jedem Augenblick.

Auf meinem Tisch liegen viele Modezeitschriften. Die Notizbücher sind voll mit Zeitungsartikeln und Bildern. Auf der Suche nach Form, Ästhetik. Auf der Jagd nach Geschichten, Ideen, Sätzen, Wörtern.

Aus der Nachbarwohnung dringen Geräusche. Ich fahre hoch. Stimmen. Oh mein Gott! Das Problem ist, dass es keine Vorwarnung gab. Ein Jahr war die Nachbarwohnung leer gestanden. Nun Geräusche. Stimmen von Männern. Fremde Männer. Wand an Wand mit mir. Können sie von ihrem Balkon in meine Wohnung sehen? Vielleicht sogar über das Gitter meines Balkons springen? In meine Wohnung eindringen? Aber nein! Vorsicht! Ich muss mich konzentrieren. Niemand bedroht mich. Ich bin sicher. Ich ziehe die Lade mit den Küchenmessern heraus. Und lasse meinen Blick über das Sortiment schweifen. Ich kann mich wehren. Jetzt führe ich ein anderes Leben. Ein gutes Leben. Ein sicheres Leben. Ich habe Messer, Pfefferspray und das Handy in Griffnähe.

Ich stehe auf. Wasche meine Hände, sorgfältig wie ein Chirurg. In den Medien tauchen Berichte von einer Grippeepidemie auf. Manche Schulen mussten schon geschlossen werden. In meiner Schule sind einige Kinder erkrankt. Doch der Verlauf der Krankheit ist wesentlich harmloser, als es die Medien schildern. Seit ich unterrichte, bin ich oft krank. Umgeben von Viren und Bakterien. Ich versuche jede Pause meine Hände sorgfältig zu waschen. Aber ich bin nicht allein mit meinem Wunsch nach Desinfektion. Schon bald sind Seifen Mangelware in der Schule. Ich darf einfach nicht krank werden. Ich bemühe mich alles richtig zu machen.

Fünf Uhr. Nur noch eine Stunde. Ich gehe ins Schlafzimmer, öffne den Kleiderschrank. Ich vergesse immer wieder das Licht einzuschalten. Mein Körper hat sich jede Einzelheit meiner Wohnung eingeprägt. Meine Augen sind an Dunkelheit gewöhnt wie die Augen einer Katze. Doch die Anwesenheit der Nachbarn lässt die Wohnung fremd erscheinen. Die Schlösser, die ich von innen verschließen kann, kostbar. Der Kleiderschrank. Tagsüber führe ich ein anderes Leben als in der Nacht. Also muss ich gut aufpassen, dass ich die beiden Bereiche sorgfältig trenne. Ich gebe viel Geld für meine Kleider aus. Kleider, Wohnung, Haut. Höhlengeborgenheit.

Damals haben die Zeitungen viel über mich und meine Mutter geschrieben. Auch über meinen Entführer. Diese Erinnerungen sind mächtig. Auch wenn sie langsam bewegungslos und tonlos werden, wie Standbilder. Nur noch Standbilder. Entführungsfall. Bilder von mir und meiner Mutter. Fremde Leute, die mich auf der Straße ansprachen.

Mein Entführer. Er ließ mich frei. Ich aber konnte nicht vergessen. Kam wieder. Eine Hochzeit. Heimlich. Flitterwoche. Niemand darf davon wissen. Niemand versteht. Die Hochzeitsreise. Hotels. Sein schwarzes Haar nass und schwer vom Duschen. Sonnenlicht, das sich in dem Glas Wasser auf dem Fußboden neben dem Bett spiegelt. Der Schrecken sitzt tief. Die Erde, die sich geöffnet hat. Das Haus des Hades. Der Gott des Todes. Dunkelmond. Entsetzen. Das hört nicht auf. Bin ich nicht vorsichtig, so lähmt es mich. Nimmt mir die Luft. Schnürt mir das Herz ab.

In Freiheit muss mein Leben gut organisiert sein. Die Gegenwart darf keine Löcher für Erinnerungen aufmachen. Muss ein dichtes Gewebe bilden. Was war, ist vorbei. Die Dämonen aus der Vergangenheit dürfen keine Macht bekommen. Soll ich umziehen? Die Entführung, die Hochzeit, meine Mutter. Der wichtigste Teil in meinem Leben ist das System. Leben wie die anderen.

Die Schule ist ein guter Ort. Die Arbeit. Jede Stunde gut geplant. Die Kinder aufmerksam, wenn es mir gut geht. Verliere ich die Kontrolle, ist der Teufel los. Schüler verzeihen keine Schwächen. Sie hassen schwache Lehrer.

Windstille. Als ich aus dem Haus trete, fliegen Krähen hoch. Schneeflocken tanzen über mein Gesicht. Mitten im Gehen bleibe ich stehen, beobachte, wie die Vögel zu der Eiche gleiten, höre ihr Kreischen.

„Klassenkonferenz der 8a in der großen Pause. Alle Kolleginnen und Kollegen bitte zu mir in die Direktion. Kurzkonferenz!“

Eine Kurzkonferenz in der großen Pause. Schon wieder! Keine Zeit zum Luftholen! Pausenloses Funktionieren. Kaum Zeit sich umzustellen. Von einer Klasse in die andere. Neue Gesichter. Neue Räume. Neuer Stoff. Einzig die große Pause gab ein wenig Zeit zum Luftholen. Früher. Jetzt wird sie ständig mit Kurzkonferenzen aufgefüllt.

„So, meine lieben Kollegen und Kolleginnen, …“ Umständlich zieht der Direktor ein kleines Tuch aus seiner Tasche und fährt sich damit über das Gesicht, atmet laut. Er ist von kleiner Statur, aber seine dünnen schwächlichen Beine lassen seinen Körper, die kräftigen Arme, den stämmigen Nacken und seine Brust umso wuchtiger erscheinen. Obwohl die Zeit drängt – die Pause ist gleich vorbei – schweifen meine Gedanken ab. Er ist freundlich und leutselig an die Schule gekommen. Durch die Sorgfalt, mit der er nach jeder Besprechung, nach jeder Konferenz, seine Schreibstifte in einem kleinen silbernen Federpennal verstaute, seine Aktentasche mit dicken Stößen von Unterlagen füllte, kam er mir auch sehr rührend vor.

Doch jedes Schuljahr wurde seine Laune schlechter. Obwohl die Direktion klein ist und wir Lehrer kaum Platz haben, bemühe ich mich, genauso wie die anderen, so viel Abstand wie nur irgendwie möglich zu ihm einzuhalten, denn er strahlt eine enorme Hitze aus, die auch für seinen Spitznamen verantwortlich ist: Hephaistos. Ich verhalte mich genauso wie meine Kollegen. Lehne mich zurück, drehe mein Gesicht von ihm weg. Kneife die Augen vor Ekel, aber auch belustigt halb zu. Das ist sehr wichtig. Denn wenn man in seiner Gegenwart nicht vorsichtig ist, kann es einem passieren, dass man die Beherrschung verliert und sich vor Lachen ausschütteln muss. Das liegt an den vielen Witzen, die über die Beschaffenheit seines Haares gemacht werden. Sein Haar strömt nämlich einen durchdringenden animalischen Geruch aus und hat die Tendenz, sich selbstständig zu bewegen, so, als wäre ein Tier auf dem Kopf, eine Art Biber. Manchmal rutscht dieser Biber von einer Seite seines Kopfes leicht zu der anderen. Dann ist es schwierig nicht in Lachen auszubrechen, sondern ruhig und scheinbar interessiert seinen Worten Gehör zu schenken.

Bei Konferenzen konzentriert sich der ganze Raum auf Hephaistos. Jedoch nicht auf seine Worte, sondern auf die Beschaffenheit seines Haares. Es stimmt, was er denkt. Er saugt alle Aufmerksamkeit auf sich, aber nicht auf den Inhalt seiner Reden, sondern die Augenpaare seines Publikums wandern beständig eine Etage höher zu seinen Haaren. Hephaistos hat in seinem Garten einen überdimensionalen Gartengrill, den er auch zu diversen Schulfesten mitbringt. Er selbst lässt es sich nicht nehmen, sich bei der enormen Hitze, die der Grill entwickelt, zu schinden und Fleisch in enormen Mengen zu grillen. Das Grillen ist ihm bald schnell zu einer Besessenheit geworden. Zuhause besitzt er sogar eine Schmiedeesse, die dem Gartengrill zum Verwechseln ähnlich sieht. An der Schmiedeesse sind seitlich ein Ofenrohr und ein Gebläse befestigt, das mit einer Handkurbel in Gang gesetzt wird. An diesem Gerät stellt er jedoch oft gar nichts her. Er erhitzt Stahl lediglich, hämmert auf ihm herum, prägt, bearbeitet und verändert ihn, voller Sehnsucht nach ebenso verformbaren Menschen. Er lässt das Eisen heiß werden und sieht zu, wie das Metall Sterne sprüht, bis es verschwunden ist. Während er Eisen schmilzt, verhärtet er sein Herz.

Die Direktion ist klein, aber sehr elegant eingerichtet. Nichts Bedrohliches. Die ungeduldigen Gesichter der Kollegen. Unbedingt jedem zunicken. Überzeugend wirken.

Ich höre Hephaistos Stimme lauter werden. „Wir haben mit dem heutigen Tag einen neuen Schüler. Er steigt direkt in die achte Klasse ein. Sein Name Kinyras Antonio. Er kommt aus Syrien, spricht mehrere Sprachen fließend. Lebt bei seinem Großvater. Der Junge hat gute Noten, sehr gute Noten. Und —“, er legt eine Pause ein, wischt sich noch einmal mit dem Tuch über das Gesicht, fährt mit der Zunge der Oberlippe entlang und sagt: „Er wird den Damen gefallen. Er soll ja außergewöhnlich attraktiv sein. Ein Adonis.“ Hephaistos versinkt in bedeutungsvolles Schweigen, gibt sich plötzlich einen Ruck ändert seinen Ton, wird dienstlich: „Aber Vorsicht, wie ihr ja wisst, dulde ich keine unkorrekten Beziehungen an meiner Schule!“ Er beendet die Kurzkonferenz und humpelt, sein steifes Bein nachziehend, aus der Direktion. Wir eilen davon. Die Pause ist beendet. Nächste Stunde. Maturaklasse. Ovid. Metamorphosen. Übersetzung: Raub der Persephone.

Außer Atem hetze ich in die Klasse. Alle Schüler stehen im Raum und ein einziger Schüler wird von ihnen umringt. Kinyras Antonio. Der Neue. Es ist tatsächlich mein Nachbar. Schon im Mittelpunkt. Er gefällt mir. Er gefällt mir überhaupt nicht. Weiße Haut. Grüne Augen. Schwarze Haare. Die Mädchen in der Klasse gaffen ihn an. Schmachtende Blicke. Sie haben die Ellbogen angewinkelt und ihre Hände baumeln an ihren Gelenken wie geknickte Blumen. Es ist schwül. Die Mädchen ziehen ihre biegsamen Arme an die Brust. Als sich alle gleichzeitig setzen, schlank und bleich, wirken sie wie Tänzerinnen.

Ich stehe verloren im Raum, fasse mich, spähe kurz an allen vorbei hinaus ins Freie. Öffne ein Fenster. Ich mag ihn nicht ansehen. Wende meinen Blick von ihm oder sehe durch ihn hindurch. Er interessiert mich überhaupt nicht. Er neigt seinen Kopf neugierig in meine Richtung. Ich lächle verlegen, streichle den Schulkalender in meiner Hand. Weiche seinem Blick aus. Sein Gesicht das Gesicht eines Siegers, eines Dämons. Wie davonkommen? Nicht nachdenken! Unterrichten. Dann die Pause. Endlich.

Zurück in meiner Wohnung, meiner Höhle. Die Klassenliste mit dem neuen Namen. Ich kopiere sie, schneide seinen Namen Antonio Kinyras heraus und stelle mir vor, dass es ihn gar nicht gibt. Alles ist so wie früher. Ich starre die Liste an. Einfach dieses Spiel wiederholen. Ich setze mich hin. Starre minutenlang diese Liste an. Der neue Schüler bringt alles durcheinander. Ich will ihn nicht haben. Er muss aus meiner Klasse

„Ich bin so froh, dass du Zeit hast für mich.“ Hephaistos scheint in Eile zu sein, will es sich aber nicht anmerken lassen: „Für dich immer! Gibt es ein Problem? Wie kann ich dir helfen?“

„Kannst du Antonio nicht in die 8b geben? Ich habe schon so viele Schüler.“

„Aber wieso denn? Das kann ja keine Schwierigkeit sein. Bei deinen Fähigkeiten. Ein Schüler mehr. Du machst das schon.“ Ich sitze in der Direktion. Ich sollte nicht zu Hephaistos gehen. Ich komme als Bittstellerin. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Auch das noch. Jetzt sitze ich da und weine vor ihm. Genau davor wollte ich mich hüten: Weinen. Die Fassung verlieren. Ihn bitten. Ich habe bisher alles geschafft.

Der Direktor lehnt sich in seinem Stuhl zurück und betrachtet seinen silbernen Kugelschreiber. Sobald ich zu sprechen beginne, legt er den Kugelschreiber aus der Hand. Er blickt mich abweisend und kalt an.

Meine Gedanken schweifen ab. Ich schließe die Augen. Der ätzende Geruch. Am Rand eines Traumes sehe ich Hephaistos, den Schmied. Voller Sehnsucht nach perfekter Arbeit fertigt er an einer offenen Feuerstelle mechanische Frauen aus Gold an. Diese Frauen helfen ihm, stellen mit Eifer, Ausdauer und Kunstfertigkeit Schilde und Lanzen her und fixieren Überwachungskameras auf dreibeinigen Tischen mit goldenen Rädern. Diese Tische fahren durch die Schule, zeichnen alles auf und kehren zu ihm zurück. Zauberland. Hephaistos‘ Glück. Es hängt festverankert im Traum fest. Das Leben verschließt sich vor seinen Wünschen.

Hinter den Fenstern der Direktion die Morgensonne. Ihre Strahlen erhellen den Raum. Ich sehe Hephaistos an, und kurz erwidert er meinen Blick mit verschleierten, glanzlosen Augen. Die Arme schlaff neben sich, die Handflächen nach oben. Plötzlich sehe ich klar und deutlich. Ich lese in seinem kalten, auch hinterlistigen Blick sein Schicksal. Ein verletzter, zerbrechlicher Mann, der auf der Hut sein muss. Er bewegt sich wie ein Taumelnder in einer ungeliebten Welt. Abgeschnitten und gemieden von allen. Von ihm kann ich keine Hilfe erwarten. Ich schiebe den Ärmel meines schwarzen Strickkleides hoch. Die Strahlen der Sonne lassen die Armbanduhr aufleuchten. Noch zehn Minuten Zeit. Dann beginnt der Unterricht in der achten Klasse. Die Arbeit der Maturaklasse an Ovids Metamorphosen nimmt meine Aufmerksamkeit über den Winter ganz in Anspruch. Und Kinyras.

Kate trägt einen knielangen, schwarzen Rock und ein schwarzes Top, bedruckt mit einem dreiköpfigen mythischen Wesen, beides eng anliegend, unter einem Mantel mit schwarzweißem Zebramuster. Ihre Augen sind von schwarzem Makeup tief verschattet, ihre Haare, die sie sich immer wieder ins Gesicht fallen lässt, sind schulterlang geschnitten. Hautenge Kleidung. Porno chic und Killerabsätze. Manchmal bindet sie sich einen Gürtel um den Hals und nicht um die Taille.

Mein Leben ist zersplittert, in mehrere Fragmente zerlegt. Kate gehört zu meiner Familie. Mein Onkel Henry ist in der Stadt. Die Stadt lebt auf. Er will mich sehen. Kate überbringt mir die Nachricht. Ich streife mit Kate durch die Nächte, durch die Bars der Stadt. Wenn Henry mit seinem Gefolge auftaucht, sind alle Gesetze aufgehoben. Kate sieht aus wie eine von Henrys Huren. Aber Kate gehört niemandem.

„Kate, ich will nicht, dass du mit so vielen Männern schläfst.“

„Sag das doch Henry.“

„Ach, du glaubst ja selbst nicht, dass du alles nur deswegen tust, weil es Henry will.“

„Träumst du noch, dass ein Mann mit einer Axt neben deinem Bett steht, bereit dich zu töten?“ Ich nicke.

„Alle in unserer Familie träumen von ihm.“

„Wie dünn du geworden bist, Kate, wie dünn und wie hübsch!“

Kate lacht und umarmt mich. Wir gehen in die Küche, trinken schwarzen Kaffee.

„Erzähl mir eine deiner Geschichten, Cora!“

„Ich habe neue Nachbarn. Einen jungen Mann mit seinem Großvater. Er ist nicht schön. Alle sprechen von seiner Schönheit. Er soll sogar als Fotomodell arbeiten.“

„Wie heißt er?“

„Antonio Kinyras.“

„Antonio Kinyras?“ Kate sieht verblüfft aus. Ich senke meinen Blick.

„Antonio Kinyras ist dein Nachbar?“

„Nicht nur mein Nachbar, er ist auch noch mein Schüler.“

„Das ist dein Schüler? Oh Gott, du bist beneidenswert. Alle Mädchen sind verrückt nach ihm. Und du hast dich auch schon in ihn verliebt. Sieh nur, wie rot du wirst, wenn du von ihm redest.“

„Sei nicht so albern! Ich bin verheiratet.“

„Ach was, verheiratet. Was soll deine Ehe schon wert sein? Die meiste Zeit im Jahr bist du allein und dein Mann wie vom Erdboden verschwunden.“

„Wir führen eine moderne Ehe. Hanno vertraut mir.“ Kate kann nicht verstehen, warum ich Hanno geheiratet habe. Niemand versteht das.

„Es ist Liebe.“

„Wirklich? Wirklich? Wie kannst du so jemanden lieben? Und Antonio?“

„Hanno ist nicht eifersüchtig. Seine Liebe ist anders. Nicht von dieser Welt.“

Ich versuche Kate abzulenken. „Auf den Bildern ist Antonio wirklich schön, unnatürlich schön. Aber in Wirklichkeit ist er das nicht. Du musst nämlich wissen, er hat einen Silberblick. Auf den ersten Blick kannst du ihn nicht erkennen. Ich überlege stundenlang, warum er in Wirklichkeit nicht schön ist, warum ihm die Ausstrahlung fehlt. Und ich fand keine Antwort. Also versuchte ich ihn zu zeichnen.“

Kates Haut leuchtet weiß, während sie lacht. Henry wollte, dass sie ein ganzes Jahr nicht an die Sonne ging. „Du bist völlig verrückt. Nein, du bist nicht verrückt. Du bist verliebt. Sieh dich doch nur um. Überall hängen seine Bilder.“

„Sei leise! Du darfst nicht so laut sprechen, er wohnt nebenan.“

„Das gibt es nicht.“

„Sei leise! Psst!“

Kates Arme sind so dünn. Sie wirkt zerbrechlich. Sonnenlicht läuft über den Fußboden.

Ich nehme Kate bei der Hand. „Komm, ich zeig dir etwas. Ich zeig dir, dass er nicht hübsch ist. Nein, er ist nicht hübsch. Schau ihn dir doch an. Komm! Sei leise! Er liegt im Liegestuhl auf dem Balkon und schläft. Er ist einer, der jagt.“

Kate lacht: „Er ist einer, der schläft.“

„Sei nicht albern! Ich sehe das. Er ist wild nach dem Blut seiner Beute, er stellt Fallen, liebt den Geruch der Angst. Beute, deren Witterung er aufgenommen hat, lässt er nicht mehr los.“

Ich stehe mit Kate auf meinem Balkon und auf Zehenspitzen ist es uns möglich, am Nachbarbalkon den in seinem Liegestuhl schlafenden Jüngling genauer zu betrachten. Kate steht neben mir. Plötzlich beugt sie sich dicht an mein Ohr.

„Er ist kein Jäger, ein Gejagter. Seine Aura sagt mir das, seine Haltung, seine Augen.“

„Seine Augen? Er schläft!“

„Weißt du etwas von seinen Eltern?“

„Von seinen Eltern? Nein, von seinen Eltern weiß ich gar nichts. Ich weiß nur von seinem Großvater. Er und sein Großvater kommen aus Syrien.“

„Er könnte auch ein Sohn Henrys sein.“

„Glaubst du, dass es etwa viele solche Familien wie unsere gibt?“

Hätte ich Kate von der Schule erzählen sollen? Was hätte ich ihr erzählen können? Ich sitze zuhause und zeichne und versuche Worte zu finden. Wie kann ich von der Schule erzählen? Von meinem bürgerlichen Leben? Von der Welt, in der ich versuche anständig zu leben, alles richtig zu machen. In einer Welt, in der ich darauf achten kann, dass Gesetze eingehalten werden. Solange die Welten nicht ineinander verschwimmen. Sie müssen getrennt bleiben. Fein säuberlich. Wenn es keine Welt gibt, die man von unserer Welt abtrennen kann, dann löse ich mich auf. Nicht nur ich löse mich auf. Alles löst sich auf.

Buchstaben zu einem Wort zusammenfügen, Wort an Wort und Satz an Satz. Eine Geschichte erzählen. Eine Handlung finden, einen Sinn finden. Einen Anker auswerfen. Er bleibt irgendwo hängen, findet irgendwo einen Grund, einen Sinn, eine Geschichte, die ich erzählen kann. Eine Geschichte von der Schule.

Ich betrete die Klasse und bleibe auf der Türschwelle stehen. Er sitzt in der letzten Bank und alle Mädchen der Klasse haben sich um ihn herum gruppiert. Das Sonnenlicht blendet. Ich schließe meine Augen zu einem kleinen Schlitz. Diese Stunde habe ich besonders genau vorbereitet. Aber ich finde den Anfang nicht. Immer wandern meine Blicke zu Antonio.

Und ich finde meinen Faden nicht. Immer verspreche ich mich. Fange an zu stottern. Die Kopien zu dem neuen Thema fegt ein Windstoß vom Katheder. Die Schüler blicken gelangweilt auf das Chaos, das sich vor ihren Augen ausbreitet. „Kann mir jemand helfen?“ Niemand rührt sich.

„Das, was bei Ihnen auf der Seite herauswächst, nennt man Arme und daran befinden sich Hände und mit denen können Sie Ihre Blätter aufheben!“

Ich fahre hoch. Unverschämtheit.

„Wer war das?“

Alle zeigen auf Stefan, einen hochgewachsenen Schüler, der normalerweise nicht mit Lehrern spricht.

„Du? Warst du das?“

Er blickt gelangweilt, während Bewegung in die Klasse kommt.

„Bist du verrückt geworden, glaubst du, du kannst so mit mir sprechen?“

Er zuckt mit den Schultern. Ich suche Antonios Blick, verliere den Boden unter den Füßen. Er blickt mich an. Ich reiße mich los. Wende mich wieder dem Unruhestifter zu. Sage: „So, das werde ich melden.“

Noch nie hat ein Schüler so frech mit mir gesprochen.

„Wem wollen Sie das melden?“

„Wem! Du fragst, wem!“

„Ja, ich frage, wem Sie das melden wollen?“

„Dem Direktor!“

Alle lachen schallend. Der Direktor ist auf der Seite der Schüler. Ein Lehrer, der sich über Schüler beschwert, wird immer abgewiesen. Für Schüler, die sich über Lehrer beschweren, steht jedoch die Tür immer weit offen. Auf seinem Tisch in der Direktion befindet sich eine Glasschale, aus der sich Schüler, die zu ihm kommen, Süßigkeiten aussuchen können. Dann hört er sich geduldig die Beschwerden der Schüler an und lässt den betroffenen Lehrer holen.

Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Plötzlich sehe ich mich selbst in der Klasse stehen und um Fassung ringen. Ich betrachte meine Hände. Alle blicken mir neugierig ins Gesicht. Ich sollte etwas sagen, sie warten auf etwas.

„Nehmt euren Ovid, schlagt die Seite → auf! Arbeitet das Kapitel leise durch!“

Antonio greift zu seinem Buch und alle folgen ihm. Und ich sehe auch die eifersüchtigen Blicke der Burschen, in denen Mordlust aufblitzt, dennoch folgen sie stumm Antonio. Mein Herz klopft und mein Gesicht glüht wie im Fieber.

Die Blicke der Mädchen hängen an Antonio, der sanft lächelt und seine Haare ins Gesicht hängen lässt. Seine Haare sind lang und gelockt, schimmern samtig. Einen Moment lang verspüre ich die Sehnsucht, über diese Haare mit der Hand zu streicheln.

Kate zieht die Augenbrauen in die Höhe. Was ich zu erzählen habe, ist nicht gerade das, was sie hören mag. Schulgeschichten langweilen sie bald. Ich sitze in meiner Küche, ihr gegenüber. Ich bewege mich auf schwankendem Boden und das macht mich wütend. Meine Stimme ist gelassen. Aber in mir brodelt schwarzer Kaffee. Meine Augen fixieren die Wand zur Nachbarwohnung, die ich inzwischen rot gestrichen habe. Einen Moment lang scheint Kate nicht zu wissen, was sie sagen soll. Dann sagt sie etwas Dummes. „Ich fürchte, du verliebst dich wirklich in den Jungen.“ Ich spreche mit Kate. In Gedanken versuche ich aber Worte zu formen, die ihn beschreiben können. Worte für das Licht, das auf seine Haut fällt, während er schläft.

In der Schule ruft der Direktor vom Gang ins Konferenzzimmer herein: „Cora, meine Frau will dich sprechen! Sie wartet bereits auf dich im Sprechzimmer! Lass sie nicht warten!“ Weg ist er.

Ich eile herbei. Seine Frau? Was will seine Frau von mir? Im Konferenzzimmer herrscht mit einem Mal Schweigen. Dann werden einzelne Stimmen laut. Seine Frau? Hier bei uns an der Schule? Noch niemand hat jemals seine Frau gesehen. Aber wie viele Geschichten werden über sie erzählt, als wäre sie die schönste Frau der Welt! Zwei junge Kollegen begleiten mich plötzlich rechts und links wie in Trance, als wären sie gerufen worden. Meine Schritte werden immer schneller, beinahe laufe ich, um sie abzuschütteln. Ziehe die Tür ins Sprechzimmer hinter mir zu, während ich noch ihre mich durchbohrenden Blicke im Rücken spüre.

Ein betörender Geruch erfüllt den Raum. Scheinbar gelassen lege ich meine Unterrichtsunterlagen mit den Notenaufzeichnungen auf den Tisch. Griffbereit. Unfähig die Augen von der Erscheinung zu nehmen. Noch nie habe ich eine so schöne Frau gesehen. Und das soll die Frau des Direktors sein? Sie trägt ein grünes Kleid und grüne Schuhe mit hohen Absätzen.

Es gibt eine Liebe auf der Welt, für die es sich lohnt zu leben und zu sterben.

„Guten Tag. Ich komme wegen Antonio Kinyras. Mein Mann sagte, sie unterrichten ihn in Latein.“ Sie sieht mir direkt in die Augen.

„Ich komme zu Ihnen wie eine Freundin. Ich bin eine Vertraute der Familie des Antonio. Seine Familienverhältnisse sind äußerst schwierig. Ich weiß nicht, ob Sie Bescheid wissen.“ Ich schließe die Augen, versuche mich zu konzentrieren. An ihrer Taille schillert ein Gürtel aus Echsenleder in allen Farben.

„Antonio ist schon vor langer Zeit mit seinem Großvater in unser Land gekommen. Er stammt aus Syrien. Seine Mutter starb bei der Geburt und niemand weiß etwas von seinem Vater.“ Mitten im Wort lehnt sie sich vor und ergreift meine Hand, während sie mir tief in die Augen blickt.

„Antonio ist ein guter Junge, aber man muss auf ihn aufpassen. Ein Junge ohne Mutter und ohne Vater.“

Ich hefte meinen Blick auf den Gürtel, zähle die Ringe, die Schlingen, versuche mir in meinem Kopf die Muster einzuprägen. Sie versprechen so viel Herrlichkeit, die Erfüllung aller Sehnsüchte, die mein Herz dehnen. Es ist, als dehne sich zugleich der Raum mit seinen Wänden, als öffne er sich weit hinaus in die Freiheit einer anderen Welt. Einer Welt außerhalb der Schule.