Mythos Bildung - Aladin El-Mafaalani - E-Book
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Aladin EL- Mafaalani

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Beschreibung

Wer die Krise des Bildungssystems verstehen will, muss dieses Buch lesen.  In diesem grundlegenden Buch analysiert Aladin El-Mafaalani die Probleme und paradoxen Effekte des Bildungssystems, seine Dynamik und seine Trägheit. Eine umfassende Diagnose, ein Plädoyer dafür, soziale Ungleichheit im Bildungswesen endlich in den Fokus der Bildungspolitik und -praxis zu rücken. »Es geht um eine Verringerung von Chancenungleichheit, um die Erweiterung von Erfahrungshorizonten und Zukunftsperspektiven für alle Kinder und um die Vorbereitung der nächsten Generationen auf die unbekannten Herausforderungen einer zunehmend komplexer werdenden Gesellschaft. Nur darum geht es. Nicht mehr und nicht weniger.« Aladin El-Mafaalani Da die Schere durch die Coronakrise weiter aufgegangen ist, darf keine Zeit mehr verloren werden. Jetzt muss gehandelt werden. Wie, das sagt dieses Buch. Erweiterte Neuausgabe mit einem Zusatzkapitel zur Coronakrise.

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Seitenzahl: 371

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Aladin El-Mafaalani

Mythos Bildung

Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Aladin El-Mafaalani

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

I. Blackbox Bildung

1. Ein rätselhafter Begriff

2. Humankapitalismus: Bildung als Ware und Währung

3. Persönlichkeitsbildung: Bildung als Aneignung von Welt und Formung des Selbst

4. Habitus: Bildung als klassenspezifische Prägung

5. Mythos: Bildung als Lösung aller Probleme

II. Mythos Chancengleichheit

6. Chancengleichheit ist nicht Gleichmacherei

7. Ungleiche Chancen abhängig von Herkunft und Geschlecht

8. Aber gleiche Chancen bei gleicher Leistung?

9. Alle sind beteiligt: Wo und warum entsteht Bildungsungleichheit?

10. Kommt drauf an, wo man wohnt

11. Bildungsbenachteiligung ist Lebensbenachteiligung

III. Paradoxien der Bildungsexpansion

12. Immer mehr Bildung

13. Bildungsungleichheit wächst, weil Bildungschancen steigen

14. Abschlüsse werden immer wichtiger und sind immer weniger wert

15. Alle werden schlauer, und keiner kriegt es mit

16. Mehr Bildung verbessert die Stadtteile nicht

17. Expansion bedeutet: mehr von dem, was nichts bringt

IV. In Armut aufwachsen – und zur Schule gehen

18. Aufwachsen in Armut oder Reichtum

19. Jugendbewegungen und Subkulturen

20. Bildungsaufstieg aus der Armut bedeutet sich verändern

21. In Migrantenfamilien ist es (nicht) anders

22. Arm sein und zur Schule gehen

V. Bildungsinstitutionen der Gegenwart

23. Logik und Trägheit des Systems

24. Dynamik und Expansion im System

25. Zur Komplexität des Lehrberufs

26. Der Lehrer – Trainer oder Schiedsrichter?

27. Unterricht: überbewertete Trends im Kerngeschäft

28. Grundprobleme und Nebenschauplätze

VI. Bildung der Zukunft

29. Gesellschaft der Zukunft

30. Bildungspolitische Ziele

31. Äußere Strukturen: Bildungssysteme

32. Innere Strukturen: Kitas und Schulen als Mikrosysteme

33. Kerngeschäft der Lehrkräfte: Unterricht

34. Vieles könnte getan werden

VII. Die Coronapandemie und ihre Bildungskrise

35. Kinder in der Pandemie: randständig

36. Lockdowns verstärken Chancenungleichheit

37. Schulsystem selbst im Katastrophenfall nicht flexibel

38. Potenziale und Grenzen der Digitalisierung

39. Kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen

Nachwort

Literaturverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Wozu noch ein Buch zu Bildung und zum Bildungssystem?

Unsere Gesellschaft ist ungerecht, ungerechter als andere, ungerecht zu Kindern. Und das ist nicht neu. Neu sind aber die Folgen, die dieser uralte Befund zeitigt. Genau genommen ist das deutsche Bildungssystem heute insgesamt deutlich durchlässiger als früher. Paradoxerweise führt ein Mehr an Durchlässigkeit nicht zu weniger Bildungsungleichheit, dafür aber zu neuen Problemen. Und diese neuen Probleme gefährden sowohl den Wohlstand als auch den sozialen Zusammenhalt als auch die Legitimationsgrundlagen unserer Gesellschaft. Und daher müssen uralte Fragen neu gestellt werden.

Durch die Bildungsexpansionen in den letzten 60 Jahren hat sich das Bildungsniveau in der Bevölkerung wesentlich erhöht und damit wuchsen auch die Bildungs- und Teilhabechancen aller Bevölkerungsgruppen. Nicht zuletzt auch deshalb ist die Gesellschaft heute deutlich dynamischer, pluraler und liberaler. Gleichzeitig gibt es nach wie vor junge Menschen, die von diesen Chancenzuwächsen nicht profitieren. Für sie wird die Situation hochproblematisch, denn sie laufen Gefahr, den Kompetenz- und Flexibilitätsanforderungen heute und in Zukunft nicht zu genügen. Sie sind zurückgefallen – zumindest im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung. Einfache und mittlere Bildungsabschlüsse haben an Wert verloren, wodurch sich für einen Teil der jungen Menschen die Benachteiligung verstärkt, weil diese entwertete Bildung keinen sicheren Platz in der Gesellschaft garantiert. Die Bildungsexpansion hat die Perspektiven und Chancen verschoben – sehr viele haben davon profitiert, aber bei Weitem nicht alle.

Noch entscheidender ist allerdings: Durch diese Entwicklungen haben sich solidarische Strukturen im sozialen »Unten« weitgehend aufgelöst. Wer heute scheitert, ist vermeintlich selbst schuld. Aus einem kollektiven Schicksal von vielen ist heute ein persönlich zurechenbares Scheitern von einigen geworden. Bei armen Kindern ist der öffentliche Diskurs (zumindest rhetorisch) vergleichsweise empathisch. Sobald aus diesen Kindern arme Erwachsene geworden sind, wird ihnen ihre prekäre Lage als individuelles Versagen zugeschrieben.

Bei alldem unverändert geblieben ist der Befund, dass diejenigen Kinder, die vermeintlich scheitern, also keinen Bildungserfolg haben, aus benachteiligten und benachteiligenden Verhältnissen stammen. Diese neue Konstellation aus uraltem Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg auf der einen Seite und stark veränderten Folgen für die Perspektiven von benachteiligten jungen Menschen auf der anderen Seite verstärkt die soziale Spaltung in der Gesellschaft, die sich längst in einer räumlichen Trennung ausdrückt. Resignation in Teilen der Bevölkerung, aber auch die Etablierung von Parallelgesellschaften werden dadurch immer wahrscheinlicher.

In den letzten Jahren hat sich aber noch etwas verändert: Die Erwachsenen bieten kaum noch Orientierung für die nachwachsenden Generationen. Sie sind überfordert mit der Gegenwart, die geprägt ist durch große Herausforderungen: Klimawandel, Digitalisierung, globale Migration, Populismus – um nur die wichtigsten zu nennen. Während in den vergangenen Jahrzehnten das Versprechen von Sicherheit, Wachstum und Stabilität noch einigermaßen glaubhaft war, erscheint die Zukunft heute geprägt durch Ungewissheiten. Die Welt ist für alle erkennbar unübersichtlich geworden. Mal ehrlich: Besonders stark verunsichert sind offensichtlich die »Alten«. Diejenigen, die ein seltsames Verhalten an den Tag legen, häufig ratlos und nicht selten naiv wirken, immer radikalere Ansichten offen aussprechen, sich regelmäßig danebenbenehmen, Tabus brechen und sich mit einer gewissen Schadenfreude destruktiv engagieren, kurzum: die sich wie pubertierende Halbstarke verhalten, sind heute ganz schön alt. Das sind im wahrsten Wortsinn verrückte Verhältnisse, die augenscheinlich die Jugend dazu zwingen, vernünftig zu sein.

Ganz sicher ist: Wir wissen, dass wir nicht wissen, welchen Herausforderungen sich ein heute geborenes Kind im Laufe seines Lebens wird stellen müssen. Die möglichen Szenarien gehen extrem weit auseinander, vielleicht weiter als jemals zuvor.

Unter all diesen veränderten Vorzeichen haben ungleiche Chancen eine vollkommen andere Qualität, und entsprechend müssen alte Fragen neu gestellt werden: Wie können wir Kinder auf eine ungewisse, aber in jedem Fall hochkomplexe Zukunft vorbereiten? Und wie können wir allen Kindern eine faire Chance auf ein respektables Leben ermöglichen?

Für die Beantwortung dieser Fragen muss sich einiges zwingend ändern. Zum einen muss der relativ hohe Anteil junger Menschen, die als kompetenzarm bezeichnet werden können, weil bereits in den Basiskompetenzen und Grundfertigkeiten handfeste Defizite vorliegen, deutlich gesenkt werden. Zum anderen muss der relativ geringe Anteil besonders leistungsstarker junger Menschen mit außergewöhnlich ausgeprägten Fähigkeiten wesentlich erhöht werden. Beides hat ganz zentral mit sozialer Ungleichheit zu tun: Kinder und Jugendliche aus unteren Schichten sind überproportional häufig von Kompetenzarmut betroffen und zählen viel zu selten zu der Gruppe der besonders Leistungsstarken. Zudem werden ausgerechnet Kinder aus benachteiligten Milieus von ihren Eltern zu häufig von höheren Bildungslaufbahnen abgehalten und von Lehrkräften strenger bewertet. Diese Befunde sind zwar uralt, aber weder gottgegeben noch »natürlich«. Und sie haben heute und in Zukunft ganz andere, deutlich schwerwiegendere Folgen.

Notwendig sind also sowohl die Kompensation von Defiziten als auch die Förderung von Begabungen, die jedes Kind hat, als auch die Förderung von außergewöhnlicher Exzellenz – und alles drei müsste sich auf Kinder aus unteren Schichten und in schwierigen Lebenslagen fokussieren. Bisher findet auf keiner dieser drei Ebenen eine systematische Berücksichtigung sozialer Ungleichheit statt. Eine solche ungleichheitssensible Förderung ist aber notwendig, da es in Deutschland bisher kaum gelungen ist, die ungleichen Startchancen von sozial Benachteiligten auszugleichen. Das liegt auch daran, dass wirklicher sozialer Ausgleich bisher überhaupt nicht im Mittelpunkt bildungspolitischer Bemühungen stand.

Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit sind Legitimationsgrundlagen unserer Gesellschaft. Sie waren schon immer eher Postulate als Realität. Aber solange man sich in den unteren und mittleren Schichten darauf verlassen konnte, dass es die eigenen Kinder einmal besser haben werden, ließen sich ungerechte Verhältnisse legitimieren – so war es noch in den 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahren. Im Jahr 2020 sind es nicht nur ökonomische und arbeitsmarktpolitische Gründe – Stichwort Fachkräftemangel und demografischer Wandel –, die diese uralten Zusammenhänge zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen hochproblematisch erscheinen lassen, sondern auch normative: Es ist schlichtweg ungerecht, Kinder mit ungleichen Chancen in eine hochkomplexe und ungewisse Zukunft zu entlassen, in der sie die Folgen ihrer Benachteiligung persönlich verantworten sollen.

Derzeit existiert also eine seltene Allianz zwischen ökonomischen und normativen Argumenten, und die hat der Bildungspolitik einen hohen Stellenwert eingeräumt – einen zu hohen.

Bildung hat bei Eltern und Lehrern, bei Regierung und Opposition, bei Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern höchste Priorität. Alle sind sich einig, und genau das ist Anlass zur Skepsis. Denn für nahezu jedes gesellschaftliche Problem wird Bildung als die Lösung präsentiert. Wenn man nicht mehr weiterweiß, wird Bildung als Zauberformel und Allheilmittel, als Lückenfüller oder als Totschlagargument ins Spiel gebracht. Bildung ist ein Mythos, ein kaum bestimmbarer Begriff, den man über jedes gesellschaftliche Problem stülpen kann. Das Bildungssystem soll es richten. Dabei ist das Bildungssystem selbst das zentrale Problem.

Der kritische Blick, der in diesem Buch auf Bildung, Bildungschancen und Bildungsinstitutionen geworfen wird, leitet sich aus drei miteinander zusammenhängenden Grundproblemen ab, die in einem deutlichen Spannungsverhältnis zueinander stehen:

Erstens ist es die Gesellschaft, die Ungleichheiten zulässt und produziert, die ohne das Bildungssystem, insbesondere die Schulen, noch viel größer wären. Denn in keinem Teilbereich der Gesellschaft werden Menschen derart gleichbehandelt wie im Bildungssystem. Die Chancenungleichheit bleibt jedoch bestehen, weil ungleiche Startchancen im Bildungssystem nicht systematisch ausgeglichen werden. Sie werden aber nicht primär im Bildungssystem produziert. Aber: Wo Ungleiches gleichbehandelt wird, reproduziert sich Ungleichheit. Vielmehr bedeutet eine ungleichheitssensible Bildung: Ungleiches gezielt ungleich behandeln.

Zweitens wird durch die Bildungsinstitutionen, die diese Ungleichheiten nicht ausgleichen, soziale Ungleichheit überhaupt erst legitimiert. Wenn am Ende »nur« ein Hauptschulabschluss steht, dann rechtfertigt diese Bildungslaufbahn geringere Lebenschancen – und zwar auch für die Betroffenen selbst. Ungleiche Chancen reproduzieren sich selbstverständlich auch dann, wenn Privilegien gewahrt werden.

Drittens gibt es keinen anderen gesellschaftlichen Bereich, in dem dieser Kreislauf durchbrochen werden könnte. Das Bildungssystem ist der einzige »Ort«, an dem Kompetenzen und Leistungsfähigkeit systematisch entwickelt – und nicht nur bewertet – werden. Nur durch das Bildungssystem, insbesondere die Schulen, können alle Menschen gleichermaßen erreicht werden. Daher ist die Forderung an das Bildungssystem, systematisch auf Ungleichheit einzuwirken und sozialer Benachteiligung entgegenzuwirken, berechtigt. Hier werden die Weichen für alle anderen gesellschaftlichen Bereiche gelegt.

Gleichzeitig haben wir ein in vielerlei Hinsicht über Jahrzehnte hinweg unverändertes Bildungssystem, in dem sich extrem viel gewandelt hat, sodass man es kaum wiedererkennt. Heute gehen die meisten Kinder auf ein Gymnasium, die wenigsten auf eine Hauptschule. Mehr junge Erwachsene beginnen ein Studium als eine duale Ausbildung. Dadurch hat sich klammheimlich – man sollte eigentlich sagen: strategielos – das Wesen von Bildungsgängen und -institutionen verändert, ohne dass sich im Hinblick auf Chancengleichheit Wesentliches verbessert hätte. Die Bildungsexpansion hat Ungleichheit deshalb kaum reduziert, weil es lediglich ein Mehr vom Gleichen ist. Es kommt aber darauf an, etwas anders zu machen.

Etwas anders machen bedeutet aber weder Revolution noch Restauration des Schulsystems und des Unterrichts. Notwendig wäre ein Umdenken. Das Bildungssystem darf nicht auf Lehrkräfte und ihren Unterricht oder abstrakte Schulsystemfragen reduziert werden. Erst über diesen Perspektivwechsel – so die hier verfolgte These – kann das Bildungssystem, insbesondere das Schulsystem, so aufgestellt werden, dass es zum einen die hohen Erwartungen in ganz unterschiedlichen Bereichen zukünftig auch erfüllen kann und zum anderen soziale Ungleichheiten systematisch bekämpft.

Wenn man sich mit sozialer Benachteiligung von Kindern beschäftigt, stellt man nämlich fest, dass diese ziemlich wenig mit dem Unterricht zu tun hat und entsprechend auch kaum durch Unterricht und Lehrkräfte (allein) ausgeglichen werden kann. Vielmehr unterscheiden sich die Lebenswelten der Kinder enorm und damit die Erfahrungshorizonte und die Entwicklungsmöglichkeiten.

Kitas und Schulen müssen zu Orten werden, in denen Kinder alles erleben und lernen können, was diese Welt zu bieten hat. Dafür muss der Ganztag ausgebaut werden, dessen Potenziale noch nicht ansatzweise ausgeschöpft sind. Ein multiprofessionelles Team an jeder Schule aus ganz unterschiedlichen Bereichen (Gesundheit, Soziale Arbeit, Psychologie, Kunst und Kultur) könnte die Kinder und Jugendlichen betreuen, ein anregendes und auf ihre Bedürfnisse ausgerichtetes Ganztagsprogramm entwickeln sowie zusätzliche Förderprogramme koordinieren. Die Lehrkräfte konzentrieren sich auf den Unterricht, entwickeln aber gemeinsam mit dem multiprofessionellen Team Strategien zur Kompensation von Defiziten sowie zur Begabungs- und Exzellenzförderung unter systematischer Berücksichtigung von ungleichen Startvoraussetzungen. Denn Armut und prekäre Lebenslagen verdecken Potenziale von Kindern, die mühsam entdeckt werden müssen. Lehrkräfte allein sind dazu nicht in der Lage.

Hierfür müsste nichts ganz neu erfunden werden. Die ohnehin bestehenden Entwicklungstrends hin zu mehr Ganztag müssten aufgegriffen und mit einer neuen Ausrichtung enorm verstärkt werden. Denn bisher hat man sich bei Begründung und Ausgestaltung des Ganztags daran orientiert, die Berufstätigkeit beider Elternteile zu ermöglichen. Ein bisschen Ganztag zu diesem Zweck hat auf ungleiche Chancen keinen Effekt. Mehr Chancengleichheit bedarf eines anderen Ganztags, der mit einer anderen Intention und aus einer anderen Perspektive gedacht wird, was grundlegende Veränderungen der Organisation der Institutionen impliziert.

Von gehaltvollen und systematisch durchdachten Ganztagsprogrammen profitieren alle, auch bildungsbürgerliche Familien. Allerdings muss man dort beginnen, wo die Benachteiligung besonders stark ausgeprägt ist, also an sogenannten sozialen Brennpunkten sowie dort, wo die Benachteiligung am wirksamsten bekämpft werden kann, also bei Kitas und Grundschulen. Mittelfristig sollten alle Institutionen von der frühkindlichen Bildung bis zur Sekundarstufe I berücksichtigt werden. Eine solche Expansion in Breite und Tiefe wird viel Geld kosten. Reformen sind bisher allerdings nicht an Geldmangel, sondern am mangelnden Problembewusstsein oder Handlungsdruck gescheitert.

Unsere Gesellschaft ist ungerecht zu Kindern. Das ist keine Übertreibung. Etwa 20% aller Kinder in Deutschland wachsen in Armut auf. Damit ist das Risiko, arm zu sein, in keiner Altersgruppe so groß wie bei Kindern. Sie sind arm, weil ihre Eltern arm sind. Um selbst nicht arm zu bleiben, ist das Bildungssystem ihre einzige Chance. Das Bildungssystem macht aber eher den Anschein, als würde das niemanden interessieren.

Kleine Gebrauchsanweisung für ungeduldige Leserinnen und Leser

Dieses Buch vereint viele Perspektiven. Das liegt zum einen an mir als Autor: Ich habe das Bildungssystem sowohl als Schüler und Student als auch als Berufsschullehrer und Hochschullehrer als auch als Ministerialbeamter und Bildungsforscher sowie nicht zuletzt auch als Vater kennengelernt. Dadurch habe ich einen breiten und tiefen Einblick, auch im Hinblick darauf, was sinnvolle und realistisch umsetzbare Veränderungen angeht. Zum anderen zwingt das Thema selbst zu Perspektivwechseln. Jedes Kapitel steht für sich und verfolgt jeweils einen eigenen Zugang zum Thema. Alle gemeinsam ergeben ein Gesamtbild. Jedoch ist die Reihenfolge variabel. Insofern können Sie die Kapitel wie Module nach Belieben anordnen.

Im gesamten Text steht die soziale Herkunft von Kindern und Jugendlichen im Mittelpunkt. Der Umgang mit Migrantenkindern sowie mit Kindern mit Behinderung wird an verschiedenen Stellen thematisiert, stellt aber nicht den Schwerpunkt der Analyse dar. Für die Grundlagen und Strukturen im Bildungswesen spielt dies – so die hier verfolgte These – eine nachgeordnete Rolle. Denn: Ein System, das soziale Ungleichheiten systematisch berücksichtigt, ausgleicht und produktiv nutzt, kann sich auch auf die Inklusion, Mehrsprachigkeit und so weiter einstellen. Für die am Ende dargestellten Zukunftsideen ist handlungsleitend, dass jede Institution aus dem laufenden Betrieb heraus alte und neue Herausforderungen eigenständig bewältigen können muss. (Januar 2020)

Zur Taschenbuchausgabe

Kurz nach Erscheinen dieses Buchs im Frühjahr 2020 wurde deutlich, wie wenig flexibel und innovativ das Bildungssystem auf neue Herausforderungen reagiert. Auch die Formulierung, dass die Ungleichheiten ohne Schule viel größer wären, hat durch die Coronapandemie eine ganz neue Relevanz bekommen. Aus einem analytisch korrekten Gedankenexperiment wurde leidvolle Realität. Aufgrund dieser extremen Entwicklungen wurde für die Taschenbuchausgabe (2021) das Kapitel VII »Die Coroapandemie und ihre Bildungskrise« ergänzt, in dem die besonders kritische Phase von März 2020 bis Juli 2021 mit Lockdowns, Quarantäne-Schließungen und vielen weiteren Einschränkungen für Kinder und Jugendliche (vorläufig) analysiert und reflektiert wird. Der restliche Text ist ansonsten unverändert geblieben. Was vor der Coronakrise richtig war, bleibt es auch danach. (Juni 2021)

Zur überarbeiteten Taschenbuchausgabe

Seit dem Sommer 2021 gab es erfreuliche und weniger erfreuliche Entwicklungen. Die erfreulichen zuerst: Mit dem Ganztagsförderungsgesetz (GaFöG) vom 2. Oktober 2021 hat die Bundesregierung den Anspruch auf Ganztag in der Grundschule rechtlich verankert. Dieser Rechtsanspruch gilt ab August 2026 für alle Kinder in der 1. Klassenstufe und wird sukzessive bis 2029 auf die Klassenstufen 1 bis 4 ausgeweitet. Das Bundesgesetz sieht vor, dass die Kinder von Montag bis Freitag jeweils acht Stunden betreut werden (Unterrichtszeit wird angerechnet), wobei der Ganztag maximal 4 Wochen im Jahr schließt, womit sich der Anspruch auf Ganztag auch auf den größten Teil der ca. 12 Wochen Schulferien erstreckt. Damit ist ein zentraler Reformvorschlag aus Kapitel VI »Bildung der Zukunft« rechtlich umgesetzt. Der Text ist dennoch unverändert geblieben, weil es bisher noch kaum erkennbar ist, wie dieses Bundesgesetz im gesamten Bundesgebiet umgesetzt werden soll. Die Herausforderungen im Hinblick auf Fachkräftemangel, räumliche Rahmenbedingungen, Kooperation zwischen verschiedenen schulischen und außerschulischen Akteur:innen sind enorm. Vor diesem Hintergrund hat sich der Charakter dieses Kapitels etwas verändert: Aus einer Forderung bzw. Empfehlung ist nun eine Umsetzungshilfe geworden.

Von daher kann festgehalten werden, dass meine Vermutung, die Covid19-Pandemie vergrößere die Bereitschaft für bildungspolitische Reformen, richtig war. Wesentlich weniger erfreulich ist die Tatsache, dass sich auch alle anderen Vermutungen im Zusatzkapitel zur Coronakrise vollumfänglich bestätigt haben. Was bis Juni 2021 noch kaum empirisch belegt werden konnte, kann nun als gesichert gelten: Kinder, also diejenigen, die durch das Virus am wenigsten gefährdet sind, wurden durch die Pandemiemaßnahmen am stärksten eingeschränkt und hatten dadurch (unnötig) große Gesundheits- und Bildungsnachteile; und ohnehin Benachteiligte wurden besonders stark zusätzlich benachteiligt. Der Text bleibt dennoch unverändert, lediglich zwei Anmerkungen (258 und 259) wurden ergänzt. (Februar 2023)

Inhaltsverzeichnis

I. Blackbox Bildung

Bildung gilt als Allheilmittel für fast alle gesellschaftlichen Missstände. Was dabei unter Bildung verstanden wird, bleibt in der Regel unklar. In diesem Kapitel möchte ich mich deshalb auf verschiedene Deutungen des Begriffs Bildung konzentrieren. Zum Ersten wird Bildung als Humankapital, also als wirtschaftlich und gesellschaftlich verwertbare Fähigkeiten und Kenntnisse des Menschen, vorgestellt. Zum Zweiten beschreibe ich Bildung als umfassende Persönlichkeitsbildung, bei der sich der Mensch seiner selbst und der Welt bewusst wird. So unterschiedlich beide Perspektiven auch sind, sie haben eins gemeinsam: Sie sind weitgehend blind für soziale Ungleichheiten. Daher werden in einem dritten Schritt mit dem Begriff Habitus milieu- und klassenspezifische Voraussetzungen für Kompetenzentwicklung und Persönlichkeitsbildung in den Vordergrund gestellt. Alle drei Begriffsbestimmungen sind für ein umfassendes Verständnis sinnvoll und wichtig. In keinem Fall ist Bildung eine Lösung, sondern eher ein eigenständiges Problemfeld.

1. Ein rätselhafter Begriff

Wann ist jemand gebildet? Ist ein Professor für Philosophie, der sich mit den existenziellen Fragen der Welt auf hohem Abstraktionsgrad intensiv beschäftigt, seine Gedanken und jene von Dutzenden anderen Philosophen geordnet und systematisiert hat, sich aber bei seiner Steuererklärung oder mit dem Smartphone völlig überfordert fühlt, besonders gebildet? Oder ist eine Informatikerin, die in der digitalen Welt wie ein Fisch im Wasser schwimmt und dabei Tschaikowsky hört, gleichzeitig aber fast jeder Verschwörungstheorie Glauben schenkt, gebildet? Ist hingegen ein Handwerksmeister, der erfolgreich seinen Betrieb führt und dabei die traditionelle Handwerkskunst pflegt, weniger gebildet als der Philosoph und die Informatikerin?

Bildung ist ein seltsamer Begriff. Häufig wird er verwendet, um eine »Veredelung«, eine Rangerhöhung des Menschen zu umschreiben. Der Mensch wäre demnach ohne Bildung »roh« und müsste sich erst zu einem richtigen Menschen bilden. Oder muss er nicht viel eher gebildet werden? Da fängt das Problem schon an. Ist Bildung ein aktiver oder passiver Prozess? Oder ist es ein Zustand, kann man (fertig) gebildet sein?

Wir können uns wahrscheinlich schnell darauf einigen, dass jemand als gebildet gilt, wenn er oder sie durch Zeugnisse und Urkunden den Erwerb von Qualifikationen und Kompetenzen dokumentieren kann. Oder? Damit würde unterstellt, dass überall dort, wo systematisch nach Lehrplan unterrichtet und gelernt wird, Bildung stattfindet. Wer diesem Lehrplan nicht folgt oder sich ihm entzieht, wäre demnach bildungsfern. Schön wäre es, wenn es so einfach wäre und die Veredelung des Menschen tatsächlich und vor allem in den Institutionen stattfände.

Ist ein gebildeter Mensch jemand, der viel weiß, viel liest, sich toll ausdrückt und mit einer gewissen Selbstverständlichkeit, vielleicht sogar mit Eleganz, komplexe Sachverhalte klar beschreiben, erklären und deuten kann? Bezeichnen wir nicht recht häufig Menschen als gebildet, die Sachverhalte eher kompliziert beschreiben – ganz unabhängig davon, ob sie es sind oder nicht? Ist ein Fachidiot gebildet, oder muss man breit aufgestellt sein mit der eigenen Bildung, um diese Zuschreibung zu »verdienen«?[1]

Bildung ist ein unmöglicher Begriff. Es ist ein sehr deutscher Begriff und zudem ein ursprünglich theologischer. Bildung bedeutet, sich ein Bild von etwas machen oder etwas bilden, also: einer Sache Gestalt geben. Es geht um eine innere Formgebung. Aber was soll geformt werden – und wie?

Die Deutungen des Begriffs haben sich im Zeitverlauf enorm gewandelt. Im Spätmittelalter ging es um die menschliche Seele und die Nähe zu Gott. Gott schuf den Menschen nach seinem »Bilde«, steht in der Bibel. Der Theologe Meister Eckhart konstruierte daraus die Vorstellung, dass in der Seele eines jeden Menschen ein Bild Gottes bereits eingeschrieben sei. Bildung meinte für ihn dementsprechend, dass Gott im Menschen heimisch wird, wenn sich die Seele des Menschen in Gott (ab)bildet.[2]

Gemeinsam mit der Gesellschaft säkularisierte sich im Zeitverlauf auch der Bildungsbegriff. Vom Gottesbild bewegte sich die Deutung des Begriffs hin zum Selbstbild, zur Bildung der Persönlichkeit, also zu der Idee, dass man sich selbst eine Gestalt geben muss. Und zugleich muss man der Welt, in der man selbst verortet ist, eine Gestalt geben. Selbstbild und Weltbild und die Verhältnisse zwischen diesen beiden – es geht nicht mehr um Gott und dessen Wirken im Menschen, aber immer noch um das große Ganze.

Tatsächlich haben alle moderneren Bildungsbegriffe und Bildungstheorien diese beiden Komponenten im Blick: eine aktive Aneignung von Welt durch Lernen und Erfahrungen sowie das Sich-selbst-in-Beziehung-Setzen zu einem Thema, zu einem Kontext oder zu einer Erkenntnis. Die Dinge bekommen erst so eine Bedeutung, einen Wert.

Bildung hat also ganz zentral etwas mit Wissen und Wissensaneignung zu tun, aber auch mit Auseinandersetzung, mit dem Erkennen von Zusammenhängen, mit Urteilsvermögen, also dem Fällen eines begründeten Urteils, mit einer kritischen Distanznahme und damit natürlich auch mit Reflexion. Alles Fähigkeiten, die in Bildungsinstitutionen regelmäßig eingeübt werden (sollen). Es gibt jedoch ein substanzielles Element eines Bildungsprozesses, das in den Einrichtungen nicht immer gelingt: das Berührt- und Bewegt-Werden. Oder genauer, dass eine Erkenntnis mein Selbst-Welt-Verständnis berührt und bewegt. Etwas Äußeres, Fremdes wird zum Inneren, Eigenen – und somit verändert man sich selbst beziehungsweise verändert sich das Selbst.

Wir sind uns dennoch meist einig: In Schulen und Hochschulen, selbst in Kindertageseinrichtungen findet regelmäßig Bildung statt. Es ist praktisch ausgeschlossen, dass das dort Gelehrte und Gelernte uns nicht beeinflusst. Zudem kann dies auch durchaus unerkannt und von außen nicht sichtbar geschehen. Klar ist: Man kann diesen inneren Prozess nicht steuern. Man kann sich sehr wohl fragen, unter welchen Voraussetzungen und wann er eher gelingt, wie man bessere Bedingungen schaffen kann. Hier ist weniger wahrscheinlich mehr. Von Montag bis Freitag im 45-Minuten-Takt berührt zu werden, hält niemand aus.

Die entscheidende Funktion des Bildungssystems ist jedoch, dass alle Grundlagen für Bildungsprozesse geschaffen werden: das Erlernen zentraler Kulturtechniken, insbesondere Lesen, Schreiben und Rechnen, die Aneignung analytischer Fähigkeiten sowie der systematischen Auseinandersetzung mit dem als relevant bewerteten Ausschnitt des verfügbaren geprüften Wissens innerhalb einer Kultur. Es geht um Kompetenzentwicklung und Wissenserwerb. Damit werden in den Bildungsinstitutionen auch die wichtigen Grundlagen für außerinstitutionelle Bildungsprozesse gelegt. Denn klar ist, dass Bildungsprozesse auch außerhalb der dafür vorgesehenen Orte stattfinden: in Familien, Vereinen, sozialen Bewegungen, in Peergroups, über Medien, autodidaktisch und so weiter.

Die jeweilige Gesellschaft spielt also in mehrfacher Hinsicht eine entscheidende Rolle. Zum einen organisiert sie das Bildungssystem und damit die Rahmenbedingungen für Bildung. Aber nicht nur das Bildungssystem ist in die Gesellschaft eingebettet. Die Kinder und Jugendlichen sind es selbst auch. Ihre Familien, ihr Wohnort, ihr soziales Umfeld und ihr Stadtteil: Der soziale Kontext, die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse oder einem sozialen Milieu, spielt eine enorme Rolle, weshalb soziale Ungleichheiten, Benachteiligung und Diskriminierung zentrale Themen im Bildungswesen (geworden) sind, die für die folgenden Analysen von zentraler Bedeutung sein werden.

Der Bildungsbegriff bewegt sich in dem Spannungsfeld beziehungsweise Wechselspiel zwischen intendierter Anleitung, allgemeiner und zwischenmenschlicher Anregung und einer selbsttätigen Aneignung. Alles in allem geht es um das große Ganze, und dennoch ist dies keine wirklich zufriedenstellende Begriffsbestimmung.

Der Bildungsbegriff lässt sich tatsächlich nicht allgemeingültig definieren, zumindest nicht mit einem wünschenswerten Maß an inhaltlicher Substanz und Konkretheit. Er ist in dieser Hinsicht rätselhaft. Aber er ist somit auch ein gestaltbarer Begriff, oder genauer ausgedrückt: ein durch die Gesellschaft bestimmter Begriff. Das Zukunfts- oder Idealbild einer Gesellschaft nimmt Einfluss auf das, was unter Bildung verstanden wird. Eine Gesellschaft ohne Zukunftsidee treibt dahin und mit ihr ihr Bildungsbegriff.

Derzeit dominiert sowohl in der Bildungspolitik als auch in der Bildungsforschung ein Begriffsverständnis, das auf ökonomische Verwertbarkeit, Messbarkeit und gesellschaftlichen Nutzen ausgerichtet ist, das heißt, Bildung hat zunehmend den Charakter einer Ware und einer Währung. Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass diese gesellschaftlichen Setzungen neu sind. Sie waren immer präsent, sind heute aber expliziter und dominanter denn je.

2. Humankapitalismus: Bildung als Ware und Währung

Bildung als Ware und Währung zu betrachten – das würden viele Menschen intuitiv ablehnen. Aber bereits Anfang der 1980er-Jahre hat der Soziologe Pierre Bourdieu genau hierzu eine Theorie entwickelt.[3] Es handelt sich also keineswegs um eine neue Sichtweise oder einen aktuellen Trend.

Das Kapital als rein ökonomische Ressource (Einkommen und Vermögen) zu begreifen, wie es noch bei Karl Marx definiert war, wird laut Bourdieu den vielfältigen wechselseitigen Austauschprozessen innerhalb einer Gesellschaft nicht mehr gerecht. Entsprechend definiert er Kapital als gesellschaftlich relevante Ressourcen, die imstande sind, die Stellung eines Menschen innerhalb der Hierarchie einer Gesellschaft zu bestimmen, zu erhalten oder zu verändern. Neben dem ökonomischen Kapital nennt er zwei weitere Sorten von Kapital, die vom Prinzip her gleichwertig sind: kulturelles Kapital (Bildung) und soziales Kapital (Netzwerke). Sie sind deshalb Kapital, weil sie gleichermaßen nützlich sein können. Und sie sind grundsätzlich gleichwertig, weil sie austauschbar sind, also die Funktion einer Währung haben können. Aber der Reihe nach …

Das klassische ökonomische Kapital garantiert nach wie vor die Sicherung des Lebensstandards und eine gewisse Unabhängigkeit. Allerdings reicht es allein nicht mehr aus, um gesellschaftliche Macht auszuüben oder bestimmte Positionen einzunehmen. So öffnet beispielsweise ein großer Lottogewinn keineswegs die Türen in die gehobenen Kreise oder in bestimmte Machtsphären. Zudem wissen wir heute, dass ein Lottogewinn bei zuvor ärmeren Menschen häufig nicht nachhaltig zu Wohlstand führt. Vielmehr sind es auch neue beziehungsweise wichtiger gewordene immaterielle Ressourcen, die die soziale Stellung mitbestimmen.

Das kulturelle Kapital könnte auch als Bildungskapital bezeichnet werden. Es drückt sich nach Bourdieu in Objekten (objektiviertes kulturelles Kapital), in Körper und Geist (inkorporiertes kulturelles Kapital) sowie in institutionalisierter Form (institutionelles kulturelles Kapital) aus. Objektiviertes kulturelles Kapital ist dabei am engsten an Geld gebunden. Hierzu zählt insbesondere der Besitz von Kunstgegenständen (beispielsweise ein Gemälde), Kulturgütern (beispielsweise Bücher) und Kulturwerkzeugen (beispielsweise ein Klavier), die zwar materielle Objekte sind, aber deren Wert vordergründig immaterieller Natur ist – die also auf gewisse Weise Bildung beziehungsweise Gebildetsein vorführen. Und mal ehrlich: Wenn wir jemanden zu Hause besuchen und im Wohnzimmer ein wohlplatziertes Kunstgemälde, Hunderte Bücher im Regal und einen Flügel sehen, steht für uns schon (fast) fest: Dieser Mensch ist gebildet.

Die Verinnerlichung dieser Objekte erfordert, dass ich sie mir einverleibe. Inkorporiertes kulturelles Kapital meint die sich stetig vollziehende Aneignung, also die geistige, körperliche und emotionale Verinnerlichung des Kulturellen. Es geht um Wissen und Fähigkeiten, heute würde man von Kompetenzen sprechen, wobei nicht nur kognitive, sondern auch soziale, emotionale und methodische Fähigkeiten gemeint sind. Wenn nun unser Gastgeber auch noch kunstinteressiert und belesen wirkt, vielleicht sogar auf dem Flügel etwas vorspielt und dabei zwischendurch einen Schluck Rotwein trinkt – dann ist die bildungsbürgerliche Aura vollkommen.

Die Verinnerlichung des Kulturellen ist die zeitintensivste Ausprägung der kulturellen Kapitalformen und findet insbesondere, aber nicht nur im Bildungssystem statt. Klavier spielen etwa hat unser Gastgeber sicherlich nicht auf dem städtischen Gymnasium gelernt.

Das Hoheitsgebiet des Bildungssystems liegt im institutionellen kulturellen Kapital. Die Institutionalisierung kulturellen Kapitals findet ihren Ausdruck vor allem in (hoch)schulischen Abschlüssen und Titeln. Diese Papiere sind im tiefsten Wortsinn »Zeugnisse« kultureller Kompetenz und garantieren ihren Inhabern einen dauerhaften Wert. Und dies relativ unabhängig vom tatsächlichen Besitz von Kompetenzen. Wenn also unser Gastgeber einen Doktortitel hat, ist das Bild vollends rund: Er ist sehr gebildet.

Die Wirksamkeit dieser Zeugnisse ist herausragend. Ähnlich wie bei einem Geldschein hängt der Wert dieser Papiere von ihrem Urkundenstatus ab. Daher ist institutionalisiertes Bildungskapital die gesellschaftlich legitimste Form kulturellen Kapitals. Bildungstitel sind das Produkt einer Bildungsinvestition, einer Umwandlung von ökonomischem in kulturelles Kapital: Die Bildungsphase bis zum Abschluss hat nicht nur Mühen, sondern auch Geld gekostet. Wer viele Jahre dafür aufbringt, einen Bildungstitel zu erlangen, der hatte direkte, aber durch entgangene Einkünfte auch indirekte Kosten. Die Investition ergibt nur dann Sinn, wenn ihre Rekonvertierbarkeit (zumindest teilweise) garantiert ist, mit anderen Worten: Das muss sich auszahlen. Der Abschluss muss einen Wert haben, der auf dem Arbeitsmarkt Einkünfte generiert.

Der Zusammenhang zwischen den drei Formen kulturellen Kapitals gilt mittlerweile als derart gesichert, dass es in internationalen Studien üblich geworden ist, die Anzahl von Büchern im Haushalt oder das Beherrschen eines Musikinstruments als Indikator für die Bildungsnähe und die Schichtzugehörigkeit zu verwenden und daraus Hypothesen für die Forschung zu generieren (bspw. IGLU-Studien). Es ist also tatsächlich so, dass Gegenstände, Kompetenzen und Zeugnisse miteinander in Zusammenhang stehen. Inwiefern im Zeitalter der Digitalisierung diese historisch gewachsenen Formen von kulturellem Kapital Bestand haben werden, ist durchaus fraglich. Bereits die Materialität von gebundenen Büchern verliert dramatisch an Bedeutung (E-Books), aber auch das Lesen an sich: Selbst in intellektuellen Kreisen konkurrieren Bücher, egal ob gedruckt, digital oder als Hörbuch, zunehmend mit Serien und Social-Media-Angeboten.

Damit kommen wir zur letzten Kapitalsorte: dem sozialen Kapital. Es lässt sich auch als Vitamin B(eziehungen) oder Vitamin C(onnections) bezeichnen. Soziale Beziehungen entstehen durch fortwährende Aufnahme und Pflege sozialer Kontakte. Nicht umsonst wird dem ›Netzwerken‹ – wie man dies umgangssprachlich formuliert – in der analogen und in der digitalen Welt eine zunehmend wichtige Rolle beigemessen. Aber auch Nachbarschaftshilfe, Familienzusammenhalt oder andere solidarische Formen gehören dazu. Dabei hängt das Ausmaß des sozialen Kapitals, über das eine Person verfügt, sowohl von der Größe des sozialen Netzwerks als auch von der Kapitalausstattung der anderen Personen im Netzwerk ab.

In der digitalen Welt lässt sich die besondere Rolle sozialen Kapitals in eindrucksvoller Weise erkennen und sie ist quantifizierbar und quasi öffentlich: Welche und wie viele Freunde und Follower habe ich auf Facebook, Twitter, YouTube oder Instagram? Ab einer kritischen Masse an »Freunden« lässt sich damit sogar Geld verdienen. Mittlerweile werden die persönlichen Profile und Netzwerke im digitalen Netz auch bei Bewerbungsverfahren mitberücksichtigt. Umfang und Qualität des sozialen Kapitals bestimmen also in gewisser Weise mit, wie ein Mensch wahrgenommen und bewertet wird.

In zweifacher Hinsicht besteht dennoch prinzipiell eine Gleichwertigkeit zwischen allen Kapitalsorten: Zum einen dienen sie dazu, eine bestimmte Stellung in der Sozialstruktur der Gesellschaft einzunehmen. Zum anderen lassen sich alle Kapitalsorten ineinander umwandeln, um wiederum die Positionen zu erhalten oder zu verbessern: Durch Investitionen in Bildung kann ökonomisches Kapital in kulturelles Kapital umgewandelt werden; das daraus entstandene Bildungskapital kann zu einem beruflichen Aufstieg führen und damit wiederum in ökonomisches Kapital transformiert werden; dadurch, dass soziale Beziehungen bei der beruflichen Etablierung enorm hilfreich sein können, lässt sich auch soziales Kapital in ökonomisches umwandeln und so weiter. Dem Kapital, in welcher Form auch immer, wohnt also eine gewisse Tauschfunktion inne.

Bildung hat insofern schon lange eine gewisse kapitalistische gesellschaftliche Funktion. Bildung wird zunehmend als Humankapital verstanden. Damit ist die Gesamtheit der wirtschaftlich und gesellschaftlich verwertbaren Fähigkeiten und Kenntnisse von Personen gemeint. Bereits der Ökonom und Philosoph Adam Smith und nach ihm eine ganze Reihe von Wirtschaftsnobelpreisträgern beschäftigten sich mit dem ökonomischen Nutzen (insbesondere im Verhältnis zu den Kosten) von Bildung. Bildung ist eindeutig eine wichtige Ressource – für den Einzelnen und für die Gesellschaft insgesamt. Das kann man alleine daran festmachen, dass im Zusammenhang mit Bildung neue, ökonomisch geprägte Begriffe alltagstauglich werden: Bildungsnachfrager und Bildungsanbieter, Bildungsgüter und Bildungsmärkte, Bildungsrendite und Bildungsinflation. Bildungsdienstleister müssen sich in Bildungsmanagement üben und so weiter. Bildung ist also auch ein wirtschaftliches Gut. Entsprechend interessiert sich die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) derart stark für das Bildungswesen, dass die deutsche Bildungsforschung mittlerweile in beträchtlichem Maße durch die OECD finanziert wird – PISA ist hierfür nur ein prominentes Beispiel.[4] Der Fokus auf die gesellschaftliche und individuelle Verwertung von Bildung rechtfertigt es, von einem Humankapitalismus zu sprechen. Im Humankapitalismus kennzeichnet sich der dominante Bildungsbegriff durch eine Reduzierung auf die ökonomisch nützlichen und wissenschaftlich messbaren Aspekte von Bildung auf der einen Seite sowie durch einen enormen Bedeutungszuwachs dieses schmalen Bildungsverständnisses auf der anderen Seite. Das kann man gut oder schlecht finden – in jedem Fall lässt sich die Entwicklung nicht mehr übersehen, dass die mit Humankapital bezeichnete Waren-, Währungs- und Wettbewerbsförmigkeit von Bildung derzeit die Diskurse und Praktiken im Bildungssektor dominiert. Tatsächlich sind Bildungsabschlüsse zunehmend von Bedeutung für berufliche Etablierung und Karrieren – und damit für das Einkommen. Dagegen ist auch zunächst nichts einzuwenden.

Allerdings führt dies dazu, dass Eltern in die Bildung ihrer Kinder Zeit und Geld investieren, früh und umfassend fördern, wodurch ein enormer Wettbewerb entsteht, der sich als Leistungsdruck für Eltern und Kinder äußern kann. Diese Entwicklung ist nicht zuletzt auch ein (wahrscheinlich unbeabsichtigtes) Ergebnis der PISA-Studien: Durch das zunächst sehr mäßige Abschneiden Deutschlands wurde das Bildungssystem kritischer betrachtet und dadurch indirekt den Eltern eine stärkere Verantwortung bei der Platzierung ihrer Kinder im Bildungssystem übertragen. Die OECD fokussiert nachweislich die höhere und akademische Bildung, zulasten der in Deutschland traditionell starken und weltweit einzigartigen beruflichen Bildung.

Es mag kein Zufall sein, dass im Jahr 2002 – also ein Jahr nach Erscheinen von PISA I – eine Kommission eingesetzt wurde, die das entwickelte, was seit dem Jahr 2005 unter den Stichworten Agenda 2010 und Hartz IV in aller Munde ist: einen enormen Umbau des Sozialstaats. In kürzester Zeit mussten also zwei zentrale deutsche Selbstbilder (gefühlt) begraben werden: Das Land der Dichter und Denker ist genauso Historie wie der robuste Sozialstaat, auf den immer Verlass ist.

Auch wenn diese vermeintlichen »Niedergänge« vor allem gefühlte und weniger tatsächliche Wirklichkeiten sind: Sie haben Folgen. Denn das ewige Reden von »Fördern und Fordern«, davon, dass der Einzelne mehr Verantwortung übernehmen muss, stärker, flexibler und leistungsfähiger werden und der Gesellschaft nicht zur Last fallen soll, hat den Bildungsmarkt enorm erstarken lassen – und zwar von der Wiege bis ins hohe Alter. Ein Wettbewerb wurde ausgerufen: Deutschland gegen China, Deutsche gegen Chinesen, der einzelne Mensch gegen alle anderen. Jeder stehe im Wettbewerb zu jedem. Es gilt, Kapital – im Sinne Bourdieus – anzuhäufen, um im Wettbewerb zu bestehen.[5]

Im Übrigen haben sich zeitgleich auch die Wirtschaftsverbände in den Bildungsdiskurs eingeschaltet und eine kürzere Verweildauer im Bildungssystem gefordert, damit die ausgebildeten Menschen den Betrieben zur Verfügung stehen – und nebenbei schneller zu Steuer- und Beitragszahlern werden. Das Ergebnis ist eindrücklich: Die frühere Einschulung, das Abitur nach 12 Schuljahren oder »G8«, das Aussetzen der Wehrpflicht und die Verkürzung der Regelstudienzeit bis zum ersten Hochschulabschluss konnten zumindest rein rechnerisch die Bildungsphase von Akademikerinnen und Akademikern bis zum Berufseinstieg um mehr als 4 Jahre verkürzen – Reformen, die in Rekordgeschwindigkeit umgesetzt wurden. Im Ergebnis haben wir heute Minderjährige, die ihr Studium beginnen, 20-Jährige mit Bachelor- und 22-Jährige mit Master-Abschluss. Absurderweise sind viele Arbeitgeber heute noch unzufriedener als vorher. Was soll man mit so jungen Leuten anfangen?

Der Steigerungs- und Beschleunigungszwang in unserer Gesellschaft hat das Bildungswesen in Gänze erschlossen. Bildung ist eine enorm relevante Ressource, Wirtschaftsgut und Währung zugleich. Entsprechend entsteht der ausgeprägte Drang, Bildung messbar zu machen. Die Quantifizierung von Bildung gewinnt an Bedeutung, bestimmte Qualitäten treten in den Hintergrund. Reformen beziehen sich sehr stark auf die »Hardware« von Bildung – auf die Alters- und Zeitdimension, auf die Bezeichnung von Abschlüssen und Institutionen – und weniger auf die »Software«. Und es ist ein besonderes Gut: Bildung – egal ob Zeugnisse oder Kompetenzen – kann man nicht so einfach verlieren wie materielles und ökonomisches Kapital. Dafür lässt sich materielles Vermögen direkt vererben, Bildung lediglich indirekt.

Solche schmaleren Bildungsauffassungen, die auf bestimmte Kompetenzen sowie Zertifikate abzielen, betonen insbesondere die gesellschaftliche Funktion und den gesellschaftlichen Nutzen von Bildung. In relativ kurzer Zeit hat diese verwertbare Bildung enorm an Bedeutung gewonnen und bestimmt den bildungspolitischen Diskurs zunehmend – zulasten der umfassenderen klassischen Bildungsbegriffe und -ideale. Letztere könnten als Persönlichkeitsbildung zusammengefasst werden und fokussieren auf das Subjekt und auf die Individualität des einzelnen Menschen. Bildung wird hier also gerade nicht von der Gesellschaft, sondern vom Kinde her gedacht, weshalb es nicht überrascht, dass ausgehend von diesem Bildungsbegriff regelmäßig Kritik am Humankapital(ismus), an PISA und der Kompetenzorientierung geübt wird.

3. Persönlichkeitsbildung: Bildung als Aneignung von Welt und Formung des Selbst

Was fast alle umfassenden idealistischen und philosophischen Bildungstheorien gemeinsam haben, ist die besondere Bedeutung von Selbst-Welt-Verhältnis und Selbst-Welt-Verständnis. Besonders für den deutschsprachigen Raum hat Wilhelm von Humboldt die Entwicklung des Bildungsdiskurses geprägt – und zwar sowohl als Bildungstheoretiker als auch als Bildungspolitiker im Staatsdienst. Sein Bildungsideal entsteht in direkter Anlehnung an die sich im Zuge der Aufklärung etablierenden Vorstellungen vom autonomen Individuum als Weltbürger. Der Einzelne soll selbstbestimmt und mündig sein, indem er sich an der Welt abarbeitet und dadurch entfaltet. Für von Humboldt stand also nicht der Nachweis von bestimmten Kompetenzen und das Zeigen von überprüfbaren Leistungen im Vordergrund – auch wenn er Prüfungen und Bewertungen eine besondere Bedeutung beigemessen hat, weil gerade dadurch Leistung und nicht Herkunft zählt. Dennoch ging es ihm insbesondere um die Entfaltung der Persönlichkeit, deren Gestalt man nicht im Voraus erkennen kann, und eben nicht um einen zielgerichteten oder zweckgebundenen Prozess. Auch klassen- und standesspezifische Unterschiede wollte er nicht machen und zeigte so einen auf Bildung bezogenen Idealismus.

»Bildung sei die Anregung aller Kräfte eines Menschen, damit diese sich über die Aneignung der Welt in wechselseitiger Ver- und Beschränkung harmonisch-proportionierlich entfalten und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität oder Persönlichkeit führen, die in ihrer Idealität und Einzigartigkeit die Menschheit bereichere.«[6]

Und da sind wir wieder: beim großen Ganzen. Jeder Mensch ist also zur Bildung fähig und der Bildung bedürftig. Bildung ist ein aktiver Prozess, der zu Selbstbestimmung führt. Der Mensch bildet sich zu einem Unikat, das zugleich nicht nur ein soziales Wesen ist, sondern auch der Menschheit dienen soll. Dies geschieht, indem er sich die Welt mit allen Sinnen zu eigen macht und Schritt für Schritt seine Persönlichkeit bildet. Er hat eigene Talente und Potenziale (Kräfte), die lediglich angeregt werden müssen.

Sich die soziale und natürliche Welt aneignen, sich selbst bilden und wieder der sozialen und natürlichen Welt dienen. Veredelung des Geistes, die sich in einer Veredelung des Handelns niederschlägt. Wow.

Viele aktuelle Bildungstheoretiker vermeiden es, dem Bildungsbegriff derart normative, idealistische Ausrichtungen zu geben.[7] In der empirischen Analyse wird als Bildungsprozess zunehmend eine Veränderung von Selbst-Welt-Verhältnissen verstanden. Dabei geht es darum, zu rekonstruieren, wie sich diese Veränderung vollzieht. Man sucht nach Änderungen des Selbstbildes, des Gesellschafts- oder Weltbildes sowie der Handlungsweise – ohne sie als gut oder richtig zu bewerten.[8] Dabei geht es also nicht um die Ergänzung oder Erweiterung der Selbst- und Weltauslegung, sondern um die grundlegende Veränderung derselben.

Der Prozess der Veränderung von Selbst-Welt-Verhältnissen ist wahrscheinlich am stärksten ausgeprägt bei Radikalisierungsprozessen. Religiös-fundamentalistische oder politische Radikalisierungen können kaum anders beschrieben werden. Irgendwann, durch irgendeine Situation, Erkenntnis oder Erfahrung, die als Anregung dient, verwandeln sich Selbst- und Weltbild und verändern die Handlungsweise. Diese Verwandlung als Bildung anzusehen, damit haben sehr viele – nicht ganz unbegründet – ein Problem.

Das Problem löst sich aber leider nicht dadurch, dass wir darauf verweisen, dass Bildung eine Bereicherung der Menschheit beinhalten müsse. Denn typisch für Radikalisierungsprozesse ist ja gerade die Vorstellung, der Menschheit direkt politisch zu dienen, oder indirekt etwa durch die »Rückkehr auf den Weg des Schöpfers«. Gerade in Radikalisierungen drückt sich das große Ganze besonders verdichtet aus.

Brutale Gewalt und Hass als Resultat von Bildungsprozessen zu verstehen, lassen wir hier außen vor – diese Extremform in einen Zusammenhang mit Bildung zu setzen, erscheint inakzeptabel. Aber Radikalisierung muss nicht zwingend mit Gewalt und Hass zu tun haben. Inwieweit können radikale Ansichten und Lebensentwürfe, die aber nicht zu Gewalt oder Hass führen, unter den Oberbegriff Bildung gefasst werden? Wir wissen nur zu gut, dass manche radikalen Ansichten im Laufe der Zeit Allgemeingut wurden. Man denke etwa an den Liberalismus oder an die Gleichstellung der Geschlechter.

Inwieweit Radikalisierung Bildung ist, kann nicht abschließend beantwortet werden – was erneut deutlich macht, dass wir es nicht mit einem zufriedenstellend abgrenzbaren Begriff zu tun haben. Aber es erscheint sinnvoll, sowohl die Handlungsebene als auch die Prüfung der Grundlagen der Veränderungen, also die Richtigkeit der Erkenntnisse beziehungsweise die wissenschaftliche Fundierung, in den Blick zu nehmen. Die Handlung (etwa Gewaltausübung), weil sie auf die Welt und die Mitmenschen wirken kann. Die Grundlagen der Veränderungen, damit nicht jede Beliebigkeit und Verwirrung als Bildung missverstanden wird, weil sich Welt- und Selbstbild etwa aufgrund unwahrer Aussagen transformierten.

Ein rein verkopftes Bildungsverständnis, also die rein kognitivistische Wissensanhäufung, wird weder allen Sinnen und Kräften des Menschen gerecht, noch ermöglicht es uns, ein wirklich umfassendes Selbst-Welt-Verständnis zu generieren. Es würde sich im Nachdenken über Bildung und dem Erzählen vom eigenen Gebildetsein erschöpfen. Das käme dem nahe, was Theodor W. Adorno als Halbbildung bezeichnet hat.

Bildung hat zwingend damit zu tun, dass man Wissen und Erfahrung hat. Es sind die Steine, mit denen man das Haus baut. Das Wissen muss aber prüfbar und die Erfahrung bewährt sein. Und: Man muss dem Wissen und der Erfahrung Sinn und Bedeutung geben. Alles andere wäre Halbbildung, halb verdautes Wissen, die Erkenntnis bliebe äußerlich. Es muss also einverleibt und damit lebendig werden. Das Wissen muss mich berühren und bewegen. Wissen und Erfahrung müssen in ein Verhältnis gesetzt werden, nicht ausschließlich durch Reflexion, aber auch.

Dies ist zugleich ein in höchstem Maße sozialer Prozess. Denn Wissen, Erfahrungen und insbesondere Relevanzsetzung, Kritik und die Geschichtlichkeit der eigenen Existenz, soziale Eingebundenheit und die Standortgebundenheit der eigenen Perspektive sind zutiefst sozial, also nicht ohne andere Menschen denkbar. Bildung hat kompetitiven Charakter: Wir suchen nach Neuem und Besserem im Wettbewerb mit uns selbst und anderen. Und es hat einen kooperativen Charakter: denn wir können es nicht ohne andere. Bildung ist durchaus eine Form der Selbstbefähigung, aber sie erschöpft sich nicht in Selbstgenügsamkeit.

Es entsteht ein Arbeitsmodell von der Welt und vom Selbst, das der Deutung von Gelerntem, von Beobachtungen und von Erfahrungen dient und in das zugleich Altes und Neues integriert wird. Bildung berührt und bewegt den Menschen, weil sie sich auf Denken, Fühlen und Handeln und damit auf alle Bereiche des menschlichen Wesens bezieht – im Sinne der »alten Griechen«: Geist, Moral, Ästhetik und Körper. Es handelt sich auch, aber nicht nur um ein Zusammenspiel von kognitiven, emotionalen, sozialen und methodischen Kompetenzen. Es geht also auch um Können, Wollen und Handeln, aber nicht ausschließlich. Bildung geht nicht ohne Kompetenzen, aber Kompetenz ist noch lange nicht Bildung.

Alles, was bisher als wichtige Grundelemente von Bildung im engeren Sinne dargestellt wurde, findet in Schulen statt, außer zwei zentralen und sehr zusammenhängenden Punkten: Selbstbestimmung und sich berühren lassen. Man erschließt sich durch die Fächer Physik, Chemie, Biologie, Erdkunde/Geografie, Geschichte, Politik, Kunst, Musik, Sport, Deutsch, Mathematik und Fremdsprachen einen großen Bereich des verfügbaren relevanten Wissens. Man übt die Analyse, Interpretation, Bewertung, Abstraktion, Urteilsbildung und Kritik an vielen Beispielen ein. Man erfährt davon, wie es heute hier und anderswo ist, wie es dazu geworden ist und in Zukunft sein könnte. Es wird im Wettbewerb und in Kooperation gelernt. All das sind wichtige grundlegende Elemente für Bildung im engeren Sinne, also Persönlichkeitsbildung.

Man kann nun viel darüber diskutieren, ob das in der Schule nicht besser gemacht werden könnte, ob es nicht auch noch andere Fächer geben sollte (Recht, Ernährung/Gesundheit, Wirtschaft, Rhetorik, Glück etc.) oder ob es günstig ist, im 45-Minuten-Takt zu unterrichten, und ob die Lehrpläne nicht entrümpelt werden sollten. Genau diese Diskussionen werden geführt. Aber es bleibt dabei, dass die Schule die Grundsteine für Bildung legt. Die Aspekte der Selbstbestimmung und des Berührtwerdens lassen sich nicht ohne Weiteres umsetzen. Sie sind nicht systematisch im Schulleben verankert, aber auch nicht ausgeschlossen.

Ich war selbst mehrere Jahre Lehrer im Schuldienst und konnte erleben, wie bestimmte Themen oder auch nur Aspekte eines Themas Jugendliche berührt und beschäftigt haben. Und gleichzeitig hat es mich nicht selten überrascht, denn gerade diese Berührung hatte ich überhaupt nicht im Blick. Bildung ist nicht steuerbar. Aber sie ist dennoch nicht ohne eine gewisse Anleitung möglich. Bildung ohne Erziehung und Sozialisation ist nicht denkbar.

Ein Bildungsprozess lässt sich auch als ein Sich-fremd-Werden bezeichnen. Man entwickelt eine Distanz zu einer Sache, zur Welt und zu sich selbst. Dies gelingt nicht, wenn man schon weiß, wohin die Reise geht. Bildung ist nie abgeschlossen. Es ist ein Streben, ein nie endender Prozess mit einem unerreichbaren, weil nicht vorhandenen Ziel. Bildung ist Veredelung, aber es geht immer auch noch etwas edler. Indem man sich die Welt aneignet, muss man eine Beziehung zur Welt einnehmen, entwickelt gleichsam ein Selbstbild, eine Positionierung seiner selbst in der Welt – und damit gibt der Mensch sich einen Wert. Sie ist Persönlichkeitsbildung, hat immer auch kreative und spontane Momente, kann auch zu Krisen führen, etwa wenn das Selbstbild erschüttert wird.

So wichtig dieses Bildungsverständnis ist, so blind ist es für die sozial ungleichen Realitäten. Ein idealistisches Verständnis ist für sich genommen wenig wert. Welt- und Gesellschaftsvergessenheit im Hinblick auf sozialstrukturelle Rahmenbedingungen und gesellschaftliche Funktionen – und nicht zuletzt auch auf die Institutionen – versperren dann den Blick auf das, was zwischen Ideal und Realität steht.