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Das Integrationsparadox: Warum eine offenere Gesellschaft zu mehr Konflikten führt In »Das Integrationsparadox« analysiert Aladin El-Mafaalani das paradoxe Verhältnis zwischen einer zunehmend offenen und liberalen Gesellschaft einerseits und dem Erstarken radikaler Kräfte andererseits. Er zeigt auf, wie dieses scheinbar widersprüchliche Phänomen zu verstehen ist und welche Herausforderungen sich daraus für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ergeben. Die vollständig überarbeitete und erweiterte Neuausgabe des Bestsellers aus dem Jahr 2020 enthält ein aktuelles Vorwort, zusätzliche Kapitel zu den jüngsten Entwicklungen sowie zahlreiche Anmerkungen und Hinweise. Damit eignet sich das Buch hervorragend für den Einsatz in Schule und Studium. El-Mafaalani beleuchtet Themen wie Diskriminierung, Rassismus und die Debatte um eine deutsche Leitkultur. Er geht der Frage nach, wie eine offene Gesellschaft mit Konflikten umgehen kann, die durch Migration und kulturelle Vielfalt entstehen, und plädiert für einen differenzierten Blick auf Integration und Pluralismus.
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Seitenzahl: 308
Aladin El-Mafaalani
Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt
Vollständig überarbeitete und erweiterte Neuausgabe
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Titelseite
Über Aladin El-Mafaalani
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Aladin El-Mafaalani, 1978 im Ruhrgebiet geboren, ist Soziologe und Inhaber des Lehrstuhls für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft am Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien (IMIS) an der Universität Osnabrück. Nach Studium und Promotion an der Ruhr-Universität Bochum war er zunächst Lehrer am Berufskolleg Ahlen, dann Professor für Politikwissenschaft an der Fachhochschule Münster und später Abteilungsleiter im nordrhein-westfälischen Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration in Düsseldorf. 2020 erschien von ihm »Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft«.
zur Kurzübersicht
Wer davon ausgeht, dass Konfliktfreiheit ein Gradmesser für gelungene Integration in einer offenen Gesellschaft ist, der irrt. Das Konfliktpotenzial wächst auf allen Seiten, weil die Gesellschaft liberaler und integrativer wird. »Das Integrationsparadox« bringt die widersprüchlichen Befunde und spannungsreichen Verhältnisse in einen Zusammenhang: Nebenwirkungen und Folgen von gesellschaftlicher Öffnung sind nämlich sowohl aufgeheizte Diskussionen über Identitätspolitik, Diskriminierung und Rassismus, politische Korrektheit und den fehlenden gesellschaftlichen Zusammenhalt als auch diverse Radikalisierungstendenzen vom Populismus bis zu Rechtsextremismus und religiösem Fundamentalismus. Das Themenfeld Migration steht im Mittelpunkt dieser Gesellschaftsanalyse, aber keineswegs im Vordergrund zur Beschreibung der zentralen Problemlagen. Die gesellschaftlichen Bruchlinien liegen tiefer.
Aladin El-Mafaalanis Gegenwartsdiagnose hat die Debatte in Deutschland maßgeblich verändert, das Buch wurde 2018 zu einem Bestseller und von der Presse als optimistischer Beitrag zum Diskurs gefeiert. In dieser völlig überarbeiteten Neuauflage analysiert der Autor auch Reaktionen auf das Buch, nimmt Bezug auf die neuesten Entwicklungen und erweitert die Analyse in einem neuen Kapitel.
Vorwort zur Neuausgabe
I. Offenheit und Geschlossenheit
Gespaltene Gesellschaft oder offene Gesellschaft?
Schließungstendenzen: Widerstand gegen Offenheit
Wenn wir scheitern, dann an unseren Erfolgen
II. Integration und Wandel in offenen Gesellschaften
Integration gelingt!
Integrationspolitik heute: befriedigend plus
Von der Naivität zur Überempfindlichkeit – Integration seit 1950
Alternativlose Entscheidungen – eine neue Unsitte
Biodeutsch oder Postmigrant? Begriffe schaffen Realitäten
Beschleunigter Wandel durch Migration
Kultur und Integration im Alltag
III. Innere Offenheit, innere Konflikte
Die Mär von der konfliktfreien Gesellschaft
Gelungene Integration steigert das Konfliktpotenzial
Rassismus, Wissen und Vorurteile
Rassismus kann sich verstärken, weil Integration gelingt
Das Diskriminierungsparadox: Diskriminierung wird ein Problem, weil es weniger Diskriminierung gibt
Migrant:innen und ihre Kinder: Dilemmata und Konflikte in Familien
Assimilation ist Blödsinn
Identitäten verändern sich
Selbstorganisationen
Schließungstendenzen aus allen Richtungen
Salafismus als Jugendprotest
Der Islam in der offenen Gesellschaft
Kopftuch oder Emanzipation?
Gehört der Islam zu Deutschland?
Konflikte bringen eine Gesellschaft voran
Identitätspolitik und enthemmte Diskurse
Das Einwanderungsland als Erfolgsmodell
Wer ist »Wir« und was ist Heimat?
IV. Äußere Offenheit, äußere Konflikte
Die Welt schrumpft zusammen
Die Welt wächst und wächst
Es wird alles besser – und deshalb nimmt die Migration zu
Migrationsursachenbekämpfung – eine Illusion?
Der Westen wird immer wichtiger und verliert an Dominanz
Die Ungleichheit geht zurück und wächst zugleich
Kampf der Kulturen?
V. Die offene Gesellschaft und ihre Grenzen
Globale Schließungstendenzen: Islamismus, Nationalismus, Regionalismus, Populismus
Die Probleme mit mehr Offenheit oder mit Schließung bekämpfen?
Populismus: konfliktreiche Gegenwart, negative Zukunft, glorreiche Vergangenheit
Für die Vergangenheit: Kritik an der Geschichte
Für die Gegenwart: Streitkultur ist die beste Leitkultur
Für die Zukunft: Positive Ideen
VI. Das Integrationsparadox der offenen Gesellschaft: Ein zusammenfassendes Update
Paradoxe Verhältnisse durch Teilhabe
Neue Akteur:innen, neue Konfliktlinien
Identitätspolitik von und gegen »weiße Männer«
Gesellschaftlicher Zusammenhalt geht verloren
Was bedeutet dann der Begriff »Integration«?
Dreiklang der Überhitzung: Teilhabezuwachs, neue Medien, Tabubrüche
Die neue politische Achse
Fragen zur Zukunft der offenen Gesellschaft
Literaturverzeichnis
Danksagung
Betreten eine Ostdeutsche, ein Homosexueller, ein Rollstuhlfahrer, ein Asiat und eine Schwangere eine Kneipe. Fragt der Wirt: »Was seid ihr denn für eine witzige Truppe?« Antwortet die Ostdeutsche: »Die Regierung!«
Vor einigen Jahren wurde mir dieser Witz erzählt und zunächst fand ich ihn nicht witzig. Wenige Minuten später habe ich dann doch sehr gelacht, denn ich stellte mir Konrad Adenauer als den Wirt vor. Der hätte beim Anblick dieser Regierung wahrscheinlich einen ziemlich verstörten Gesichtsausdruck gehabt.
Mit der Kanzlerin Angela Merkel, ihren Ministern Guido Westerwelle, Wolfgang Schäuble, Philipp Rösler und der Ministerin Kristina Schröder waren »in der Kneipe« Personen versammelt, die jede für sich Merkmale von Minderheiten aufwiesen. Und nun regierten diese Menschen. Zeitgleich war mit Barack Obama erstmals ein Schwarzer US-Präsident – im Übrigen waren seine Ministerposten auch ausgesprochen vielfältig besetzt. Man konnte glauben, man sei am Ziel. Diese Regierungen repräsentierten die offene Gesellschaft par excellence.
Zur gleichen Zeit arbeitete ich an meiner Antrittsvorlesung an der Fachhochschule Münster. Mein Vortrag mit der These, dass gelungene Integration zu mehr Konflikten führe, wurde damals – im Jahr 2013 – als eher »pessimistisch« bezeichnet.
Fünf Jahre später gab ich dann der These einen Namen und veröffentlichte den Ansatz im Sommer 2018 in Buchform. »Das Integrationsparadox« hat seither eine enorme Resonanz erfahren und den öffentlichen Diskurs in nicht erwartbarer Weise beeinflusst. Mit dem neu eingeführten Begriff und der damit verbundenen Gesellschaftsanalyse bietet das Buch ein ganz neues Verständnis für die aktuellen Krisenerscheinungen und wurde sehr breit rezipiert. Das freute mich. Zugleich wurde das Buch als Mutmacher angesehen, als sehr optimistisch, von manchen als zu optimistisch. Das freute mich auch, schließlich ist es keine Selbstverständlichkeit, dass man mit soziologischen Analysen positive Stimmungen erzeugt – das Gegenteil ist die Regel.
Dennoch hat mich seither beschäftigt, wie die gleiche Gegenwartsdiagnose, die noch fünf Jahre zuvor als pessimistisch wahrgenommen wurde, plötzlich durchweg als positiv, konstruktiv und optimistisch gedeutet wird.[1] Ich habe drei Erklärungen:
Erstens: Wenn alle pessimistisch werden, wirkt der Realist wie ein Optimist. Seit dem Jahr 2013, als noch die »witzige Truppe« die Regierung bildete, gibt es tatsächlich mehr als genug Gründe, pessimistischer zu werden. In der Zwischenzeit entstanden die AfD und PEGIDA, man nahm Reichsbürger, Identitäre und Salafisten zunehmend öffentlich wahr, eine ganze Reihe von Terroranschlägen aus verschiedenen ideologischen Richtungen wurden verübt, es gab auch reichlich Gründe, um gegen Sexismus (#metoo) und Rassismus (#metwo und Black Lives Matter) auf die Straße zu gehen, Trump ist US-Präsident, Großbritannien trat aus der EU aus – um nur einige wesentliche Meilensteine hin zum grassierenden Pessimismus zu nennen.[2]
Zweitens: Wenn man etwas versteht, dann stimmt es positiv. Das Konfliktpotenzial war früher bestenfalls als Randerscheinung sichtbar. Erst seit einigen Jahren war es nicht mehr übersehbar und ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung gerückt. Gleichzeitig war die Situation diffus, im öffentlichen Diskurs ging vieles durcheinander, es fehlten auf allen Seiten Orientierungs- und Deutungsangebote. Wenn Frauen über Sexismus klagen, Schwarze Deutsche über Rassismus, Muslime über Islamfeindlichkeit, viele Deutschen über einen Verlust von Heimatgefühl, Migranten über fehlende Zugehörigkeit, Nicht-Migranten über fehlende Anpassungsbereitschaft, wenn es immer mehr besorgte Bürger gibt, immer häufiger von Lügenpresse und Volksverrätern die Rede ist und alle beklagen, dass politische oder religiöse Radikalisierung zunimmt, dann muss doch alles komplett falsch laufen – oder? Wenn in dieses Durcheinander Ordnung kommt, dann kann dies zu einem positiven Gefühl führen, das dann optimistisch stimmt. Und tatsächlich war man es gewohnt, zu diesem Themenfeld Bücher entweder über romantische Luftschlösser zu lesen oder aber über Weltuntergangsszenarios. Das Integrationsparadox ist weder das eine noch das andere, vermag aber beide Extreme zu erklären – in verständlicher und bisweilen heiterer Sprache.
Drittens: Paradoxien an sich begünstigen die Extreme. Vielleicht ist es die Eigentümlichkeit von Paradoxien, dass sie hemmen, überfordern und pessimistisch stimmen, solange man sie nicht begriffen hat. Und sobald man sie versteht und auf einen Begriff bringen kann, wirken sie interessant und machen handlungsfähig. Wenn man aus der Hemmung in die Handlungsfähigkeit übergeht, entsteht Optimismus.
Diese drei Punkte spielen zusammen und erzeugen im Ergebnis ein Novum: Dass ein ausgewogener und konstruktiver Ansatz mit einer gänzlich kontraintuitiven These zu diesem Themenfeld, der keine »Schuldigen« benennt, weil es keine gibt, breit wahrgenommen und zitiert wird, ist außergewöhnlich. Das Spektrum der Resonanz reicht vom Fachkollegium der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, die mich mit dem Preis für öffentliche Wirksamkeit ehrte, bis zu einem Musikvideo, in dem ein Textauszug (S. 81–82) zum Rap-Song »Konfliktpotenzial« wurde.[3]
Das Themenfeld Migration steht im Mittelpunkt dieser Gesellschaftsanalyse, zugleich steht es aber nicht im Vordergrund zur Beschreibung der Problemlage. Es ist ein relevanter Zugang zur Beschreibung der offenen Gesellschaft, bei Weitem nicht der einzige. In der Corona-Krise konnten wir (erneut) erkennen, dass die Bruchlinien unserer Gesellschaft nicht allein entlang der Fragen um Migration verlaufen, sondern grundsätzlicher Natur sind. Genau dieser Aspekt wird in dieser Neuausgabe in dem neuen letzten Kapitel »Das Integrationsparadox der offenen Gesellschaft« stärker hervorgehoben. Da der zentrale Begriff der Gesellschaftsanalyse im gesamten ursprünglichen Haupttext nicht ein Mal fällt, wird in diesem neuen Kapitel u.a. auch gefragt: Was ist das Integrationsparadox? Zugleich werden aktuelle Entwicklungen reflektiert und innerhalb der Analysearchitektur systematisiert sowie Bezüge zu artverwandten Theorien und Ansätzen hergestellt.
Außerdem wurde der gesamte Text für diese Neuausgabe aktualisiert, überarbeitet, ergänzt und durch umfassende Quellennachweise in seinen Verwendungsmöglichkeiten (etwa für Studium und Lehre) erweitert.
Unsere Gesellschaft ist gespalten, und die Welt ist aus den Fugen geraten – über diese Feststellung herrscht fast Einigkeit. Einigkeit wird selten erreicht, und diese ist sehr bemerkenswert. Die Schlussfolgerungen sind dann aber ganz unterschiedlich: Die einen halten den Kurs, versuchen jedoch gleichzeitig, durch Krisenmanagement eine alte Stabilität zurückzugewinnen, die anderen wünschen sich die guten alten Zeiten vollständig zurück und wollen eine Kehrtwende. Aber was verbirgt sich hinter der Diagnose? Welche Deutung lässt die metaphorische Redensart vom Gespaltensein und Aus-den-Fugen-Geraten zu?
Ich lasse gleich zu Beginn die Katze aus dem Sack: In diesem Buch wird eine andere Interpretation angeboten. Ich verfolge die These, dass es sich genau um das Gegenteil handelt. Die Gesellschaft wächst zusammen, und die Welt ist sich nähergekommen. Dadurch kommt vieles in Bewegung. Nicht alles kann gesteuert werden. Veränderungen erzeugen Spannungen und Konflikte. Niemand hat eine positive Idee davon, wohin dieser Prozess führt. Die Bevölkerung ist vielleicht gespalten bei der Bewertung der Situation. Sich näherzukommen und zusammenzuwachsen – das ist kein gemütlicher Prozess. Ohne ein definiertes Ziel ist er umso herausfordernder.
Es ist in etwa so wie beim Bergsteigen. Über den Berg kommen bedeutet immer auch, eine Zwischenphase des Leidens zu überstehen. Der Gipfel ist nicht zu sehen, es gibt weder einen ortskundigen Bergführer noch einen vorgezeichneten Pfad. Es steht außer Frage, dass man schon sehr weit gekommen ist, aber das fühlt sich nicht für alle gut an. Es gibt Streit. Auf halber Strecke wollen manche zurück ins Tal, vertragen die Strapazen des Aufstiegs schlecht, haben vergessen, warum sie sich überhaupt auf den Weg gemacht haben. Von oben erscheint ihnen das Tal wieder attraktiver. Andere empfinden den Weg zwar als anstrengend, wollen aber nicht zurück. Sie versuchen, jede Krise unterwegs zu bewältigen, und schreiten langsam voran. Und wieder andere haben Freude am Bergsteigen und finden den Gedanken an eine Umkehr absurd. Im Gegenteil: Sie wollen das Tempo erhöhen. Eins steht fest: Ein einfaches Zurück gibt es nicht, denn ein Teil will weiter, und darüber hinaus wissen nun alle, wie das Tal von oben aussieht und wie begrenzt es ist. Selbst dann, wenn alle oder einige zurückkehren würden, wäre es nicht mehr wie vorher.
Es handelt sich um den Weg hin zur offenen Gesellschaft. Diese offene Gesellschaft ist noch nicht vollständig, aber weitgehend realisiert. Genau genommen hat sie ein Niveau erreicht, das ihre Vordenker nicht für realisierbar gehalten hätten. Die offene Gesellschaft bietet Möglichkeiten der Beteiligung, der Zugehörigkeit, der Inklusion, sie erlaubt es aber auch, nicht mitzumachen. Die offene Gesellschaft ist dabei so offen, dass sie nicht einmal ein konkretes Ziel vorschreibt oder einem konkreten Ideal folgt. Sie ermöglicht Austausch, Kooperation und Streit. Sie steht in der Tradition des Liberalismus und der Demokratie. Heute, im fortgeschrittenen Stadium, handelt es sich um liberale Migrationsgesellschaften.
Woran erkennt man die offene Gesellschaft? Wir diskutieren intensiv über Ungleichheit zwischen Frauen und Männern, zwischen Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen ohne Migrationshintergrund, zwischen Nicht-Heterosexuellen (LSBTIQ* und Heterosexuellen, zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen, zwischen Menschen mit Behinderung und Menschen ohne Behinderung. Wir tun dies, während sich alle diese Unterschiede reduzieren. Wir diskutieren derart intensiv, dass aus dem Blick gerät, dass sich die Teilhabechancen für Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund, LSBTIQ*, Ostdeutsche und Menschen mit Behinderung ganz wesentlich verbessert haben. Das nenne ich »innere Offenheit«, also die Verschiebung von Grenzen der Teilhabe und Zugehörigkeit innerhalb einer Gesellschaft – man könnte auch sagen: Integration. Es geht um Bürgerrechte für alle Bürger:innen und sogar die Beachtung von Menschenrechten für Menschen, die nicht einmal eigene Bürger sind, um Anti-Diskriminierungspolitik für benachteiligte Gruppen, den Schutz der Rechte von Frauen, religiösen und ethnischen Minderheiten, von Menschen mit Behinderung, allgemeine Chancengleichheit, die Akzeptanz verschiedener Lebensentwürfe und Optionenvielfalt – und zwar für alle gleichermaßen.
Demgegenüber meint der Begriff »äußere Offenheit« die Verschiebung von Grenzen zwischen verschiedenen Gesellschaften. Äußere Offenheit lässt sich unter dem Stichwort Globalisierung zusammenfassen: Global sind mittlerweile nicht nur die Wirtschaft, die Produktion, der Handel, das Transportwesen, die Geldströme, sondern auch die Unterhaltungsindustrie, die Kunst, die Wissenschaft und die Kommunikation. Aber auch die Mobilität der Menschen, Tourismus und Migration.
Äußere und innere Offenheit werden in der Figur der Migrantin oder des Migranten eins, weil sie Migration und Integration verkörpert. Die offensten Gesellschaften sind die mit der globalsten Bevölkerung. Sie sind in sich global, oder anders ausgedrückt: Es existiert Globalität vor Ort. Daher werde ich mich im Schwerpunkt auf Migration und Integration beziehen, aber immer exemplarisch für die offene Gesellschaft.
Was ist nun davon zu halten, dass sich alle sicher sind, dass unsere Gesellschaft gespalten und die Welt aus den Fugen geraten ist? Zunächst ist interessant an den Diagnosen, dass sich die erste auf innere Offenheit und die zweite auf äußere Offenheit bezieht. Beginnen wir mit der gespaltenen Gesellschaft. Spalten bedeutet doch, dass sich etwas, was eins war, trennt. Doch in dieser Hinsicht war die Gesellschaft früher eindeutig mehr gespalten. Die Spalten zwischen Menschen nach Geschlecht, Hautfarbe oder Herkunft schließen sich. Wir diskutieren ja sogar darüber, ob diese Kategorisierungen überhaupt noch Sinn ergeben. Es handelt sich zweifelsfrei um ein Zusammenwachsen. Gespalten ist die Bevölkerung darüber, ob das Zusammenwachsen gut oder schlecht ist. Das ist eine nicht minder große Herausforderung, aber eine ganz andere.
Und ist die Welt aus den Fugen geraten? Diese Redensart passt in einer schwachen Auslegung schon besser, wenn damit gemeint ist, dass die Welt in vielerlei Hinsicht in Bewegung ist und die alte Ordnung verliert. Sich näherzukommen kann sich anfühlen wie ein Aus-den-Fugen-Geraten. Global haben sich unheimlich viele Dinge positiv entwickelt – genau genommen hat sich lediglich der Zustand der Natur und des Klimas eindeutig verschlechtert. Aber auch hier gilt: Sich näherzukommen ist nicht vergnügungssteuerpflichtig.
Wir haben es also nicht mit zunehmender Spaltung und akuten Krisen zu tun, sondern mit den Strukturen zunehmender gesellschaftlicher Offenheit, die ein Zusammenwachsen und ein Sichnäherkommen ermöglichen. Hieraus erwachsen Widerstände und Konflikte, die – wie immer – stärker wahrgenommen werden als die ihnen zugrunde liegenden positiven Entwicklungen.[4]
Innere und äußere Offenheit führen zu Schließungstendenzen, weil Offenheit an Grenzen stößt. Innerhalb einer Gesellschaft fragen sich manche Nachfahren von Migrant:innen, was sie noch alles tun müssen, um anerkannt zu werden und um vollständig dazuzugehören. Sprache, Staatsbürgerschaft, Gefühl und Heimat: alles deutsch, und trotzdem fehlt immer etwas. Auf der anderen Seite haben manche Alteingesessenen das Gefühl, ihre Heimat und Identität zu verlieren, und sind überfordert. Beide haben irgendwie recht. Das ist der Prozess des Zusammenwachsens, der offenbar nicht abgeschlossen ist. Im Jammern kann man es sich auf beiden Seiten gemütlich machen. Aber der konstruktive Weg ist der Weg der Kritik und des friedlichen Streits.
Ein Ausdruck dieses Konflikts ist die Frage: Gehört der Islam zu Deutschland oder nicht? Allein dass sich die Frage stellt, zeigt, dass wir schon sehr weit sind. In den 1990ern wäre die Frage ein schlechter Witz gewesen oder gar nicht verstanden worden, weil die Antwort ein bedingungsloses Nein gewesen wäre. Im Übrigen hätten auch die meisten Muslim:innen mit Nein votiert. Heute wird die Frage nicht einheitlich beantwortet, es ist eine etwa 50:50-Situation. Und wenn man fragt, ob die Muslime, also die Menschen, dazugehören, dann erhöht sich die Zustimmung beträchtlich – übrigens auch bei fast allen CSU-Politikern. Und immer mehr Muslime beschweren sich darüber, dass die Frage, ob ihre Religion dazugehöre, nicht mit einem klaren Ja beantwortet wird. Was bedeutet das anderes, als dass sie sich zugehörig fühlen? Was kann das anderes sein als der anstrengende Prozess des Zusammenwachsens in einer offenen Gesellschaft? Und auch deshalb wird von »Islamisierung« gesprochen. Das ist der Widerstand der Gegner der offenen Gesellschaft.
Bleiben wir beim umstrittensten Thema, dem Islam, und bei den Schließungstendenzen im internationalen Kontext. Durch die äußere Offenheit haben sich die Kulturen und Gesellschaften derart angenähert, dass die Abwehrreaktion überall zu erkennen ist. Im Orient ist von der Verwestlichung des Morgenlands, in Europa von der Islamisierung des Abendlands die Rede. Das Sichnäherkommen kann für alle beengend wirken, wodurch man sich in die Defensive gedrängt fühlt. Das begünstigt eine Rückbesinnung auf die Wurzeln und eine Schließungstendenz. Der Islamismus kann genauso als eine Reaktion auf die Annäherung verstanden werden wie der Nationalismus in den westlichen Staaten. Nationalismus, Populismus und Rechtsextremismus sind genauso Gegenbewegungen gegen die offene Gesellschaft, wie es religiöser Fundamentalismus und Terrorismus sind. Die Gruppen, die sich gegen die offene Gesellschaft stellen, könnten unterschiedlicher kaum sein. Aber sie teilen mindestens zwei wesentliche Prinzipien: Sie sind exklusive Bewegungen der Schließung und sie sind vergangenheitsorientiert: zurück in die Zeit, als wir noch groß und für uns waren.
Ein zu schnelles Näherkommen führt zu einem Zusammenprall, dem sogenannten »Clash of Civilizations« – danach sieht es nicht aus.[5] Ein langsameres Näherkommen führt zu Reibungen und Schließungstendenzen. Diese sehen wir ganz deutlich, nicht nur, aber insbesondere in den westlichen Staaten. Dabei war die offene Gesellschaft ursprünglich eine westliche Idee. Heute sind die Anhänger und Gegner der offenen Gesellschaft weltweit verbreitet. Die größte Gefahr bildet das Infragestellen der offenen Gesellschaft in den liberalen Staaten selbst. In fast allen europäischen Staaten erstarkt diese Bewegung, seit dem Brexit und der Präsidentschaft Donald Trumps ist sie nicht mehr zu übersehen.
Näherkommen und Zusammenwachsen können dazu provozieren, die Differenzen zu betonen, weil sie kleiner werden. Das kann aber auch zu einer Radikalisierung führen. Zurück zu den Wurzeln. Wir müssen uns zurückbesinnen, brauchen Platz, um wieder so groß zu werden, wie wir es einst waren. Great again – das ist ein Leitspruch, der dieser Tage vom US-amerikanischen Präsidenten, aber auch von einem politischen Salafisten kommen kann.
Offenheit nach innen und nach außen könnten als Grenzenlosigkeit falsch verstanden werden. Das Gegenteil ist der Fall: Offenheit bedeutet zwingend, dass es Grenzen gibt. Ohne Grenzen ist nichts. Mit geschlossenen Grenzen gibt es kein Leben. Die Grenzen sind kein Problem, sondern eine Notwendigkeit. Die Herausforderung ist der Umgang mit Grenzen, das Verhältnis zwischen Offenheit und Geschlossenheit, die Verschiebung von Grenzen und die Neubewertung ihrer Funktion. Grenzen können nationalstaatliche, milieuspezifische oder mentale Grenzen sein. In diesem Buch geht es also um die offene Gesellschaft und ihre Grenzen. Und gerade Integration bedeutet auch eine Verschiebung von Grenzen – und zwar für alle. Ja richtig, die Integration von einem Teil hat Auswirkungen auf alle.[6]
Über kaum etwas wird so intensiv geredet wie über Migration und Integration. Gleichzeitig habe ich regelmäßig das Gefühl, dass kein anderes Thema mit derartigem Halbwissen und ausgeprägter Naivität besprochen wird. So glauben viele, dass die Probleme, die wir in Deutschland haben, damit zusammenhängen, dass man erst seit etwa sechzig Jahren Erfahrungen mit Migration und erst spät eingesehen habe, ein Einwanderungsland zu sein. Aber auch das ist eine Wunschvorstellung: Denn klassische Einwanderungsländer, die deutlich längere Erfahrungen mit Migration haben als Deutschland, erleben die Schließungstendenz auch, überwiegend sogar viel stärker. Migration und die fortschreitende Globalisierung spielen zwar für die Schließungstendenz eine Rolle, aber mindestens genauso wichtig ist die innere Offenheit. Umfassende Integration, also ein freies Land für alle Menschen unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Sexualität, Behinderung zu sein, ist in allen Einwanderungsländern relativ neu. Die Gegner der offenen Gesellschaft stellen sich entsprechend auch gegen den »Genderismus«, sind etwa auch gegen die Inklusion von Kindern mit Behinderung und lehnen selbstverständlich Migration und den Islam ab, können sich aber auch über gut integrierte Muslime nicht freuen, denn die verändern das Land und wollen, dass der Islam zu Deutschland gehört. Zusammenwachsen dauert und tut weh.
»Integration gelingt in Deutschland ziemlich gut!« Wenn ich diesen Satz in der Vergangenheit aussprach, regte sich Widerstand. Dies erlebte ich bei unzähligen Veranstaltungen von Bayern bis Hamburg, vom Saarland bis Sachsen, auf dem Land und in der Stadt, unabhängig davon, wer die Zuhörer:innen oder Mitdiskutant:innen waren. Im Widerstand gegen diesen Satz vereint waren Pädagog:innen, Journalist:innen, Politiker:innen und Polizist:innen, Rotarier:innen, Christ:innen, Muslim:innen und PEGIDA-Demonstrant:innen. Selbst von Wissenschaftlern und Künstlern kam Widerspruch. Habituell, intellektuell und politisch hochgradig ungleiche Menschen, die es keine zehn Minuten im selben Raum aushalten würden, waren sich einig. Man könnte sagen: diffuse Einigkeit in der Vielfalt. Natürlich äußerte sich die Ablehnung meiner These auf stilistisch und intellektuell sehr unterschiedliche Weise. Aber noch stärker unterschieden sich Standpunkt und Stoßrichtung der Kritik. Aus der einen Ecke wurde betont, dass Politik und Gesellschaft die Migranten nicht angemessen behandeln und fördern würden. Aus der anderen Ecke wurden Migrant:innen als Fremde dargestellt, die einfach nicht zu »uns« passen. An den Rändern dieser Ecken hieß es, ich würde entweder den Rassismus der deutschen Gesellschaft oder aber die Islamisierung des Abendlandes übersehen oder gar gutheißen. Von links über die Mitte bis rechts sangen fast alle einstimmig das Lied von einer sich dramatisch verschlechternden Situation.
Nun könnte es in meinem Interesse sein, meine wissenschaftliche Arbeit als wichtig darzustellen. Am einfachsten funktioniert das, indem man die Probleme und nicht die Errungenschaften in den Mittelpunkt rückt. Und soziale Probleme gibt es reichlich: Arbeitslosigkeit, Armut, Bildungsdefizite, Gewalt, Obdachlosigkeit. Neben dieser strukturellen Perspektivlosigkeit können große Bedrohungen genannt werden, insbesondere organisierte Kriminalität und Terrorismus. Gerade die bedrohlichsten Probleme gehen sowohl von perspektivlosen und benachteiligten Menschen als auch von feindseligen und fanatischen Akteuren aus – Letztere sind auffällig häufig privilegiert.[7] All das führt zu einer angespannten Atmosphäre. Zur Entspannung trägt man nun nicht bei, indem man darauf hinweist, dass es all das schon immer gab: Die Anzahl schwerer Gewalttaten ist tendenziell sogar deutlich rückläufig, und auch Terrorismus ist in Deutschland und Europa kein neues Phänomen.[8] Neu ist lediglich die Intensität, mit der darüber berichtet und diskutiert wird. Wie sagen es die Journalisten so schön: »Only bad news are good news.« Aber ist das wirklich so?
Seit Beginn meiner wissenschaftlichen Tätigkeit ist es mein Anspruch, Phänomene wirklich zu verstehen. Das ist für mich eine doppelte Herausforderung, denn es geht darum, auf der einen Seite Integration insgesamt und die sich stetig verbessernde Situation und auf der anderen Seite die Widerstände gegen gute Botschaften und die zunehmenden Spannungen zu begreifen. Während der langen Beschäftigung mit diesen beiden gegenläufigen Prozessen wurde mir zunehmend klar, dass sie unmittelbar miteinander zusammenhängen. Das Credo vieler Journalist:innen, dass negative Neuigkeiten besser »funktionieren« und damit gut für das mediale Geschäft sind, ist sicher richtig, kann aber nicht die Erklärung des eigentlichen Phänomens sein. Tatsächlich erzeugt die negative Botschaft mehr Aufmerksamkeit als eine Erfolgsmeldung, und da die Konkurrenz in der Medienlandschaft durch neue Technologien enorm verstärkt wurde, weisen ganz offensichtlich Schlagzeilen und Bilder immer dramatischere Tendenzen auf. Diese täglichen Einflüsse durch die Medien erzeugen ein gewisses negatives Hintergrundrauschen. Vor diesem Hintergrund passiert aber etwas völlig anderes: Positive Entwicklungen können negative oder zumindest unerwartete Nebeneffekte haben. Das Credo wäre also umzudrehen: »Good news are bad news.« Gemeint ist hier aber nicht die schlechte Medienwirksamkeit einer positiven Schlagzeile, sondern die sich im Schatten des Erfolgs schleichend entwickelnden Veränderungen. Werden diese Veränderungen nicht reflektiert, sieht man nur noch Schatten und kein Licht.
Zumindest in der Langzeitbetrachtung gilt es, die Schattenseiten des Erfolgs als verborgene Bürde im Blick zu behalten. Man stelle sich zum Beispiel zwei Geschwister vor, eine beruflich extrem erfolgreiche Managerin und ihren Bruder, der ein Verwaltungsangestellter im mittleren Dienst ist. Sie hat einen ungleich schwereren Job, muss massive Konkurrenz aushalten, muss zunehmend riskante Entscheidungen treffen und wird regelmäßig ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht. Bei ihm laufen die Dinge ruhiger, es könnte natürlich immer etwas besser sein, aber er ist insgesamt zufrieden mit seiner Situation. Bereits kleine berufliche Verbesserungen werden von ihm positiv wahrgenommen. Von außen ist eindeutig erkennbar, wer beruflich erfolgreicher ist: Der Kontostand, der Status und das Prestige sprechen für sich. Aber das sagt noch nichts über die individuelle Wahrnehmung aus. Beide haben sowohl unterschiedliche objektive Rahmenbedingungen als auch unterschiedliche subjektive Erwartungen, die dazu führen können, dass die Schwester mit ihrer beruflichen Situation unzufrieden und der Bruder zufrieden ist. Es kann sogar so weit kommen, dass sie durch die Rahmenbedingungen und die gestiegenen Erwartungen einen Burn-out erleidet und schließlich im Beruf vollständig ausfällt, während sich ihr Bruder ganz langsam, aber kontinuierlich verbessert.
Bürgermeister:innen, Unternehmer:innen und Fußballclubs müssen damit klarkommen, dass die Ansprüche der Wähler:innen, Aktionär:innen und Fans parallel zum Erfolg steigen. Gleichzeitig wird oben die Luft dünner: Die Herausforderungen verändern sich, Druck, Konkurrenz und Aufmerksamkeit steigen, jeder kleine Fehler wird wahrgenommen. Daher ist es schwerer, Trainer von Borussia Dortmund zu sein als vom SC Freiburg. Und es ist sicher nicht leichter, Oberbürgermeister der wohlhabenden Stadt Freiburg zu sein als von der deutlich ärmeren Stadt Dortmund, auch wenn es dort viel mehr soziale Probleme gibt. Denn es kommt nicht auf die zu bewältigenden Probleme an, sondern auf die zu erfüllenden Erwartungen.
Positive Entwicklungen können also zwei wesentliche Veränderungen mit sich bringen: Zum einen steigen die subjektiven Erwartungen und zum anderen die objektiven Grundlagen. Und man muss sich diese beiden Realitäten genau anschauen, denn sie stehen in einem sich stetig verändernden Wechselspiel. Was an den Geschwistern oder den Fußballclubs noch leicht darzustellen ist, wird in einer gesamtgesellschaftlichen Betrachtung ungleich komplexer.
Wenn man nun die These, dass Integration relativ gut oder zumindest besser als früher gelingt, belegen möchte, ist es wichtig, den Vergleichshorizont zu benennen. Denn dieser bewertende Satz unterliegt Bewertungskriterien, über die man sprechen muss. Eine Bewertung benötigt zwingend einen Vergleich. Wer meint, es werde besser, muss zeigen, dass es irgendwann schlechter war oder dass es irgendwo schlechter läuft. Historische und internationale sowie regionale Vergleiche sind in der Wissenschaft die häufigsten Formen der Bewertung von Sachverhalten und Entwicklungen. Dass die Entwicklung der Integration von Migrant:innen gut verläuft, kann man in jeder Hinsicht und ohne Einschränkungen belegen. Fangen wir mit dem historischen Vergleich an.
Die Integration ist heute so gut, wie sie noch nie in der deutschen Geschichte war. Wer sich jetzt wundert, sollte sich kritisch fragen: Weiß ich überhaupt, wie es den Migrantenfamilien damals erging? Kenne ich die Asyl- und Integrationspolitik der vergangenen Jahrzehnte? Die Älteren können sich ergänzend fragen: Hat mich das damals überhaupt interessiert?
Die Integrationspolitik hat sich insgesamt ganz deutlich verbessert. Die Teilhabechancen von Minderheiten sind wesentlich besser als noch vor zwanzig, dreißig oder fünfzig Jahren. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir uns den Arbeitsmarkt, das Bildungssystem, die Wohnverhältnisse oder die Möglichkeiten der politischen Partizipation anschauen. In der Bildungsforschung kann gezeigt werden, dass Migranten und ihre Kinder über stetig bessere Sprachkenntnisse und Kompetenzen insgesamt verfügen. Auch die Bildungsbeteiligung (also die besuchten Schulformen), der Bildungserfolg (also die erreichten Schulabschlüsse) und zum Beispiel auch der Zugang zu den Hochschulen haben sich stetig positiv entwickelt. Es verbesserte sich dabei nicht nur die Anzahl, also die nominale Entwicklung, sondern auch jeweils der Anteil, also das relative Verhältnis zu den Schülern und Studenten insgesamt. Die Entwicklung ist also keinesfalls negativ. Auf dem Arbeitsmarkt sehen wir einen ganz ähnlichen Trend. Es ist noch lange nicht perfekt, Chancengleichheit ist nicht erreicht, aber schlechter ist es ganz sicher nicht geworden.[9]
Man müsste hierfür auch keine Statistiken bemühen, sondern nur den Fernseher einschalten. Das Frühstücksfernsehen moderiert Dunja Hayali, die Nachrichten werden uns von Pinar Atalay oder Ingo Zamperoni vorgetragen, zu den erfolgreichsten Comedians gehören Bülent Ceylan, Fatih Çevikkollu und Serdar Somuncu, die besten Filme kommen von Fatih Akin, zu den gefragtesten deutschen Schauspielerinnen zählen Sibel Kekilli und Aylin Tezel und zu den besten deutschen Fußballern Mesut Özil und Jérôme Boateng, in der Politik haben sich Aydan Özoğuz (SPD), Serap Güler (CDU), Tarek Al-Wazir (B90/Grüne)oder Sevim Dağdelen (Die Linke) in der Spitze etabliert, auf der Spiegel-Bestseller-Liste stehen Autorinnen wie Kübra Gümüşay und Alice Hasters – die Aufzählung ließe sich seitenweise fortsetzen.
Umso irritierender ist es, dass immer noch davon die Rede ist, es fehle an Vorbildern. Eigentlich sind diese nicht zu übersehen, wenn man sie denn sehen möchte. Diese extrem erfolgreichen Menschen sind dabei nur die Spitze des Eisberges. Im Schuldienst und in der Wissenschaft, bei der Polizei und in der öffentlichen Verwaltung, in der freien Wirtschaft und im Kulturbetrieb werden wichtige Aufgaben von Menschen mit Migrationshintergrund wahrgenommen. Natürlich noch nicht so viele, wie es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht, aber viel mehr als je zuvor. Und auch selbstständige Gemüsehändler:innen, Kioskbesitzer:innen und Restaurantbetreiber:innen tragen dazu bei, dass unsere Städte lebenswert sind. War das in den 1990ern besser? Natürlich nicht. Dann müsste doch eigentlich alles so weit gut sein.
Doch das ist es nicht. Diametral entgegengesetzt zu dieser eigentlich offensichtlichen Entwicklung stehen die Wahrnehmung vieler Menschen und der allgemeine öffentliche Diskurs. Diese enorme und immer weiter auseinanderklaffende Differenz zwischen den objektiven und subjektiven Realitäten bildet die Energie, die den Erfolg von Rechtspopulist:innen, Nationalist:innen und religiösen Fundamentalist:innen speist. Energie, die nicht zuletzt durch Verschwörungstheorien und alternative Fakten in bestimmte Richtungen kanalisiert wird.
Will man die Spaltung von subjektiver Erwartung und objektiver Realität begreifen, muss man sich die verdrängte Geschichte der Einwanderung nach Deutschland vor Augen führen. In der Vergangenheit wurden viele Fehler gemacht, die darauf hindeuten, dass Integration im wahrsten Sinne des Wortes ein Fremdwort war. Nicht nur das Wort, sondern auch seine Bedeutung waren gänzlich unbekannt. Selbst beim Lesen wissenschaftlicher Texte zu Migration aus den 1950ern oder 1960ern muss man manchmal schmunzeln, manchmal schämt man sich so fremd, dass man gar nicht weiterlesen kann. In vieler Hinsicht ist die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts von – vorsichtig ausgedrückt – Naivität gekennzeichnet. Und noch wichtiger: Deutschland war (noch) keine offene Gesellschaft. Wissenschaftler:innen sind wie Politiker:innen Kinder ihrer Zeit.[10]
Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Bevölkerung in Deutschland ziemlich homogen. Verfolgung, Vertreibung und Völkermord hatten das doch beträchtliche Maß an Diversität der Vorkriegszeit auf ein minimales Maß reduziert. Jüdinnen und Juden, Afrodeutsche, Roma und Sinti lebten 1950 kaum noch in Deutschland.[11] Ab 1955 kamen dann die ersten Arbeitsmigrant:innen aus dem Mittelmeerraum, überwiegend, aber nicht nur Männer. Es fehlten nach dem Krieg Arbeitskräfte zum Aufbau der Wirtschaft. Sie sollten ungebildet sein und keine Aufstiegsambitionen haben, weil sie arbeiten sollten. Sie sollten fleißig sein, aber sie sollten nicht bleiben, und sie sollten schon gar nicht irgendwann dazugehören wollen. Man nannte sie Gastarbeiter. Arbeitende Gäste? Welch witzige Wortschöpfung. Aus gutem Grund hat es sich in keiner Kultur durchgesetzt, Gäste für sich arbeiten zu lassen. Die Gastfreundschaft verbietet es. In Deutschland wartete auf die Gäste sehr schwere körperliche Arbeit, von Gastfreundschaft keine Spur. Im Deutschland der Nachkriegszeit hatte diese Bezeichnung aber dennoch Sinn, denn sie war positiver konnotiert als etwa Fremdarbeiter. Fremdarbeiter wäre zwar der passendere Begriff gewesen, aber weil während der Zeit des Nationalsozialismus auch Zwangsarbeiter so bezeichnet worden waren, suchte man einen anderen Begriff. Entsprechend sollte »Gastarbeiter« betonen, dass die fremden Arbeiter freiwillig nach Deutschland gekommen waren. Gäste waren sie aber lediglich im Hinblick auf ihre Nicht-Zugehörigkeit. Sie waren aus freien Stücken gekommene Fremde, sie sollten es auch bleiben und nach getaner Arbeit wieder in ihre Heimatländer zurückkehren.
Das Wort »Gastarbeiter« selbst verdeutlicht schon die Diffusität der deutschen Integrationspolitik der 1950er-bis 1980er-Jahre. Man wies den arbeitenden Gästen einen Arbeitsplatz und eine Unterkunft zu. Abgesehen davon wurde kaum etwas getan, um die Integration zu fördern – warum auch, es sollten ja »Gäste« bleiben. Aber viele sind geblieben, bis heute. Und sie sind keine Fremden mehr.
Sie bekamen keine Sprachkurse, keine Fortbildungen und keine Beratungs- und Orientierungsangebote. Die Gastarbeiterkinder wurden lange Zeit von den deutschen Kindern getrennt beschult. Weil sie kaum Deutsch sprachen, wurden sie auf Sonder- und Hauptschulen geschickt. Es gab muttersprachlichen Unterricht, aber nicht aus sprachwissenschaftlichen Gründen oder zur Unterstützung sprachlicher Vielfalt, sondern weil die Reintegrationsfähigkeit der Kinder in ihr Herkunftsland gewahrt bleiben sollte. Nicht selten wurden Nationalklassen eingerichtet, in denen die Gastarbeiterkinder eines Herkunftslandes unter sich waren. Die Türken sollten Türken, die Italiener sollten Italiener bleiben, um die spätere Rückführung zu gewährleisten. Eine Einbürgerung war praktisch unmöglich. Alles, was wir Integrationspolitik nennen könnten, existierte nicht, sinnvolle Maßnahmen wurden zum Teil sogar aktiv verhindert. Kein Wunder, dass wir immer noch Probleme haben. Und tatsächlich kann man die meisten Integrationsprobleme an den Fehlern der Vergangenheit festmachen oder an derzeitigen rechtlichen Missständen. [12]
Seit dem Ende der 1970er-Jahre kamen zunehmend Flüchtlinge, zum Beispiel aufgrund des Libanon-Kriegs, in die Bundesrepublik Deutschland. Für sie gab es keine konsequente Durchsetzung der Schulpflicht für Kinder und Jugendliche, keine Förderung, keine Arbeitsgenehmigung, stattdessen Kettenduldungen jeweils für wenige Monate – und das Ganze über Jahre und Jahrzehnte, zum Teil bis heute. Die Probleme auch dieser Gruppe haben eine Geschichte, die man sich vor Augen halten muss.
Die Situation ist heute erheblich besser. Sprachkurse, Arbeitsmarktintegration, eine eigene Wohnung – obwohl das doch Flüchtlinge sind. »Wenn in Syrien wieder Frieden herrscht, gehen die doch wieder« – so denken zwar noch viele, aber so wird nicht gehandelt. Aus Erfahrung weiß man mittlerweile, Pi mal Daumen die Hälfte könnte dauerhaft bleiben. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Ein erwachsener syrischer Flüchtling, der 2015 nach Deutschland gekommen ist, spricht in den allermeisten Fällen jetzt schon besser Deutsch als ganz viele Gastarbeiter, die seit fünfzig und mehr Jahren in Deutschland leben.[13] Im Jahr 2020, also etwa fünf Jahre nach der Flucht, hat eine nennenswerte Zahl an syrischen jungen Erwachsenen das Abitur erlangt – berichtet wurde darüber in vielen Zeitungen bundesweit.
Während ich der deutschen Integrationspolitik bis in die 1980er-Jahre als Schulnote eine glatte Fünf geben würde, wäre es heute eine Drei plus mit Trend zur Zwei minus. Das ist schon viel besser. Aber: Bis in die 1980er-Jahre war Integrationspolitik nicht wichtig. Man war also schlecht in einem Fach, das nicht versetzungsrelevant war. Es war so unwichtig, dass man nicht einmal wahrnahm, dass man schlecht darin war. Integration war kein Ziel. Dann kamen nach und nach Migrations- und Integrationsbeauftragte sowie Integrationszentren (zunächst auf kommunaler Ebene), später dann Integrationsministerien (auf Landesebene).[14] Heute ist Integrationspolitik das wichtigste innenpolitische Thema. Der Anspruch ist deutlich schneller gestiegen als die reale Verbesserung. In dem gefühlt wichtigsten Fach reicht offenbar eine Drei plus nicht mehr. Eine Drei plus! Wir sind Deutschland. Das geht nicht!
Das Problem ist also nicht die Situation selbst, sondern die Differenz zwischen Erwartung und Realität. Es handelt sich um eine Relation zwischen zwei unterschiedlich schnell steigenden Variablen. Die Erwartungen steigen dabei schneller, als die Realität hinterherkommen kann. Die realen Verbesserungen sind durch die Inflation der Erwartungen nichts mehr wert.
Der Erwartungswandel geht einher mit grundlegenden Veränderungen im deutschen Selbstverständnis. In der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung konkurrierten in der naiven Phase zwei Idealbilder. Die einen sahen Deutschland ausdrücklich nicht als Einwanderungsland. Vielmehr sollten die arbeitenden Gäste in ihre Heimat zurückkehren oder durch unsichtbare Assimilationsprozesse zu Deutschen werden. Die anderen beschworen den Multikulti-Kult, nach dem kulturelle Vielfalt unter einem (Staats-)Dach etwas schlichtweg Tolles ist. Diese rhetorisch extrem unterschiedlichen Positionen sind auf der Handlungsebene fast identisch. Stillschweigende Einigkeit zwischen Mono- und Multikulti herrschte darin, dass sich erstens durch bewusstes Nichtstun alles zum Guten wenden würde – von der Integration von Migranten war lange Zeit nicht die Rede –, dass sich zweitens die Gesellschaft nicht ändern müsse und auch nicht ändern solle, und dass sich drittens die Referenz, an der man Erfolg und Misserfolg bewertet, eine konfliktfreie Gesellschaft in Harmonie und Gleichgewicht sei. Diese drei Gemeinsamkeiten dokumentieren eine umfassende (politische) Naivität, die sich beharrlich fast über ein halbes Jahrhundert stabilisierte.
Noch im Jahr 1989 sagte Bundeskanzler Helmut Kohl in seiner Regierungserklärung: »Wir sind kein Einwanderungsland, und wir können es auch nicht werden.« Das sollte dann auch der gemeinsame Nenner des wiedervereinten Deutschlands in den 1990ern sein. Als dann Jugoslawien im Krieg auseinanderbrach und immer mehr Kriegsflüchtlinge nach Deutschland kamen, eskalierte die Situation. Der Anschlag von Solingen steht sinnbildlich für die damalige Haltung: Fünf türkeistämmige Menschen starben, aber der Bundeskanzler fuhr nicht hin. Auch zur Beerdigung in der Türkei erschien er nicht. Stattdessen wurde der Bundesaußenminister geschickt. Ob gewollt oder nicht, es entstand der Eindruck, dass türkeistämmige Migranten, die in Deutschland Opfer rechtsextremer Gewalt wurden, eine außenpolitische Angelegenheit seien.
Im gleichen Zeitraum fanden rechtsextreme Anschläge auch in Mölln, Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda statt. Obwohl Solingen und Mölln westdeutsche Städte sind, wurde der aufkeimende Rassismus als Begleiterscheinung der Wiedervereinigung und damit als ein ostdeutsches Problem dargestellt. Ein letzter Akt des Festhaltens am Konzept des Nicht-Einwanderungslands waren dann asylrechtliche Änderungen, die nicht zu Unrecht auch als Zuwanderungsvermeidungsgesetz bezeichnet wurden. Man war sich sicher: »Das Boot ist voll!«
Spätestens mit der Einführung des bis heute gängigen Begriffs »Migrationshintergrund« Ende der 1990er wird die Einwanderungsrealität greifbar, weil er eine Lücke zwischen