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Wie stellt sich die Zukunft Europas nach dem Zweiten Weltkrieg dar? Keine Frage beschäftigte Willy Brandt während seiner Exiljahre in Schweden mehr als diese. In seinem Buch »Nach dem Sieg«, das er in norwegischer Sprache verfasste und im Juni 1944 erstmals in Schweden unter dem Titel »Efter Segern« veröffentlichte, diskutiert er die Pläne der Alliierten zum Wiederaufbau Europas und zur Beseitigung der Kriegsschäden, die Potenziale einer fortgesetzten Zusammenarbeit der Anti-Hitler-Koalition, aber auch Fragen nach der Strafverfolgung von Kriegsverbrechern, nach Reparationsleistungen, zukünftigen Grenzziehungen, dem Umgang mit Flüchtlingen und Vertriebenen sowie dem Wiederaufbau des Bildungs- und Erziehungswesens. Daneben richtet er seinen Blick auch über Europa hinaus: Wie kann die internationale Zusammenarbeit neu gedacht und institutionalisiert werden – auf politischem, aber auch auf kulturellem Gebiet? Wie können Not und Hunger weltweit bekämpft, wie die Konsequenzen kolonialer Herrschaft und Ausbeutung beseitigt werden? •errste ungekürzte Übersetzung ins Deutsche einer wichtigen frühen Publikation Willy Brandts •Willy Brandts Visionen für die Zeit nach 1945
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Willy Brandt
Nach dem Sieg
Die Diskussion über Kriegs- und Friedensziele
Aus dem Norwegischen übersetzt, kommentiert und eingeleitet von Einhart Lorenz
Campus VerlagFrankfurt/New York
Über das Buch
Wie stellt sich die Zukunft Europas nach dem Zweiten Weltkrieg dar? Keine Frage beschäftigte Willy Brandt während seiner Exiljahre in Schweden mehr als diese. In seinem Buch »Nach dem Sieg«, das er in norwegischer Sprache verfasste und im Juni 1944 erstmals in Schweden unter dem Titel »Efter Segern« veröffentlichte, diskutiert er die Pläne der Alliierten zum Wiederaufbau Europas und zur Beseitigung der Kriegsschäden, die Potenziale einer fortgesetzten Zusammenarbeit der Anti-Hitler-Koalition, aber auch Fragen nach der Strafverfolgung von Kriegsverbrechern, nach Reparationsleistungen, zukünftigen Grenzziehungen, dem Umgang mit Flüchtlingen und Vertriebenen sowie dem Wiederaufbau des Bildungs- und Erziehungswesens. Daneben richtet er seinen Blick auch über Europa hinaus: Wie kann die internationale Zusammenarbeit neu gedacht und institutionalisiert werden – auf politischem, aber auch auf kulturellem Gebiet? Wie können Not und Hunger weltweit bekämpft, wie die Konsequenzen kolonialer Herrschaft und Ausbeutung beseitigt werden? • errste ungekürzte Übersetzung ins Deutsche einer wichtigen frühen Publikation Willy Brandts• Willy Brandts Visionen für die Zeit nach 1945
Vita
Willy Brandt (1913–1992) war ein sozialdemokratischer Politiker und Staatsmann. Während seiner Exilzeit in Norwegen und Schweden war er als Journalist tätig und verfasste zahlreiche Schriften (darunter »Nach dem Sieg«, 1944). Nach seiner Rückkehr nach Deutschland war er Regierender Bürgermeister von Berlin, SPD-Vorsitzender, Bundesaußenminister und von 1969 bis 1974 Bundeskanzler. 1971 wurde ihm für die Neue Ostpolitik der Friedensnobelpreis verliehen. 1976 zum Präsidenten der Sozialistischen Internationale gewählt, engagierte sich Willy Brandt bis zu seinem Tod weltweit für Frieden, Demokratie und soziale Gerechtigkeit.
Einhart Lorenz, Dr. phil., ist Professor emeritus für europäische Geschichte an der Universität Oslo. Er war erster Henrik-Steffens-Gastprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist Träger des Willy-Brandt-Preises sowie des Sverre-Steen-Preises der Norwegischen Historikerverbandes.
Cover
Titel
Über das Buch
Vita
Inhalt
Impressum
Einleitung
Nach dem Sieg
Vorwort
Der Hintergrund des Friedens
1.
Der Krieg gegen den Hitlerismus
2.
Die gemeinsame Erklärung der Vereinten Nationen
3.
Moskau und Teheran
4.
Die Lage nach dem Waffenstillstand
Der Wiederaufbau
5.
Die neue Karte Europas
6.
Das Minderheitenproblem
7.
Bestrafung der Kriegsverbrecher
8.
Entwaffnung der Besiegten
9.
Alliierte Besatzungspolitik
10.
Das Problem der Entschädigungen
11.
Kriegsziele gegen Japan
12.
Die Friedenskonferenzen
Erste Hilfe
13.
Der Krieg gegen die Not
14.
Die Planung der Hilfsmaßnahmen
15.
Die erste Ratssitzung der UNRRA
16.
Rückführung und Gesundheitswesen
17.
Zwei Schritte vor und einen zurück
Kollektive Sicherheit
18.
Sicherheit und Souveränität
19.
Das Ziel und die Wege
20.
Ein neuer Völkerbund
21.
Internationale Polizei
22.
Europas Vereinigte Staaten
23.
Europäische Regionalbünde
24.
Die Zukunft der Kolonien
25.
Internationale kulturelle Zusammenarbeit
Das deutsche Problem
26.
Was die alliierten Führer sagen
27.
Der Vansittartismus
28.
Eine andere Auffassung
29.
Das Programm der Vansittartisten
30.
Andere Wege
31.
Die deutsche Revolution
32.
Deutschland und Europa
Internationale Planung
33.
Neue Zielsetzungen
34.
Alliierte Planungsorgane
35.
Handel und Kredite
36.
Regionale Lösungen
37.
Die neue Demokratie
Anhang
Abkürzungen
Literatur
Veröffentlichungen Willy Brandts
Zeitgenössische Literatur (vor 1945)
Sekundärliteratur (nach 1945)
Personenregister
Während seiner Jahre im schwedischen Exil, das von Ende Juni 1940 bis Mitte Mai 1945 währte, war Willy Brandt als politischer Journalist und Publizist tätig. Er leitete eine norwegisch-schwedische Presseagentur, die fortlaufend Material zur Lage in Norwegen an die schwedische Presse lieferte.1 Brandt veröffentlichte in dieser Zeit 16 Bücher und Broschüren, darunter eine Publikation in den USA sowie zwei Bücher in Zusammenarbeit mit anderen Emigranten aus seinem politischen Umfeld. Sechs dieser Publikationen erschienen ohne Autorenangabe. Er schrieb Beiträge für die norwegische Exilzeitschrift Håndslag,2 die in Stockholm erschien und dann illegal in Norwegen verbreitet wurde, in Blättern für emigrierte und nach Schweden geflüchtete Norweger wie Norges nytt und Stockholms normannen, in schwedischen sozialdemokratischen Zeitungen und Zeitschriften wie Arbetaren, Trots allt und Nordens Frihet sowie in ca. 70 schwedischen Tageszeitungen, ferner auch Beiträge in der schweizerischen Gewerkschaftlichen Rundschau. Die Gesamtzahl seiner Artikel, die zum Teil auch anonym oder unter dem Pseudonym Ole Haugen erschienen, ist bislang noch nicht annähernd erfasst worden. Kein anderer deutschsprachiger politischer Emigrant in Schweden war publizistisch derart produktiv.
Die meisten Bücher aus Brandts ersten Stockholmer Jahren sowie seine Broschüre über die Aktion gegen die Osloer Universität, die in einer Serie des Außenpolitischen Instituts in Stockholm erschien,3 informierten über den Kriegsverlauf und einzelne Ereignisse während der deutschen Besatzung und richteten sich an schwedische Leser sowie exilierte Norweger. Aber Brandt versuchte auch, mit Hilfe der American Friends of German Freedom in New York und der ehemaligen US-Botschafterin J. Borden Harriman ein amerikanisches Publikum zu erreichen4 sowie mit einer Publikation über die erste Kriegsphase 1940 im Europa Verlag Zürich auch deutschsprachige Leser über den Angriff der Wehrmacht am 9. April 1940 und die Besetzung Norwegens zu informieren.5
Außer den Büchern, Broschüren und Artikeln über die Zustände im besetzten Norwegen erschien sein Buch über den Guerillakrieg6 und schließlich, gemeinsam mit emigrierten politischen Freunden aus der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) – Stefan Szende, Ernst Behm sowie August und Irmgard Enderle – eine Positionsbestimmung führender SAP-Politiker für die Nachkriegszeit: Zur Nachkriegspolitik der deutschen Sozialisten.
Die zentralen Themen seiner publizistischen und politischen Arbeit in der ersten Hälfte des schwedischen Exils waren jedoch der Krieg und die Lage in Norwegen während der deutschen Okkupation; in der zweiten Hälfte der Emigrationszeit standen die Kriegsziele und die Frage nach einer Überwindung der Spaltung der Arbeiterbewegung im Mittelpunkt seines Schaffens.
Die Bücher und Broschüren des »Dreiviertel-Norwegers«7 Brandt – von Norge under hakkorset (Norwegen unter dem Hakenkreuz, 1940) bis Norges väg mot frihet (Norwegens Weg in die Freiheit, 1945) – sowie seine zahlreichen Zeitungsartikel handelten vor allem von Terror und Unterdrückung in seiner norwegischen Zweitheimat, vom norwegischen Widerstand, von der Heimatfront und von deren Freiheitskampf. Die Bedeutung dieser Publikationen über Norwegen unter deutscher Besatzung wurde nach der Befreiung 1945 von Weggefährten, Politikern und Historikern hervorgehoben. Der Journalist, Diplomat und spätere Leiter der Norwegischen Militärmission in Berlin, Oddvar Aas, hat in seinen Erinnerungen betont, dass Willy Brandt als der einzige Autor gelten könne, dessen Informationen über Norwegen nachhaltige Wirkung in Schweden entfaltet hätten.8 In einem 1948 vom norwegischen Historiker Sverre Steen herausgegebenen Buch über den Krieg in Norwegen heißt es, Brandt sei der »produktivste Autor« für Norwegens Sache in Schweden gewesen. Das gelte besonders für diejenigen seiner Bücher, die in den ersten Kriegsjahren von »großer Bedeutung« gewesen seien.9 Das Presseorgan der regierenden Arbeiterpartei, Arbeiderbladet, hob 1947 hervor, dass es kaum einen Norweger gegeben habe, der »eine so effektive Propagandaarbeit für unsere Sache geleistet« habe wie Brandt.10
Doch nicht nur für die Norweger im schwedischen Exil war Willy Brandt von Bedeutung, sondern auch für die sozialistischen Emigranten aus Mitteleuropa, die sich in Stockholm aufhielten. Stellvertretend für sie kann der spätere österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky genannt werden, der Brandt während des Krieges kennenlernte. In seinen Erinnerungen an das schwedische Exil schrieb Kreisky, Brandt sei »damals der Inbegriff des politischen Verstandes in dieser Zeit und darüber hinaus eine politische Führungskapazität« gewesen und »fast zwangsläufig zur repräsentativsten Figur der deutschsprachigen Emigration« geworden.11
Das zweite große Thema Willy Brandts ging über Norwegen hinaus und hatte ihn bereits beschäftigt, bevor dort der Krieg begann. Es war europäisch und global und betraf die Kriegsziele der Großmächte. Ein erster größerer Artikel zur internationalen Debatte über die Kriegsziele erschien am 23. Dezember 1939 im Zentralorgan der regierenden Arbeiterpartei.12 Am Tag des deutschen Überfalls auf Norwegen, dem 9. April 1940, lag Willy Brandts Buch Die Kriegsziele der Großmächte und das neue Europa vor.13 Es gelangte jedoch nie in den Buchhandel, da es umgehend beschlagnahmt und vernichtet wurde.
»Spätestens« seit diesem Ereignis habe ihn die Frage der Kriegs- und Friedensziele »nicht mehr losgelassen«: »Während meiner Stockholmer Jahre (1940–45) äußerte ich mich [zu diesem Thema] in Zeitungen, in Zeitschriften und vor Studienzirkeln«, schrieb er später, und: »Bald bemühte ich mich, das Thema systematischer und gründlicher zu bearbeiten.« Bescheiden resümierte er daher im Vorwort des im Frühjahr 1944 in Stockholm erschienenen Buchs Efter Segern (Nach dem Sieg), es sei »gleichsam als Nebenprodukt einer umfassenderen Beschäftigung mit den Nachkriegsproblemen« entstanden. Es sei nicht seine Absicht, »die Zahl privater Pläne zur Rettung der Welt um ein weiteres Exemplar zu erhöhen«.14
In seinen autobiographischen Schriften hat Willy Brandt die Diskussionen und Bücher rund um Fragen der Kriegs- und Friedensziele und der zu erwartenden Nachkriegsprobleme eher stiefmütterlich behandelt. So wurde das 1940 entstandene Buch in Links und frei nur en passant gestreift.15 Das Buch Draußen. Schriften während der Emigration von 1966 enthält zwar fünf Kapitel aus Efter segern, doch handelt es sich dabei im Wesentlichen um die Kapitel 26 bis 30, d. h. um die Auseinandersetzung mit dem Vansittartismus, sowie um Kapitel 37, ferner um kurze und zum Teil nur wenige Zeilen lange Ausschnitte aus anderen Kapiteln – insgesamt sind dies ca. 11 Prozent des Buches. Nicht übernommen wurden indes diejenigen Kapitel, die sich mit dem eigentlichen Thema beschäftigen: der zukünftigen Gestaltung Europas »nach dem Sieg«.
In Links und frei erwähnt wird dagegen die Broschüre Zur Nachkriegspolitik der deutschen Sozialisten, die Brandt im Frühsommer 1944 gemeinsam mit politischen Freunden verfasst hatte und die, da sie auf Deutsch erschienen war, von der Forschung rezipiert worden ist. In den 1989 erschienenen Erinnerungen heißt es zwar, dass die Frage der Kriegs- und Friedensziele ihn seit Jahresbeginn 1943 »längst nicht mehr losgelassen« und er sein Buch von 1940 »gleichsam immer aufs neue« fortgeschrieben habe.16Nach dem Sieg wird in den Erinnerungen dennoch nur beiläufig mit einem Satz erwähnt: »›Gegen Nationalismus – für nationale Einheit‹ lautete die Parole, die ich im selben Jahr in meinem Buch Efter Segern – ›Nach dem Sieg‹ ‒ variierte.«17 Bruno Kreisky charakterisierte Efter Segern als »wesentliches« Ergebnis der »nicht endenden Diskussionen um die Frage, wie Europa nach dem Krieg aussehen solle«. Brandt habe »immer wieder mit einem Einfühlungsvermögen sondergleichen das Ergebnis der Diskussionen in sehr brauchbaren Formulierungen zusammengefaßt.«18
Auch andere Texte, die von Brandts Entwicklung und seinen Lernprozessen zeugen, haben kaum Beachtung gefunden. Das gilt etwa für einen Artikel, der im Herbst 1940 in der schwedischen Zeitschrift Mellanfolkeligt samarbete unter dem Titel »Kollektivismus und Freiheit. Ein Problem in Verbindung mit der Diskussion über die Friedensziele«19 erschien, aber auch für seine zahlreichen Beiträge in der Zeitschrift Håndslag.
Vom 6. Juni 1942 stammt ein 24-seitiges Manuskript mit dem Titel »Diskussionsgrundlage über unsere Friedensziele« (Diskusjonsgrunnlag om våre fredsmål), das Brandt gemeinsam mit Martin Tranmæl, dem grand old man der norwegischen Arbeiterbewegung, für das norwegische Exil verfasst hatte. Es war als eine Art Gegenentwurf zu den Vorstellungen der norwegischen Exilregierung in London20 gedacht, wobei es um die zukünftige Position Norwegens als atlantische oder primär nordeuropäische Nation ging. Die Diskussion über die Kriegsziele, über die Zeit »nach dem Sieg« und die Ziele, die die Alliierten der Anti-Hitler-Koalition verfolgten, wurde auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Foren geführt. Bei Brandt steht teils Norwegen, teils das zukünftige Deutschland im Fokus, es geht aber auch um die »Friedensziele der demokratischen Sozialisten«, die ihre Vorstellungen im März 1943 präsentierten.
Weitere Themen waren die Einschätzung der Sowjetunion und das Verhältnis zu ihr, Deutschlands und Polens zukünftige Grenzen und die Frage von möglichen Umsiedlungen, die Wirtschaftsstruktur, die Strafverfolgung von Nationalsozialisten, die Besatzungspolitik, die Demokratisierung, der Kampf gegen Antisemitismus, der Wiederaufbau, die internationale Zusammenarbeit und schließlich auch die Frage einer neuen Weltordnung. Dabei ist zu beachten, dass Brandts Überlegungen zu all diesen Aspekten auch in einem norwegischen Kontext gesehen werden müssen. Für die Informationsabteilung der Norwegischen Gesandtschaft in Stockholm verfasste er außerdem die 60-seitige Broschüre Krigs- og fredsmål (Kriegs- und Friedensziele), die im November 1943 erschien.
Willy Brandt war auch eine treibende Kraft in den Diskussionen über die Zeit »nach dem Sieg« über das nationalsozialistische Deutschland, die ab Herbst 1942 in der »Kleinen Internationale« geführt wurde, einem Arbeitskreis emigrierter Sozialisten unterschiedlicher Couleur aus verschiedenen europäischen Ländern, die im neutralen Schweden über Fragen eines zukünftigen Europas nachdachten.21
Am 29. Juni 1942 teilte Brandt seinem Freund Jacob Walcher, dem führenden Kopf der SAP, mit: »[…] in der letzten Zeit beschäftigte ich mich hauptsächlich mit Fragen der Friedensziele. Auch daraus dürfte im Laufe einiger Monate eine Veröffentlichung werden. Wie ich Dir seinerzeit mitteilte, hatte ich schon in Norwegen eine Arbeit darüber geschrieben, die unmittelbar vor dem 9. April herauskam, aber nicht mehr verbreitet werden konnte. Weniger wäre mehr, wird vielleicht Dein erster Einwand sein. Das habe ich mir auch manchmal gesagt. Aber andererseits muss man in Betracht ziehen, dass es heute nicht so sehr auf Feinheiten ankommt, sondern dass gewisse wesentliche Bedürfnisse zu befriedigen sind.«22
Ging es um die Formulierung von Kriegszielen, schien aus Brandts Sicht Eile geboten zu sein, denn in seinem Brief teilte er Walchers Auffassung, »dass ein Kriegsschluss in Europa bereits in diesem Jahre nicht völlig ausgeschlossen ist« und ebenfalls nicht völlig ausgeschlossen werden könne, »dass man bereits zu Ende dieses Jahres vor ganz neue Aufgaben gestellt wird. Mancherlei Mitteilungen vom Kontinent – auch aus jenen Teilen, die von manchen als hoffnungsloser Fall angesehen wurden – berechtigen zur Annahme einer relativ kurzen Perspektive. Selbst wenn sich die Entscheidung bis zum nächsten Jahr hinziehen sollte, ändert das ja nichts daran, dass man schon heute mit den sich dann ergebenden Fragen ernsthaft arbeiten muss. […] Vielleicht ist ja doch nach diesem Kriege in Europa auch für Europäer Platz.«
Einen Tag später teilte er einem nicht identifizierten »lieben Freund« in einem dreiseitigen Brief mit: »Die grosse Schwierigkeit bei der Fixierung von Friedenszielen liegt darin, dass wir so wenig darüber wissen, wie Europa und die Welt bei Kriegsschluss aussehen. Die zentrale Frage ist meines Erachtens, ob das anglo-russische Bündnis hält.«23 Brandt rechnete zu diesem Zeitpunkt damit, dass das Bündnis der Anti-Hitler-Koalition – also von Staaten mit sehr unterschiedlichen Gesellschaftssystemen und ökonomischen Strukturen ‒ weiterbestehen und den neuen Frieden bestimmen werde. Die Allianz werde den »Rahmen für die Entwicklungsmöglichkeiten einer deutschen bzw. mitteleuropäischen Revolution« bestimmen, und deshalb solle man sich »über deren überragende Auslandsabhängigkeit […] von vornherein im Klaren sein«. Dabei werde »die Stellung Amerikas […] natürlich von ausschlaggebender Bedeutung sein.« Da China und Indien »ernsthaft als selbständige Mitspieler in der internationalen Politik auftreten, [werde] deren Standpunkt sich also weiter von Europa weg verlagern.« Im gleichen Brief heißt es auch, dass von deutscher Seite nicht »die ernste Mitverantwortlichkeit eines grossen Teils des deutschen Volkes an dem, was sich abspielt, in Frage [ge]stellt« werden dürfe. Es bedürfe »jahrelanger ernster Arbeit«, um »wirkliches Vertrauen« zu erwerben.
Brandts Prognosen vom Sommer und Herbst 194224 erfüllten sich nur teilweise. Weder kam es zu einer schnellen Entscheidung im Kriegsgeschehen ‒ zum »entscheidenden Kollaps« vor der Errichtung einer zweiten Front im Westen –, noch zur Vollendung der angekündigten Veröffentlichung eines Buchs über die Kriegsziele binnen weniger Monate. Erst im November 1943 erschien unter der Autorenangabe »Observer« die bereits erwähnte 60-seitige Publikation Krigs- og fredsmål (Kriegs- und Friedensziele). Da weder ein Autor noch ein Verlag angegeben wurden, auf der Titelseite aber die Aufforderung »Lass so viele wie möglich Interessierte diese Broschüre lesen« stand, liegt die Vermutung nahe, dass die Publikation ebenso wie Håndslag illegal im besetzten Norwegen verbreitet werden sollte. Darauf deuten auch die abschließenden Kapitel hin, die sich mit Norwegens Wiederaufbau nach dem Krieg und mit der zukünftigen Außenpolitik des Landes befassen.
Diese 60-seitige unscheinbare Publikation im DIN-A5-Format vom November 1943 ist der unmittelbare Vorläufer des Buches Efter segern (Nach dem Sieg), das nach Brandts überstandener Gelbsucht im Frühjahr 1944 entstand und die Thematik der Broschüre vertiefte und aktualisierte, aber auch zahlreiche Passagen wortgetreu übernahm. Einzelne Themen aus Krigs- og fredsmål und aus Efter segern hatte Brandt bereits im Herbst 1943 in der Zeitschrift Håndslag erörtert, so in den Nummern 19 vom 19. September 1943 und 20 vom 16. Oktober 1943, 23 vom 27. November 1943, 24 vom 11. Dezember 1943 (Die Zukunft der Kolonien) und 25 vom Dezember 1943 sowie der Nr. 1-2 vom Januar 1944.
Håndslag ‒ mit dem Untertitel »Fakten und Orientierung für Norweger« ‒ erschien 14-tägig in Stockholm, wurde von der dortigen Norwegischen Legation finanziert und dann hauptsächlich illegal in Norwegen verbreitet. Offizieller Redakteur war der schwedische Literaturnobelpreisträger Eyvind Johnson, die eigentlichen Blattmacher waren jedoch der spätere Intendant des Norwegischen Rundfunks, Torolf Elster, und Willy Brandt. Von einer ursprünglichen Auflage von 3000 Exemplaren wuchs die Gesamtauflage auf 16.000 Exemplare.25
Das Manuskript zu Efter segern wurde im März 1944 abgeschlossen, von Olav Janson ins Schwedische übersetzt und dann noch einmal von Brandt bearbeitet, ehe es am 3. Mai 1944 im renommierten Bonniers Verlag Stockholm in einer Auflage von 2200 Exemplaren erschien.26 Dass das Buch als aktuell angesehen wurde und mehr war als ein »Nebenprodukt«, zeigte sich am großen Interesse in den nordischen Nachbarländern. Es erschien wenig später im Kopenhagener Skipper Clements Verlag unter dem Titel Efter seiren in einer illegal verbreiteten hektografierten DIN-A4-Ausgabe; nur das Vorwort wurde ausgelassen. Eine finnische Ausgabe, übersetzt von Aarne Jalo Engelberg, erschien unter dem Titel Millainen Maailmanrauha? (Wie Weltfrieden?) im Verlag Fennia in Helsinki. 1982 sorgte die Finnische Sozialdemokratische Partei für eine Neuausgabe des Buches.
1966 ließ Willy Brandt, wie er selbst erwähnt, die Kapitel 26 bis 30, 37 sowie einige kürzere Passagen – vornehmlich aus den Kapiteln 5 bis 8, 10 und 23 – in dem Band Draußen veröffentlichen. Dabei handelte es sich weitgehend um Passagen über den Vansittartismus – eine »Theorie«, die dem deutschen Volk negative Eigenschaften zuschrieb und postulierte, dass es seit der Antike durch Brutalität und Barbarei gekennzeichnet sei. Zahlreiche andere in Efter Segern behandelte Themen wie Grenzziehungen, Minderheitenprobleme, die alliierte Besatzungspolitik, die Kriegsziele in Japan, die Friedenskonferenzen, humanitäre Hilfe, die künftige europäische Zusammenarbeit, die Einschätzung der Sowjetunion, der Kolonialismus, die Zukunft der jüdischen Bevölkerung in Deutschland, anderen europäischen Ländern und in Palästina – um nur einige Beispiele zu nennen – wurden dagegen in Draußen nicht berücksichtigt.
In seinem Buch Links und frei aus dem Jahr 1982, das sich speziell mit der Jugend in Lübeck und den Exiljahren in Norwegen und Schweden beschäftigt, schreibt Brandt, dass er, »neben Hunderten von Artikeln, vier aktuelle Bücher über den Krieg in Norwegen« sowie außerdem Broschüren geschrieben habe und regelmäßig an einem »Blatt für die Verbreitung im Inland«, d. h. Håndslag, mitgearbeitet habe. Über den Rest hieß es nur: »Zu meinen anderen Veröffentlichungen gehörten Schriften zu zeitgeschichtlichen Problemen.«27 In seinen sieben Jahre später publizierten Erinnerungen nannte er, wie bereits erwähnt, Efter segern nur kurz in Verbindung mit einer Warnung vor der Gefahr eines neu auflebenden Nationalismus.28
Der im Jahr 2000 erschienene Band 2 der Berliner Ausgabe von Schriften und Reden Brandts29 folgt im Wesentlichen dem Prinzip von Draußen: Aus Efter Segern enthält es die Kapitel 28 bis 30 (über das deutsche Problem) und 37 in extenso, aber zusätzlich auch die Kapitel 31 (über die deutsche Revolution) und 32 (Deutschland und Europa). Mithin umfassten die bisher veröffentlichten Textpassagen von Efter Segern nur ca. ein Fünftel des Gesamtmanuskripts und brachten daher nur ansatzweise zur Geltung, in welchem Maße sich Brandts Horizont während der Exiljahre in Schweden erweiterte.30 Ihn interessierten auch die internationale humanitäre Hilfe, die Rückführung von Vertriebenen, die Debatten über neue Grenzziehungen, die internationale kulturelle Zusammenarbeit oder auch die Zukunft der Kolonien, um nur einige von vielen Themen zu nennen.
Das Buch Nach dem Sieg, das nun zum ersten Mal vollständig in deutscher Übersetzung vorliegt, ist deshalb bisher kaum oder nur teilweise rezipiert worden. Eine Ausnahme bildet die in Deutsch abgefasste Dissertation von Pénélope Patry über Willy Brandts Europavorstellungen während der gesamten Zeit seines skandinavischen Exils. In ihrer Analyse kommt sie zu dem Schluss, dass Brandts frühe Europavorstellungen »nicht nur umfangreich, sondern auch kontextabhängig, flexibel und entwicklungsfähig« waren.31
Bei einigen Brandt-Forschern und -Biographen kann man sich mitunter nicht des Eindrucks erwehren, dass sie Efter Segern nie in Händen gehalten haben: Es wurde entweder als »a brochure«32 oder »Nebenerzeugnis«33 bezeichnet oder aber völlig übersehen. Vielleicht liegt es daran, dass Brandt das Buch in seinen autobiographischen Schriften Mein Weg nach Berlin und Links und frei selbst nur beiläufig erwähnt hat.34 Davon, dass ihn das Thema bereits vor Kriegsausbruch beschäftigt hatte, zeugen ein Artikel über den »Traum von Europas Vereinigten Staaten« vom Dezember 193935, das Buch Die Kriegsziele der Großmächte von 1940, Artikel in der Zeitschrift Håndslag sowie die erwähnte Broschüre Krigs- og fredsmål vom November 1943.
Dass Brandt in Nach dem Sieg »kaum über seine Auffassungen zu Beginn des Krieges hinaus« gekommen sei,36 wie Klaus Voigt 1988 in seinem Buch über die Ideen des deutschen Exils zur Friedenssicherung und zur europäischen Einigung urteilte, ist so nicht haltbar. Hélène Miard-Delacroix nennt das Buch zwar in ihrer Brandt-Biographie – und verändert dabei den Untertitel –, geht aber nicht auf dessen Inhalt ein.37 Gregor Schöllgen erwähnt es in seiner Brandt-Biographie überhaupt nicht, und Martin Wein hält es für ein »Nebenerzeugnis«. Auch in Peter Merseburgers umfangreicher Biographie über den »Visionär und Realist« Brandt sucht der Leser vergeblich nach einer Analyse der Schriften Brandts über Deutschland und Europa nach dem Krieg.38 Zu den wenigen Biographen, die sich ernsthaft mit diesem »wertvollen Buch« auseinandergesetzt haben, gehört Terence Prittie, der darin eine »bemerkenswerte Analyse der voraussichtlichen Entwicklung und […] vernünftige Ziele« entdeckte. Brandts Schlussfolgerungen zeigten, daß er »außerordentlich gut informiert und reich an konstruktiven Ideen war« sowie ein »bemerkenswert reifes Urteil« gefällt habe.39
Die vorliegende Übersetzung von Efter Segern ins Deutsche basiert auf der schwedischen Erstausgabe sowie auf Willy Brandts auf Norwegisch verfasstem Originalmanuskript und den darin enthaltenen handschriftlichen Korrekturen. Zitate wurden im Rahmen des Machbaren überprüft und belegt. Sämtliche Fußnoten stammen vom Herausgeber dieser deutschen Erstausgabe.
Mein Dank gilt der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, die die Übersetzung und Veröffentlichung dieses Buches ermöglicht hat und damit allen Brandt-Forschern einen weiteren Zugang zum geistigen Werdegang des Autors bietet. Mein Dank gilt nicht zuletzt auch Martin Hamre für sprachliche Korrekturen, Anregungen und wertvolle Recherchehilfen sowie Kristina Meyer für das sorgfältige Lektorat und Korrektorat.
Einhart Lorenz
Mir ist es ergangen wie vielen anderen. Unmittelbar nach Kriegsausbruch 1939 stand die Diskussion über die Kriegsziele im Mittelpunkt des Interesses. Man wollte wissen, ob alle Opfer erneut vergebens gewesen sein sollten. Ich versuchte auf Norwegisch eine erste Zusammenfassung in Die Kriegsziele der Großmächte und das neue Europa40 zu geben. Das erste Exemplar dieses Buches erhielt ich vom Verlag am Nachmittag des 8. April 1940. Am darauffolgenden Tag war Oslo besetzt. Es folgten Jahre, in denen der Einzelne gezwungen war, sich mehr dem kleinen Kampfeinsatz zu widmen, den er ableisten konnte, anstatt Überlegungen darüber anzustellen, was man machen sollte, wenn der Sieg einmal errungen war. Nun, da die Niederlage des Nazismus naht, kann man sich guten Gewissens nicht nur mit der Frage beschäftigen, wie der Krieg militärisch gewonnen, sondern auch, wie ein dritter Weltkrieg verhindert werden kann.
Dieses Buch entstand gleichsam als Nebenprodukt einer umfassenderen Beschäftigung mit den Nachkriegsproblemen. Die Absicht ist nicht, die Zahl privater Pläne zur Rettung der Welt um ein weiteres Exemplar zu erhöhen. Ich habe mich damit begnügt, eine Übersicht über die internationale Debatte zu den Kriegs- und Friedenszielen zu liefern. Der Standpunkt des Autors und seine Einschätzung dessen, was wesentlich ist, spielt natürlich eine Rolle bei der Auswahl und Präsentation des Materials. Er ist sich auch darüber im Klaren, dass der Abstand zwischen dem, was man zu erreichen sich wünscht, und dem, was erreichbar ist, noch übertroffen werden kann durch die Unterscheidung zwischen dem, mit dem man heute rechnet, und dem, was faktisch das Resultat des Krieges sein wird.
Meine Standpunkte im gegenwärtigen Streit habe ich unter anderem in meinen Büchern über Norwegen dargelegt.41 Ich habe mich stets als »Kriegführender« in mehr als nur einem Sinne verstanden. Ich erlaube mir, etwas zu zitieren, das ich in einer Polemik im August 1943 geschrieben habe: »Ich fühle mich Norwegen mit tausend Banden verbunden, aber ich habe niemals Deutschland – das andere Deutschland – aufgegeben. Ich arbeite, um den Nazismus und seine Bundesgenossen in allen Ländern zu vernichten, damit sowohl das norwegische als auch das deutsche Volk und alle anderen Völker leben können. Ich habe im Laufe dieser Jahre zweimal mein Vaterland verloren. Ich arbeite dafür, zwei Vaterländer wiederzugewinnen – ein freies Norwegen und ein demokratisches Deutschland. Der Tag wird kommen, an dem der Hass, der im Krieg unvermeidlich scheint, überwunden wird. Einmal muss das Europa Wirklichkeit werden, in dem Europäer leben können.«42
Stockholm, im März 1944
W. B.
Auch wenn man von den seltsamen Erklärungen gänzlich absieht, die von nazistischer Seite lanciert werden, wird die Frage nach den Ursachen des Zweiten Weltkriegs höchst unterschiedlich beantwortet. Einige betrachten den Krieg als den gewaltsamsten Ausdruck einer tiefgreifenden Krise unserer gesamten Zivilisation. Sie sehen ihn als Teil eines weltumspannenden revolutionären Prozesses. Andere legen das Hauptgewicht darauf, dass die imperialistische Auseinandersetzung im vorigen Weltkrieg nicht zu einer wirklichen Entscheidung geführt hat und die imperialistischen Gegensätze daher mit Naturnotwendigkeit in einen neuen Konflikt münden mussten. Viele haben sich mit der simplen Antwort begnügt, dass dies alles ein paar Diktatoren und der Unterstützung durch ihre Völker zuzuschreiben sei.
Eine kleine Zahl nur halbwegs intelligenter Menschen hegt derweil die Illusion, dass die Rückkehr zu einer Welt möglich sei, wie sie existierte, bevor Hitler seinen Panzern, Flugzeugen und menschlichen Maschinen das Startsignal gab. Diese Illusion wird in Äußerungen der Untergrund-Arbeiterbewegung in Frankreich ebenso bestimmt zurückgewiesen wie in Stellungnahmen des britischen Industrieverbandes. Was auch immer mit diesem Krieg beabsichtigt sein mag, so kann es gewiss nicht darum gehen, zu Verhältnissen wie in der Zwischenkriegszeit zurückzukehren. Über die Art, den Umfang und die Tiefe der erforderlichen Veränderungen herrscht derweil keinesfalls Einigkeit. Die radikale Kritik an den heutigen »Traditionalisten« richtet sich nicht etwa dagegen, dass diese zu den Verhältnissen von 1919 oder 1938 zurückkehren wollen, sondern vielmehr dagegen, dass sie die Welt reinwaschen wollen, ohne sie nass zu machen.
Der militärische Kampf vereint die beiden Hauptrichtungen in der Diskussion über die Friedensziele sowie die vielen Differenzen zwischen ihnen. Unabhängig von den Motiven, die den Kriegserklärungen Chamberlains43 und Daladiers44 im September 1939 zugrunde lagen, hatten alle demokratischen und fortschrittlichen Kräfte der Welt Anlass zu aufrichtiger Freude darüber, dass der Kampf endlich aufgenommen wurde. Denn der Hitlerismus war nicht nur eine tödliche Bedrohung für die Macht verschiedener Staaten und die Sonderinteressen privilegierter Gruppen, sondern auch für das nationale Leben der Völker, die Freiheit und die kulturelle Entwicklung, zunächst in Europa und später überall auf der Welt. Wie es sich auch mit den imperialistischen Gegensätzen verhielt – der Krieg war auf jeden Fall auch ein Krieg der Völker gegen die schwärzeste Barbarei.
Fünfunddreißig Staaten waren zu Beginn des Jahres 1944 an der antinazistischen Weltkoalition beteiligt. Ihr Kriegsziel ist hinreichend klar. Sie kämpfen, um das nazistische Deutschland und dessen Verbündete zu besiegen. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung jener Länder, die zu den Vereinten Nationen45 gehören – und viele mit ihnen –, sind daran interessiert, den Krieg so schnell wie möglich zu gewinnen.
Aber wozu soll der Sieg dienen? Die Parole vom Krieg gegen den Hitlerismus, gegen das nazistische Deutschland und seine Verbündeten ist eine negative. Sie scheint nicht in die Zukunft zu weisen. Andererseits birgt die Formel, wonach der Zweite Weltkrieg einen Kampf auf Leben und Tod zwischen Diktatur und Demokratie darstelle, offenbar nur einen Teil der Wahrheit. Zwischen Roosevelt46 und den amerikanischen Bankkreisen sowie zwischen der Labour Party und den englischen Grubenbesitzern herrschen ziemlich unterschiedliche Auffassungen vom Gehalt jener Demokratie, für die man kämpft. Von der Sowjetunion kann man sagen, dass sie sich in einer Entwicklung zu einer Demokratie neuen Typs zu befinden scheint. Eine politische Demokratie in dem Sinne, den man dem Wort bisher gegeben hat, ist es jedoch nicht. In mehreren der besetzten Länder, deren Völker für ihre Freiheit kämpfen, gab es keine Demokratie zu verteidigen. In Indien haben die Kongressführer47 ihre eigene Auffassung von der Volksherrschaft. Und in China gibt es bisher nur wohlfeile Versprechungen von einer Demokratie, die kommen soll.
Dennoch ist der Kampf für die Demokratie heute auf eine ganz andere Weise lebendig als während des vorigen Weltkriegs. Der demokratische Erziehungsprozess hatte trotz allem in einer Reihe von Ländern Fortschritte gemacht. Die Bedrohung der grundlegenden Menschenrechte, die die eigentliche Lebensluft der Demokratie ausmachen, ist in diesem Krieg nun aber unübersehbar und mit Händen zu greifen. Für große Teile der Gesellschaften vieler Länder hat der Begriff Demokratie dabei auch einen neuen Klang erhalten. Sie kämpfen nicht für die Krisendemokratie, aus der der Nazismus und die Kriegsgefahr entsprangen. Stattdessen halten sie sich an das Versprechen, dass die Grundsätze der Volksherrschaft von der politischen auch auf die soziale und wirtschaftliche Sphäre übertragen werden müssen. Mag sein, dass es in allen Ländern Individuen und Gruppen gibt, die in erster Linie an ihre eigenen Privilegien denken. Für die Soldaten im Felde, zur See und in der Luft, für diejenigen, die in den Rüstungsbetrieben und Forschungszentren arbeiten, bedeutet der Kampf für Freiheit und Demokratie aber wesentlich mehr. Das wird schon die erste Zeit nach dem Krieg zeigen. Der Funke der demokratischen Hoffnung wird zur Flamme der demokratischen Volkserhebung werden.
Churchill,48 Stalin,49 Roosevelt und andere Führer der Vereinten Nationen haben immer wieder betont, dass ihr wichtigstes Ziel darin besteht, den Hitlerismus in Europa auszurotten. Diese Zielsetzung ist jedoch nicht über jede Diskussion erhaben. Der Völkerhass wird, als ein Ergebnis des Vorgehens des Nazismus, immer stärker und stärker, und dieser Völkerhass kann auf seine Weise dazu führen, dass die Debatte über die Friedensziele entgleist. Es lässt sich nicht übersehen, dass es vielerorts Kräfte gibt, die sehr zielbewusst daran arbeiten, von der, wie es heißt, rein negativen Zielsetzung wegzukommen. Sie sind aus vielerlei Gründen nicht daran interessiert, dass der Krieg gegen den Hitlerismus als ein antinazistischer Krieg endet. Soll der Kampf bis zu seiner logischen Konsequenz weitergeführt werden, sind »traditionelle« Lösungen unmöglich. Wer die Zeiger der Uhr zurückdrehen will, muss früher oder später notwendigerweise aus dem antinazistischen Kampf desertieren.
Der Krieg gegen den Hitlerismus stellt nämlich nicht nur die Frage in den Raum, was mit den jetzigen faschistischen Staaten geschehen muss, um neuerliche Angriffe von ihrer Seite zu verhindern. Er wirft auch die Frage nach den Gehilfen des Nazismus und Faschismus in verschiedenen Ländern, in allen Ländern, auf. Noch werden die Kräfte durch den Kampf gegen den gemeinsamen Feind zusammengehalten. Man kann jedoch keine Bilanz der Ströme von Blut und der Meere von Tränen dieser Jahre ziehen, ohne eine Antwort auf folgende Fragen zu verlangen: Wer half Hitler dabei, jene Kriegsmaschinerie aufzubauen, die viereinhalb Jahre lang in den europäischen Ländern in der Luft und auf den Meeren gewütet hat? Wer hatte die Macht dazu, unterließ es aber, den kriegerischen Nazismus zu zerschlagen, als es noch ein Kinderspiel gewesen wäre – im Vergleich zu dem, was dieser Krieg an Menschenleben und an materiellen und kulturellen Werten inzwischen gekostet hat? Wer verneigte sich nahezu zwanzig Jahre lang vor Mussolini50 und ließ ihn Abessinien51 überfallen? Wer lieferte Japan Rohstoffe für das Kriegsmaterial, das gegen China verwendet werden sollte, und später gegen andere, die den Anspruch der Faschisten Nippons auf eine uneingeschränkte Herrschaft in Asien nicht anerkennen wollten? Wer verkaufte das republikanische Spanien und war dabei, als die tschechoslowakische Republik in München verstümmelt wurde? – Die Frage ist nicht nur »wer«, sondern vor allem auch »warum«?
Kampf gegen den Hitlerismus bedeutet an erster Stelle, den nazistischen und faschistischen Mächten eine vernichtende Niederlage beizubringen. Er muss an zweiter Stelle jedoch in eine Abrechnung mit den gesellschaftlichen Kräften und einen Bruch der zwischenstaatlichen Beziehungen münden, die den Faschismus und den Nazismus hervorbrachten. Wer es mit dem Krieg gegen den Hitlerismus ernst meint, kann Inhalt und Ziel des Krieges nicht darauf beschränken, einen Kampf zu führen, in dem einige Staaten niedergeworfen werden und andere ihre Machtstellung konsolidieren. In der Hitze des Gefechts ist es natürlich, dass die Problemstellung vereinfacht wird. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass es in diesem Krieg sowohl vertikale als auch horizontale Frontlinien gibt. Wir befinden uns mitten in einer Zeit großer Umwälzungen im sozialen Leben der einzelnen Nationen und im Verhältnis der Staaten untereinander. Die Freiheit wird wiederum verloren gehen, wenn sie keine Sicherheit bringt. Der Frieden wird nicht gesichert sein, wenn es nicht gelingt, die wirtschaftliche und die nationale Spaltung zu überwinden.
Das Kriegsziel der Vereinten Nationen, den Hitlerismus auszurotten, muss kein negatives sein. Die scheinbar negative Zielsetzung bringt all die entscheidenden Fragen auf die Tagesordnung, die nach befriedigenden Antworten verlangen, wenn die Opfer des Krieges nicht vergeblich gewesen sein sollen.
Erklärungen von Regierungen kriegführender Mächte sind großenteils durch taktische Erwägungen bestimmt. Solche Erklärungen sind Bestandteil jeder Kriegsführung. Und diese Dimension der Kriegsführung spielt heutzutage eine größere Rolle als je zuvor. Kriege können nicht mehr über die Köpfe der Menschen hinweg geführt werden. Alle Regierungen wollen, dass ihr eigenes Volk glaubt – und am liebsten auch andere Völker glauben –, dass sie für die höchsten Ideale kämpfen. Sie laufen dabei Gefahr, dass die Ideale im Bewusstsein eines Volkes auch dann immer noch eine Rolle spielen, nachdem sie durch die »Realpolitik« der betreffenden Regierung möglicherweise beiseitegeschoben worden sind.
Die Frage, wie die allgemeinen Friedensziele formuliert werden sollten, hat in einzelnen Ländern bereits zu allerlei Schwierigkeiten geführt. Vielerorts hielt man sich bedeckt, und lange verweigerte sich insbesondere Churchill jener Diskussion, die die Aufmerksamkeit von den harten Anforderungen der eigentlichen Kriegsführung hätte ablenken können. Das war im Fall des großen Kriegsmanns ebenso nachvollziehbar wie die Tatsache, dass die Russen wenig Interesse an weitreichenden Zukunftsplänen hatten, solange ihnen das Messer an der Gurgel saß. Das Gerede, wonach die Kräfte nicht gespalten werden dürften, bevor der Sieg errungen sei, war indes auch oft Ausdruck der Unfähigkeit oder des fehlenden Willens, Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen.
Die Vereinten Nationen sind nicht aus freien Stücken entstanden. Sie sind durch einen gemeinsamen Feind zusammengeschweißt worden. Augenfällige Interessengegensätze gab es von Anfang an selbst bei jenen Staaten, die sich am nächsten stehen. Neue Probleme tauchten auf, als die Fronten ausgeweitet wurden, zuerst durch den deutschen Angriff auf die Sowjetunion und später durch den Überfall der Japaner auf Pearl Harbor. Es lag in der Natur der Allianz, dass man sich mit einer ziemlich allgemeinen Definition dessen begnügen musste, wofür man kämpfte.
Mitglieder der Vereinten Nationen sind diejenigen Staaten, deren Regierungen den Washington-Pakt vom 1. Januar 194252 unterzeichnet haben. Die Regierungen verpflichteten sich darin, sich nach Kräften dafür einzusetzen, den Krieg zu gewinnen. Mit Rücksicht darauf, dass zwischen der Sowjetunion und Japan kein Kriegszustand herrschte, beschränkte sich die militärische Gemeinschaft auf den Krieg gegen Hitlerdeutschland.53
Durch den Washington-Pakt bekannten sich die Vereinten Nationen auch zur Atlantik-Charta, wie sie beim Treffen zwischen Roosevelt und Churchill im August 1941 formuliert worden war. Die Atlantik-Charta bietet keine Universallösung der Weltprobleme. Sie ist eine kurzgefasste Grundsatzerklärung, die bald zum Gegenstand unterschiedlicher Auslegungen wurde. Trotzdem gab die gemeinsame Erklärung der Vereinten Nationen dem demokratischen Meinungsaustausch über die Friedensziele eine gewisse Grundlage. Festgehalten wurde, dass die Vereinten Nationen nicht nur gemeinsame Feinde haben, die besiegt und unschädlich gemacht werden sollten. Trotz unterschiedlicher Ausgangspunkte und stark divergierender Auffassungen auf vielen Gebieten konnten sich die Nationen auf einige positive Ziele einigen.
Die wichtigsten Punkte der Atlantik-Charta lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1) Die Vereinten Nationen verzichten auf territoriale oder andere Erweiterungen, und sie bekennen sich zum Selbstbestimmungsrecht der Nationen. 2) Die Angreiferstaaten sollen entwaffnet, ein internationales System der allgemeinen Sicherheit errichtet und Maßnahmen zur Rüstungsbegrenzung in allen Ländern ergriffen werden. 3) Allen Staaten soll gleichberechtigter Zugang zu Handel und Rohstoffen gewährt und eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit etabliert werden, um für wirtschaftlichen Aufschwung und soziale Sicherheit zu sorgen.
Bezüglich der beiden ersten Punkte wiederholt die Atlantik-Charta Grundsätze, die bereits festgelegt wurden, als man den vorigen Frieden vorbereitete.54 Neu ist das Gewicht, das man auf die Lösung wirtschaftlicher und sozialer Fragen als eines Teils der neuen internationalen Ordnung legt. Die vierzehn Punkte Wilsons55 nahmen keinerlei Bezug auf soziale Probleme. Keynes56 protestierte heftig dagegen, dass der Friedensvertrag von 1919 nicht den wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas berücksichtigte. In diesem Fall aber ist eine Friedenskonferenz undenkbar, die diese Dimension der »Neuordnung« außer Acht lässt.
Die Atlantik-Charta übernahm die Verpflichtungen zur Freiheit von Not und zur Freiheit von Furcht – zwei der insgesamt »vier Freiheiten«, die der amerikanische Präsident in seiner Botschaft an den Kongress im Januar 1941 formuliert hatte. Churchill gab diesen Versprechen eine eigene Note, indem er in einem Kommentar zur Atlantik-Charta konstatierte, dass die englischsprechenden Nationen sich an die Spitze der großen arbeitenden Massen in allen Kontinenten gestellt hätten, um sie vorwärts zu führen. Die Vereinten Nationen haben durch ihre gemeinsame Erklärung gegen eine »traditionelle« Lösung der Probleme des Friedens Stellung bezogen. Sie haben sich gemäß der Rooseveltschen Definition ausgesprochen für »Freiheit von Notzeiten, was im internationalen Sinne Wirtschaftsabkommen bedeutet, die jedem Staat die Möglichkeit sichern, seinen Bewohnern ein Leben in Frieden und Wohlstand – überall auf der Welt – zu schenken«, und »Freiheit von Furcht, was im internationalen Sinne eine weltweite Abrüstung, und zwar in solchem Maße auf eine solche Weise bedeutet, dass kein Staat mehr in der Lage ist, eine äußere Angriffshandlung gegen einen Nachbarn – überall auf der Welt – zu begehen.«57
Gleichwohl diente die Atlantik-Charta auch zur Begründung der Aufrechterhaltung wirtschaftlicher und zwischenstaatlicher Verhältnisse, welche die Freiheit einschränken oder sogar aufheben und sich vielfach als Hemmschuh der technischen Entwicklung erwiesen haben. Die Führer der antinazistischen Koalition haben sich indessen durch ihre gemeinsame Erklärung dazu bekannt, dass ökonomische Verhältnisse zu den wichtigsten Ursachen von Faschismus und Krieg gehören. Botschafter Winant verdeutlichte das in einer Rede vom Sommer 1942: »Der Antifaschismus ist kein kurzzeitiger militärischer Job. Der Faschismus wurde aus Armut und Arbeitslosigkeit geboren. Wir müssen uns feierlich dazu entschließen, in unserer Zukunftsordnung keine wirtschaftlichen Missstände zu dulden, die Armut und Krieg erzeugen.«58
Durch ihre gemeinsame Erklärung haben sich die Vereinten Nationen auch zu der Notwendigkeit bekannt, die Spaltung zu überwinden, um zu einer stabilen internationalen Zusammenarbeit zu gelangen. Die Entwicklung des deutschen Überfalls auf Polen zu einem weltumspannenden Krieg zeigt deutlicher als alles andere, dass Litwinow59 mit seiner Formulierung vom unteilbaren Frieden recht hatte. Die Entwicklung der Technik, der Transportmittel, des Handels und der Waffen gibt Willkie60 allen Anlass, von einer Welt zu sprechen. Der Frieden kann nur durch ein allgemeines System kollektiver Sicherheit aufrechterhalten werden.
Ein internationales Sicherheitssystem kann auf die Dauer nicht nur von den siegreichen Mächten getragen werden. So wie sich die Verhältnisse entwickelt haben, müssen diese Mächte jedoch den Anfang machen. Entscheidend ist die Zusammenarbeit zwischen den Großmächten innerhalb der Vereinten Nationen. In der internationalen Diskussion kam man immer wieder darauf zurück, dass eine Auflösung des Bündnisses zwischen der Sowjetunion und den angelsächsischen Mächten die ernste Gefahr eines neuen Krieges in der Welt bergen könne. Es wäre allzu naiv, in der Wiederaufrüstung der »Achsenmächte« die einzig mögliche zukünftige Bedrohung des Friedens zu sehen. Als Vizepräsident Wallace im Frühjahr 1943 offenherzig auf die Gefahr eines dritten Weltkriegs verwies, dachte er dabei vor allem an die Situation, die entstehen müsse, wenn es nicht gelinge, die Zusammenarbeit zwischen den Großmächten zu stabilisieren, die heute gegen einen gemeinsamen Feind kämpfen.61
Zwischen der englischen und der amerikanischen Regierung herrschte zu einem frühen Zeitpunkt Einigkeit darüber, die militärische und außenpolitische Zusammenarbeit nach Ende des Krieges aufrechtzuerhalten. Es gibt darüber aber nichts Schriftliches, und die Eventualität eines Regierungswechsels nach der Präsidentschaftswahl birgt gewisse Unsicherheitsmomente. England und die Sowjetunion schlossen im Mai 1942 einen auf zwanzig Jahre angelegten Vertrag über die Zusammenarbeit in allen europäischen Fragen nach dem Krieg. Einen entsprechenden Vertrag zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten gibt es nicht, aber führende Männer auf beiden Seiten haben zum wiederholten Male die Notwendigkeit einer fortgesetzten Zusammenarbeit zum Ausdruck gebracht.
Die Frage der zukünftigen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den Westmächten wurde im Frühjahr und Sommer 1943 aktuell. Die Russen klagten darüber, dass sie die Hauptlast des Kampfes gegen die nazistischen Armeen zu tragen hätten. Sie waren auch misstrauisch gegen alte Isolationisten in Amerika und frühere München-Leute62 in England, die nach ihrer Ansicht immer noch daran interessiert seien, dass Deutschland und die Sowjetunion sich gegenseitig vernichteten. Auf angelsächsischer Seite bedauerte man, dass die Russen keine klarere Auskunft über die Linie gaben, die sie bei der Reorganisation Europas nach dem Krieg zu verfolgen gedachten. Man kann auch nicht davon absehen, dass ein großer Teil des gegenseitigen Misstrauens, das bei dieser Gelegenheit und später sichtbar wurde, von der verschiedenartigen sozioökonomischen Struktur in der Sowjetunion und den angelsächsischen Ländern herrührt. Die führenden Männer in England und Amerika priesen die Regierungsform ihrer Länder. Am 26. Jahrestag der Revolution bezeichnete Stalin es als eine der Lehren des Krieges, dass die sowjetische Ordnung »sich nicht nur in den Jahren des friedlichen Aufbaus als die beste Organisationsform für den wirtschaftlichen und kulturellen Aufstieg des Landes erwiesen hatte, sondern auch als die beste Form für die Mobilisierung aller Kräfte des Volkes zur Abwehr des Feindes in Kriegszeiten«.63 Für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit in der Nachkriegszeit ist die beiderseitige Unsicherheit jedoch gefährlicher als die tatsächliche Ungleichheit.
Die Meinungsverschiedenheiten kamen in einer Reihe konkreter Fragen zum Ausdruck. Im Frühjahr 1943 kam es zum Bruch zwischen der Sowjetunion und der polnischen Regierung in London,64 und zu Beginn des Jahres 1944 stellte dieser Konflikt die Beziehungen zwischen den wichtigsten alliierten Nationen auf eine harte Probe. Auf dem Balkan unterstützten die Russen andere Kräfte als die – im Übrigen sehr wenig demokratischen – jugoslawischen und griechischen Exilregierungen. Die Sowjetunion ließ auch General de Gaulle65 und seinem französischen Nationalkomitee66 eine vorbehaltlosere Unterstützung zukommen als insbesondere das amerikanische Außenministerium. Die Westmächte waren überrascht, als im Sommer 1943 das Nationalkomitee Freies Deutschland in Moskau gegründet wurde.67 Man stimmte auch nicht völlig überein, als es um die Politik gegenüber Italien ging. Zugleich fasste man die Auflösung der Komintern68 als ernsthaften russischen Beitrag zum Ausbau der Zusammenarbeit mit den Demokratien auf. Sowohl auf englischer, russischer als auch auf amerikanischer Seite gab man zu erkennen, dass man volles Einvernehmen zu erreichen wünsche. Vom Standpunkt der je eigenen Interessen der Mächte aus ließ sich auch kein vernünftiges Argument dafür finden, weshalb die Allianz den Krieg nicht überleben können sollte.
Die Betonung darauf, welche Bedeutung der Zusammenarbeit und Verständigung zwischen den »Großen« für die zukünftige Gesamtentwicklung zukomme, nährte jedoch Befürchtungen bei den übrigen Mitgliedern der Vereinten Nationen. In teils recht scharfen Worten äußerten sie die Besorgnis, dass die Großmächte bald über alles würden bestimmen können, während die kleineren Länder völlig unbeteiligt blieben.
Man gewann den deutlichen Eindruck, dass, wenn es schon schwierig sei, einen Koalitionskrieg zu führen, es noch schwieriger sein müsse, einen Frieden mit einer Koalition ziemlich unterschiedlicher Staaten zu gestalten. Der Sieg der Vereinten Nationen ist eine Voraussetzung, aber bei weitem keine Garantie für einen vernünftigen, gerechten und dauerhaften Frieden.
Im nazistischen Lager war die Hoffnung auf einen Bruch zwischen den alliierten Mächten allmählich das einzige, an das man sich noch klammern konnte. Diese Hoffnung wurde nach der Konferenz zwischen Hull69, Molotow70 und Eden71 in Moskau im Oktober 1943 erheblich geschwächt.72 Die Moskauer Konferenz sorgte in mehreren wichtigen Fragen für Orientierung. Andere Fragen wurden durch Gespräche geklärt. Als Grundlage der politischen Entscheidungen einigte man sich auf die wichtigsten militärischen Maßnahmen zur Verkürzung des Krieges. Einigkeit wurde auch über die Forderung nach einer »bedingungslosen Kapitulation« erzielt, die Roosevelt und Churchill im Januar 1943 in Casablanca festgelegt hatten.73
Unter Zustimmung Chinas erklärten die Sprecher der drei Großmächte auf der Konferenz von Moskau, dass sie an einem schnellen und geordneten Übergang vom Krieg zum Frieden interessiert seien. Sie waren des Weiteren darüber einig, dass so bald wie möglich nach dem Krieg eine allgemeine internationale Organisation geschaffen werden sollte. Bis zur Wiederherstellung eines internationalen Rechts und einer internationalen Ordnung wollten die alliierten Großmächte im Einvernehmen mit den übrigen Mitgliedern der Vereinten Nationen alle Schritte unternehmen, die aus Rücksicht auf die zwischenstaatliche Zusammenarbeit notwendig sind. Damit übernahmen sie die Aufgabe, den »luftleeren Raum« zwischen einem Waffenstillstand und der Bildung einer neuen internationalen Organisation zu füllen.
Der vielversprechendste Beschluss bestand in der Schaffung eines englisch-russisch-amerikanischen Rates für europäische Fragen74 mit Sitz in London. Dies bedeutete eine Koordination nicht nur der militärischen, sondern auch der politischen Strategie, wenngleich sich schon bald zeigen sollte, dass das Vorhaben, jenen Europaausschuss zu einer arbeitenden Organisation zu machen, mit beträchtlichen Schwierigkeiten verbunden war. Voraussetzung war, dass der Rat in Fragen von besonderer Bedeutung für ein bestimmtes Land eine enge Zusammenarbeit mit anderen Regierungen der Vereinten Nationen anstreben sollte. Frankreich wurde Mitglied der Kommission für italienische Angelegenheiten, erhielt aber keine Mitgliedschaft im Europäischen Rat. In der Mittelmeerkommission reservierte man auch Plätze für jugoslawische und griechische Vertreter.
Im zentralen politischen Beschluss der Moskauer Konferenz verwies man auf die gemeinsame Erklärung vom 1. Januar 1943 – jedoch nur bezüglich der Kriegsführung. Nach der Konferenz wurde daher von einigen Seiten behauptet oder die Befürchtung geäußert, dass die Großmächte die Atlantik-Charta verworfen hätten. Dass diese Schlussfolgerung übereilt war, zeigte sich bei der Konferenz von Teheran. In einem Kommuniqué vom 1. Dezember 1943 erklärten Roosevelt, Stalin und Churchill, dass ihre Regierungen weiterhin an den Grundsätzen der Atlantik-Charta festhielten. Im Übrigen zeigten auch die Beschlüsse der Moskauer Konferenz, dass man keinen neuen Weg einzuschlagen gedachte. Der Grundsatz der Gleichberechtigung der Staaten wurde wiederholt, und die Forderungen nach Wiederherstellung der Selbstständigkeit der besetzten Länder und nach Rüstungsbegrenzung wurden erneut bestätigt. Bezüglich der Errichtung eines Systems der allgemeinen Sicherheit war der Inhalt derselbe wie vorher. In gewissen Fragen, wie jenen nach der Politik gegenüber Italien, der Wiederherstellung eines selbstständigen Österreich und der Bestrafung der Kriegsverbrecher, gelangte man zu einer Konkretisierung.
Die Moskauer Konferenz schuf in noch einem weiteren wichtigen Punkt Klarheit. Unter der Voraussetzung, dass kein bedeutender Kurswechsel in der amerikanischen Außenpolitik eintreten würde, sollte Amerika laut der Beschlüsse der Konferenz in verantwortlicher Position an der Reorganisation der Verhältnisse in Europa mitwirken. Ferner wurde der Gedanke einer Aufteilung Europas in Einflusssphären der Großmächte abgelehnt. In seinem Kommentar zu den Beschlüssen der Moskauer Konferenz war Hull so optimistisch zu glauben, dass die Welt von Einflusssphären, Gleichgewichtsbündnissen oder anderen Abkommen, die die Staaten früher zum Schutz ihrer Sicherheit und ihrer jeweiligen Interessen genutzt hatten, befreit worden sei.
Stalin fasste am 6. November 1943 in einer Rede die Auffassung der Sowjetregierung von der Organisation des staatlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens der europäischen Völker zusammen. Die Rede besagte, dass die Sowjetunion zusammen mit ihren Verbündeten den Völkern Europas beim Wiederaufbau ihrer Staaten helfen und ihnen das volle Recht und die Freiheit geben werde, ihre Staatsform selbst zu wählen. Die Sowjetunion werde sich daran beteiligen, »eine dauerhafte wirtschaftliche, politische und kulturelle Zusammenarbeit der Völker Europas her[zu]stellen, gegründet auf gegenseitiges Vertrauen und gegenseitige Hilfe, um die von den Deutschen zerstörte Wirtschaft und Kultur wiederaufzubauen«.75
Eden versicherte, dass von den Großmächten keine Gefahr für die Bevölkerung in den Diktaturen ausgehe. Dieser Punkt wurde auch in den Beschluss der Konferenz von Teheran aufgenommen. Dort hieß es, dass die vertretenen Mächte »mit allen Ländern, großen und kleinen, deren Völker so wie unsere eigenen aus ganzem Herzen dafür zu arbeiten wünschen, die Tyrannei und die Sklaverei, Unterdrückung und Intoleranz auszurotten, Zusammenarbeit anstreben und von ihnen Hilfe erwarten werden«.76
Nach den Konferenzen von Moskau und Teheran konnte man davon ausgehen, dass die Zusammenarbeit zwischen den »Großen« – in jedem Fall für die erste Nachkriegszeit – gesichert war. Es herrschte jedoch nicht in allen Fragen völlige Einigkeit. Schon bald zeigte sich, dass es immer noch viele Punkte gab, in denen sich unterschiedliche Auffassungen und Interessen gegenüberstanden. Reibereien unterschiedlichen Ausmaßes werden ziemlich sicher die Arbeit am Aufbau einer neuen Friedensordnung prägen. Wesentlich aber ist, dass sich die Regierungen offenbar darüber im Klaren sind, dass ihre eigenen Interessen und die Rücksicht auf den Wiederaufbau in der Welt nicht zur Vertiefung von Gegensätzen führen dürfen, sondern dass sie verhindern müssen, dass die Probleme, die möglicherweise Zwietracht unter den Siegermächten hervorrufen könnten, unangemessene Ausmaße annehmen.
Unsere Arbeitshypothese ist, dass die Zusammenarbeit innerhalb der Vereinten Nationen den Krieg überleben wird und dass eine solche Zusammenarbeit es ermöglicht, die Lösung jener Aufgaben in Angriff zu nehmen, die in der Atlantik-Charta skizziert worden sind.