Nach der Sonne - Jonas Eika - E-Book

Nach der Sonne E-Book

Jonas Eika

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Beschreibung

„Wir sind genau jetzt gezwungen, unsere Einstellung zur Welt zu verändern.“ (Jonas Eika) Mit seinem Debüt hat er eines jener Bücher geschrieben, die die Literatur an einen neuen Ort führen.

Ein IT-Berater stellt fest, dass die Bank, für die er arbeitet, mitten in Kopenhagen in einem Krater versunken ist. Ein Ehepaar lässt sich in der Wüste Nevadas nieder, wo die Menschen auf das Erscheinen von Außerirdischen warten. Eine Obdachlose findet in den grauen Trümmern Londons ein Zuhause und verliert es wieder. Und unter dem knallblauen Himmel Cancuns tragen scheinbar gefügige Beach Boys den reichen Urlaubern die Sonnenschirme hinterher. Fünf sinnliche, geheimnisvolle Erzählungen über dunkles Begehren und kapitalistische Ausbeutung, über Liebe, Hoffnung und Solidarität in einer unsicheren, technologisch flirrenden Welt, in der Körper, Himmel und Licht die einzigen Konstanten sind. Jonas Eika hat eines jener Bücher geschrieben, die die Literatur an einen neuen Ort führen.

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Über das Buch

»Wir sind genau jetzt gezwungen, unsere Einstellung zur Welt zu verändern.« (Jonas Eika) Mit seinem Debüt hat er eines jener Bücher geschrieben, die die Literatur an einen neuen Ort führen.Ein IT-Berater stellt fest, dass die Bank, für die er arbeitet, mitten in Kopenhagen in einem Krater versunken ist. Ein Ehepaar lässt sich in der Wüste Nevadas nieder, wo die Menschen auf das Erscheinen von Außerirdischen warten. Eine Obdachlose findet in den grauen Trümmern Londons ein Zuhause und verliert es wieder. Und unter dem knallblauen Himmel Cancuns tragen scheinbar gefügige Beach Boys den reichen Urlaubern die Sonnenschirme hinterher. Fünf sinnliche, geheimnisvolle Erzählungen über dunkles Begehren und kapitalistische Ausbeutung, über Liebe, Hoffnung und Solidarität in einer unsicheren, technologisch flirrenden Welt, in der Körper, Himmel und Licht die einzigen Konstanten sind. Jonas Eika hat eines jener Bücher geschrieben, die die Literatur an einen neuen Ort führen.

Jonas Eika

Nach der Sonne

Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein

Hanser Berlin

Alvin

Ich erreichte Kopenhagen verschwitzt und halbwegs neben mir stehend nach einem äußerst fiktiven Flug. Strenggenommen würde ich jede Flugreise fiktiv nennen, aber diesmal war ich obendrein kurz nach dem Start in einen fiebrigen Dämmerschlaf versunken, in dem ich eine Reihe von Flügen, die ich früher unternommen hatte, noch einmal durchlebte. Zunächst die Heimreise von Nepal mit meiner Exfrau, damals noch Freundin, nach unserem ersten gemeinsamen Urlaub, als wir in unseren Sitzen lümmelten und — wahrscheinlich aus Langeweile — pantomimisch verschiedene sexuelle Szenarien darstellten, die der andere erraten und auf ein Blatt Papier schreiben musste, welches wir anschließend auseinanderschnitten und zu immer neuen Szenarien zusammensetzten, die abermals gemimt werden mussten, und so ging das Spiel ewig weiter. Dann meine Abreise aus Kopenhagen sechs Jahre darauf, nachdem sie in derselben Zeit schwanger geworden war, in der sie mich mit einem Kollegen betrogen hatte, und ich aus lauter Sorge und Panik über meine Eifersucht — mit der zu leben mir ebenso unmöglich schien, wenn das Kind von mir wäre, wie, wenn nicht — meine Sachen packte, zum Flughafen fuhr und zum Mann hinter dem Schalter »Malaga« sagte. Aus irgendeinem Grund hatte ich Malaga gesagt. Außerdem durchlebte ich ein zweites Mal den Rückflug von einer Geschäftsreise weitere Jahre später, als ich weder arbeiten noch ein Wort über die Lippen hatte bringen können, weil ich völlig gelähmt davon gewesen war, was ich beim Start von meinem Fenster aus beobachtet hatte: An die Gates grenzte eine Besucherterrasse, wo Kinder jeden Alters mit ihren Eltern zusahen, wie die Flugzeuge abhoben. In der einen Ecke stand eine Frau mit dem Rücken zum Geländer, langes, dunkles Haar in der Frostsonne, und blickte zu dem Mann, der quer über die Terrasse auf sie zurannte, und während wir an ihnen vorbeiflogen, sackte er plötzlich wie von einer Kugel getroffen zu Boden. Ich hatte den Schuss nicht hören können, falls überhaupt einer abgefeuert worden war, und die Maschine stieg weiter in die Wolken auf, mit mir, der die restliche Flugzeit über erstarrt auf seinem Platz saß und zweifelte, was er überhaupt gesehen hatte. Das Unbehagliche, Fiebrige an jenem Dämmerzustand, in dem ich all diese Reisen noch einmal erlebte, bestand darin, dass er wie ein Tiefdruckgebiet direkt unter der Oberfläche des eigentlichen Schlafs dahinschwebte, in einer Zone, in der ich auch die eigentliche Flugreise, auf der ich mich gerade befand, flüchtig wahrnahm, sie lag irgendwo darunter oder dahinter verborgen, die Kabine, der Serviertrolley, meine Mitreisenden, die Wolken vor den Fenstern; all das schwelte unter den vorherigen, von mir erinnerten und auch deshalb äußerst fiktiven Flugreisen. Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter, schlug die Augen auf und erblickte einen Stewart mit nur einem Gesicht. Alle anderen Passagiere hatten das Flugzeug verlassen, die Kabine war still und leer wie in einem Traum. Während ich hinausging, betrachtete ich die Fenster und den Fußboden, die Gepäckfächer und die Notausgangsschilder, ich berührte die dicken Nähte im Leder der Sitze. An der Passkontrolle gelangte ich zügig durch den Schalter für EU-Bürger. Ich nahm die Metro zum Kongens Nytorv und eilte von dort zum Hauptsitz der Bank, um pünktlich zu meiner für denselben Nachmittag angesetzten ersten Besprechung mit der Systemadministratorin zu kommen. Schon als ich um die Ecke bog, nahm ich einen modrigen, verbrannten Geruch wahr, eine Mischung aus Pflanzen und Feuer, und nachdem ich das rotweiße Absperrband entdeckt hatte, beschleunigte ich meine Schritte. Das Gebäude war eingestürzt, lag überall verstreut in meterhohen Brocken aus Marmor, Stahl, hellem Holz, Büromöbeln und anderen Materialien, die ich nicht zuordnen konnte. Unter den äußeren Trümmern erahnte ich den Rand eines Kraters, an dem die Erde steil in sich einsank, so wie die Lippen alter Menschen mitunter im Gesicht einsinken. Zwischen den Dielenbrettern ragten drei oder vier Server hervor, beinahe lustig, dachte ich — hatte man doch gerade zum Schutz vor den steigenden Wasserpegeln die Böden angehoben. Der Mann vom Wachdienst erzählte mir, die Ursache für das Unglück sei unbekannt, aufgrund eines Stromausfalls und einer Erschütterung, die fast die ganze Straße geweckt hätte, vermute man jedoch, dass irgendeine Explosion in der Versorgungsleitung jenen Krater gerissen habe, in dem das Gebäude nun versackt war. Es sei nachts geschehen, keine Opfer. Während er sprach, flackerte sein Blick, als würde er irgendetwas in meinem Rücken beobachten. Hinter seinem Kopf hing ein Schwarm Insekten und färbte den Himmel über den Trümmern schwarz. Ich versuchte meine Kontaktperson in der Bank zu erreichen, wurde aber sofort mit der Mailbox verbunden, worauf ich das erstbeste Café betrat und mich an den länglichen Tisch im Fenster setzte. Als ich gerade mein Chili con Carne aß, ging die Tür auf, und meine linke Gesichtshälfte wurde von einem kalten Windhauch gestreift. Ein Mensch kam zu mir und setzte sich neben mich, ich blickte von meinem Chili auf und zu seinem Spiegelbild in der Scheibe: ein junger Mann Mitte zwanzig, kurzes, dunkles Haar, Seitenscheitel, Geheimratsecken, eine schlichte, randlose runde Brille. Ich konnte durch ihn hindurch auf die Straße sehen, seine Haut war auf eine sehr luftige Weise blass. »Hey du!«, grüßte er und bestellte das Gleiche wie ich. Mein Kaffeebecher war so groß, dass ich ihn mit beiden Händen greifen musste. Ein Dunst von Bistro-Burgern erfüllte den Raum, als die Küchentür aufging, und wurde in meinem Nacken zu Schweiß. »Wo bist du her?«, fragte der Jüngling plötzlich. »Äh, von hier«, antwortete ich und blickte an mir selbst herab, »aber ich habe ein paar Jahre im Ausland gelebt … Woran erkennt man das?« »Deine Klamotten, dein Koffer, deine Brille«, sagte er. »Alles eigentlich, deine gesamte Erscheinung. Du bist nicht von hier.« »Ich glaube, ich habe dich schon mal gesehen«, erwiderte ich und bereute es sofort, versuchte zu erklären, dass ich nicht ihn gemeint hatte, sondern sein Spiegelbild in der Scheibe, die Art und Weise, wie ich ihn sah und durch ihn hindurchsah. Er roch nach Eukalyptus und irgendeiner anderen Pflanze. Eine Gruppe von Gästen verließ das Café, dann war es leer, so leer wie das Flugzeug, als mich der Steward geweckt hatte, nur dass hier inzwischen auch der Kellner verschwunden war und in der Küche ebenfalls Stille herrschte. »Ich geh eine rauchen«, sagte der Jüngling und stand auf. »Darf ich eine schnorren?«, fragte ich, obwohl ich nie geraucht hatte. Er nahm seine Jacke vom Haken und sagte »In Ordnung«, und mir wurde klar, dass es ihn nur hinauszog, weil es hier so verdammt still war und er sicher lieber allein gewesen wäre. »Ein bisschen Rauch tut gut bei der Kälte«, sagte ich. Er nickte und sah mich an, sein Gesicht leuchtete bläulich weiß in der Frostsonne. Ich betrachtete unsere Beine in der Scheibe und zog mein Handy hervor, um nach einem Hotel zu suchen. Eigentlich hätte ich in der Gästewohnung der Bank unterkommen sollen, das heißt in einem der Räume, die jetzt zwischen anderen Räumen versprengt lagen. »Wo wirst du heute Nacht schlafen?«, fragte er. »Ähm …« Ich wollte schon »bei einem Freund« sagen, aber das konnte peinlich werden, wenn er mich nach der Adresse fragte, und Hotels wollte mein Kopf auch gerade nicht hergeben. »Weiß noch nicht.« »Du kannst bei mir übernachten, es ist alles ausgebucht wegen dieses Gipfeltreffens.« Neutraler Blick, seine blanken Augen in der kalten Luft erinnerten an Schraubenmuttern. Ich sah auf mein Telefon. »Du brauchst nicht nachgucken, es stimmt.« Er wohnte in einem Dachzimmer in einer Seitenstraße der Bredgade. Ein Raum ohne Stuck und Leisten, nur scharfe Übergänge zwischen den Flächen, genau wie in seinem Gesicht, wenn die Beleuchtung gedämpft war. Das Licht strahlte aus einer Stehlampe, die nach oben zeigte, sodass die Decke von einer Sonnenscheibe ausgefüllt war; mit zwei Augen von den Glühdrähten in der Mitte. Es gab eine Duschkabine, ein Waschbecken aus Stahl, einen Kühlschrank und zwei mobile Kochplatten, ein Doppelbett, zwei Stühle und eine Schreibtischplatte auf Böcken. Das schmale Fenster war ringsherum mit einer Masse abgedichtet, die einen helleren Ton hatte als das gelbliche Weiß der Wände. Beide Enden des Zimmers waren frei von Möbeln, eine Wand jedoch von einem farbenprächtigen Flickenteppich aus Verpackungen bedeckt: Süßigkeiten- und Chipstüten, Frühstücksflockenkartons, Papier und Plastik von Lollis, Kaugummis, Snackwürstchen und Erfrischungsgetränken, allesamt Marken, die ich noch nicht gesehen hatte, als stammten sie aus einer Parallelwelt, in der jedes Produkt ein bisschen anders war als seine Entsprechung bei uns, sodass man es beispielsweise als Schokoriegel wiedererkennen konnte, aber gleichzeitig spürte, dass dieses Wort nicht ausreichte für etwas, das man so eindeutig zum ersten Mal sah. Und sie strahlte, die Wand, in Farben, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte. »Souvenirs«, erklärte Alvin, denn so hieß er, und hängte seine Jacke über einen Stuhl. Ich tat es ihm gleich. »Schön warm hier«, bemerkte er, zog seine Strümpfe aus und legte sie auf die Heizung; schwerer, süßlicher Geruch von Winterfüßen. Als ich zur hinteren Wand aufsah, erblickte ich eine kleine, metallische Flasche mit einem Trinkaufsatz aus weichem Plastik. Sie war mit einem unsichtbaren Faden an dem Stoff festgenäht, der die vielen Verpackungen in einem bunten Gestrüpp festhielt. Der matte und unpersönliche Gegenstand — in neutralem Blau gehalten mit einer weißen, wellenförmigen Linie —, dessen einziger Zweck es war, einen Softdrink namens POCARI SWEAT zu enthalten und dann geleert zu werden, schimmerte plötzlich mit einem ungeheuer aufreizenden Glanz vor meinen Augen. Ich musste blinzeln und fühlte mich erschöpft wie nach einer Krankheit. »Ich glaube, ich hau mich kurz aufs Ohr, wenn das für dich in Ordnung ist?« »Fühl dich wie zu Hause«, antwortete Alvin. Ich erwachte aus einem Albtraum, in dem mich eine schwebende Hand geohrfeigt hatte, während der restliche Körper vom Ellbogen abwärts in weißem Nebel oder Rauch verschwunden war, und hörte Alvin duschen. Der Vorhang klebte an seinen Beinen, die dünn und zerbrechlich aussahen, hähnchenhafte Stöcker. Hoffentlich rechnet er nicht mit einer Gegenleistung, dachte ich, ehe mir aufging, dass er sich einfach nur benahm wie sonst auch, wenn ich nicht da war. Das wirkte beruhigend, wie eine beiläufige Selbstentblößung, mit der er sagen wollte: »Ich habe keine Angst vor dir«; und deshalb brauchte ich auch keine Angst vor ihm zu haben. Es duftete nach Eukalyptus. Alvin war leise, nur am Geräusch des Wassers zu hören, das seinen Körper traf, ehe es zu Boden spritzte. Aus Höflichkeit drehte ich mich weg, als er aus dem Bad kam, stellte mich schlafend und wartete noch weitere zehn Minuten, ehe ich gähnte und sagte: »Herrlich, so ein Nickerchen.« »Geh doch duschen. Wenn du Lust hast«, schlug er vor, und ich tat es. Anschließend, Alvin saß mit dem Rücken zu mir rauchend am Schreibtisch, zog ich mich an und wollte hinausgehen, doch dann fiel mir auf, dass es schon drei Uhr nachts war. Noch immer kein Anruf von der Bank. Alvin bot mir eine Kippe an. Ich setzte mich auf den Stuhl neben seinen und rauchte. Was auf dem Bildschirm ablief, erinnerte mich stark an die interne Applikation, bei deren Einführung ich die Bank eigentlich unterstützen sollte. Wenn ein so großes Unternehmen diese Art von Software erwarb, kaufte es zwangsläufig auch die Implementierung dazu, was bedeutete, dass ich insgesamt vier Mal von Malaga nach Kopenhagen reisen musste; dies war das vierte Mal. Im Grunde mochte ich diese Geschäftsreisen, obwohl sie mit einem Gefühl von Zufälligkeit einhergingen, dem Gefühl, die Gebäude und Menschen und Fahrzeuge um mich herum könnten genauso gut andere sein. Genau wie es bloßer Zufall war, dass es mich nach Malaga verschlagen hatte, wo es eine Softwarefirma gab, deren Programme von den meisten skandinavischen Finanzunternehmen für wahnsinnig kompatibel mit ihrer internen Struktur befunden wurden, weshalb ich, der Dänisch sprach und sich auch auf Schwedisch und Norwegisch verständigen konnte, ohne besondere fachliche Qualifikationen eine Stelle als Implementierungsberater erhalten hatte. Die Willkürlichkeit all jener Voraussetzungen, die mich nach Kopenhagen oder Bergen oder Uppsala führten, schien meine Wahrnehmung dieser Städte in einer Weise zu beeinflussen, als wäre ich gar nicht da. Mitunter wirkte mein ganzes Berufsleben wie ein einziger großer Zufall oder eine Gesetzmäßigkeit in einem Netz aus Verbindungen, die nicht meine eigenen waren, sondern die des Marktes, des Marktes für Internal Banking Operation Systems. Alvin klickte zwischen Reitern mit verschiedenen Summen hin und her, einige davon waren recht ansehnlich, andere geradezu schwindelerregend, dahinter standen Identifikationsnummern, die auf wieder andere Nummern verwiesen, und der Bildschirm verlieh seiner Stirn einen silbrigen Glanz. »Aktien?«, sagte ich, »lebst du davon? Ich installiere Softwaresysteme für Investmentfonds, aber ich habe selbst nie genug durchgeblickt, um …« »Derivate«, korrigierte Alvin. »Ich rate nicht, was die Zukunft bringt, ich handle mit ihr.« »Anleihen?«, fragte ich. »Oje, wir müssen wohl beim Landwirt anfangen«, antwortete er seufzend und erzählte mir von Derivaten, jenen Mechanismen, die ich heute längst als eine Bedingung der Märkte akzeptiert habe; damals aber sprengten sie fast mein Gehirn und ließen mir das Blut aus der Nase schießen. Der Landwirt, der mit einem Käufer vereinbarte, diesem zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft und zu einem im Voraus festgelegten Preis seine nächste Ernte abzutreten, war das klassische Beispiel für jemanden, der mit Derivaten handelte. Auf diese Weise sicherte er sich wirtschaftlich gegen Preisschwankungen und unsichere Wetterverhältnisse ab. Umgekehrt konnte der Käufer Gewinne machen, falls sich herausstellte, dass der Ertrag mehr wert war als der vereinbarte Preis. Vor 1970 war der Handel mit Derivaten weitgehend verboten gewesen, man hatte ihn als Glücksspiel eingestuft, doch jetzt, in dem Jahr, als ich Alvin traf, überstieg der Anteil des derivativen Kapitals bei weitem jenes, das aus der Produktion und dem Verkauf von Waren und Dienstleistungen sowie Aktien stammte. Denn die Derivate repräsentierten nicht mehr nur den künftigen Wert eines Sacks Reis oder einer Tonne Mehl, sondern alles Mögliche: Rohstoffpreise, Unterschiede von Zins- und Devisenkursen, die Kreditwürdigkeit ganzer Konzerne oder Nationen, selbstverständlich alles in der Zukunft. Und sie wurden verlinkt und ineinander verschachtelt und in großen Bündeln weiterverkauft, »Zukunft auf Zukunft«, sagte Alvin und hielt mir die Küchenrolle vor die blutende Nase. »Vergiss die Kräfte des freien Marktes, mein Freund. Die Warenpreise beziehen sich nicht mehr auf irgendeinen Wert in der Vergangenheit oder Gegenwart, sie sind vor allem ein Gespenst der Zukunft.« Gegen Morgen, als das Fenster beschlagen war und Alvin mit seinem Computer auf dem Bauch schlummerte, wusste ich, dass seine Worte wahr waren. Nach einer halben Stunde hatten wir die Plätze getauscht, und ich durfte klicken, während er mir sagte, worauf. Ich weiß nicht, ob es am Widerstand der Maus lag, ihrer glatten, ein wenig fettigen Oberfläche, oder an den Summen, die transferiert wurden, verschwanden und wieder auftauchten, untrennbar von ihren ID-Nummern, im Takt meiner Klicks, oder daran, dass wir zusammen dort saßen und es eigentlich ziemlich gemütlich hatten; Alvin wärmte eine Currysuppe auf und holte neue Zigaretten, und einmal lachten wir, weil ich versehentlich das Recht erworben hatte, in ein paar Monaten eine Produktion von mehreren Millionen Hühnern in Jerusalem zu kaufen — jedenfalls fühlte ich mich im Derivategeschäft wie zu Hause, als hätte es nur auf mich gewartet und ich auf es. Wir nahmen den Laptop mit ins Bett und betrieben auf Alvins Bauch weiter Handel. Er erzählte mir — mit dieser neutralen Stimme, mit der er auch alles andere aussprach, den Blick auf den Bildschirm gerichtet —, dass er Waise war, aber eine große Summe geerbt hatte, die er durch Aktienhandel so hatte vermehren können, dass er eines Tages in jenen Derivatehandel einsteigen konnte, bei dem man den betreffenden Gegenstand am Ende nie aktiv erwarb, sondern vor dem Transaktionsdatum die Vereinbarung weiterverkaufte. Dann murmelte er etwas von einem Vormund und davon, »ohne Bindungen zu handeln«, ehe er einschlief.

Ich lag neben ihm im blassen Tageslicht, so freudig und angespannt wie damals, als meine Mutter mit meinem kleinen Bruder in Elternzeit war und ich auf ihn aufpassen durfte, wenn sie morgens duschte. Während ich auf die Ellenbogen gestützt lag, das Gesicht nur ein paar Zentimeter von seinem entfernt, hielt ich die Luft an, um zu hören, wie er sie einatmete, ständig besorgt, er könnte damit aufhören, wenn ich für einen Moment nicht aufpasste, und jedes Mal glücklich, wenn er es wieder tat. Vorher hatte ich all seine Teddybären Pfote an Pfote im Kreis um uns herum aufgebaut, damit sie bereitstanden, wenn er erwachte. Jetzt konnte ich nicht schlafen, aber das machte nichts, ich hatte auch nichts dagegen, einfach nur dazuliegen und die Zuckungen in Alvins Gesicht zu beobachten, die Konturen eines Traums, die unter seinen Augenlidern zitterten. Seine dünne Haut bedeckte die Augäpfel auf eine Weise, die sie zugleich entblößte, und ich dachte, dass wir immer in dem fernen Bewusstsein schliefen, jemand könnte uns betrachten. Irgendwann drehte er sich um und schwang dabei unwillkürlich sein Bein über meinen Schritt, und ich bekam eine vollkommen überraschende Erektion. Ich schwöre, dass ich weder sexuell erregt war noch irgendwelche derartigen Phantasien mit Alvin gehabt hatte — er war lediglich auf eine kalte, statuenhafte Art gutaussehend —, mein Penis hob sich aus einem reinen Reflex heraus, unabhängig davon, was hinter der Berührung steckte oder mit ihr assoziiert werden konnte. Erst am Nachmittag wurden wir wieder wach und gingen hinaus, um etwas zu essen. Unterwegs rauchten wir eine Zigarette, und meine belegte Kehle begrüßte mich wie ein alter Freund. Die Autos stauten sich auf der Store Kongensgade und stießen ruhige, weiße Abgase aus. Die Fahrradfahrer froren im Gesicht. Es waren die üblichen Baustellen; Alvin wurde für einige Sekunden vom Staub der sandigen Gruben verhüllt. Im Bistro bestellte er fünf Mal das Sekretärsbrunch mit einem Glas Orangensaft und ließ es gleichzeitig servieren. Zehn Minuten lang betrachtete er einen Teller nach dem anderen, als würde er versuchen, jede Facette des Aufschnitts, des Joghurts und der Eier zu erfassen. In seinem Blick lag eine Aufmerksamkeit, die allmählich in Skepsis, ja fast schon Gekränktheit umschlug. Alle zwei Minuten schob er entschieden ein Brunch zur Seite, bis er schließlich nur noch eines vor sich hatte, das er aß, ohne die anderen weiter zu beachten. »Daran kannst du dich gleich gewöhnen«, sagte er und erklärte, dies sei die einzige Möglichkeit, wie er satt werde. Dabei gehe es nicht so sehr darum, eine Auswahl zu treffen, auch nicht darum, etwas auszusortieren, am Überfluss sei er nicht interessiert. Aber den Gedanken, dass es Hunderte Brunchteller wie diesen gebe, könne er nicht ertragen, deshalb bestelle er immer fünf; fünf Exemplare von allem. So könne er sich wenigstens einbilden, er würde das Angebot einschränken, um sich schließlich gegen die vier unwirklichsten zu entscheiden und »das eigentliche Brunch von seinen Kopien zu trennen«, wie er sagte. Ich fand das lächerlich. Alvin holte sein Handy hervor und zeigte mir Aufnahmen von sich hinter verschiedenen Fastfood-Menüs auf glänzenden Plastiktischen. Er war kränklich blass, wie es Menschen auf Fotos aus den Achtzigern oft sind. »Das bin ich im KFC, als die gerade in Dänemark eröffnet hatten … ich im ersten Burger King, hast du gehört, dass sie McDonald’s vorgeschlagen haben, den Whopper mit dem BigMac zu fusionieren, im Namen des Weltfriedens … Hier sitze ich im Subway … Domino’s … in der Bagel Company, als 94 die erste Filiale in der Gothersgade aufmachte. Ich schwöre, als ich diese Sachen zum ersten Mal probiert habe, waren sie, wie soll ich sagen, einzigartig. Als würde ich das und nur das schmecken und nichts anderes. Beim ersten Mal mache ich auch immer Fotos.« Die Bilder waren unverkennbar von einer anderen Person aufgenommen worden. Ich wurde seltsam traurig bei der Vorstellung, wie Alvin zum Tresen ging und darum bat, fotografiert zu werden, und wie der Mitarbeiter, weil zu dieser Zeit keine anderen Kunden im Laden waren, höflich mit ihm zum Tisch ging und ihm seinen Wunsch erfüllte. Alvin sah auf allen Bildern so allein und glücklich aus. Als wir bezahlen wollten, funktionierte meine Karte nicht mehr, obwohl ich sie sonst auch immer benutzte, wenn ich auf Geschäftsreise in Dänemark war oder meinen kleinen Bruder besuchte. Ich musste oft an meine Exfrau denken, die noch immer hier wohnte. Wie es sein würde, sie wiederzutreffen, jetzt, da die Eifersucht, die meine Sehnsucht nach ihr in den ersten Monaten in Malaga vollkommen blockiert hatte, verflogen war. Das war das Schlimmste an ihrer Untreue: Wie der Zorn und die Ohnmacht und all die anderen niederen Gefühle jede Erinnerung an sie in einer Wolke aus pornographischen Bildern aufgelöst hatten, und als die Bilder endlich weiterzogen, war es, als wäre sie tot. Während Alvin die Rechnung übernahm, rannte ich zu unserem Tisch zurück und schlang das Ei und ein bisschen Pastrami von einem seiner ausrangierten Teller in mich hinein. Als wir wieder in seiner Wohnung waren, fragte er, ob ich nicht ein bisschen Geld für meine Ausgaben haben wolle, da mein Kreditkartenkonto doch anscheinend im Erdboden versunken war. Ich lehnte dankend ab, es sei schon großzügig genug, dass ich bei ihm übernachten dürfe. »Das ist kein Almosen«, sagte er. »Ich glaube, wir können einander helfen. Ich hatte vor, mich heute Nacht ein bisschen mit Silber zu beschäftigen.« Zwei Stunden später hatte ich für die monströse Summe, die er mir auf mein spanisches Konto überwiesen hatte, Silber erstanden. Daraufhin schloss er einen Vertrag darüber ab, später eine so große Menge an Silber zu kaufen, dass der Preis meines Silbers im Laufe der nächsten vierundzwanzig Stunden um mehr als 30 Prozent stieg. Das animierte viele andere Anleger dazu, in Silber zu investieren, was wiederum den Wert von Alvins Derivat steigerte, und als er es zwei Tage später weiterverkaufte, hatten wir beide einen Monatslohn verdient oder jedenfalls das, was meinem Monatslohn entsprach. In der Nacht davor hatten wir denselben Prozess mit einem anderen Vermögenswert und dem davon abgeleiteten Derivat in Gang gesetzt, und so lief es die ganze Woche weiter, die Prozesse gingen ineinander über, und die Nächte verschwammen im Zigarettenrauch und im Licht unserer Bildschirme. Es wirkte fast zärtlich, wie er den Bildschirm mit beiden Händen umfasste und ihm in die Augen sah, wenn ein entscheidender Deal bevorstand, und dann: kein Jubel, nur ein kurzes Nicken, wenn es geklappt hatte. Aber auch seine weniger bedeutenden Bewegungen prägten sich mir tief ein, Bewegungen, die mit den Fluchtlinien des Inventars harmonierten oder eine Verlängerung selbiger darstellten: sein trippelnder rechter Fuß am Bein des Bürostuhls; seine rechte Hand, die auf der Maus ruhte; sein Unterarm parallel zur Tischplatte und zur Rückwand; wie er durch den Raum ging, behutsam und andächtig, als würde er einen vollen Teller Suppe tragen, was er auch oft tat, um ihn mir zu servieren und mir dann etwas Neues über den Derivatehandel beizubringen. Dieses Geschäft, so erklärte er mir, sei »eine effektive Kunst aus Versprechen und Erwartungen. Du musst lernen, dir die Waren als etwas vorzustellen, was es schon vorher gibt. Wie wenn du dich auf etwas freust. Sobald die Vorstellung von einer Sache auf dem Markt ist, wirkt sie, und dann wird in der Zukunft, in der die Sache verkauft werden soll, eine Kanalisation angelegt, die in die Zeit zurückführt, zurück zu uns. Eine Kanalisation, die man natürlich nur in eine Richtung passieren kann, gegen den Strom sozusagen, aber derjenige, der sich gerade darin bewegt, kann nach jedem Meter stehen bleiben und seinen Platz verkaufen, mit Gewinn oder Verlust, je nachdem, wie stark in diesem Moment das Licht am Ende des Tunnels in unsere kollektiven Augen leuchtet, ja, entschuldige die Todesmetapher, es hat nichts mit dem Tod zu tun, man kann ja, wie gesagt, meistens wieder hinauskrabbeln, ehe man ankommt, durch eine mehr oder weniger verrostete und finanziell attraktive Klappe in der Wand, oder mit einem anderen Kloakenwanderer den Platz tauschen, also swappen, verstehst du, und außerdem war das Licht nie der Tod, sondern die Ware, und die hat ja auch ein Leben, kann auch verkauft werden, das sollte man nicht vergessen.« Es war, als würden wir in einem Zelt auf dem Dach eines hohen, traurigen Gebäudes liegen. Die Nächte rasten dahin. »Alvin«, konnte ich mit vorsichtiger Stimme fragen, wenn er seit mehreren Minuten verstummt war, und das Gefühl haben, es sei in Ordnung, so mit ihm zu reden, »Hey, Alvin?«, »Ja?«, »Schläfst du?«. »Wenn ich schlafen würde, könnte ich doch nicht hier liegen und mit dir sprechen?« »Nein … aber du hast heute Feuer