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Was ist das Leben? Eine Wundertüte? Eine Losbude mit zu vielen Nieten? Kleines Drama oder großes Kino?
Eigentlich wollten Felix, Marc und Bernhard nur zusammen fernsehen, doch am nächsten Morgen sitzen sie in Marcs orangefarbenem VW-Bus. Vor ihnen liegt die Reise ihres Lebens. In Südfrankreich wartet ein Haus auf sie, ein Haus am Meer. Sie lassen die Haare im Fahrtwind wehen, ertrinken beinahe in einem See, werden von der Polizei gejagt und von den Vögeln begleitet. Sie lesen Lilith auf, Typ Scarlett Johansson. Dann stößt Zoe dazu, mit gebrochenem Herzen, und zuletzt Jeanne, die traurige Französin. Je näher sie dem Ziel ihrer Fahrt kommen, desto brennender wird die eine große Frage: Was ist das Leben? Und am Ende der Straße steht ein Haus am Meer ...
»Ein Buch, das nach Aufbruch schmeckt. Planen Sie es gleich für den Sommerurlaub ein.« Hans Rath.
»Fraglos das lässigste Reisebuch der Saison!« Bücher.
»Voller Sehnsucht und Versprechen, glitzernd wie ein Tag am Meer.« Neon.
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Seitenzahl: 312
Edgar Rai, geboren 1967, wurde mehrerer Schulen verwiesen, ging ein Jahr nach Amerika und studierte Musikwissenschaften und Anglistik in Marburg und Berlin. Er arbeitete unter anderem als Drehbuchautor, Basketballtrainer, Chorleiter, Handwerker und Onlineredakteur.Seit 2001 ist er freier Schriftsteller. Bisher erschienen u. a. die Romane »Ramazzotti«, »Looping« und »Vaterliebe«.
www.edgarrai.de
Eigentlich wollten Felix, Marc und Bernhard nur zusammen fernsehen, doch am nächsten Morgen sitzen sie in Marcs orangefarbenem VW-Bus. Vor ihnen liegt die Reise ihres Lebens. In Südfrankreich wartet ein Haus auf sie, ein Haus am Meer.
Sie lassen die Haare im Fahrtwind wehen, ertrinken beinahe in einem See, werden von der Polizei gejagt und von den Vögeln begleitet. Sie lesen Lilith auf, Typ Scarlett Johansson. Dann stößt Zoe dazu, mit gebrochenem Herzen, und zuletzt Jeanne, die traurige Französin. Je näher sie dem Ziel ihrer Fahrt kommen, desto brennender wird die eine große Frage: Was ist das Leben? Und am Ende der Straße steht ein Haus am Meer.
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Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Fünfter Tag
Kapitel 42
Epilog
Impressum
»Wieso kommst du denn erst jetzt?« Bernhard sieht mich an, als sei ich ihm eine Erklärung schuldig. »Erste Halbzeit ist schon vorbei.«
In ihm schwelt es. Wie immer, wenn er bei seiner Mutter war. Ich könnte ihm sagen, dass er meine Verspätung nicht persönlich nehmen soll, aber Bernhard nimmt selbst schlechtes Wetter persönlich. Ich könnte ihm auch sagen, dass mich Fußball nicht interessiert, nie interessiert hat und nie interessieren wird und ich nicht einmal weiß, wer gegen wen spielt – und nur gekommen bin, weil Marc meinte, ich solle mich nicht immer in meiner Tonne verkriechen. Und weil ich ihm etwas zu erzählen habe.
»Tut mir leid«, antworte ich.
Das war offenbar, was er hören wollte, jedenfalls gibt Bernhard die Tür frei. »Macht ja nichts. Steht sowieso noch null zu null.«
In Bernhards Wohnung riecht es immer ein bisschen wie im Krankenhaus. Ein Geruch, der sich den Anschein des natürlichen geben will und doch aseptisch bleibt. Seine Diele ist ein Leichenschauhaus für Schuhe, in Edelstahl, klar lackiert. Sechzehn aufklappbare Fächer, hinter denen sich jeweils ein Schuhpaar verbirgt, auf der Stirnseite und auf der Seite gegenüber. Wenn man den Raum halbieren würde, könnte man die Seiten passgenau aufeinanderlegen.
Ich habe lange gebraucht, bevor mir klargeworden ist, dass ihn das aufrecht hält: Der Glaube an Symmetrie und Perfektion, daran, dass alles funktioniert und einen Sinn ergibt, solange es einer geometrischen Ordnung folgt. Marc meint, Ordnung sei Bernhards Religion – und dass er bestimmt früher seine Scheiße nicht angucken durfte.
Mir sind die ungeraden Zahlen lieber. Primzahlen zum Beispiel. Die sind ziemlich cool. Widersetzen sich jeder Formel. Man kann ihr Auftreten nicht berechnen. Das ist wie ein kosmisches Augenzwinkern. Letztlich gibt es für alles eine Erklärung – was nicht heißt, dass wir sie je finden.
Zoe sitzt auf dem Sofa und sieht sensationell gelangweilt aus. »Hi, Felix«, sagt sie, als ich hereinkomme. Kurz zuckt ein Lächeln auf.
Sie wäre gerne woanders. Bei Ludger vermutlich, oder wenigstens an einem Ort, wo wichtige Menschen verkehren, solche, die man kennt, aus dem Fernsehen oder der Gala. Ludger, um das kurz zu klären, ist das »Voß« der Kanzlei »Voß & Weber«, einer der besten Adressen für Menschen, die im siebenstelligen Bereich Steuern hinterzogen haben und bevorzugt straffrei und ohne Aufsehen davonkommen möchten. Und er ist Zoes Chef. Voß ist der Boss. Aber Ludger und seine Frau sind heute bei Freunden in Schlachtensee eingeladen, und Bernhard hat so lange wegen des Fußballspiels nachgehakt, bis Zoe schließlich zugesagt hat und ihm sogar dankbar war.
Ich frage mich, ob es uns noch lange geben wird, so, zu viert. Ohne den unermüdlichen Bernhard, der an uns festhält wie an einer Sehnsucht, ohne die er verkümmern müsste, wären wir bestimmt längst unwiederbringlich in unterschiedliche Richtungen gedriftet. Marc hat bereits begonnen, mit seiner Gitarre die Welt zu erobern, Bernhard versucht so angestrengt, jemand anderer zu sein, dass er selbst bald ganz dahinter verschwinden wird, und Zoe zieht es in höhere Gefilde.
Marc sitzt auf dem Balkon und raucht seinen Guten-Abend-Joint.
»Diogenes!«, begrüßt er mich. Seit ich in dem Bauwagen wohne, nennt er mich gerne Diogenes, wenn er einen geraucht hat. »Wie ist es mit deinem Vater gelaufen?«
Ich setze mich neben ihn auf die Bank und lege wie er meine Füße auf die Brüstung. »Mit dem lief es wie immer.«
Marc hält mir seinen Joint hin: »Mal ziehen?«
Ist ein Running-Gag zwischen uns. Ich rauche nicht, ich trinke nicht, ich nehme kein komisches Zeug.
»Später vielleicht«, antworte ich, »hab gerade erst ’ne Line gezogen.«
So sitzen wir, und Marc schmunzelt die gegenüberliegende Hauswand an, als Bernhard ruft, dass es weitergeht. Er hat die Abendsonne im Gesicht, volle Breitseite. Ist der erste richtig warme Tag dieses Jahr. Gestern war noch Winter, eine Ahnung von Frühling im Gepäck. Heute ist alles anders. Die ganze Nacht durch im T-Shirt auf dem Fahrrad und trotzdem nicht frieren. Als würde man über LOS gehen und noch einmal von vorne anfangen.
Marc blinzelt trotz Sonnenbrille. Im Hof, in nagelneuem Grün, bäumt sich eine Kastanie auf.
»Irgendwann solltest du mal ziehen«, sagt er. »Leuchtet alles noch mal ganz anders.«
»Leuchtet mir genug, so wie es ist«, antworte ich.
Marc überlegt. »Leuchtet mir ein«, sagt er schließlich.
Als wir reingehen, sagt er: »Nachher fahren wir noch in die Strandbar – ein bisschen mit den Füßen im Sand scharren.«
»Okay«, antworte ich. »Muss dir sowieso was erzählen.«
Es dauert eine halbe Stunde, bevor mein letzter Satz zu Marc durchdringt. Die 85. Spielminute läuft. Zoe sitzt im Sessel, Bernhard, Marc und ich sitzen auf dem Sofa. Auf dem Rasen passiert noch weniger als in Bernhards Wohnzimmer. Bernhard rutscht unruhig hin und her. Er hätte uns gerne ein spannendes Spiel geboten, und jetzt fühlt er sich irgendwie schuldig, weil es so langweilig ist. Es gibt Beck’s Level 7 mit Korkuntersetzern – eine Art Doping-Bier für Leute, die durchs Trinken ihre Muskeln aufbauen wollen. Will ich nicht. Aber ich trinke ja auch nicht. Außerdem fettreduzierte Paprikachips und gestiftelte Möhren, Gurken und Zucchini, die sich im Kreis um eine Schale mit Kräuterdip versammelt haben. Bernhard ist die perfekte Mutti. Nicht, dass Marc oder ich eine bräuchten, aber Muttis sind nun einmal Muttis. Ob du sie brauchst oder nicht, interessiert sie nicht wirklich.
»Du musst mir was erzählen?«, fragt Marc.
Ein Spieler ist ausgerutscht und bekommt einen Freistoß. Plötzlich herrscht mehr Hektik auf dem Spielfeld als die gesamten Minuten davor.
»Gefährliche Entfernung«, ruft Bernhard.
»Kann ich dir auch nachher sagen«, antworte ich.
Während der Schiedsrichter eine Linie andeutet, entlang der sich die Mauer aufstellen soll, überlegt Marc, was er von meiner Antwort zu halten hat.
»Vergiss es«, sagt er. Inzwischen sieht auch Zoe mich an. »Wir kennen uns seit fünfzehn Jahren, und noch nie musstest du mir was erzählen. Also: Spuck’s aus.«
Jetzt blickt auch Bernhard zu mir. Der Spieler hat sich den Ball zurechtgelegt. Ich bin der Einzige, der sieht, wie er Anlauf nimmt. Zoe beugt sich vor: »Mach’s nicht so spannend.«
»Mein Onkel hat mir sein Haus in Südfrankreich vererbt«, sage ich.
In dem Moment fällt das Tor. 88. Minute. Neun Spieler in roten Trikots begraben einen zehnten unter sich.
»Ach, Scheiße!«, ruft Bernhard.
»Hab dich nicht so.« Marc stellt sein Bier absichtlich neben dem Korkuntersetzer ab. »Den Freistoß zeigen sie sowieso gleich noch hundertmal.«
»Ja, aber ich war nicht dabei.«
»Dabei warst du sowieso nicht.«
»Dein Onkel hat dir ein Haus in Südfrankreich vererbt?« Zoe klingt ein bisschen, als hätte sie es erben sollen.
»Streng genommen habe ich es gar nicht geerbt«, antworte ich. »Es gehört mir offenbar schon seit zwanzig Jahren. Ich wusste bloß nichts davon.«
Bernhards Brauen kräuseln sich: »Wie soll denn das gehen?« Ich erkläre ihnen, dass das Haus nie auf den Namen meines Onkels eingetragen war, sondern dass von Beginn an ich als Besitzer im Grundbuch stand. Den Rest seines Vermögens hat Onkel Hugo einem Waisenhaus in Marseille vermacht. Mein Vater ging leer aus.
»Und wieso?«, fragt Zoe. »Ich meine, wie kommt dein Onkel dazu, dir sein Haus zu überschreiben?«
Im Fernsehen zeigen sie aus sechs verschiedenen Blickwinkeln, wie sich der Ball ins linke obere Eck dreht. Dabei beschreibt er eine Flugbahn, die mathematisch nicht zu erklären ist. Jedesmal sieht es anders aus, aber egal, wie es aussieht: Jedesmal steht es danach eins zu null.
»Ich weiß es nicht«, antworte ich.
Es dauert einen Moment, dann ruft Zoe: »Wow! Du bist Hausbesitzer!«
»Ist nichts Besonderes, glaube ich, das Haus.«
»Warst du nie da?«, will Bernhard wissen.
Ich schüttle den Kopf. »Meine Mutter wollte da mal Urlaub mit uns machen, aber mein Vater hat gesagt, dass ihn keine zehn Pferde dahin brächten.«
»Muss der gekotzt haben!«, ruft Marc. »Der ist doch garantiert total abgegangen – Mann, Bernhard, jetzt mach doch mal die Glotze aus.«
Das Spiel ist vorbei, inzwischen läuft Werbung.
Bernhard greift sich die Fernbedienung, dreht aber nur die Lautstärke runter. »Die bringen gleich die Analyse«, erklärt er. Marc schnaubt: »Analyse kannst du haben: neunzig Minuten getrabte Langeweile, unterbrochen durch ein Freistoßtor von Ribery in der achtundachtzigsten. Bayern ist weiter. Und jetzt mach aus.« Er wendet sich an mich: »Ist dein Alter nicht an die Decke gegangen?«
Ich ziehe den Schlüsselbund aus der Hosentasche, den ich seit heute Nachmittag mit mir herumtrage. »Als der Notar mir den über den Tisch geschoben hat, wäre er mir, glaube ich, gerne an den Hals gesprungen.«
Zoe weiß nicht viel über meinen Vater. »Und was hat er gesagt?«, fragt sie.
»Der Notar?«
»Dein Vater natürlich.«
»Dass ich das mein Leben lang bereuen werde.«
»Nicht im Ernst!«
Statt zu antworten, zucke ich mit den Schultern.
Zoe sinkt in den Sessel zurück: »Wie kann der so was sagen?«, denkt sie laut, und weil es nicht wirklich als Frage gemeint ist, antwortet auch niemand darauf.
Endlich schaltet Bernhard den Fernseher aus: »Verstehe ich nicht – dein Vater hat doch sowieso schon alles.«
Die Antwort kommt von Marc: »Kann eben nicht genug kriegen.«
Ziemlich lange hört man nur, wie die drei abwechselnd an ihren Bierflaschen nippen und sie anschließend auf den Korkuntersetzern abstellen. Außer Marc, der seine auf die Glasplatte klacken lässt. Er provoziert gerne, und Bernhard ist jemand, der das Provozieren provoziert.
Zoe knackt einen Möhrenstift: »Und du warst noch nie da?« Aus der Kastanie im Hof löst sich ein Vogel und schwingt sich in den Abendhimmel auf. »Ich kenne es nur von Fotos«, sage ich. »Von der Veranda aus kann man das Meer sehen.«
Marc kramt sein Haschischdöschen hervor und fängt an, sich eine Tüte zu bauen. »Das Meer?«, fragt er. »Im Ernst?«
»Geraucht wird auf dem Balkon«, erinnert ihn Bernhard.
»Glaube schon«, sage ich.
Marc leckt das Paper an und blickt in die Runde: »Und was machen wir dann noch hier?«
Ich war sechs, als Onkel Hugo mir beibrachte, wie man Papierflieger faltet. Es war zu Weihnachten. Oma und Opa waren da, meine Eltern, mein Bruder Sebastian und Onkel Hugo. Opa allerdings nur noch körperlich. Er saß in dem Ohrensessel, die Arme auf den Lehnen, und lächelte fortwährend in sich hinein, als sei alles zu seiner Zufriedenheit. Seine Finger hingen von den Armlehnen herab wie welke Blätter, sein Kopf verschwand zur Hälfte im hell erleuchteten Fransenschirm der Stehlampe. Auf seiner Glatze glitzerten Schweißperlen, doch falls er sie spürte, störten sie ihn nicht. Er mochte es warm.
Sebastian hatte eilig die Verpackungen von den Geschenken gerissen und stand vor der Schrankwand, einen schwarzen Kasten mit Antenne und zwei Reglern in den Händen. Über den Boden raste ein Rennwagen, der ständig gegen eine Fußleiste oder ein Tischbein krachte.
»Nicht so!« Mein Vater beugte sich über ihn. »Gib her, ich zeig’s dir«, sagte er und entwand meinem Bruder den Kasten.
Meine Mutter saß schweigend auf dem Sofa, daneben Oma, einen Teller mit Vanillekipferln auf dem Schoß. In regelmäßigen Abständen ergriff sie eins mit spitzen Fingern, klopfte am Tellerrand den Puderzucker ab, führte es zum Mund und biss eine Ecke ab. Am Baum brannten lautlos die Kerzen herunter.
Neben der Blautanne türmte sich ein Haufen aus Geschenkpapier auf, der mir bis zur Schulter reichte. Hinter meinem Rücken kollidierte Sebastians Auto mit der Zimmertür und überschlug sich.
Onkel Hugo legte seine Hand auf meine Schulter. »Wenn du willst, zeige ich dir, wie man Papierflieger faltet.«
Ich nickte.
Er deutete auf den Haufen: »Such dir eins aus.«
Ich entschied mich für das nachtblaue Papier mit Sternenmuster, in das Sebastians Auto verpackt gewesen war. Onkel Hugo zog sich den freien Sessel an den Tisch. Ich stellte mich neben ihn. Sein warmer Pfeifengeruch kitzelte mir in der Nase. Die Kunst bestand darin, so erklärte er mir, zu fühlen, wo der Schwerpunkt liegen musste, damit der Flieger sich nicht mit der Nase voran in den Boden bohrte oder steil nach oben wegdrehte, um anschließend auf dem Heck zu landen. Wenn nötig, konnte man ein Pfennigstück nehmen und es in den Rumpf schieben, um den Schwerpunkt zu verlagern.
»Du bist doch mathematisch begabt«, sagte Onkel Hugo, »wahrscheinlich kannst du es sogar besser als ich.«
Ich wusste nicht, was »begabt« bedeutete, aber ich wusste, dass niemand so gute Papierflieger falten konnte wie Onkel Hugo. Alle wussten das. Er weihte mich in ein großes Geheimnis ein.
Wir falteten ihn gemeinsam. Onkel Hugo wiederholte jeden Schritt, damit ich mir alles genau einprägen konnte. Ein blauer Nachtfalter mit Sternen auf den Flügeln. Er demonstrierte, wie ich ihn halten sollte.
»Hier«, sagte er und führte meine Finger an die entsprechende Stelle. »Spürst du, wie sich das Gewicht verteilt?«
Ich sagte, ich spürte es, war aber nicht sicher. Sebastians Auto hatte sich zwischen der Wand und einem Heizungsrohr verkeilt. Für einen Moment war es sehr still. Onkel Hugo führte meinen Arm.
»Loslassen«, sagte er.
Der Flieger schwebte in vollkommener Ruhe durch den Raum, wobei er einen perfekten Halbkreis beschrieb – vorbei am Regal und zwischen den Zweigen des Weihnachtsbaums hindurch –, um schließlich in Opas Schoß zu landen, der keine Notiz davon nahm, sondern nur weiter friedlich lächelte.
Bei dem Versuch, den Wagen unter der Heizung hervorzuziehen, brach eine Seite des Spoilers ab.
»Scheißding!«, rief Sebastian aus.
Vater gab Sebastian den Kasten wieder. »Wie sieht’s aus, Hugo?«, wandte er sich an seinen Bruder. Sogar Opa wusste, welche Frage sich an diesen Satz anschließen würde: »’ne Partie Schach?«
Hugos Antwort war dieselbe wie jedes Jahr: »Wie du willst.«
Danach zogen sich die beiden in Vaters Arbeitszimmer zurück.
Und ihr seht mich als Punkt
Am Horizont verschwinden,
Um ein Stück weiter hinten
Mich selbst zu finden.
(Thomas D.)
»Na, Diogenes«, begrüßt mich Marc. »Hast du deinen Löffel und deine Schale eingepackt?«
Er ist tatsächlich gekommen. Ich hätte nicht geglaubt, dass seine Euphorie so lange vorhalten würde. Es ist sechs Uhr dreißig. Erste Flugzeuge ziehen weiße Kondensstreifen in den noch tiefblauen Morgenhimmel. Die Stadt wacht eben erst auf.
Mein Bauwagen ist 5 Meter 20 lang und 2,30 breit. Marc übertreibt also, wenn er mich mit Diogenes vergleicht. 11,96 Quadratmeter. Genauso viel wie eine Gefängniszelle, sagt Bernhard. Keine Ahnung, woher der so etwas weiß. Jedenfalls finde ich meinen Bauwagen ganz schön geräumig. Außerdem hat er zwei Türen, was die wenigsten von ihrer Wohnung sagen können. Ich habe ihn so hingestellt, dass durch die eine Tür die Morgen- und durch die andere die Abendsonne scheint. Und ich habe 17000 Quadratmeter Garten.
Marcs Vater soll in diesem Garten einen Wellnesspark bauen, aber seit der Grundsteinlegung letztes Jahr ist nichts mehr passiert. Die Wirtschaftskrise hat den Investoren die Luft ausgesaugt. Marcs Vater meint, es kann noch Jahre dauern, bis eine endgültige Entscheidung gefällt wird. Bis es so weit ist, hat er mir erlaubt, meinen Wagen auf das Grundstück zu stellen, inklusive Strom und fließend Wasser. Dann wird wenigstens nicht so viel geklaut, meint er. Aber das sagt er nur, damit ich kein schlechtes Gewissen habe. Kein Mensch klaut einen gelegten Grundstein. Und sonst gibt es nur meinen Bauwagen und wucherndes Unkraut.
Nachts um drei und mittags um eins kommt Achmed von der Sicherheitsfirma und sieht nach, ob das Grundstück noch da ist. Er fährt einen tiefergelegten 3er BMW, den ich bereits am Sound erkenne, wenn er noch zwei Straßen entfernt ist, und er streichelt gerne Hit and Run, meine Katze, vorausgesetzt, sie ist gerade mal da. Hit and Run ist grau, mit blauen Augen. Zoe meint, Siamkatzen hätten blaue Augen, aber ich weiß nicht, ob das stimmt. Sie ist nicht gemustert oder so, einfach nur silbrig-grau. Als trüge sie einen Designeranzug. Und so bewegt sie sich auch. Mäuse fangen ist eigentlich total unter ihrer Würde. Doch der Geist ist willig, aber der Körper schwach. Scheißinstinkte.
Eigentlich ist sie gar nicht meine Katze. Sie trieb sich schon auf dem Grundstück herum, bevor ich hier anrückte. Zwei Wochen lang schlich sie um den Bauwagen, dann stand sie eines Morgens an meinem Bett und verlangte, endlich gefüttert zu werden. Sie kann sehr fordernd sein. Sobald sie dann hat, was sie will, ist sie auf und davon. Daher der Name. Im Grunde bekomme ich sie seltener zu Gesicht als den Fuchs, der nachts über das Gelände patrouilliert.
Zurück zu Achmed: Von dem also lässt sie sich gelegentlich streicheln. Von mir nicht. Ist kein Wunder, meint Achmed, alle geilen Chicks stehen auf ihn. Dass Hit and Run ein Kater ist, weiß er nicht.
Sechs Uhr dreißig ist die schönste Zeit des Tages in meinem Garten. Wenn ich die Tür nach Osten öffne, scheint die Morgensonne auf mein Bett und trägt die Stimmen von einem Dutzend verschiedener Vogelarten herein. Es ist keinen Monat her, da stand der Wagen um diese Zeit noch hüfthoch im Nebel – als könne man darauf traumwandeln. Kurze Zeit später begann die Kirschblüte. Letzte Woche dann schneiten um sechs Uhr dreißig die ersten Blütenblätter herein und verteilten sich über den Boden, als sei in der Nacht ein Engel durch den Wagen geschwebt und habe sie verstreut.
Marcs langer Schatten leckt sich das Bett hinauf, züngelt über meine Decke und rankt sich die Wand empor. Als ich mich aufsetze, steht sein Kopf genau zwischen mir und der Sonne. Sonst hat er wild wuchernde Locken, jetzt aber ist es ein brennender Helm.
»Ja«, antworte ich und deute auf die Arzttasche neben meinem Bett.
Fünf Minuten später drehe ich den Schlüssel im Zylinder und überlege, ob ich etwas vergessen habe. Nein, habe ich nicht. Ich spüre das Gewicht der Tasche in meiner Hand. Die Habseligkeiten, die noch im Bauwagen liegen, kann man an einer Hand abzählen. Trotzdem kommt es mir vor, als würde ich wer weiß was zurücklassen.
Marc wartet mit seiner Frage, bis wir vor dem Kreisverkehr in der Frankfurter Allee stehen, die Sonne im Rücken. »Ist was?«
Der Brunnen auf der Mittelinsel schläft noch. An dem Schaltkasten neben mir lehnt eine verlorene Nachtgestalt und übergibt sich auf den Grasstreifen.
»Ich hätte mich gerne von Hit and Run verabschiedet«, antworte ich.
Als letzte Nacht gegen drei Achmed und sein BMW anrollten, saß ich noch auf der Leiter des Westflügels, blickte der untergegangenen Sonne hinterher und dachte über den Abend nach. Bei Bernhard vor dem Fernseher hatte ich noch überlegt, wie lange es uns wohl noch geben würde, so, zu viert. Dann kam Marc und elektrisierte alle mit seiner Idee, gemeinsam nach Frankreich zu fahren. Und plötzlich gab es uns wieder, uns vier. Vielleicht ist er auch deshalb so ein guter Gitarrist – weil bei ihm der Funke überspringt. Ich könnte das nie.
Achmed kam um den Bauwagen herum, warf einen Blick in die Nacht hinaus und streifte an der Regentonne den Kronkorken seiner Bierflasche ab. Sein Auto stand 30 Meter entfernt, trotzdem hörte ich, wie Bushido es gegen jeden verteidigte, der ihm zu nahe kam.
»Hab mir gedacht, dass du noch hier rumsitzt«, begrüßte er mich.
Er hatte zwei Flaschen dabei, eine für mich. Behauptete er.
»Ich trinke nicht«, sagte ich.
»Ach so, stimmt ja.«
Er trank. Anschließend studierte er das Etikett, das im Dunkeln nicht zu entziffern war: »›Green Lemon‹ oder so’n Scheiß. Fragt man sich doch, warum wir Türken da noch Deutsch lernen sollen.« Er nahm einen weiteren Schluck, wie um sicherzugehen.
»Schmeckt wie Zitronenpisse«, stellte er fest.
»Warum trinkst du es dann?«
Er zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche, zündete sich eine an, lehnte sich gegen den Wagen und blies den Rauch aus, der ihn lange einhüllte, bevor er sich verflüchtigte. Nicht einmal die Blätter an den Kirschbäumen bewegten sich heute Nacht.
Er grinste: »Schmeckt irgendwie ganz geil – Zitronenpisse.« Ich fragte mich, warum er das machte: Nachts um drei aufkreuzen, sich neben die Leiter stellen, gegen den Wagen lehnen, sein Bier trinken und wieder verschwinden. Möglich, dass er es selbst nicht wusste. Vielleicht gab es nicht einmal den Sicherheitsdienst, für den er angeblich arbeitete. Hätte mich nicht gewundert. Eigentlich ist er wie Hit and Run, dachte ich, außer dass er sein Bier selbst mitbringt.
»Morgen früh fahr ich vielleicht weg«, sagte ich.
»Und? Wohin?«
»Frankreich.«
»Was willst’n da? Frankreich ist doch Scheiße.«
»Hat mein Vater auch immer gesagt.« Trotzdem, denke ich, wollte er um jeden Preis Hugos Haus haben.
»Und?«, fragte Achmed. »Was willste dann da?«
»Weiß noch nicht.«
Achmed ließ erneut seinen Blick über das Gelände schweifen. Das Grundstück war noch da, Job erledigt. Bald darauf hebelte er den Kronkorken der zweiten Flasche ab.
»Könntest du Hit and Run füttern, solange ich weg bin?«, fragte ich.
»Wann kommst’n wieder?«
»Weiß ich noch nicht.«
Ein Vogel zwitscherte, ganz in der Nähe. Er musste in einem der Kirschbäume sitzen. Es gibt einen, der die ganze Nacht hindurch singt. Er meidet den Wettkampf. Erst wenn alle anderen verstummt sind, läuft er plötzlich zu Hochform auf.
Vorne im Gras bewegte sich etwas, aber als es näher kam, war es nur der Fuchs, der es auf das Katzenfutter abgesehen hatte.
»Was soll’n das überhaupt für ein Name sein?«, fragte Achmed, »Hit and Run.«
»Auf und davon«, sagte ich.
Er lehnte sich gegen den Wagen, nahm einen Schluck und blickte ins Nichts: »Ist doch kein Name – Auf und davon.«
Marcs Bus hat mal einem Lebenshilfeverein gehört, den »Straight Edges«. Die untere Hälfte ist leuchtend orange lackiert, die obere weiß. Auf der Schiebetür ist ein Schriftzug angebracht:
STRAIGHT EDGES
LEBEN OHNE DROGEN
Das Projekt wurde eingestampft, als sich herausstellte, dass der Vorsitzende sich einen nicht unbeträchtlichen Teil der öffentlichen Zuwendungen in Form von Kokain durch die Nase zog. Den Bus hat Marc dann bei einer Versteigerung erworben, inklusive handbestickter Sitzkissen mit lachenden Sonnen drauf sowie selbstgenähter Vorhänge in den Farben des Regenbogens. Wenn er mit einer Band auf Tour ist, glauben viele, es handle sich um eine schwule Lebenshilfeband namens »Straight Edges«, die den Drogen abgeschworen hat – bis Marc betrunken mit einem Groupie im Bus verschwindet und die Vorhänge zuzieht. Er sagt, er hat in seinem Leben noch nie so viel Spaß gehabt wie in seinem drogenfreien Bus. Bernhard meint, er solle doch wenigstens den Schriftzug übermalen, aber Marc glaubt fest daran, dass der Schriftzug wie ein Schutzschild funktioniert. Jedenfalls musste er noch nie einen Alkoholtest machen und ist noch nie gefilzt worden, auch wenn der Wunderbaum am Rückspiegel inzwischen selbst schon nach Dope riecht.
Seine besten Tage hat der Bus hinter sich. Und die meisten der weniger guten auch. Der dritte Gang bleibt nur noch drin, wenn man den Schalthebel festhält, das Schiebedach ist undicht, der Außenspiegel auf der Beifahrerseite mit Gaffa getapt. Bis Frankreich kein Problem, sagt Marc. »Solange du genug Gaffa im Auto hast, kann dir nichts passieren.«
Zoe mustert uns, als seien wir von einer Drückerkolonne. »Ach, ihr seid’s.«
»Wen hast du denn erwartet?«, fragt Marc.
Sie sieht nicht so aus, als wolle sie die nächsten Tage in einem altersschwachen VW-Bus zubringen. Eher so, wie attraktive Frauen sich kleiden, wenn sie ganz beiläufig auf jemanden einen besonderen Eindruck machen wollen: Teures, aber schlichtes Kostüm, weiße Bluse, dezente Ohrringe, die Haare wie mit dem Pinsel über die Schulter drapiert.
Zoes Schönheit hat etwas Erhabenes, egal, was sie anzieht. Sie ist von der Art, dass jeder sie sofort versteht, ohne allerdings zu begreifen, warum. Wie eine Folge von Pentagonalzahlen. Als ineinandergeschachtelte Fünfecke dargestellt, ahnt man sofort ihre verborgene Schönheit, auch wenn man sie auf den ersten Blick nicht erkennt. Aus diesem Grund sind Pentagonalzahlen neben den Primzahlen auch meine Lieblingszahlen. Sie schreien einem ihre Symmetrie nicht gleich entgegen wie Quadratzahlen oder vollkommene Zahlen.
Was ich an Zoe am meisten mag, ist der nicht erhabene Teil. Es gibt eine Seite an ihr, die sie als Schwäche empfindet. Hat mit Gefühlen und so was zu tun. In seltenen Momenten dringt etwas davon an die Oberfläche. Ist wie eine Blase unter dem Teppichboden. Du kannst sie runterdrücken, aber dann kommt sie an anderer Stelle wieder hoch. Am meisten mag ich also an ihr, was sie am stärksten zu verbergen versucht.
In Zoes Wohnung geht gerade die Sonne auf. Das gesamte Treppenhaus riecht nach morgendlichem Aufbruch.
Marc tastet mit seinem Blick ihre Beine ab, bis er den Boden erreicht hat. »Nur ein Koffer pro Mitfahrer«, sagt er, »und Handgepäck nur bis fünfzehn Kilo.«
Zoe lehnt sich gegen den Türrahmen und wechselt das Standbein. »Hört zu«, sagt sie und streicht sich ihre Haare über die Schulter, die danach exakt so aussehen wie vorher. »Ich … ich komme nicht mit.«
Marc löst den Blick von ihren Absatzschuhen: »Was soll denn das heißen?«
»Dass sie nicht mitkommt«, sage ich.
»Ja«, sagt Zoe und wendet den Kopf ab, als suche sie etwas, »ich schätze, das heißt es wohl.«
»Und warum nicht?«, fragt Marc.
Zoe verschränkt die Arme vor der Brust. Wenn sie eins nicht leiden kann, dann in die Defensive gedrängt zu werden: »Weil ich am Montag auf eine Konferenz nach Chicago fliege – sorry.«
Ich betrachte ihre Schuhe und wie sie den Fuß ihres Spielbeins auf dem Absatz leicht nach außen dreht. »Mit Ludger?«, frage ich.
Sie zieht die Schultern hoch und blickt sich wieder in der Wohnung um. »Sorry.«
Und plötzlich sind wir nur noch zu dritt.
Gleich sind wir nur noch zu zweit. Das denke ich, als wir auf dem Weg zu Bernhard sind. Wenn Zoe mitkäme, könnte Bernhard unmöglich hierbleiben. Aber was soll er in Frankreich, wenn sie in Berlin sitzt?
Als Marc gestern die Idee kam, nach Frankreich zu fahren, war Bernhard der Erste, der sagte, er könne nicht – wegen seines Jobs. Dabei hat er in den zwei Jahren, die er jetzt für »Nanotec« arbeitet, noch keinen Tag Urlaub genommen. In Wahrheit bringt er es nicht über sich, seine Mutter alleine zu lassen, die Parkinson hat, seit drei Jahren nicht mehr ohne Hilfe aus dem Bett kommt und seit einem Jahr gar nicht mehr. Sie ist im Pflegeheim »Rosengarten« untergebracht, und jeden Tag, wenn Bernhard nach der Arbeit dorthin fährt, schämt er sich. Der Gang zu seiner Mutter ist für ihn das Eingeständnis einer Kapitulation. »Das ist nicht der richtige Ort für sie«, sagt er.
Er gibt die Hälfte seines Gehalts zu ihrer Rente dazu, damit sie im »Rosengarten« wohnen kann, doch selbst das reißt es nicht raus. Im Gegenteil: Er hat das Gefühl, sich schuldig zu machen, indem er sich mit Geld aus der Verantwortung zieht.
Bernhard also wollte nicht mitkommen, so der Stand gestern Abend, 22 Uhr 45. Um 22 Uhr 46 rief Zoe dann unvermittelt aus: »Ich bin dabei!« Aus dem Hof schallten Fußballgesänge zu uns herauf. »Was glotzt ihr denn so?«, fragte sie. »Ich bin dabei.«
»Aber du kannst doch nicht einfach so Urlaub nehmen!«, wandte Bernhard ein.
Sie zog einen Schmollmund: »Warum eigentlich nicht?« Mit diesen Worten nahm sie ihr Handy aus der Tasche und verschwand auf dem Balkon.
»Gibt’s noch Bier?«, fragte Marc.
»Im Kühlschrank«, antwortete Bernhard, ohne seinen Blick von der Balkontür zu wenden.
»Noch jemand?«
Keine Antwort.
Nach zwei Minuten kam Zoe zurück. Marc stellte gerade seine Bierflasche neben dem Untersetzer ab.
Ihr Lächeln war ein Triumph: »Hab doch gesagt, ich bin dabei.«
Noch einmal zwei Minuten später war Bernhard auch dabei.
»Wo habt ihr denn Zoe gelassen?«
In seinem Schuhkrematorium wirkt Bernhard wie ein Hohepriester.
»Zu Hause«, antwortet Marc.
Bernhards Gesicht verformt sich zu einem bangen Fragezeichen.
»Sie fliegt am Montag auf einen Kongress nach Chicago«, erklärt Marc. »Future management business constructions oder so ähnlich.«
Wenn in Bernhards Flur eine von diesen altmodischen Uhren hängen würde, könnte man jetzt das Pendel hören.
»Mit Ludger?«, fragt Bernhard.
Er kennt die Antwort. Wir alle kennen sie. Deshalb sagt auch keiner etwas. Marc kratzt sich den Staub aus den Haaren. Mit seinen ausgetretenen Chucks, der zerschlissenen Jeans und dem verblichenen T-Shirt sieht er aus wie ein ungemachtes Bett.
»Du kannst hierbleiben und bis zur Sonnenwende deine Badewanne vollheulen – oder du kannst mit nach Frankreich kommen.«
Bernhard presst die Lippen aufeinander, schiebt seinen Unterkiefer von rechts nach links, vergräbt die Hände in den Taschen und sieht uns an, als müsste einer von uns jetzt etwas sagen, das ihn erlöst.
Am Ende erlöst er sich selbst: »Ach, was soll’s!«
Er verschwindet im Schlafzimmer, und als er wieder herauskommt, zieht er seinen Alu-Rollkoffer hinter sich her.
Was Marc zum Anziehen dabeihat, passt bequem in seine Sporttasche. Für seine CD-Auswahl dagegen ist unter zwei großen Holzkisten nichts zu machen.
»Noch weniger ging nun wirklich nicht«, kommentiert er Bernhards Blick.
Als wir die Stadt verlassen, uns auf der Avus nach Süden wenden und die verwaisten Tribünen passieren, stellt sich zum ersten Mal diese besondere Aufbruchsmelancholie ein. Nur dass bei mir der Aufbruch Abschied heißt. Marc hat den Beifahrersitz so montiert, dass man mit dem Rücken zur Fahrtrichtung sitzt. So sehe ich nie, was auf uns zukommt, sondern nur, was bereits hinter uns liegt. Wie meine Großmutter früher, den Blick immer in die Vergangenheit gerichtet. Vielleicht, denke ich, passiert das bei jedem irgendwann – dass sich der Sitz dreht und man nicht mehr nach vorne sieht, sondern nur noch nach hinten. Eine Frage des Alters. Oder der Einstellung. Vielleicht.
Ich jedenfalls sehe eine Rauchwolke, die sich an den Bus gebunden hat. Außerdem ist da ein merkwürdiges Geräusch – wie von etwas, das sich selbst zerstören will. Doch es ist nicht Bernhard, der dieses Geräusch macht, sondern der Auspuff.
»Glaubst du im Ernst, dass wir mit der Kiste bis nach Frankreich kommen?«, fragt Bernhard.
Marc blickt in den Rückspiegel. »Kein Problem.« Er macht eine beschwichtigende Geste, fährt auf die Standspur und lässt den Bus ausrollen.
Während wir warten, bis der Auspuff abkühlt, zupft Marc ein paar Akkorde auf der Gitarre, doch die passende Melodie dazu will nicht richtig gelingen.
»Die ganze Idee ist totaler Schwachsinn«, kommentiert Bernhard, »wir sind noch nicht mal aus der Stadt raus, und schon ist die Kiste im Arsch.«
»Wenn du einen Vorwand suchst, um abzuspringen«, antwortet Marc, »gibt keinen Gruppenzwang. Aber versuch nicht, uns den Trip auszureden. Den Gefallen tun wir dir nicht. Den Schwanz einziehen musst du schon alleine.«
Statt zu antworten, schnauft Bernhard nur und blickt aus dem Fenster.
Marc versucht es andersherum: Summt erst die Melodie, die er im Kopf hat, und legt anschließend die Akkorde darunter. In diesem Stadium höre ich ihm am liebsten zu: Wenn er schon eine Idee hat, aber noch keinen Song – wenn die Dinge bereits existieren, aber erst noch zueinanderfinden müssen.
»Lass doch so«, schlägt Bernhard vor, »klingt okay, finde ich.« Marc nimmt die Finger von den Saiten. Wenn er etwas zu sagen hat, kann er nicht gleichzeitig spielen. Beim Denken, sagt er, hilft Spielen, beim Reden stört es. »Erstens«, erklärt er, »ist ›okay‹ nicht genug, und zweitens öffnet sich der Refrain nicht. Da muss mehr Sonne rein, der Refrain muss ein Versprechen einlösen. Alles eine Frage der richtigen Energie.«
Wenn Marc über Musik redet, spricht er gerne über Energien, über Klang gewordene Emotionen und wie man all das physisch erfahren kann. Ich denke manchmal, was für ihn die Akkorde sind, sind die Zahlen für mich.
Bernhard kann mit beidem nichts anfangen. Bei Zahlen sieht er nur Vektoren und Effizienzquotienten, und bei Musik … gar nichts. »Energien …« Er lässt das Wort in der Luft hängen. »Das hat doch nichts mit Musik zu tun! Du immer mit deinem Gequatsche von Energien und wie sich Musik ›anfühlt‹. Musik fühlt sich nicht an. Vielleicht solltest du lieber mal mit Verstand rangehen, statt dich immer nur zu fragen, wie sich das anfühlt.«
Marc bedenkt Bernhard mit einem Blick, der irgendwo zwischen arroganter Schnösel und armer Tropf angesiedelt ist, legt die Gitarre in den Koffer zurück und steigt aus. »Was du nicht begreifst, Bernhard, und vermutlich nie begreifen wirst, ist, dass Gefühle ihren eigenen Verstand besitzen.«
Er wartet, bis klar ist, dass Bernhard dem nichts entgegenzusetzen hat, dann verschwindet er bis zur Hüfte unter dem Bus.
»Hab ich doch gleich gesagt!«, ruft er gegen das Dröhnen der vorbeifahrenden LKWs an. »Ein Fliegenschiss! Felix, gib mal ’ne Rolle Gaffa aus dem Bus!«
Marc klebt also den Auspufftopf mit Gaffa fest, und um das lästige Restklappern zu übertönen, schiebt er vor der Weiterfahrt eine CD ein.
»Die neue Cat Power – geiler Stoff«, klärt er mich auf.
Im nächsten Moment verschwinden meine Ohren im Bauch einer Bass-Drum. Das ist Marc: Der Bus hält nur noch mit Gaffa-Tape, aber mit der Anlage könnte man die Waldbühne beschallen.
Erst nachdem wir die Stadtgrenze passiert haben, wird mir klar, dass der Song eine Cover-Version von »New York, New York« ist, nur dass man Sinatras Text kaum wiedererkennt und die Musik gar nicht mehr. Doch das Gefühl ist da: Aufbruch, Möglichkeit, Sehnsucht. I’m leaving today … If I can make it there …
Die Autobahn schlägt eine Schneise durch einen Kiefernwald. Immer wieder offenbaren die Bäume für Sekundenbruchteile eine geheime Symmetrie und formieren sich zu Reihen, um gleich darauf in einem undurchdringlichen Chaos aufzugehen. Die Morgensonne bricht schräg durch die Baumkronen und verwandelt den Wald in einen Teppich aus gewebtem Licht. Achtzehn Jahre hat Onkel Hugo in diesem Haus in Südfrankreich gelebt, und ich habe ihn kein einziges Mal besucht. Ich weiß nicht einmal, warum.
Marc dreht mir sein Gesicht zu: »Fragst du dich, was gerade mit dir los ist?«
Inzwischen ziehen Felder vorbei, der Blick weitet sich. Manche Dinge verschmelzen in der Ferne zu bunten Punkten.
»Vielleicht«, antworte ich.
»Ein neuer Tag, ein neues Leben – das ist mit dir los.«
Also ist es auch bei dir angekommen, denke ich. Aufbruch, Möglichkeit, Sehnsucht.
Marc umfasst das Lenkrad, als drohe es ihm aus der Hand gerissen zu werden: »Ahh – ich fühl mich wie Odysseus!«
Ich sehe ihn an: »Du glaubst, wir werden Schiffbruch erleiden?«
»Nicht mit genug Gaffa an Bord!«
»Verstehe – du willst liebestolle Göttinnen mit gebrochenen Herzen zurücklassen.«
Marc grinst dieses spezielle Grinsen, mit dem er noch jede Frau in seinen Bus gelockt hat. »Wär doch geil, oder?«
»Und was ist mit Frau und Kind, die zu Hause treu und ergeben auf dich warten?«, wende ich ein.
»Shit – ich wusste, die Story hat einen Haken.« Er überlegt kurz: »War Odysseus eigentlich je in Frankreich?«
»Höchstwahrscheinlich nicht«, antworte ich.
»Hätte er mal machen sollen. Wein, Weib, Gesang … War’n Fehler von ihm, Frankreich auszulassen.«
I’m gonna ride … I’m gonna ride … Inzwischen träumen Cat Power und eine einsame Akustikgitarre davon, auf einem geklauten Pferd einer ungewissen Zukunft entgegenzureiten, the devil close behind. Reiten, reiten, immer weiter, auf der Suche nach etwas, von dem man erst weiß, was es ist, wenn man es gefunden hat. Was natürlich nie passieren wird. Egal, scheiß drauf – letztlich geht es ums Suchen, nicht ums Finden.
Bei Bernhard kommt von der Aufbruchsstimmung nichts an. Er scheint immun zu sein, sitzt gefangen in seinem Groll auf der Rückbank, spricht nur, wenn er etwas gefragt wird, bewegt sich nur, wenn es nicht anders geht, und trägt dabei den Ausdruck eines gedemütigten Hundes zur Schau.
Als wir an einem weiteren Straßenschild vorbeifahren, kommt plötzlich Leben in ihn. »Magdeburg?«, ruft er von hinten. »Warum fährst du denn nicht über Leipzig? Das ist doch mindestens eine Stunde Umweg!«
»Echt?« Marc grinst in den Rückspiegel: »Geil – dann können wir ja noch eine Stunde länger unterwegs sein.«