Wenn nicht, dann jetzt - Edgar Rai - E-Book + Hörbuch
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Edgar Rai

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Beschreibung

Das ist kein normaler Urlaub. Das ist eine letzte Chance!

Jan Bechstein ist in der Midlife-Crisis. Als Vater einer sechzehnjährigen Tochter ist er ein Versager und als Ehemann eine Vollniete. Das liegt weder an seiner Intelligenz noch an seinem Charme, das liegt einzig und allein daran, dass er die Frau, die er bis heute liebt, vor fünfzehn Jahren hat sitzen lassen: Sergeja. Musikerin (zweites Waldhorn) und Mutter der gemeinsamen Tochter Mia. So richtig hat Jan nie begriffen, was ihn damals geritten hat, und jetzt will Sergeja wieder heiraten. Einen anderen. Und zwar in dem kleinen slowenischen Dorf, in dem damals auch sie sich das Jawort gegeben haben. Ist es zu spät? Auf nach Süden! Dorthin, wo alles begann ...

Ein liebevoll chaotischer Beziehungsroman mit viel Witz, Herz und Himmelsbläue - ideale Urlaubslektüre!

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Seitenzahl: 330

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edgar rai

wenn nicht,dann jetzt

roman

Impressum

ISBN 978-3-8412-0394-6

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Mai 2012

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2012

Die Originalausgabe erschien 2012 bei Rütten & Loening, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung Büro Süd, München,

unter Verwendung eines Motivs von © Anna Huerta/

plainpicture/Johner

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

www.aufbau-verlag.de

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Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Impressum

Inhaltsübersicht

I

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III

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I

1

Mit geschlossenen Augen wartete Jan, bis der letzte Akkord verklungen war. Was erstaunlich lange dauerte. Wann immer er glaubte, die Stimmen der Instrumente hätten sich verflüchtigt, kreisten doch jedesmal noch Reste von ihnen um die Kronleuchter. Er versuchte, Sergeja herauszuhören – Waldhorn –, doch darin war er nie besonders gut gewesen.

Stille. Wie in einem Sarg.

Dann klickte der Taktstock auf die Oberkante des Notenpults. Der Zauber war verflogen. Jan öffnete die Augen. Außer ihm und den beiden Technikern vorn im Parkett saß niemand im Zuschauerraum.

»Ladies and Gentlemen«, hörte er ein heiseres Krächzen, »I think we will have a short intermission.«

Jan hatte sich in die vorletzte Reihe gesetzt, dritter Platz von links. Das hatte den unbestreitbaren Vorteil, dass Sergeja den gesamten Mittelgang entlangschweben musste, um zu ihm zu gelangen. Ein großartiges Schauspiel. Wie damals. Dieses Schwebeding hatte sie echt drauf. Unter Tausenden hätte Jan diesen Gang erkannt. Die Bühnenbeleuchtung malte einen Strahlenkranz um ihren Kopf wie ihn Bernini nicht besser hinbekommen hätte, und ihre Bluse hing nicht an ihr, sie umgab Sergeja. An Jan schwebte schon lange nichts mehr. Falls ihn etwas umgab, dann war es Wehmut. Und die zog nach unten, ordentlich.

Sergeja setzte sich neben ihn, vielmehr faltete sie elegant ihr linkes Bein und ließ sich darauf nieder, bettete ihre Handtasche in den Schoß, stützte den Ellenbogen auf die Rücklehne und drehte Jan ihren Oberkörper zu. Bis zu diesem Moment hatte er noch geglaubt, Herr der Situation zu sein. Doch dann streifte ihn Sergejas Duft und katapultierte ihn fünf Monate in die Vergangenheit zurück. An diesem Tag, dem 14. Februar, hatte sie mit ihrem Orchester in Frankfurt gastiert. Anschließend waren Jan und sie essen gegangen. Und bei dieser Gelegenheit hatte Jan sich unsterblich in die Frau verliebt, die er fünfzehn Jahre zuvor hatte sitzenlassen.

»Ich dachte, wir hätten uns drüben im Café verabredet?«, sagte sie jetzt.

»Ich wollte dich spielen hören.«

»Seit wann magst du Mozart?«

Mozart. Hätte er sich denken können. Wann immer Jan etwas nicht kannte, aber sicher war, es schon tausendmal gehört zu haben, war es Mozart. »Mozart nervt«, sagte er. »Um auf den zu stehen, muss man zumindest in Österreich geboren sein. Und selbst das ist keine Garantie.«

Sergeja schenkte ihm ein Lächeln: »Ich mag Mozart, und ich bin in Slowenien geboren.«

»Hat ja auch lange genug zu Österreich gehört.«

»Bis 1918«, erwiderte sie.

Sie wollte recht haben. Jan hätte vor Glück am liebsten irgendetwas Blödes gemacht. Er liebte es, wenn sie rechthaberisch war. Es fühlte sich an, als wären sie seit hundert Jahren ein Paar und hätten sich noch immer etwas zu sagen. »Einmal k. u. k., immer k. u. k.«, entgegnete er.

Sie blickte ihn an und bereitete den Todestoß vor. »Und trotzdem wolltest du mich spielen hören.«

Er antwortete nicht. Sergeja wusste es sowieso, alles. Dass er hier saß war bereits eine Kapitulationserklärung.

Sie war barmherzig genug, das Thema zu wechseln: »Sind die etwa für mich?«

Der Blumenstrauß, der den Stuhl neben Jan einnahm, war so groß, dass es eigentlich keine Erklärung dafür gab, weshalb Sergeja ihn erst jetzt bemerkte.

Umständlich entfernte Jan die Folie. Das Geknister war bis auf den zweiten Rang zu hören. Auf der Bühne drehten sich ihnen Köpfe zu. »Ich dachte, du magst weiße Rosen …«

»Du weißt genau, dass weiße Rosen meine Lieblingsblumen sind.«

Sergeja warf einen schnellen Blick zur Bühne und legte eilig den Strauß auf den benachbarten Stuhl. Die Blüten ragten über die Sitzfläche und ließen ermattet die Köpfe hängen. »Du solltest mir keine Blumen schenken«, erklärte sie.

»Nicht der Rede wert«, wehrte Jan ab.

»Wirklich«, ihre Stimme spannte sich wie eine Violinsaite, »du solltest mir keine Blumen schenken.«

Jan wusste nichts zu erwidern. Schließlich sagte er: »Zu spät.«

»Und was soll ich mit denen machen während der Probe?«

Ihnen die Herzen rausreißen und darauf herumtrampeln, dachte Jan, sagte aber: »Ins Wasser stellen?«

Sergejas so kunstvoll gefaltetes Bein glitt lautlos vom Stuhl, ihr Oberkörper drehte sich zur Bühne, ihr Blick folgte. »Du hättest nicht kommen sollen.«

Natürlich hätte er nicht kommen sollen. Das wusste er so gut wie sie. Zumal Sergeja ihm diesen Satz neulich erst vorgesetzt hatte, nach dem Konzert in Frankfurt. Aber dass sie ihn dennoch aussprach, konnte nur eins bedeuten: Sie war sich ihrer Gefühle nicht sicher. Das Rennen war noch nicht gelaufen. Ihr Schweigen wog ebenso schicksalsschwer wie die Stille nach Mozarts Schlussakkord. Geistesabwesend nahm Jan die Klarsichtfolie, faltete sie auf ein Viertel ihrer Größe, zog mit dem Daumennagel die Falzlinie nach und trennte ein Rechteck ab. Dann begannen seine Finger, es zu falten.

Jan nickte in Richtung der Bühne. »Was wird denn heute Abend gespielt?«

In Wahrheit interessierte ihn das Programm nicht mehr als die Pollenflugvorhersage. Doch erstens wollte er Sergejas Schweigen brechen, und zweitens wusste er, dass sie für nichts mehr zu begeistern war als für ihre Musik.

»Mozart, Beethoven, Schumann.« Ihre Mundwinkel verzogen sich zu etwas, das er als Ermüdungszeichen deutete. »Das einzig Spannende an dem Programm ist unser Gastdirigent. Niemand weiß, ob er einen Einsatz gibt, ob er nur mit dem Taktstock wedelt, oder ob er gerade einen Herzinfarkt hat.«

Beide schmunzelten. Ein Aufatmen, ein Anflug von Leichtigkeit. Wie Mozart, wenn er sich ausnahmsweise sein Tutu auszog und wirklich mal Musik machte. Jan blickte auf seine Hände. Die untere Hälfte der Folie hatte sich in etwas verwandelt, das Ähnlichkeit mit einem gebauschten Rock hatte. Nicht uninteressant.

»Magst du kommen und es dir anhören?«, fragte Sergeja plötzlich. »Eine Karte hab ich noch.«

Ihr Blick schwang sich zu den gülden verzierten Brüstungen der oberen Ränge empor. Logen der Eitelkeit. Jan musste hier kein Konzert erlebt haben, um das zu wissen.

»Heute Abend?«, fragte er.

»Vielleicht erlebst du das Konzert, bei dem der große Rosenegger endlich seinen Herzinfarkt erleidet«, überlegte sie. »Das ist der Grund, weshalb seine Konzerte auf Monate ausgebucht sind: Jeder will dabei sein, wenn es passiert.«

»Leicht morbide, findest du nicht?«

»Ich glaube, er will es so.«

Selbstverständlich würde er kommen. Was konnte es Schöneres geben, als einem alten Mann mit Taktstock dabei zuzusehen, wie er seinen eigenen Herzinfarkt dirigierte, untermalt von Mozart, Beethoven und Schumann?

Doch da war etwas, das Jan zurückhielt. Eine Karte hab ich noch, hatte Sergeja gesagt, Betonung auf eine. »Wer hat denn die andere Karte?«

Jan musste sehr genau hinsehen, um die Veränderung in ihrem Gesicht zu bemerken. Sie vollzog sich subkutan.

Dann sagte sie es: »Einar.«

Einar: Ein Name wie ein Wespenstich in die Halsschlagader.

Sergeja bemühte sich, so zu tun, als sei alles wie fünf Sekunden zuvor. »Er hatte diese Woche beruflich in Berlin zu tun«, erklärte sie. »Da passte das natürlich ganz gut.«

»Natürlich«, wiederholte Jan.

Sie sah ihm offen ins Gesicht. »Das wäre doch eine gute Gelegenheit, dass ihr euch mal kennenlernt.«

Jan konnte es nicht glauben: Sie meinte das tatsächlich ernst. Ironie war noch nie ihre Stärke gewesen. Er suchte nach einer Antwort, doch für diese Situation war sein Wortschatz nicht gerüstet. Es konnte keine »gute« Gelegenheit geben, Einar kennenzulernen.

»Du weißt doch«, brachte er hervor, »ich stehe nicht auf Mozart.«

Sergeja legte ihm eine Hand auf den Unterarm. Ein Gefühl, als würde jemand den Stecker ziehen. Innerhalb von Sekunden erstarb jede Gegenwehr. »Gib dir einen Schubs, ja?«, bat sie.

Wenn ich hier jemandem einen Schubs gebe, überlegte Jan, dann Einar. Er blickte zu den Musikern hinüber. Zweiter Rang wäre passend – der Schubs –, möglichst weit vorn, neben den Kontrabässen.

»Früher oder später werdet ihr euch sowieso über den Weg laufen«, warf Sergeja ein.

Ach ja? Ginge es nach Jan, hätten sie geschmeidig die nächste Eiszeit abwarten können, bevor Einar und er sich früher oder später über den Weg liefen. Noch immer verweigerte er eine Antwort.

Sergejas Hand verstärkte liebevoll ihren Druck: »Dann weiß Einar auch endlich, wer Mias leiblicher Vater ist.«

Jan hätte den Rosen am liebsten die Köpfe abgebissen. Hektisch friemelten seine Finger an der Folie herum. Dem gebauschten Rock von vorhin waren inzwischen Flügel gewachsen. Und offenbar war es kein Rock, sondern ein Kleid. Wenn Sergeja wenigstens nicht ständig seinen Namen aussprechen würde: Einar! Und was, bitte, sollte »leiblicher« Vater bedeuten? Dass es noch einen anderen gab? Dass fucking Einar neuerdings die Rolle des nicht-leiblichen Vaters übernahm?

Und wie kam sie auf »endlich«? Sergeja hörte sich an, als seien Einar und sie bereits seit Jahren ein Paar. Dabei konnten sie noch nicht lange zusammen sein. Jan hatte ihn gegoogelt: Dr. Einar Schmähling, Richter am Bundesgerichtshof, Mitglied des Großen Senats für Zivilsachen – was immer das bedeutete –, Honorarprofessor an der Universität Bonn, Vorsitzender der juristischen Studiengesellschaft und offenbar immer ein sympathieheischendes Lächeln im Gesicht. Jedenfalls auf den Fotos, die Jan von ihm gefunden hatte. Da blickte Doktor Einar dem Betrachter mit seinen wässrigen Schlaumeieraugen durch eine schmalrandige Brille entgegen, obenrum eine graue Igelfrisur, untenrum das väterliche Lächeln, und unter Garantie immer einen gutgemeinten Rat für jeden denkbaren Lebenspart auf Lager. Achtundfünfzig war der Typ, zwölf Jahre älter als Jan! Ein Kind aus erster Ehe hatte er auch. Und die war vor noch nicht einmal drei Monaten geschieden worden. Von »endlich« konnte also keine Rede sein.

Jan sah Sergeja an, und dann hörte er sich sagen: »Mit deinem Lächeln könnte man mühelos die Welt retten.«

»Heißt das, du kommst?«

»Schätze schon.«

»Prima!«

Wenigstens kein Bruckner, dachte Jan. Bruckner war noch schlimmer als Mozart. Am 14. Februar, bei Sergejas Gastspiel in Frankfurt, hatte Jan sich gefühlte achtzehn Stunden von musikalischen Felsblöcken steinigen lassen, nur um sie anschließend zum Essen ausführen zu können.

Sergejas Hand löste sich von seinem Arm. Sie lehnte sich zurück, zog eine Eintrittskarte aus ihrer Handtasche und legte sie auf die Armlehne. »Erster Rang, Mitte.« Sie deutete über ihre Köpfe. »Die besten Plätze.«

Von wegen, Sergeja konnte nichts mit Ironie anfangen: Da sagte sie ihm doch tatsächlich ins Gesicht, der beste Platz im großen Saal des Berliner Konzerthauses sei ausgerechnet der neben Einar.

»Danke.«

Auf der Bühne setzte Betriebsamkeit ein: Violinen wurden gestimmt, Kontrabässe formten dunkle Töne, die wie Säulen zur Decke emporwuchsen. Gleich wäre die Pause zu Ende und Jans Audienz beendet. Mit Verwunderung registrierte er, dass dem Folienkleid mit den transparenten Flügeln ein Kopf entsprungen war.

»Ich habe noch etwas für dich«, sagte Sergeja im Flüsterton. Sie badete ihn in einem Blick ihrer smaragdgrünen Augen. Dann hielt sie plötzlich einen Briefumschlag in der Hand. »Ich habe lange überlegt, ob ich dir den wirklich geben soll«, sagte sie. »Ob du es nicht falsch verstehen würdest.«

Jans erster Gedanke war eine Zahlungsaufforderung. 99 Prozent aller Briefe, die durch seine Hände gingen, waren Zahlungsaufforderungen. »Was ist das?«

Sie hielt ihm den Umschlag hin. Teures Papier. »Jan Bechstein« stand darauf, in geschwungenen Buchstaben, geschrieben mit Füller, von Sergeja. »Mach ihn auf.«

Jan betrachtete den Origami-Engel in seinem Schoß, fragil wie Glas, die Hände zum Gebet erhoben.

»Ich werde nie begreifen, wie du diese Kunstwerke faltest«, sagte Sergeja.

»Ich auch nicht«, antwortete Jan, setzte den Engel neben sich ab, nahm den Umschlag, riss ihn auf und hielt plötzlich eine Einladung in der Hand.

Eine Hochzeitseinladung. Sergeja Bechstein und Dr. Einar Schmähling gaben ihre Hochzeit bekannt. Eine Handvoll zähe, tonnenschwere Sekunden lang war Jan der festen Überzeugung, er heiße Dr. Einar Schmähling. Dann war es eingesickert.

»Glückwunsch«, sagte jemand, dessen Stimme der von Jan ähnelte.

»Ich hätte auch nicht gedacht, dass mir das noch einmal passieren würde«, überlegte Sergeja, den Blick zur Bühne gerichtet.

Von einem Moment auf den anderen hatte Jan einen galligen Geschmack auf der Zunge, der ihm die Kehle zusammenschnürte.

»Wir heiraten übrigens in Brevicka«, sagte sie.

Jan starrte sie an.

»In Slowenien«, ergänzte sie.

Ohne dass er es unterdrücken konnte, begann in seinem Kopf alles mögliche hervorzusprudeln: Jan sah das kleine Würfelhäuschen ihres Großvaters am Ende der Straße, hatte den abgestandenen Geruch der Kammer unter dem Dach in der Nase, schmeckte den Regen, der auf das kleine Fenster prasselte, fühlte das Klappsofa, das viel zu eng für sie hätte sein müssen und auf dem doch so viel mehr Platz gewesen war, als sie gebraucht hätten.

»In unserem Dorf, meinst du.«

»Ich bitte dich, Jan«, erwiderte Sergeja. »Das war nie unser Dorf.«

Und ob es das war, dachte Jan. Und es ist noch immer unser Dorf. Und wird es immer bleiben. »In unserer Kapelle?«, fragte er.

»Wie du dich vielleicht erinnerst, gibt es nur eine Kapelle im Ort. Und es ist nicht unsere.«

Jan erinnerte sich an die Beerdigung ihres Großvaters. Dafür war Sergeja aus Deutschland angereist, aus Heidelberg, wo sie Musik studierte. An den winzigen Friedhof neben der Kapelle, den Geruch von Waldpilzen und lehmiger Erde. Er sah Sergeja am Grab stehen, durchscheinend wie Alabaster. Eine erstarrte Melodie. Bereits in diesem Moment hatte er geahnt, dass es kein Zurück für ihn geben würde. Etwas in ihm hatte es geahnt.

»Einar fand, es wäre eine schöne … Geste«, unterbrach Sergeja seine Gedanken. »Außerdem, du weißt doch, was man bei uns sagt: Eine Frau muss da heiraten, wo sie getauft wurde, sonst bringt es Unglück.«

»Zurück auf Los«, murmelte Jan.

»Wenn du so willst …«

Verlogener Drecksack, dachte er. Einar. Aber schlau. Er gab vor, mit Sergeja noch einmal von vorn anfangen zu wollen, in Wirklichkeit wollte er natürlich Jans Platz einnehmen, den alten Baum neu anpinkeln, die Vergangenheit überschreiben. Und wenn Sergeja ehrlich zu sich selbst war, dann wusste sie das. Musste es wissen.

Jan hatte noch geraucht, damals, und nachdem der Sarg in der Erde verschwunden war, hatte sich, ohne dass er hätte sagen können, wann, seine Marlboroschachtel in einen Schmetterling verwandelt, der auf seiner Handfläche saß. Er hätte gern die passenden Worte für Sergeja gehabt. So Typen gab es ja: die in jeder Lebenslage immer genau das Richtige sagten. Kein Mensch wusste, wo die das hernahmen. Und Jan schon gar nicht. Also trat er an sie heran und gab ihr den Schmetterling, und zum Dank krönte Sergeja ihre Tränen mit einem Lächeln und setzte den Schmetterling behutsam auf dem Erdhaufen neben dem Grab ab, als könne sich die Seele ihres Großvaters auf diesen Flügeln in den Himmel schwingen.

Vorn schob sich der große Rosenegger zentimeterweise auf die Bühne zurück. Die Stimmen der Instrumente fanden zueinander.

Sergeja stand auf, beugte sich herab und gab Jan einen Kuss auf die Wange. »Ich muss …«

Wieder wurde er von ihrem Geruch gestreift. Melancholie der gravitätischsten Abart.

Sie strich ihren Rock glatt. »Sei mir nicht böse, Jan, aber ich möchte die Blumen lieber nicht nehmen. Bis nach dem Konzert sind sie ohnehin nichts mehr, außerdem sind einige meiner Kolleginnen echte Klatschbasen. Da wird sofort getuschelt.«

Jan nickte stumm. Dann nahm er den Engel, den er aus der Folie gefaltet hatte. »Willst du den hier? Bringt Glück.«

Sergeja nahm ihn. Mit ihrem Lächeln hätte sich tatsächlich die Welt retten lassen. Nicht aber Jan, der war verloren.

»Danke.« Sie war im Begriff, sich abzuwenden, als ihr noch etwas einfiel. »Du denkst an morgen?«

Jan dachte an Selbstmord.

»Mia«, erklärte sie.

Jan dachte noch immer an Selbstmord. Oder Freitod. Klang irgendwie bedeutsamer.

»Unsere Tochter wird morgen sechzehn.«

Kaum zu glauben, aber Jan bekam tatsächlich ein Lächeln zustande. »Ich denke an nichts anderes.«

Und dann saß er im Zuschauerraum, zwei Sitze neben sich einen Strauß weißer Rosen, auf der Armlehne die Eintrittskarte fürs Fegefeuer.

2

»Eines Tages wird das alles auf dich zurückfallen, mein lieber Sohn«, hatte Doreen damals gesagt.

Berichtigung: Sie hatte es prophezeit. Mit dem ihr eigenen Anspruch natürlicher Überlegenheit. Dabei hatte sie Jan den Rücken zugewandt, mit dem Zeigefinger die Gardine des Küchenfensters zur Seite geschoben und hinausgeblickt. So, wie sie es immer tat. Als ziehe unten auf der Straße die Zukunft vorbei.

»Eine wie Sergeja findet man nur einmal im Leben«, murmelte sie noch, dann fiel die Gardine wie der Vorhang nach einer Theateraufführung. Das letzte Wort war gesprochen.

Lange hatte Jan gehofft, seine Mutter eines Besseren belehren zu können, einmal am längeren Hebel zu sitzen. Schließlich aber hatte sich auch diesmal ihre Prophezeiung bewahrheitet: Es war alles auf ihn zurückgefallen. Das war ja generell das Schlimmste an Müttern: dass sie am Ende immer recht behielten. Auf der anderen Seite hatten all ihre Prophezeiungen nicht verhindern können, dass auch ihr Mann entflohen war, Reinhard, und sie mit ihren Kindern hatte sitzenlassen, Söhnen noch dazu. Ein Makel, der für immer an ihr haften würde. Selbstredend hatte Doreen auch vorhergesehen, dass auf Reinhard alles zurückfallen würde, eines Tages, dass er seine Entscheidung bitter bereuen würde. Doch dazu war es nicht gekommen. Jans Vater starb früh in den Armen einer unsittlich jungen Frau. Gehirntumor. Zu früh, um zu bereuen. Insgeheim würde Doreen ihm das niemals verzeihen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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