Bullenbrüder: Tote haben keine Freunde - Edgar Rai - E-Book

Bullenbrüder: Tote haben keine Freunde E-Book

Edgar Rai

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zwei Brüder. Eine Leiche. Jede Menge Ärger. Holger Brinks ist Kommissar bei der Mordkommission. Sein Bruder Charlie schlägt sich als Privatschnüffler durchs Leben. Der eine ein korrekter Beamter mit Familie, der andere ein ausgebuffter Hallodri mit Bindungsproblemen. Als Charlie mal wieder von einer Beinahe-Traumfrau vor die Tür gesetzt wird, bittet er seinen Bruder um Obdach – und landet auf der Luftmatratze in Holgers Gartenlaube. Der Kommissar steht beruflich unter Druck: Der engste Vertraute des Berliner Unterwelt-Bosses Bobby Schütz wurde tot im Aufzug eines Berliner Luxushotels gefunden - mit einem Koffer Kokain. Pikanterweise hat auch Charlie Verbindungen zu Schütz und seinem Clan ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 381

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Edgar Rai • Hans Rath

Bullenbrüder: Tote haben keine Freunde

Kriminalroman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Zwei Brüder. Eine Leiche. Jede Menge Ärger.

 

Holger Brinks, Kriminalhauptkommissar der Mordkommission, ist immer korrekt, manchmal sogar spießig. Sein Bruder Charlie hingegen schlägt sich als Privatschnüffler durchs Leben und passt seine Vorgehensweise gerne den Umständen an. Vorschriften sind da eher hinderlich. Gerade hat ihn mal wieder eine Exfreundin vor die Tür gesetzt, und so bittet er Holger für ein paar Tage um Unterschlupf. Der wird ihm gewährt – im Gartenhaus. Holger selbst plagen gerade berufliche Sorgen. Der Adlatus des Berliner Unterwelt-Bosses Bobby Schütz wurde tot im Aufzug eines Berliner Luxushotels gefunden. Mit im Aufzug: ein Koffer voller Kokain. Pikanterweise hat auch Charlie Verbindungen zu Schütz und seinem Clan. Verbindungen, die Holger für sich nutzen könnte. Aber dafür müsste er sich auf Charlies Methoden einlassen – und seinen eigenen Kopf riskieren …

Über Edgar Rai • Hans Rath

Hans Rath, geboren 1965, studierte Philosophie, Germanistik und Psychologie in Bonn. Er lebt mit seiner Familie in Berlin, wo er unter anderem als Drehbuchautor tätig ist. Zwei Bände seiner Romantrilogie um den Mittvierziger Paul Schubert wurden fürs Kino adaptiert. Seine aktuellen Bücher aus der Reihe «Und Gott sprach» sind ebenfalls Bestseller.

 

Edgar Rai, geboren 1967, wurde mehrerer Schulen verwiesen, ging ein Jahr nach Amerika und studierte Musikwissenschaften und Anglistik in Marburg und Berlin. Er arbeitete unter anderem als Drehbuchautor, Basketballtrainer, Chorleiter, Handwerker und Onlineredakteur. Seit 2001 ist er freier Schriftsteller und hat unter anderem die Romane «Nächsten Sommer» und «Etwas bleibt immer» veröffentlicht. Edgar Rai hat drei Kinder und lebt in Berlin.

1

Als er seine Jacke vom Bügel nimmt und die Zeitung in die Seitentasche stopft, ist Holger noch guter Dinge. Aber schon beim Aufziehen der Haustür rauscht seine Stimmung spontan in den Keller. Durch das Küchenfenster hat er den Dienstwagen vorfahren sehen, hat den Rest seines Kaffees in den Ausguss gekippt, die Tasse in die Spüle gestellt und die Zeitung zusammengerollt. So weit, so gut. Was er nicht gesehen hat, war Charlie. Der steht am Gartentor und schirmt mit der freien Hand die Augen ab, weil ihm die Sonne zur Abwechslung mal nicht aus dem Hintern, sondern ins Gesicht scheint.

«Hey!», ruft er und winkt Holger zu.

Als wären sie Nachbarn oder Kollegen oder Freunde.

Dabei sind sie Brüder.

Holgers Blick fällt auf die Tasche, die Charlie geschultert hat. Da passt eine Menge rein, in so eine Tasche. Genug für einen zweiwöchigen Urlaub. Reflexartig zieht Holger die Tür hinter sich ins Schloss. Charlie stellt die Tasche ab und streckt Holger über das Tor hinweg die Arme entgegen, Handflächen nach oben. Könnte auch eine Verzweiflungsgeste sein.

«Willst du mich nicht begrüßen?», sagt Charlie.

Holger schaut zu dem dunkelblauen Ford Focus hinüber, in dem schon wieder ein neuer Fahrer sitzt. Im Kommissariat reißen sie sich nicht gerade darum, ihn zu fahren. Die meisten jungen Kollegen finden es Old School, den Chef durch die Gegend zu kutschieren. Holger macht sich nichts draus. Er hat lange und hart daran gearbeitet, Old School zu sein. Hinter dem Focus parkt der metallicgrüne Gran Torino, den Charlie aus den USA mitgebracht hat. Ein Auto, so unauffällig wie ein Zeppelin in einem Taubenschwarm. Wie geschaffen für jemanden, der von sich behauptet, Privatermittler zu sein.

Holger wendet sich seinem Bruder zu: «Bist du schon länger in der Stadt?»

«Zwei, drei Wochen, max», lügt Charlie.

«Ich hab mit Mutter telefoniert», erwidert Holger.

«Höchstens ein halbes Jahr», fügt Charlie schnell hinzu. Sein Gesicht soll Zerknirschung ausdrücken. «Ich weiß, ich hätte mich melden sollen.» Charlie lässt die Arme sinken. «Aber jetzt bin ich ja hier!»

Es klingt, als gratuliere er Holger zum Hauptgewinn.

«Du hättest wenigstens deinem Patensohn alles Gute zum Geburtstag wünschen können.»

«Lucas hatte Geburtstag?»

Holger verschränkt die Arme wie ein Türsteher. «Wir haben alle Geburtstag, Charlie. Einmal im Jahr. Und der von Lucas war letzte Woche.»

«Echt? Ich dachte, der hat im Mai.»

«Es ist Mai!»

«Oh.»

Der Fahrer ist ausgestiegen. «Herr Brinks», ruft er, «wir müssen!»

Holger kann sich nicht erinnern, dieses Gesicht schon einmal gesehen zu haben. Und er vergisst Gesichter nicht. Mitte zwanzig, rötlich schimmernder Hipster-Bart, Klugscheißer-Blick. Und tut so, als hätte er hier das Sagen.

Holger ignoriert den jungen Mann, sieht stattdessen Charlie an. «Immerhin bist du vorbeigekommen, um dich zu verabschieden», sagt er. «Netter Zug von dir.»

Charlie blinzelt verständnislos in die Sonne.

Eine kleine Genugtuung für Holger. Er weiß, sie wird nicht lange vorhalten, aber für den Moment fühlt es sich beinahe gut an. Holger öffnet das Gartentor und steigt über Charlies Tasche.

«Wo geht’s diesmal hin?» Er zieht das Tor zu, lässt es einrasten. «Mallorca? Dominikanische Republik? Neuseeland?»

«Ich will nicht verreisen», erwidert Charlie.

Weiß Holger natürlich. Und Charlie weiß, dass er es weiß. Dennoch gönnt er sich eine weitere kleine, zugegebenermaßen kindische Genugtuung.

«Nein?»

«Nein, ich … Komm schon, Holger. Du weißt, warum ich hier bin.»

Holger tut, als müsse er überlegen: «Keine Ahnung. Sag’s mir.»

«Ich wollte dich fragen, ob ich ein paar Tage bei euch wohnen kann. Nur so lange, bis ich … was Neues gefunden habe.»

Was bedeutet, dass Charlie es mal wieder verbockt hat. Es gibt nicht viele Dinge, die er richtig gut beherrscht, aber im Verbocken ist er Weltspitze.

«Eine Neue, meinst du.»

Das ist der Moment, in dem Charlie sich zum gefühlt hundertsten Mal vornimmt, sein Leben zu ändern. Diesmal muss er es tun. Wenn du mit 42 bei deinem Bruder zu Kreuze kriechen musst, um einen Schlafplatz zu finden, dann musst du dein Leben ändern!

«Können wir diese Spielchen nicht bleiben lassen?», fragt Charlie.

«Sicher.»

«Danke. Also – was ist jetzt? Kann i…»

«Nein.»

Charlie sucht im Gesicht seines Bruders nach Anzeichen von Ironie. Aber da ist nichts. «Im Ernst?»

Holger überlegt, ob er es Charlie ins Gesicht sagen soll – dass er sich nicht achtzehn Jahre lang jeden Monat sechshundert Euro vom Gehalt abgespart und seinem Bruder überwiesen hat, damit ihm das ererbte Haus endlich allein gehört, um Charlie anschließend bei sich einziehen zu lassen.

Bevor er jedoch die richtigen Worte gefunden hat, meldet sich der Fahrer wieder zu Wort: «Herr Brinks!»

Der Hipster-Bart hat eine Hand auf das Dach des Autos gelegt. Als hätte er es auf einer Safari geschossen. Holger macht dasselbe bei Charlie: legt ihm eine Hand auf die Schulter.

«Du hörst es ja: Ich muss los. Da wartet eine Leiche.»

Holger steigt ein und zieht die Tür zu. Als der Wagen losfährt, gönnt er sich einen Blick in den Rückspiegel. Neben der Tasche steht sein Bruder und sieht ihnen nach.

«Jetzt war’s aber wirklich höchste Zeit, Herr Brinks», hört er seinen Fahrer sagen.

Holger wartet, bis sie die Kolonnenstraße kreuzen, bevor er fragt: «Wie heißen Sie?»

«Niclas.»

«Sehen Sie den Bäcker da vorne, Niclas?»

«Klar.»

«Halten Sie da mal kurz an, bitte.»

«Wir sollten uns wirklich beeilen», entgegnet Niclas.

Manchmal – sehr selten – bekommt Holger diesen Blick, den man ihm eigentlich gar nicht zutraut. Dann weicht jede Wärme aus seinem Gesicht. Mehr als ein Mal sind Tatverdächtige unter diesem Blick eingeknickt, von selbst. Wollten plötzlich reden.

«Nee, klar, kein Problem», beeilt sich Niclas zu sagen und lenkt den Wagen an den Straßenrand.

Holger zieht sein Portemonnaie aus der Jacke und kramt ein paar Euro hervor.

«Sie holen mir jetzt einen Kaffee mit zwei Stück Zucker. Und das nächste Mal, wenn einer von uns beiden sagt, dass wir es eilig haben, bin ich das.»

Der Hipster nickt. «Alles klar.»

Holger hält ihm das Geld hin. «Gut. Und beeilen Sie sich, wir haben wenig Zeit.»

 

In seinen Glanzzeiten gehörte das «Kosmos» zu den glamourösesten Westberliner Absteigen. Juhnke, Eden, Diepgen. So die Ära. Beste Ku’damm-Lage. Der Erste ist lange tot, beim Zweiten weiß man es nicht so genau, der Dritte schiebt inzwischen seine Enkel in einem dreirädrigen Kinderwagen durch den Prenzlberg. Der Lauf der Dinge. Und dann wäre da natürlich noch Jimmy Schütz, der Eigentümer des «Kosmos».

Keiner wusste je so genau, wo Jimmy überall seine Finger mit drin hatte, aber es ist nicht bekannt, dass es im «Kosmos» jemals einen Engpass an Champagner, Drogen oder Animierdamen gegeben hätte. Eine Zeitlang war auch von gekauften Boxkämpfen in der Deutschlandhalle die Rede. Und als dieser Chinese mit seinem Schoßhündchen in der Stadt auftauchte – Hong Li oder Chi Lung oder wie der hieß – und gegenüber von Jimmys «Ladies in» das «Annapurna» aufmachte, trieb er zwei Wochen nach der Eröffnung gemeinsam mit seinem Hund morgens in der Schleuse im Tiergarten, beide mit einem Loch in der Stirn. Natürlich fiel der Verdacht auf Jimmy. Geredet wird ja immer viel. Nachweisen konnte man ihm aber nichts. Inzwischen hat er sich zurückgezogen, zwangsweise. Hatte letztes Jahr einen Schlaganfall. Seitdem sitzt er im Rollstuhl in seinem Garten und sieht den Rosen beim Blühen zu. So ist das. Die Deutschlandhalle steht ja auch nicht mehr.

Die «schwarze Etage» übrigens, der fünfte Stock des «Kosmos», machte schon damals von sich reden. Keine Kameras, kein Zimmerbelegungsplan, keine Buchführung, Bezahlung nur in bar. Gäste bekommen einen nummerierten Schlüssel, ohne den der Fahrstuhl nicht bis nach oben fährt. Jack Nicholson soll bis heute einen eigenen besitzen. Es heißt, als sich Ende der Siebziger mal ein Journalist auf die Etage verirrte, habe er das Hotel mit drei gebrochenen Fingern wieder verlassen. Man könnte also ohne Übertreibung von einem legendären Ort sprechen.

KK Jensen steht unter dem Kronleuchter im Foyer und betastet unauffällig seine Haare, als Holger das «Kosmos» betritt. Dicke Vorhänge, schwere Sessel, Messing, dunkles Holz. Möglich, dass es mit dem plüschigen Interieur zusammenhängt, aber Holger ertappt sich zum wiederholten Male dabei, wie er sich fragt, ob sein junger Kollege schwul ist – so wie er dasteht und sich die Haare befingert. Das mit dem Schwulsein wäre Holger egal. Was ihm nicht egal ist, ist, dass er «schwul» und «modebewusst» neuerdings nicht mehr auseinanderhalten kann. Vor ein paar Jahren war das noch einfacher.

Beamte des gehobenen Polizeivollzugsdienstes sind angehalten, im Einsatz «lageangepasste Zivilkleidung» zu tragen. Weshalb das für Jensen bedeutet, sich allmorgendlich so herauszuputzen, als würde er in der Mittagspause heiraten, ist Holger schleierhaft. Ein bisschen verunsichert es ihn auch. Spießig sei das neue Cool, hat er mal gelesen. Vermutlich hat Jensen es ebenfalls gelesen. Oder eben doch schwul.

«Herr Brinks!» Jensen streckt ihm freudig die Hand entgegen, die eben noch seinen Scheitel betastet hat. «Gut, dass Sie da sind. Einige der Gäste scharren schon mit den Hufen, weil wir sie so lange in ihren Zimmern festhalten. Die Spurensicherung ist auch gerade eingetroffen. Hier entlang, bitte. Wir müssen die Treppe nehmen.»

Es ist das erste Mal, dass Holger die «schwarze Etage» persönlich zu sehen bekommt. Allerdings präsentiert sich der Ort wenig magisch. Zunächst einmal muss er durchatmen, die Hände in die Hüften stemmen. In den Hüftring, besser gesagt. Fünf Stockwerke ohne Fahrstuhl, und ihm geht die Puste aus. Alle zwei Wochen den Rasen mähen und «regelmäßig Sport treiben» sind eben doch nicht ganz dasselbe. Dicker Teppich, sehr dick. Macht einen Schalldämpfer direkt überflüssig. Tulpenförmige Wandlampen verströmen spärliches Licht. Holger blickt den Flur hinunter, dessen Ende im Dämmerlicht verschwimmt. Zwei schwarze Silhouetten sind zu erkennen. Kollegen. Es riecht nach Raumspray und Schießstand. Von irgendwoher ist ein wiederkehrendes, metallisches Schlurfen zu hören.

«Was ist das hier?», fragt er. «Ein Darkroom mit zehn Zimmern?»

«Zwölf», berichtigt Jensen.

Jensen geht voraus. Der Fahrstuhl befindet sich um die Ecke. Nach nur wenigen Metern halten beide wie auf ein Zeichen hin inne und legen die Köpfe schief.

«Wie ich bereits am Telefon sagte …» Jensen räuspert sich. «Da hat jemand eine ziemliche Sauerei veranstaltet.»

Das wiederkehrende metallische Schlurfen rührt von der Fahrstuhltür her, die sich alle zehn Sekunden zu schließen versucht und anschließend wieder zurückfährt, weil ein Fuß im Weg liegt. Holger lässt sich von den Kollegen der Spurensicherung Hand- und Überschuhe geben, außerdem ein Stück Tape, das er über die Lichtschranke klebt, damit die Tür aufbleibt. Dann tritt er einen Schritt zurück – dahin, wo in etwa der Mörder gestanden haben muss, als er sein Magazin geleert hat.

Der Mann, der vor ihm im Fahrstuhl liegt, wurde von mindestens drei Kugeln getroffen – bevor er zu Boden ging. Der Kopf klemmt im rechten Winkel zwischen Schultern und Rückwand des Lifts, die Augen starren ins Nichts. In der Stirn, leicht nach links versetzt, klafft ein drittes, schwarzes Auge, aus dem nur wenig Blut getreten ist – ein wie mit schmalem Pinsel aufgetragenes Rinnsal, das die Nase hinuntergelaufen und auf das Hemd getropft ist. Ein Arm liegt ausgestreckt und greift ins Leere. Offenbar hatte das Opfer noch Gelegenheit, den Knopf zum Untergeschoss zu drücken – das «U» leuchtet. Bevor der Fahrstuhl sich schließen konnte, lag allerdings schon sein Fuß in der Tür. Das ist der Nachteil bei Fahrstühlen aus den Siebzigern: Wenn es schnell gehen soll, nimmst du besser die Treppe. Holger greift abwesend in seine Jackentasche, findet eine der Schachteln, die in jeder seiner Jacken stecken, und drückt sich zwei extra starke Kaugummis heraus. Den Trick hat er noch von seinem Vater. Der Geschmack fährt ihm durch die Nase bis ins Gehirn. Es hilft, auch wenn nicht klar ist, warum oder wogegen.

Der Boden sowie die Leiche sind mit Scherben übersät. Überall klebt Blut – selbst an der Standvase, die neben dem Fahrstuhl im Flur steht. Unwahrscheinlich, dass der Mörder nicht auch etwas abbekommen hat. Sämtliche Spiegel im Aufzug sind zerschossen worden, der an der Decke eingeschlossen. Und da lag das Opfer bereits dort, wo es jetzt liegt. Holger stellt sich vor, wie der Mörder, nachdem das Opfer zusammengesackt war, sich selbst in der verspiegelten Rückwand gesehen hat, die Pistole in der Hand. Um dann auf sich selbst zu schießen, sein Spiegelbild auszulöschen? Der Fahrstuhl jedenfalls sieht aus, als hätte jemand eine Handgranate hineingeworfen. Das Interessanteste aber ist: Über allem liegt eine feine, weiße Schicht. Wie Puderzucker. Nur weniger süß. Weil es nämlich Kokain ist.

Der Tote hat einen Koffer bei sich. Schwarzes Kalbsleder, wie in den guten, alten Zeiten. Und diesen Koffer hat er hochgerissen, als auf ihn geschossen wurde. So muss es gelaufen sein. Sonst wären jetzt nicht ebenso viele Löcher im Koffer wie in der Leiche. Eine Kugel hat den Verschluss zerschmettert, der aufgeklappte Koffer liegt neben der Leiche. Von den vielen einzeln verschweißten Beutelchen, die sich darin befunden haben und die jetzt im Fahrstuhl liegen, sind sicher zwanzig zerfetzt worden. Der Inhalt hat sich in der Umgebung bis in die kleinste Ritze verteilt. Als Holger zurücktritt, sieht er seine Fußabdrücke in der Puderschicht. Viel Spaß bei der Spurensicherung.

«Wissen wir schon, wer das ist?», fragt er.

«Cedric van de Vedel», antwortet Jensen. «Scheint hier im Hotel kein Unbekannter gewesen zu sein. Mehr habe ich in der Kürze der Zeit noch nicht rausfinden können, aber …» Jensen verstummt, weil Holger den Kopf schief gelegt hat und die Leiche betrachtet, als wäre sie ein Kunstwerk.

«Das ist also der Mann mit dem Koffer», murmelt Holger.

«Wie bitte?», fragt Jensen.

«Der Mann mit dem Koffer», wiederholt Holger, «Sie liegen richtig. Der ist hier kein Unbekannter.»

 

Was Holger über Cedric van de Vedel weiß, beschränkt sich auf das, was mehr oder weniger alle wissen, die so lange dabei sind wie er. «Der Mann mit dem Koffer» galt als Jimmy Schütz’ rechte Hand und gehörte bereits zu dessen Mannschaft, als Holger zur Mordkommission kam. Und das liegt vierundzwanzig Jahre zurück. Ein Vierteljahrhundert. Schon jetzt graust es Holger vor seinem Dienstjubiläum im nächsten Jahr.

Vorsichtig beugt er sich in den Fahrstuhl und zieht den Schlüsselbund ab, der im Schloss für die fünfte Etage steckt. An dem Ring hängen noch ein halbes Dutzend weiterer Schlüssel, einer davon gehört zu einem Audi. Er fasst den Autoschlüssel an der Spitze und reicht Jensen den Ring.

«Er hatte noch Zeit, den Knopf zur Tiefgarage zu drücken. Sollte mich wundern, wenn da nicht das Auto zu finden wäre, das zu diesem Schlüssel gehört. Wenn es da ist, wüsste ich gerne, was drin ist.»

«Was ist mit den Gästen?», fragt Jensen.

«Keiner verlässt sein Zimmer, bevor wir ihn nicht vernommen haben. Der Mörder muss über die Treppe geflüchtet sein.»

«Es sei denn, …»

«… er befindet sich noch auf der Etage.»

Jensen nickt, nimmt den Schlüssel an sich und verschwindet im Treppenhaus.

Holger holt sein Smartphone aus der Jacke, streift seinen rechten Handschuh ab, weil man mit diesen Dingern das Touch-Display nicht bedienen kann, blättert im Namensverzeichnis und wählt die Nummer von «H. Wieczoreck Drogen priv.». Guter Mann.

«Holger», meldet sich sein Kollege aus dem Drogendezernat, «wie geht’s?»

Fragt Holger sich auch manchmal. Wie geht es dir, wenn du gefragt wirst, wie es dir geht, und du keine Antwort darauf hast?

«Müsste ich erst mal drüber nachdenken», gibt er zu.

Hans Wieczoreck schickt ein Schnaufen durch die Leitung. «So schlimm?»

«Wie gesagt: Ich müsste drüber nachdenken.»

«Wir sollten mal wieder ein Bier trinken gehen.»

«Haben wir doch erst neulich gemacht.»

Einen Moment ist es still, dann antwortet Hans: «Das war 2011, glaub ich.»

Jetzt ist es Holger, der schnauft: «Na, dann drängt es ja nicht, oder?»

Es vergehen drei Sekunden, in denen jeder für sich die Jahre seit dem letzten gemeinsamen Bier Revue passieren lässt, dann sind sie in der Gegenwart angekommen.

«Was kann ich für dich tun?», fragt Hans.

Holger blickt in den Fahrstuhl. Und versteht es nicht. Weshalb richtet jemand ein solches Blutbad an – und lässt anschließend einen Koffer voll Kokain liegen? Sieht aus wie bei Tarantino. Holger spürt das Gewicht all der Fragen, die ab jetzt auf ihn warten, sieht sie auf sich zukommen wie einen Vogelschwarm, untrennbar, zahllos. Er kennt das nur zu gut. Was sie dir auf der Polizeischule verschweigen, ist, dass du nicht cool, mutig, agil, clever oder gerissen sein musst, um in diesem Job Erfolg zu haben. Du brauchst vor allem Geduld. Und Beharrlichkeit. Und noch mal Geduld.

«Cedric van de Vedel», sagt er.

 

Während Jensen in der Tiefgarage nach dem Audi sucht, erfährt Holger ein paar interessante Details über Cedric van de Vedel. Der Mann mit dem Koffer hat sich praktisch nie in der Öffentlichkeit gezeigt. Keine knallenden Sektkorken, keine Fotos mit Zigarre im Mund und Nutten in den Armen. Vierzig Jahre lang hat er für Jimmy Schütz gearbeitet und ist in der gesamten Zeit nicht ein einziges Mal verurteilt oder auch nur angeklagt worden. Ein kleines Wunder. Aus diesem Grund soll der alte Schütz ihn auch mit allem betraut haben, was Diskretion erforderte – ein Wort, das ja heute schwer aus der Mode ist. Mit dem Rückzug des Alten sind Cedric und Jimmys Sohn Bobby dann in die erste Reihe aufgerückt.

«Bobby, der Bruchpilot?», unterbricht Holger die Ausführungen seines Kollegen.

Genau der. So weit bekannt ist, hat Jimmy nur einen Sohn. Wer sonst sollte also sein Erbe antreten? Deshalb hat der Alte verfügt, dass sein Sohn und seine rechte Hand die Geschäfte gemeinsam weiterführen sollen. Es geht um Drogen, Kokain vor allem. Ungefähr ein Drittel der Stadt wird von Schütz versorgt, mehr oder weniger die gesamte City-West. In den Osten ist der Alte nur gefahren, wenn es nicht anders ging. Das Hotel macht seit Jahren Verlust und ist eigentlich nur noch zum Geldwaschen da. Dazu das «Western» – der Nachtclub in der Kantstraße, in dem Bobby schon seit Jahren Geschäftsführer ist und der allein aus diesem Grund niemals Gewinn abwerfen wird. Eigentlich eine ganz schlaue Überlegung des Alten – Cedric und Bobby als Doppelspitze. Wenn du einen Sohn hast, der die Kohle mit beiden Händen zum Fenster rausschaufelt, brauchst du einen, der die Geschäfte am Laufen hält.

So weit bekannt ist, wird das Kokain eingeschifft, über Hamburg vermutlich. Jede Woche, konstant wie ein Schweizer Uhrwerk. Mit ziemlicher Sicherheit ist Cedric derjenige, der die Lieferwege kontrolliert und dafür sorgt, dass der Stoff sicher nach Berlin gelangt. Hier kümmert sich dann in erster Linie Bobby darum, das Zeug an die richtigen Stellen zu verteilen, vermutlich über den Club.

Das System funktionierte jahrelang wie geölt, in letzter Zeit allerdings scheint Sand ins Getriebe geraten zu sein. Genaues ist nicht bekannt, aber zwischen Bobby und Cedric soll es knirschen, hörbar. Kann man sich ja denken – so wie der Filius drauf ist.

«Sand im Getriebe …» Holger beugt sich in den Fahrstuhl und hebt mit der behandschuhten Hand eines der Kokainpäckchen auf, wiegt es in der Hand, schätzt es auf fünf Gramm. Der Typ von der Spurensicherung verdreht die Augen, sagt aber nichts. Holger überschlägt im Geiste, wie viele Päckchen da im Fahrstuhl liegen, und kommt auf zwei bis drei Kilo.

«Wenn du sagst, Schütz’ Organisation deckt ungefähr ein Drittel des Berliner Bedarfs ab – von wie viel Kokain reden wir dann?»

«Wir gehen davon aus, dass Schütz etwa fünf Kilo die Woche umschlägt.»

Holger wirft das Päckchen zurück zu den anderen. «Könnte sein, dass es dieses Wochenende einen Engpass gibt.»

 

«Kein Auto.» Jensen hält Holger den Schlüsselbund hin. «Jedenfalls keins, das zu dem Schlüssel passt.»

Der Typ hat gerade sechs Stockwerke erklommen und ist kein bisschen außer Atem. Nicht einmal ein Haar ist verrutscht. Holger sollte öfter den Rasen mähen. Zweimal täglich wäre gut. Und nicht so oft in der Kantine essen.

«Gibt es da unten Überwachungskameras?», fragt er.

«Zwei. Hab mit der Rezeption gesprochen. Die Aufnahmen werden uns zur Verfügung gestellt.»

«Haben wir bereits eine Liste der Personen, die sich auf der Etage aufhalten?»

«Soweit wir sie ermitteln konnten …»

«Darunter ist nicht zufällig ein Bobby Schütz?»

Jensen holt sein Smartphone hervor und beginnt, zu tippen und zu blättern. «Doch», sagt er, «Zimmer sieben.»

Für einen Moment keimt in Holger die Hoffnung auf, dass dieser Fall schnell zu einem Ende gebracht werden könnte – dass sich der Vogelschwarm am Horizont, aus der Nähe betrachtet, als eine Handvoll Krähen erweist.

«Ist das nicht Bobby, der Bruchpilot?», fragt Jensen.

«Genau der.»

 

In Zimmer Nummer sieben stehen vor allem ein Flatscreen von der Größe einer Tischtennisplatte sowie ein rundes Bett mit einem lederbespannten Kopfteil, in das Lautsprecher integriert sind. Der Deckenspiegel und das Bett haben denselben Durchmesser. Trägt man den Flatscreen raus, hat man die perfekte Kulisse für einen Achtziger-Jahre Porno.

Als Holger und Jensen das Zimmer betreten, sitzt Bruchpilot-Bobby auf der Bettkante, die Unterarme auf den Oberschenkeln, die Hände zu Fäusten geballt. Er boxt gerne, zum Spaß. Sein linkes Bein wippt. Neben ihm steht ein schlaksiger Beamter in Uniform und hellblauen Überschuhen.

«Danke», sagt Holger. «Sie können uns jetzt allein lassen.»

Er wartet, bis der Beamte das Zimmer verlassen hat, und schließt die Tür. Anschließend baut er sich vor Bobby auf. Der kaut auf seinem Unterkiefer, verstockt wie ein verwöhntes zweiunddreißigjähriges Kind. Das er am Ende des Tages ja auch ist.

Holger wartet ab, sagt nichts, Jensen neben ihm. Irgendwann wird es Bobby zu blöd.

«Ist das ’ne Performance, oder was?»

«Da draußen liegt eine Leiche im Aufzug», sagt Holger.

«Hab ich gehört.»

«Übel zugerichtet. Cedric van de Vedel.»

«Auch das hab ich gehört.»

«Irgendeine Idee, wer es gewesen sein könnte?»

«Ich war’s nicht. Und ab hier nur noch mit Anwalt.»

«Sie waren hier verabredet.» Holger achtet darauf, es nicht als Frage zu formulieren. «Cedric sollte Ihnen die wöchentliche Kokainlieferung bringen.»

Bobby wendet den Kopf ab, blickt zum Fenster. «Anwalt.»

Holger sieht sich um. Wenn er eine Waffe zu verstecken hätte, wo würde er sie hintun? «Es gab Ärger in letzter Zeit», fährt er fort, «dicke Luft. Zwischen Cedric und Ihnen.»

«Gehen Sie mir nicht auf den Sack, Mann. Ich hab meinen Anwalt bereits verständigt, der ist in einer Viertelstunde hier. Reden Sie mit dem.»

Holger steht auf, vermeidet es, die Lehne zu berühren. «Rufen Sie ihn an und sagen Sie ihm, dass er Ihnen etwas zum Anziehen mitbringen soll. Die Sachen, die Sie jetzt tragen, behält die Spurensicherung. Sie bekommen auch eine schicke Quittung dafür. Und morgen sehen wir uns um 14 Uhr in meinem Büro. Mit oder ohne Anwalt. Bei Nichterscheinen lasse ich Sie festnehmen.»

«Am Arsch.»

«Nein, im Präsidium.»

Zurück im Flur, sagt Holger zu Jensen: «Ich möchte, dass in diesem Zimmer jede Deckenplatte umgedreht wird. Ich glaube nicht, dass Bobby es war. Und wenn er es war, glaube ich nicht, dass er nicht vorher darüber nachgedacht hat, wo er hinterher die Waffe entsorgt. Aber ausgeschlossen ist es nicht.»

2

Als Charlie das Kommissariat betritt, weiß er einmal mehr, weshalb sein Bruder die Beamtenlaufbahn eingeschlagen hat und er nicht. Der Gang riecht so, wie der Kaffee schmeckt, außerdem haben beide die gleiche Farbe: Ocker. Mal ehrlich, wer kommt auf so etwas? Irgendjemand muss das schließlich mal entschieden haben: Für den Flur nehmen wir Ocker. Ein Alltagsmysterium.

Als Charlie noch in L.A. für Sandler & Sandler jobbte, fragte Eric Sandler ihn einmal, ob er wisse, wann man es geschafft habe. Charlie ersparte sich die Antwort. Woher sollte jemand wie er wissen, wann man es geschafft hatte? Eric deutete mit einem Daumen hinter sich und mit dem anderen zu seiner Rechten. «Wenn dein Büro an zwei Seiten Fenster hat.» Eric hatte es geschafft, alles klar. Charlies Kabine hatte kein Fenster, zu keiner Seite.

Nach Sandlers Definition müsste es Holger geschafft haben. Fenster zu zwei Seiten. Aber es fühlt sich nicht so an. Und er sieht auch nicht so aus. Im Gegenteil. Als Charlie das Büro seines Bruders betritt, meditiert Holger hinter seinem Schreibtisch, das Kinn in die Hände gestützt, und starrt in den durchlöcherten Koffer, der vor ihm liegt. Langsam gehen ihm die Haare aus. Die Kopfhaut schimmert durch.

Zögerlich tritt Charlie an den Tisch. Er hat schon eine Menge gesehen, aber so etwas noch nie. Er leckt seinen Zeigefinger an, stippt ihn in einen der zerrissenen Beutel, leckt ihn ab. Hoppla, denkt er. Und zwei Sekunden später: HOPPLA! Klar wie ein geschliffener Diamant.

«Wow!», sagt er. «Gefunden?»

Die meisten Menschen, mit denen Charlie so zu tun hat, würden beim Anblick von zweieinhalb Kilo lupenreinen Kokains ein freundlicheres Gesicht machen.

«Ja», erwidert Holger, «neben der Leiche.»

Charlie betrachtet den Inhalt des Koffers. «Du legst jemanden um und lässt anschließend diesen Koffer am Tatort liegen?»

«Eine der Fragen, auf die auch ich noch keine Antwort habe. Was machst du hier?»

«Wie viel ist das?»

«Genau wissen wir es noch nicht, aber der Koffer wird gleich von den Kollegen der Drogenfahndung abgeholt. Was – machst – du – in – meinem – Büro?»

Charlie reißt seinen Blick von dem Koffer los. Was nicht so einfach ist, denn da auf dem Tisch liegt wirklich VERDAMMT VIEL KOKAIN!

«Vorhin, da hast du auf mich einen ziemlich … beschäftigten Eindruck gemacht», erklärt er. «Deshalb dachte ich, ich vers…»

«Ich bin immer noch beschäftigt, Charlie. Und das wird auch so bleiben. Ich würde so weit gehen zu sagen, dass ich für dich ab sofort rund um die Uhr beschäftigt bin.»

Charlie macht ein Gesicht, als sei Holger derjenige, dem man alles zweimal erklären müsse. «Was ist denn los mit dir? Du wirkst irgendwie … überspannt. Geht’s dir nicht gut?»

«Du gehst mir nicht gut. Alles andere läuft wie am Schnürchen.»

«Du tust so, als wollte ich das Familiensilber verscherbeln, dabei …»

«Zu spät. Das hast du bereits verscherbelt.»

«… dabei bitte ich dich lediglich darum, ein paar Tage bei euch schlafen zu dürfen.»

«Das hab ich vorhin schon verstanden, Charlie. Und schon da war meine Antwort: Nein.»

In diesem Moment ertönt das Nebelhorn eines herannahenden Containerschiffs – die Warnung vor der drohenden Kollision. Charlie sucht noch nach einer Erklärung, als Holger zu seinem Smartphone greift, geräuschvoll ein- und wieder ausatmet und den Anruf entgegennimmt.

«Sandra», sagt er.

Charlies Schwägerin. Holgers Frau.

Pikantes Detail: Charlie und Sandra hatten mal was miteinander – bevor Holger sie geheiratet hat. Und einmal noch danach, aber das ist alles ewig her, und sie war wirklich ziemlich verzweifelt. Aber so ist das zwischen Brüdern: Egal, wie lange etwas zurückliegt, verschwinden tut es nie. Heute also kündigt sich Sandra bei ihrem Mann mit einem Nebelhorn an. Muss man auch erst mal drauf kommen – der Nummer der eigenen Frau ein Nebelhorn zuzuweisen. Ist wie mit den ockerfarbenen Wänden im Flur: Zufällig passiert so etwas nicht.

«Tut mir leid», lässt Holger seine Frau wissen, «ich werd’s nicht schaffen.» Mit dem Nagel seines linken Zeigefingers bewegt er den Koffer zwei Zentimeter nach rechts. «Ich weiß, dass heute mein freier Tag ist, aber ich hab da was auf den Tisch bekommen … Ja, dann geh eben zum Yoga. Lucas ist fünfzehn, der wird sich doch wohl alleine ein Brot schmieren können … Nein, von mir aus musst du nicht auf dein geliebtes Yoga verzichten … Dann hör halt auf, ihn zu beglucken. Sieh es als Chance!»

Holger nimmt das Smartphone vom Ohr und starrt das Display an.

Sandra hat aufgelegt.

«Läuft ja wirklich alles wie am Schnürchen bei dir», bemerkt Charlie.

Holger steht auf und stützt sich auf die Tischplatte. Am liebsten würde er es machen wie früher, als sie noch Kinder waren: Charlie den Arm auf den Rücken drehen.

Die Tür wird geöffnet, Jensens Kopf erscheint. Sein makellos blaues Hemd hat nicht eine Falte. «Die Studentin ist da.»

«Welche Studentin?», fragt Holger.

«Die den Mord gemeldet hat.»

«Ich dachte, die sei eine Prostituierte.»

«Sie beharrt darauf, Studentin zu sein.»

«Haben Sie sich ihren Studentenausweis zeigen lassen?»

Jensens Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen. «Bildende Kunst, Universität der Künste, fünftes Semester.»

Erst Charlie, dann das Telefonat mit Sandra, jetzt eine Prostituierte mit Studentenausweis. Holger hat das Gefühl, müde zu werden, ohne richtig wach gewesen zu sein.

«Vorher brauch ich einen Kaffee.» Er wirft seinem Bruder einen Blick zu. «Möchtest du auch einen, bevor du gehst?»

Charlie denkt an den ockerfarbenen Flur, die aufgestapelten Kondensmilchdosen. «Danke, nein.»

«Dann mach’s gut, Charlie. Halt die Ohren steif.»

Holger geht zu seinem Kollegen auf den Flur, lässt die Tür offen stehen. Charlie hört sie reden, die Kaffeemaschine gurgelt. Als Holger zurückkommt – einen Pappbecher in der einen, Kondensmilch in der anderen Hand –, ist Charlie aufgestanden, den Tisch im Rücken.

«Es bleibt also dabei?», fragt er mit Hundeblick.

Holger ist kurz davor einzuknicken. Aber nur für einen Sekundenbruchteil. «Ja, Charlie, es bleibt dabei. Wie du schon richtig bemerkt hast, habe auch ich ein paar kleinere Probleme. Und da kann ich dummerweise nicht auch noch deine großen Probleme gebrauchen. Diesmal musst du dich zur Abwechslung alleine aus der Scheiße ziehen.»

Nikita, die mit bürgerlichem Namen Nicoletta Szabatzki heißt, wird von vier Polizisten in Uniform hereingeführt. Plötzlich kommt Holger sein Büro sehr klein vor. Als hätten seine Kollegen Al Capone zu bewachen. Dabei handelt es sich lediglich um eine Kunststudentin im fünften Semester, die einen Mord gemeldet hat. Andererseits sah Al Capone nicht so gut aus wie diese Kunststudentin, nicht halb so gut. Um ehrlich zu sein: Gegen Nicoletta Szabatzki hätte Al Capone selbst in seinen besten Zeiten wie die Versteinerung einer Unke ausgesehen.

Sie ist eine dieser Frauen, die einen Mann nur anzusehen brauchen, um ihn dazu zu bringen, sein bisheriges Leben auf der Stelle in die Tonne zu treten. Solche Frauen sind rar, dennoch hat Holger schon einige dieser speziellen Exemplare kennengelernt. Sie könnten jeden haben, verschenken aber seltsamerweise ihre Herzen mit einer schon fast tragischen Zielsicherheit an die Falschen.

Jemand räuspert sich. Holger wird von vier uniformierten Salzsäulen angestarrt, die auf Anweisungen warten. Das fünfte Augenpaar ist ebenfalls auf ihn gerichtet, erwartet allerdings keine Anweisungen. Bestenfalls kann Holger Belustigung erkennen, wahrscheinlicher ist Langeweile. So wie von den Uniformierten gerade wird Nicoletta Szabatzki vermutlich ständig angestarrt.

«Meine Herren», sagt Holger, «ich glaube, Sie können uns jetzt allein lassen.»

Die vier Uniformierten bewegen sich keinen Millimeter. Schließlich bringt einer hervor: «Was ist mit Fluchtgefahr?»

«Da Frau Szabatzki keines Vergehens beschuldigt wird, kann sie fliehen, wohin sie will.»

Widerstrebend verlassen die Polzisten einer nach dem anderen den Raum. Bevor der letzte die Tür schließt, streckt er schnell noch einmal den Kopf herein. «Ich heiße Martin!», ruft er wie ein Ertrinkender. «Martin Obermann. Ich bin auf Facebook!»

Nicoletta Szabatzki wendet dem Ertrinkenden kurz den Kopf zu und salbt ihn mit drei Tropfen göttlichen Mitgefühls. Die Tür schließt sich.

«Bitte – nehmen Sie Platz.» Holger weist auf den Stuhl. An einer Stelle ist der Sitzbezug aufgeplatzt, und der Schaumstoff schimmert durch. «Möchten Sie einen Kaffee?»

Ihr Blick streift den halb aufgeweichten Pappbecher, in dem Holgers lauwarmer Kaffee vor sich hin dümpelt. Sein ganzes Büro muss nach dem Zeug riechen.

«Nein danke.»

Holger konzentriert sich auf die Ausdrucke, die vor ihm liegen. «Sie haben also die Leiche gefunden.» Er erwartet eine Antwort, muss aber einsehen, dass er die Frau nichts gefragt hat. «Wie kommt es, dass Sie sich zur Tatzeit im fünften Stock des Kosmos aufgehalten haben? Die schwarze Etage ist nicht gerade ein öffentlicher Ort.»

«Deshalb habe ich mich dort aufgehalten – aus privaten Gründen.»

Sie spricht mit Akzent, osteuropäisch, sexy, verboten.

«Und welche Gründe waren das?»

Sie sieht ihn von unten herauf an. Ein Augenaufschlag wie eine Baseballkeule. Ist Antwort genug.

«Schön», sagt Holger, «wir wissen beide, was Sie dort zur Tatzeit gemacht haben. Was ich gerne wissen würde, ist, mit wem Sie es gemacht haben.»

«Das verstehe ich», erwidert Nicoletta Szabatzki und klingt nun weniger unnahbar als erwartet. «Trotzdem würde ich es lieber nicht sagen.»

«Das verstehe ich wiederum. Aber sehen Sie: Ich habe hier einen Mord aufzuklären. Wenn Sie mir nicht sagen, mit wem Sie zur Tatzeit zusammen waren, legt das den Verdacht nahe, dass Sie möglicherweise mit niemandem zusammen waren – womit sich wiederum die Frage aufdrängen würde, weshalb Sie dort waren.»

«Ich würde Ihnen wirklich gerne helfen, aber mit wem ich wo verkehre, ist … vertraulich.»

«So würde ich die Information auch behandeln: vertraulich.»

Nicoletta Szabatzki sieht Holger lange an. Schließlich kommt sie zu dem Schluss, dass sie ihm vertrauen kann. Er ist einer, dem man vertraut. Holger weiß das. Diese Eigenschaft hat ihn schon Fälle lösen lassen, an denen sich Kollegen zuvor die Zähne ausgebissen haben. Weil Menschen sich ihm anvertrauen. Er ist nicht stolz darauf; um ehrlich zu sein, wünscht er sich manchmal, er wäre weniger vertrauenswürdig und verantwortungsbewusst, aber sein Wesen kann man sich nicht aussuchen.

«Es würde auch Ihren Kunden entlasten», ergänzt Holger.

«Also schön. So viel kann ich Ihnen verraten: Mein Kunde war es nicht. Einmal, weil er zur Tatzeit geschlafen hat wie ein Murmeltier, und zweimal, weil alles, womit er jemals schießen würde, sein Taktstock ist.»

Holger geht die Namensliste durch, die Jensen ihm ausgedruckt hat. Kershaw, Matthew. Stardirigent aus Boston. Ist für drei Tage in der Stadt und dirigiert am Abend die Berliner Philharmoniker. Wohnt in Suite Nummer vier – mit Frau und Kindern.

«Vor großen Auftritten braucht er etwas zur Entspannung», erklärt Nicoletta Szabatzki. «Fördert die Kommunikation mit dem Orchester.»

Holger fragt das Erste, das ihm in den Sinn kommt: «Und was ist mit seiner Frau und den Kindern?»

«Die waren im Zoo. Die Frau weiß übrigens Bescheid, die Kinder nicht.»

Holger nickt. «Gut. Das war fürs Erste alles, was ich von Ihnen wissen wollte. Wir werden Ihre Angaben überprüfen. Halten Sie sich bitte zur Verfügung, falls noch Fragen auftauchen.»

«Kein Problem», sagt sie und bleibt sitzen.

Holger deutet zur Tür. «Sie können jetzt gehen.»

Sie lächelt lasziv. «Sind Sie eigentlich auch auf Facebook, Herr Kommissar?»

Er sieht direkt in ihre Rehaugen. «Sehe ich wie jemand aus, der Freunde sucht?»

Sie denkt kurz nach. Dann nickt sie, als würde ihr diese Antwort einleuchten.

Als sie gegangen ist, nippt Holger an seinem Kaffee und stellt fest, dass sein Vogelschwarm an ungeklärten Fragen gerade noch etwas größer geworden ist.

3

Als Holger am Abend sein Büro verlässt, ist er der Letzte aus seinem Team. Er könnte sich fragen, ob er es absichtlich so spät hat werden lassen, um die Begegnung mit Sandra hinauszuzögern. Doch er zieht es vor, die Frage zu verdrängen.

Die gesamte Fahrt über hadert er. Mit dem Fall. Mit seinem Bruder. Mit sich selbst. Als er an der U-Bahn-Station Paradestraße aus der Erde kommt, umfängt ihn eine Luft, die wie geschaffen ist, um sich darin zu bewegen, sie zu atmen, sie auf der Haut zu spüren. Wonnemonat Mai. Eine verführerische Ahnung des kommenden Sommers umschwirrt ihn. Er könnte nach links gehen, hinüber auf das Tempelhofer Feld. Auf dem Rücken im Gras liegen, den Himmel beobachten, unbeschwert sein.

Dann geht er nach rechts.

Als Holger in den Leonhardyweg einbiegt, sieht er Charlies Gran Torino vor seinem Haus stehen. Die Pest. Sein Bruder ist die Pest. Holger beschleunigt seinen Schritt, wartet dann aber, bis er die Haustür aufschließt, weil seine Halsschlagader spontan auf die doppelte Größe angeschwollen ist. Es dauert einige tiefe Atemzüge, bis er sich wieder beruhigt hat.

Noch bevor er ins Wohnzimmer kommt, hört er Sandra bereits lachen. Ein helles, befreites Lachen, das unter der Tür hindurch in den Flur perlt. Im Riffelglas-Einsatz bricht sich Kerzenlicht. Vor der Garderobe steht Charlies Tasche, neben der ein schmales, langes Paket liegt.

Holger reißt die Tür so schwungvoll auf, dass die Lichter der Kerzen zu tanzen beginnen. Sandra wendet ihrem Mann den Kopf zu, im selben Moment versickert ihr Lachen. Sie sitzt mit angezogenen Beinen auf dem Rolf-Benz-Sofa, das sie über vierundzwanzig Monate abbezahlt haben. Ihr gegenüber, im Sessel, Charlie, der ebenfalls den Kopf wendet. Einen Augenblick kommt es Holger so vor, als sei dies sein Lebensmotto: abbezahlen. Er sieht den Spruch auf seinem Grabstein, in Fraktur: Holger Brinks, Ratenzahler.

Sandra sieht toll aus in Yogadress und Kerzenlicht. Ihr Haar schimmert. Ihre Wangen glühen. Zweiundvierzig ist sie jetzt, und schöner denn je. Verdammt.

«Schau mal, wer da ist», sagt sie.

Charlie winkt Holger, als müsse er auf sich aufmerksam machen.

Sandra fragt: «Warum nimmst du dir nicht ein Glas und setzt dich zu uns?»

Holger sieht die Weingläser auf dem Couchtisch, den Kühler mit der Flasche. Chablis, der gute. Für besondere Gelegenheiten.

Er blickt seinen Bruder an: «Ist das dein Ernst? Ich sage dir unmissverständlich, dass ich dich hier nicht haben will, und kaum bekommst du mit, dass ich lange arbeiten muss, schleichst du dich her und versuchst dein Glück bei Sandra?»

«Auch Sandra und ich haben uns lange nicht gesehen», erklärt Charlie.

«Und was macht dann deine Tasche im Flur?»

«Die steht da, weil ich sie nicht im Auto lassen wollte. Komm runter, Holger.»

Das fehlt Holger gerade noch: dass Charlie ihm sagt, was er zu tun hat, in seinem Haus.

Plötzlich ist da ein ungläubiger Zug um Sandras Augen: «Du hast Charlie gesagt, dass du ihn hier nicht haben willst?»

«Mein lieber Bruder», beginnt er seiner Frau zu erklären, «war heute schon einmal hier. Weil er’s nämlich mal wieder verbockt hat. Ist bei irgendeiner seiner Andreas oder Uschis rausgeflogen und will sich jetzt bei uns einquartieren.»

«Hayat», wirft Charlie ein.

Holger starrt ihn an.

«Ihr Name», erklärt Charlie. «Hayat. Übersetzt bedeutet er Herzblut. Schön, oder?»

Sandras Blick wandert von Charlie zu ihrem Mann. Sie dreht ihm den Körper zu, stellt die nackten Füße auf den Boden. Sie hat sich die Fußnägel lackiert, dunkelrot. Ihr Yogadress sitzt so, dass der Hersteller sofort mit ihr werben würde.

«Wo ist das Problem?», fragt sie Holger.

«Er ist das Problem. Mein werter Bruder hat noch nie etwas anderes gemacht, als sich bei anderen durchzuschnorren. Noch nie. Seit einem halben Jahr ist er in der Stadt, und jetzt, wo er bei dieser Hyatt rausgeflogen ist …»

«Hayat», korrigiert Charlie. «Sie ist kein Hotel.»

«Bis gestern offenbar schon, zumindest für dich. Jedenfalls fällt ihm ausgerechnet jetzt, wo ihn seine aktuelle Ex-Bettgenossin vor die Tür gesetzt hat, urplötzlich ein, dass er ja noch einen Bruder hat.»

Sandra dreht ihr Weinglas in der Hand. Wenn sie eins nicht leiden kann, dann Kleingeistigkeit. «Wovor hast du solche Angst, Holger? Dass Charlie dir den Weinschrank leer trinken könnte?»

«Davor muss ich keine Angst haben, denn das macht er sowieso.»

In diesem Moment wird die Tür geöffnet, und Lucas streckt seinen Kopf herein. Groß ist er geworden, seit Charlie ihn das letzte Mal gesehen hat. Bestimmt eins neunzig. Du bist aber groß geworden! Sätze, die einem bei den eigenen Onkeln früher total auf den Zünder gegangen sind. Und jetzt denkt man sie selbst.

«Hi.» Lucas hebt betont lässig eine Hand und wirft sich die Tolle aus der Stirn. Dann sieht er seinen Onkel: «Hey, Charlie!»

Er kommt ins Wohnzimmer geschlakst, sein Onkel steht auf, und als hätten sie es einstudiert, ziehen sie so eine Art Ghetto-Bruder-im-Geiste-Begrüßung durch, schlagen ein, die Daumen umschlungen, rempeln sich mit den Schultern an.

«Krass, Alter», sagt Lucas, dann fällt auch die letzte Barriere, und er umarmt Charlie, drückt ihn an sich.

Irgendwann sagt Sandra mit einem Lächeln im Gesicht: «Hey Großer, deine Eltern sind auch noch da!»

Augenblicklich sinken Lucas’ Schultern wieder herab. «Hi, Mama.» Er nickt Holger zu: «Herr Kommissar …»

Holger wirft einen Blick auf seine Uhr: «Der Herr Kommissar wüsste gerne, wo sich sein 15-jähriger Sohn bis um elf Uhr abends so herumtreibt. Abgemacht war zehn, spätestens.»

Lucas stülpt sich die Kapuze seines Sweatshirts über und nimmt eine alberne Gangsterpose ein: «War nur das Übliche, Herr Kommissar: Erst hab ich ein bisschen Heroin gesnifft, anschließend eine Bank überfallen, aber nur eine kleine, schwöre. Auf dem Heimweg hab ich dann zwei Frauen vergewaltigt, aber die wollten es auch nicht anders. Und jetzt geh ich brav nach oben und daddel noch ein bisschen auf meiner Playstation, um mich locker zu machen.»

«Wir hatten zehn Uhr abgemacht», beharrt der Herr Kommissar.

«Du hast gesagt, um zehn Uhr zu Hause», wehrt sich Lucas. «Eine Abmachung ist was anderes, Papa.» Er streift die Kapuze wieder zurück und wendet sich Charlie zu: «Ist das deine Tasche – da im Flur? Heißt das, du schläfst heute Nacht hier?»

Anstelle seines Onkels antwortet sein Vater: «Nein. Charlie schläft nicht hier.»

«Natürlich schläft er hier», kommt es von der Couch.

Charlie zwinkert seinem Neffen zu. Der blickt zwischen Vater und Mutter hin und her. «Verstehe.»

«Hast du eigentlich das Päckchen gesehen, das neben meiner Tasche liegt?», fragt Charlie.

Lucas zieht die Tür auf und wirft einen Blick in den Flur: «Für mich?»

«Hatte hier sonst noch jemand letzte Woche Geburtstag?»

Lucas verschwindet im Flur. Man hört, wie erst Papier ab- und dann ein Karton aufgerissen wird.

«Ultimativ!», ruft Lucas.

Als er zurückkommt, muss er den Kopf einziehen, denn er steht auf einem Ahorn-Longboard, das seinem Namen alle Ehre macht. Es sieht aus, als surfe Lucas auf einem Delfin. Er visiert seinen Onkel an, rollt ihm praktisch geräuschlos vor die Füße und lässt sich in dessen Arme fallen.

«Ein Quicksilver!», ruft er, als wüsste Charlie nicht, wofür er sein letztes Geld ausgegeben hat. «Ist das ein achtunddreißig-Inch?»

«Zweiundvierzig», erwidert Charlie.

«Das ist ja so endkrass, Alter!»

Es dauert eine Weile, bis sich Lucas’ Begeisterungssturm gelegt und er das Longboard aus dem Wohnzimmer rangiert hat. Halb die Treppe oben, ruft er: «Danke, Charlie!»

Holger schließt die Wohnzimmertür, bevor er sich an seinen Bruder wendet: «Dafür hast du Geld, ja?»

«Ich bitte dich», erwidert Charlie, «immerhin ist Lucas mein Patensohn.»

«Danke, Charlie», sagt Sandra. «Das war lieb von dir. Er hat dich wirklich sehr vermisst, letzte Woche.»

«Ich weiß. Tut mir leid.» Und das ist nicht gelogen. Weshalb es Charlie gleich noch einmal sagt: «Tut mir wirklich leid.»

Das anschließende Schweigen wird von Holger gebrochen – der merkt, dass seine Position nicht zu halten ist.

«Gartenhaus», sagt er.

Offenbar wissen weder Charlie noch Sandra mit dieser Aussage etwas anzufangen, weshalb er erklärt: «Du übernachtest im Gartenhaus.»

Sandra lehnt sich vor, ihr Oberkörper spannt sich an: «Du willst deinen eigenen Bruder im Gartenhaus einquartieren?»

«Von einquartieren kann keine Rede sein», erwidert Holger. «Ich sagte übernachten.»

Die Stille, bevor die Bombe explodiert. Charlie wäre lieber nicht dabei, wenn sie hochgeht. Beschwichtigend hält er die Hände auf Brusthöhe und steht auf.

«Ich mach euch einen Vorschlag», sagt er. «Ich nehme meine Tasche, fahre zurück in die Stadt und gehe ein Bier trinken. Muss sowieso noch was erledigen. In einer Stunde bin ich wieder da. Bis dahin könnt ihr ja auswürfeln, wo ich schlafen darf.»

Die Haustür ist kaum ins Schloss gefallen, da wirft Sandra ihrem Mann einen Blick zu, mit dem man tollwütige Tiere in die Flucht schlagen könnte. Es ist ein Blick, der sehr weit oben auf der Skala von Sandras bösen Blicken rangiert. Einer aus der Kategorie: Vorsicht, sonst schläfst du am Ende im Gartenhaus.

Holger weiß, dass er und seine Frau sehr verschiedene Auffassungen von Gastfreundschaft haben. Während er selbst seine eigene Mutter nur höchst ungern beherbergt, hat Sandra das gemeinsame Haus schon wochenweise für Freundinnen geöffnet, weil die in Ehe- oder sonstigen Lebenskrisen steckten. Holger ist empfindlich, wenn es um seine Privatsphäre geht. Wer beruflich tagtäglich intime Geheimnisse auslotet und sich dabei mit der dunklen Seite der menschlichen Seele herumschlagen muss, der will in seiner ohnehin spärlichen Freizeit keine Dramen erleben, sondern seine Ruhe haben.

Aber im speziellen Fall von Charlie geht es bei Sandra und Holger noch um etwas anderes: Es geht ums Prinzip.

«Er ist dein Bruder», sagt sie, «dein einziger.»

«Ein Glück. Zwei von der Sorte hält kein Mensch aus. Und genau deshalb muss er lernen, dass ich nicht seine Vollkaskoversicherung bin. Ist dir schon mal aufgefallen, dass er hier nur auftaucht, wenn er in Schwierigkeiten steckt? Ich hab dieses Haus nicht abbezahlt …»

«Du hast das Haus nicht abbezahlt», unterbricht Sandra nachdrücklich. «Zumindest nicht allein. Die Hälfte hast du geerbt, und ich war es, die dir geholfen hat, Charlie die andere Hälfte abzukaufen.»

«Eben!», ruft Holger. «Wir haben ihm das Haus nicht abgekauft, um ihn jetzt wieder hier wohnen zu lassen, oder?»

«Sei nicht so kleinkariert. Er will hier ein paar Tage überbrücken. Mehr nicht.»

«Kann er. Im Gartenhaus.»

Sandra nippt an ihrem Wein. Es ist keine Verlegenheitsgeste, tatsächlich sammelt sie sich, um Holger einen empfindlichen Stich zu versetzen: «Warum musst du eigentlich ständig den Polizisten raushängen lassen? Kannst du nicht wenigstens nach Feierabend aufhören, dein gesamtes Umfeld zu maßregeln?»

Holger lässt sich in einen der Sessel sinken, greift nach Charlies leerem Weinglas, gießt sich Chablis ein und nimmt einen großen Schluck.

«Was ich sagen will, ist, dass du es manchmal nicht nur dir, sondern auch allen anderen unnötig schwer machst», fügt Sandra in versöhnlichem Tonfall hinzu.

«Ich hab schon verstanden.» Holger spürt seine Halsschlagader anschwellen. «Vielleicht sollte lieber ich ins Gartenhaus ziehen. Charlie könnte dann hier wohnen und sich nebenbei noch um Lucas kümmern. Die beiden verstehen sich ja sowieso blendend.»