Nächsten Sommer & Wenn nicht, dann jetzt - Edgar Rai - E-Book
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Nächsten Sommer & Wenn nicht, dann jetzt E-Book

Edgar Rai

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Beschreibung

Zwei Romane von Bestsellerautor Edgar Rai in einem E-Book!

Nächsten Sommer.

Eigentlich wollten Felix, Marc und Bernhard nur zusammen fernsehen, doch am nächsten Morgen sitzen sie in Marcs orangefarbenem VW-Bus. Vor ihnen liegt die Reise ihres Lebens. In Südfrankreich wartet ein Haus auf sie, ein Haus am Meer. Sie lassen die Haare im Fahrtwind wehen, ertrinken beinahe in einem See, werden von der Polizei gejagt und von den Vögeln begleitet. Sie lesen Lilith auf, Typ Scarlett Johansson. Dann stößt Zoe dazu, mit gebrochenem Herzen, und zuletzt Jeanne, die traurige Französin. Je näher sie dem Ziel ihrer Fahrt kommen, desto brennender wird die eine große Frage: Was ist das Leben? Und am Ende der Straße steht ein Haus am Meer ...

Wenn nicht, dann jetzt.

Das ist kein normaler Urlaub. Das ist eine letzte Chance! Jan Bechstein ist in der Midlife-Crisis. Als Vater einer sechzehnjährigen Tochter ist er ein Versager und als Ehemann eine Vollniete. Das liegt weder an seiner Intelligenz noch an seinem Charme, das liegt einzig und allein daran, dass er die Frau, die er bis heute liebt, vor fünfzehn Jahren hat sitzen lassen: Sergeja. Musikerin (zweites Waldhorn) und Mutter der gemeinsamen Tochter Mia. So richtig hat Jan nie begriffen, was ihn damals geritten hat, und jetzt will Sergeja wieder heiraten. Einen anderen. Und zwar in dem kleinen slowenischen Dorf, in dem damals auch sie sich das Jawort gegeben haben. Ist es zu spät? Auf nach Süden! Dorthin, wo alles begann ...

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Seitenzahl: 639

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Informationen zum Buch

Nächsten Sommer:

Eigentlich wollten Felix, Marc und Bernhard nur zusammen fernsehen, doch am nächsten Morgen sitzen sie in Marcs orangefarbenem VW-Bus. Vor ihnen liegt die Reise ihres Lebens.

In Südfrankreich wartet ein Haus auf sie, ein Haus am Meer. Sie lassen die Haare im Fahrtwind wehen, ertrinken beinahe in einem See, werden von der Polizei gejagt und von den Vögeln begleitet. Sie lesen Lilith auf, Typ Scarlett Johansson. Dann stößt Zoe dazu, mit gebrochenem Herzen, und zuletzt Jeanne, die traurige Französin. Je näher sie dem Ziel ihrer Fahrt kommen, desto brennender wird die eine große Frage: Was ist das Leben? Und am Ende der Straße steht ein Haus am Meer.

Sie lassen die Haare im Fahrtwind wehen, ertrinken beinahe in einem See, werden von der Polizei gejagt und von den Vögeln begleitet. Sie lesen Lilith auf, Typ Scarlett Johansson. Dann stößt Zoe dazu, mit gebrochenem Herzen, und zuletzt Jeanne, die traurige Französin. Je näher sie dem Ziel ihrer Fahrt kommen, desto brennender wird die eine große Frage: Was ist das Leben? Und am Ende der Straße steht ein Haus am Meer.

Wenn nicht, dann jetzt:

Informationen zum Autor

Edgar Rai, 1967 geboren, hat Musikwissenschaften und Anglistik studiert. Nach und neben diversen Jobs seit 2000 freier Schriftsteller. Seit 2012 ist er Mitinhaber der Buchhandlung Uslar & Rai in Berlin.Von ihm sind als Aufbau Taschenbücher lieferbar: „Nächsten Sommer“, „Sonnenwende“, „Wenn nicht, dann jetzt“ sowie „Homer für Eilige“. Mehr Informationen zum Autor unter www.edgarrai.de

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Edgar Rai

Nächsten Sommer & Wenn nicht, dann jetzt

Zwei Romane in einem E-Book

 

 

 

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor

Nächsten Sommer

1

2

Erster Tag

3

4

5

6

7

8

9

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Zweiter Tag

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Dritter Tag

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34

35

36

37

Vierter Tag

38

39

40

41

Fünfter Tag

42

Epilog

Wenn nicht, dann jetzt

I

1

2

3

4

5

6

7

II

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

III

21

22

23

24

Impressum

Edgar Rai

Nächsten Sommer

Roman

 

 

 

 

1

»Wieso kommst du denn erst jetzt?« Bernhard sieht mich an, als sei ich ihm eine Erklärung schuldig. »Erste Halbzeit ist schon vorbei.«

In ihm schwelt es. Wie immer, wenn er bei seiner Mutter war. Ich könnte ihm sagen, dass er meine Verspätung nicht persönlich nehmen soll, aber Bernhard nimmt selbst schlechtes Wetter persönlich. Ich könnte ihm auch sagen, dass mich Fußball nicht interessiert, nie interessiert hat und nie interessieren wird und ich nicht einmal weiß, wer gegen wen spielt – und nur gekommen bin, weil Marc meinte, ich solle mich nicht immer in meiner Tonne verkriechen. Und weil ich ihm etwas zu erzählen habe.

»Tut mir leid«, antworte ich.

Das war offenbar, was er hören wollte, jedenfalls gibt Bernhard die Tür frei. »Macht ja nichts. Steht sowieso noch null zu null.«

In Bernhards Wohnung riecht es immer ein bisschen wie im Krankenhaus. Ein Geruch, der sich den Anschein des natürlichen geben will und doch aseptisch bleibt. Seine Diele ist ein Leichenschauhaus für Schuhe, in Edelstahl, klar lackiert. Sechzehn aufklappbare Fächer, hinter denen sich jeweils ein Schuhpaar verbirgt, auf der Stirnseite und auf der Seite gegenüber. Wenn man den Raum halbieren würde, könnte man die Seiten passgenau aufeinanderlegen.

Ich habe lange gebraucht, bevor mir klargeworden ist, dass ihn das aufrecht hält: Der Glaube an Symmetrie und Perfektion, daran, dass alles funktioniert und einen Sinn ergibt, solange es einer geometrischen Ordnung folgt. Marc meint, Ordnung sei Bernhards Religion – und dass er bestimmt früher seine Scheiße nicht angucken durfte.

Mir sind die ungeraden Zahlen lieber. Primzahlen zum Beispiel. Die sind ziemlich cool. Widersetzen sich jeder Formel. Man kann ihr Auftreten nicht berechnen. Das ist wie ein kosmisches Augenzwinkern. Letztlich gibt es für alles eine Erklärung – was nicht heißt, dass wir sie je finden.

Zoe sitzt auf dem Sofa und sieht sensationell gelangweilt aus. »Hi, Felix«, sagt sie, als ich hereinkomme. Kurz zuckt ein Lächeln auf.

Sie wäre gerne woanders. Bei Ludger vermutlich, oder wenigstens an einem Ort, wo wichtige Menschen verkehren, solche, die man kennt, aus dem Fernsehen oder der Gala. Ludger, um das kurz zu klären, ist das »Voß« der Kanzlei »Voß & Weber«, einer der besten Adressen für Menschen, die im siebenstelligen Bereich Steuern hinterzogen haben und bevorzugt straffrei und ohne Aufsehen davonkommen möchten. Und er ist Zoes Chef. Voß ist der Boss. Aber Ludger und seine Frau sind heute bei Freunden in Schlachtensee eingeladen, und Bernhard hat so lange wegen des Fußballspiels nachgehakt, bis Zoe schließlich zugesagt hat und ihm sogar dankbar war.

Ich frage mich, ob es uns noch lange geben wird, so, zu viert. Ohne den unermüdlichen Bernhard, der an uns festhält wie an einer Sehnsucht, ohne die er verkümmern müsste, wären wir bestimmt längst unwiederbringlich in unterschiedliche Richtungen gedriftet. Marc hat bereits begonnen, mit seiner Gitarre die Welt zu erobern, Bernhard versucht so angestrengt, jemand anderer zu sein, dass er selbst bald ganz dahinter verschwinden wird, und Zoe zieht es in höhere Gefilde.

Marc sitzt auf dem Balkon und raucht seinen Guten-Abend-Joint.

»Diogenes!«, begrüßt er mich. Seit ich in dem Bauwagen wohne, nennt er mich gerne Diogenes, wenn er einen geraucht hat. »Wie ist es mit deinem Vater gelaufen?«

Ich setze mich neben ihn auf die Bank und lege wie er meine Füße auf die Brüstung. »Mit dem lief es wie immer.«

Marc hält mir seinen Joint hin: »Mal ziehen?«

Ist ein Running-Gag zwischen uns. Ich rauche nicht, ich trinke nicht, ich nehme kein komisches Zeug.

»Später vielleicht«, antworte ich, »hab gerade erst ’ne Line gezogen.«

So sitzen wir, und Marc schmunzelt die gegenüberliegende Hauswand an, als Bernhard ruft, dass es weitergeht. Er hat die Abendsonne im Gesicht, volle Breitseite. Ist der erste richtig warme Tag dieses Jahr. Gestern war noch Winter, eine Ahnung von Frühling im Gepäck. Heute ist alles anders. Die ganze Nacht durch im T-Shirt auf dem Fahrrad und trotzdem nicht frieren. Als würde man über LOS gehen und noch einmal von vorne anfangen.

Marc blinzelt trotz Sonnenbrille. Im Hof, in nagelneuem Grün, bäumt sich eine Kastanie auf.

»Irgendwann solltest du mal ziehen«, sagt er. »Leuchtet alles noch mal ganz anders.«

»Leuchtet mir genug, so wie es ist«, antworte ich.

Marc überlegt. »Leuchtet mir ein«, sagt er schließlich.

Als wir reingehen, sagt er: »Nachher fahren wir noch in die Strandbar – ein bisschen mit den Füßen im Sand scharren.«

»Okay«, antworte ich. »Muss dir sowieso was erzählen.«

 

Es dauert eine halbe Stunde, bevor mein letzter Satz zu Marc durchdringt. Die 85. Spielminute läuft. Zoe sitzt im Sessel, Bernhard, Marc und ich sitzen auf dem Sofa. Auf dem Rasen passiert noch weniger als in Bernhards Wohnzimmer. Bernhard rutscht unruhig hin und her. Er hätte uns gerne ein spannendes Spiel geboten, und jetzt fühlt er sich irgendwie schuldig, weil es so langweilig ist. Es gibt Beck’s Level 7 mit Korkuntersetzern – eine Art Doping-Bier für Leute, die durchs Trinken ihre Muskeln aufbauen wollen. Will ich nicht. Aber ich trinke ja auch nicht. Außerdem fettreduzierte Paprikachips und gestiftelte Möhren, Gurken und Zucchini, die sich im Kreis um eine Schale mit Kräuterdip versammelt haben. Bernhard ist die perfekte Mutti. Nicht, dass Marc oder ich eine bräuchten, aber Muttis sind nun einmal Muttis. Ob du sie brauchst oder nicht, interessiert sie nicht wirklich.

»Du musst mir was erzählen?«, fragt Marc.

Ein Spieler ist ausgerutscht und bekommt einen Freistoß. Plötzlich herrscht mehr Hektik auf dem Spielfeld als die gesamten Minuten davor.

»Gefährliche Entfernung«, ruft Bernhard.

»Kann ich dir auch nachher sagen«, antworte ich.

Während der Schiedsrichter eine Linie andeutet, entlang der sich die Mauer aufstellen soll, überlegt Marc, was er von meiner Antwort zu halten hat.

»Vergiss es«, sagt er. Inzwischen sieht auch Zoe mich an. »Wir kennen uns seit fünfzehn Jahren, und noch nie musstest du mir was erzählen. Also: Spuck’s aus.«

Jetzt blickt auch Bernhard zu mir. Der Spieler hat sich den Ball zurechtgelegt. Ich bin der Einzige, der sieht, wie er Anlauf nimmt. Zoe beugt sich vor: »Mach’s nicht so spannend.«

»Mein Onkel hat mir sein Haus in Südfrankreich vererbt«, sage ich.

In dem Moment fällt das Tor. 88. Minute. Neun Spieler in roten Trikots begraben einen zehnten unter sich.

»Ach, Scheiße!«, ruft Bernhard.

»Hab dich nicht so.« Marc stellt sein Bier absichtlich neben dem Korkuntersetzer ab. »Den Freistoß zeigen sie sowieso gleich noch hundertmal.«

»Ja, aber ich war nicht dabei.«

»Dabei warst du sowieso nicht.«

»Dein Onkel hat dir ein Haus in Südfrankreich vererbt?« Zoe klingt ein bisschen, als hätte sie es erben sollen.

»Streng genommen habe ich es gar nicht geerbt«, antworte ich. »Es gehört mir offenbar schon seit zwanzig Jahren. Ich wusste bloß nichts davon.«

Bernhards Brauen kräuseln sich: »Wie soll denn das gehen?« Ich erkläre ihnen, dass das Haus nie auf den Namen meines Onkels eingetragen war, sondern dass von Beginn an ich als Besitzer im Grundbuch stand. Den Rest seines Vermögens hat Onkel Hugo einem Waisenhaus in Marseille vermacht. Mein Vater ging leer aus.

»Und wieso?«, fragt Zoe. »Ich meine, wie kommt dein Onkel dazu, dir sein Haus zu überschreiben?«

Im Fernsehen zeigen sie aus sechs verschiedenen Blickwinkeln, wie sich der Ball ins linke obere Eck dreht. Dabei beschreibt er eine Flugbahn, die mathematisch nicht zu erklären ist. Jedesmal sieht es anders aus, aber egal, wie es aussieht: Jedesmal steht es danach eins zu null.

»Ich weiß es nicht«, antworte ich.

Es dauert einen Moment, dann ruft Zoe: »Wow! Du bist Hausbesitzer!«

»Ist nichts Besonderes, glaube ich, das Haus.«

»Warst du nie da?«, will Bernhard wissen.

Ich schüttle den Kopf. »Meine Mutter wollte da mal Urlaub mit uns machen, aber mein Vater hat gesagt, dass ihn keine zehn Pferde dahin brächten.«

»Muss der gekotzt haben!«, ruft Marc. »Der ist doch garantiert total abgegangen – Mann, Bernhard, jetzt mach doch mal die Glotze aus.«

Das Spiel ist vorbei, inzwischen läuft Werbung.

Bernhard greift sich die Fernbedienung, dreht aber nur die Lautstärke runter. »Die bringen gleich die Analyse«, erklärt er. Marc schnaubt: »Analyse kannst du haben: neunzig Minuten getrabte Langeweile, unterbrochen durch ein Freistoßtor von Ribery in der achtundachtzigsten. Bayern ist weiter. Und jetzt mach aus.« Er wendet sich an mich: »Ist dein Alter nicht an die Decke gegangen?«

Ich ziehe den Schlüsselbund aus der Hosentasche, den ich seit heute Nachmittag mit mir herumtrage. »Als der Notar mir den über den Tisch geschoben hat, wäre er mir, glaube ich, gerne an den Hals gesprungen.«

Zoe weiß nicht viel über meinen Vater. »Und was hat er gesagt?«, fragt sie.

»Der Notar?«

»Dein Vater natürlich.«

»Dass ich das mein Leben lang bereuen werde.«

»Nicht im Ernst!«

Statt zu antworten, zucke ich mit den Schultern.

Zoe sinkt in den Sessel zurück: »Wie kann der so was sagen?«, denkt sie laut, und weil es nicht wirklich als Frage gemeint ist, antwortet auch niemand darauf.

Endlich schaltet Bernhard den Fernseher aus: »Verstehe ich nicht – dein Vater hat doch sowieso schon alles.«

Die Antwort kommt von Marc: »Kann eben nicht genug kriegen.«

Ziemlich lange hört man nur, wie die drei abwechselnd an ihren Bierflaschen nippen und sie anschließend auf den Korkuntersetzern abstellen. Außer Marc, der seine auf die Glasplatte klacken lässt. Er provoziert gerne, und Bernhard ist jemand, der das Provozieren provoziert.

Zoe knackt einen Möhrenstift: »Und du warst noch nie da?« Aus der Kastanie im Hof löst sich ein Vogel und schwingt sich in den Abendhimmel auf. »Ich kenne es nur von Fotos«, sage ich. »Von der Veranda aus kann man das Meer sehen.«

Marc kramt sein Haschischdöschen hervor und fängt an, sich eine Tüte zu bauen. »Das Meer?«, fragt er. »Im Ernst?«

»Geraucht wird auf dem Balkon«, erinnert ihn Bernhard.

»Glaube schon«, sage ich.

Marc leckt das Paper an und blickt in die Runde: »Und was machen wir dann noch hier?«

 

2

Ich war sechs, als Onkel Hugo mir beibrachte, wie man Papierflieger faltet. Es war zu Weihnachten. Oma und Opa waren da, meine Eltern, mein Bruder Sebastian und Onkel Hugo. Opa allerdings nur noch körperlich. Er saß in dem Ohrensessel, die Arme auf den Lehnen, und lächelte fortwährend in sich hinein, als sei alles zu seiner Zufriedenheit. Seine Finger hingen von den Armlehnen herab wie welke Blätter, sein Kopf verschwand zur Hälfte im hell erleuchteten Fransenschirm der Stehlampe. Auf seiner Glatze glitzerten Schweißperlen, doch falls er sie spürte, störten sie ihn nicht. Er mochte es warm.

Sebastian hatte eilig die Verpackungen von den Geschenken gerissen und stand vor der Schrankwand, einen schwarzen Kasten mit Antenne und zwei Reglern in den Händen. Über den Boden raste ein Rennwagen, der ständig gegen eine Fußleiste oder ein Tischbein krachte.

»Nicht so!« Mein Vater beugte sich über ihn. »Gib her, ich zeig’s dir«, sagte er und entwand meinem Bruder den Kasten.

Meine Mutter saß schweigend auf dem Sofa, daneben Oma, einen Teller mit Vanillekipferln auf dem Schoß. In regelmäßigen Abständen ergriff sie eins mit spitzen Fingern, klopfte am Tellerrand den Puderzucker ab, führte es zum Mund und biss eine Ecke ab. Am Baum brannten lautlos die Kerzen herunter.

Neben der Blautanne türmte sich ein Haufen aus Geschenkpapier auf, der mir bis zur Schulter reichte. Hinter meinem Rücken kollidierte Sebastians Auto mit der Zimmertür und überschlug sich.

Onkel Hugo legte seine Hand auf meine Schulter. »Wenn du willst, zeige ich dir, wie man Papierflieger faltet.«

Ich nickte.

Er deutete auf den Haufen: »Such dir eins aus.«

Ich entschied mich für das nachtblaue Papier mit Sternenmuster, in das Sebastians Auto verpackt gewesen war. Onkel Hugo zog sich den freien Sessel an den Tisch. Ich stellte mich neben ihn. Sein warmer Pfeifengeruch kitzelte mir in der Nase. Die Kunst bestand darin, so erklärte er mir, zu fühlen, wo der Schwerpunkt liegen musste, damit der Flieger sich nicht mit der Nase voran in den Boden bohrte oder steil nach oben wegdrehte, um anschließend auf dem Heck zu landen. Wenn nötig, konnte man ein Pfennigstück nehmen und es in den Rumpf schieben, um den Schwerpunkt zu verlagern.

»Du bist doch mathematisch begabt«, sagte Onkel Hugo, »wahrscheinlich kannst du es sogar besser als ich.«

Ich wusste nicht, was »begabt« bedeutete, aber ich wusste, dass niemand so gute Papierflieger falten konnte wie Onkel Hugo. Alle wussten das. Er weihte mich in ein großes Geheimnis ein.

Wir falteten ihn gemeinsam. Onkel Hugo wiederholte jeden Schritt, damit ich mir alles genau einprägen konnte. Ein blauer Nachtfalter mit Sternen auf den Flügeln. Er demonstrierte, wie ich ihn halten sollte.

»Hier«, sagte er und führte meine Finger an die entsprechende Stelle. »Spürst du, wie sich das Gewicht verteilt?«

Ich sagte, ich spürte es, war aber nicht sicher. Sebastians Auto hatte sich zwischen der Wand und einem Heizungsrohr verkeilt. Für einen Moment war es sehr still. Onkel Hugo führte meinen Arm.

»Loslassen«, sagte er.

Der Flieger schwebte in vollkommener Ruhe durch den Raum, wobei er einen perfekten Halbkreis beschrieb – vorbei am Regal und zwischen den Zweigen des Weihnachtsbaums hindurch –, um schließlich in Opas Schoß zu landen, der keine Notiz davon nahm, sondern nur weiter friedlich lächelte.

Bei dem Versuch, den Wagen unter der Heizung hervorzuziehen, brach eine Seite des Spoilers ab.

»Scheißding!«, rief Sebastian aus.

Vater gab Sebastian den Kasten wieder. »Wie sieht’s aus, Hugo?«, wandte er sich an seinen Bruder. Sogar Opa wusste, welche Frage sich an diesen Satz anschließen würde: »’ne Partie Schach?«

Hugos Antwort war dieselbe wie jedes Jahr: »Wie du willst.«

Danach zogen sich die beiden in Vaters Arbeitszimmer zurück.

Erster Tag

Und ihr seht mich als Punkt

Am Horizont verschwinden,

Um ein Stück weiter hinten

Mich selbst zu finden.

 

(Thomas D.)

3

»Na, Diogenes«, begrüßt mich Marc. »Hast du deinen Löffel und deine Schale eingepackt?«

Er ist tatsächlich gekommen. Ich hätte nicht geglaubt, dass seine Euphorie so lange vorhalten würde. Es ist sechs Uhr dreißig. Erste Flugzeuge ziehen weiße Kondensstreifen in den noch tiefblauen Morgenhimmel. Die Stadt wacht eben erst auf.

Mein Bauwagen ist 5 Meter 20 lang und 2,30 breit. Marc übertreibt also, wenn er mich mit Diogenes vergleicht. 11,96 Quadratmeter. Genauso viel wie eine Gefängniszelle, sagt Bernhard. Keine Ahnung, woher der so etwas weiß. Jedenfalls finde ich meinen Bauwagen ganz schön geräumig. Außerdem hat er zwei Türen, was die wenigsten von ihrer Wohnung sagen können. Ich habe ihn so hingestellt, dass durch die eine Tür die Morgen- und durch die andere die Abendsonne scheint. Und ich habe 17 000 Quadratmeter Garten.

Marcs Vater soll in diesem Garten einen Wellnesspark bauen, aber seit der Grundsteinlegung letztes Jahr ist nichts mehr passiert. Die Wirtschaftskrise hat den Investoren die Luft ausgesaugt. Marcs Vater meint, es kann noch Jahre dauern, bis eine endgültige Entscheidung gefällt wird. Bis es so weit ist, hat er mir erlaubt, meinen Wagen auf das Grundstück zu stellen, inklusive Strom und fließend Wasser. Dann wird wenigstens nicht so viel geklaut, meint er. Aber das sagt er nur, damit ich kein schlechtes Gewissen habe. Kein Mensch klaut einen gelegten Grundstein. Und sonst gibt es nur meinen Bauwagen und wucherndes Unkraut.

Nachts um drei und mittags um eins kommt Achmed von der Sicherheitsfirma und sieht nach, ob das Grundstück noch da ist. Er fährt einen tiefergelegten 3er BMW, den ich bereits am Sound erkenne, wenn er noch zwei Straßen entfernt ist, und er streichelt gerne Hit and Run, meine Katze, vorausgesetzt, sie ist gerade mal da. Hit and Run ist grau, mit blauen Augen. Zoe meint, Siamkatzen hätten blaue Augen, aber ich weiß nicht, ob das stimmt. Sie ist nicht gemustert oder so, einfach nur silbrig-grau. Als trüge sie einen Designeranzug. Und so bewegt sie sich auch. Mäuse fangen ist eigentlich total unter ihrer Würde. Doch der Geist ist willig, aber der Körper schwach. Scheißinstinkte.

Eigentlich ist sie gar nicht meine Katze. Sie trieb sich schon auf dem Grundstück herum, bevor ich hier anrückte. Zwei Wochen lang schlich sie um den Bauwagen, dann stand sie eines Morgens an meinem Bett und verlangte, endlich gefüttert zu werden. Sie kann sehr fordernd sein. Sobald sie dann hat, was sie will, ist sie auf und davon. Daher der Name. Im Grunde bekomme ich sie seltener zu Gesicht als den Fuchs, der nachts über das Gelände patrouilliert.

Zurück zu Achmed: Von dem also lässt sie sich gelegentlich streicheln. Von mir nicht. Ist kein Wunder, meint Achmed, alle geilen Chicks stehen auf ihn. Dass Hit and Run ein Kater ist, weiß er nicht.

 

Sechs Uhr dreißig ist die schönste Zeit des Tages in meinem Garten. Wenn ich die Tür nach Osten öffne, scheint die Morgensonne auf mein Bett und trägt die Stimmen von einem Dutzend verschiedener Vogelarten herein. Es ist keinen Monat her, da stand der Wagen um diese Zeit noch hüfthoch im Nebel – als könne man darauf traumwandeln. Kurze Zeit später begann die Kirschblüte. Letzte Woche dann schneiten um sechs Uhr dreißig die ersten Blütenblätter herein und verteilten sich über den Boden, als sei in der Nacht ein Engel durch den Wagen geschwebt und habe sie verstreut.

Marcs langer Schatten leckt sich das Bett hinauf, züngelt über meine Decke und rankt sich die Wand empor. Als ich mich aufsetze, steht sein Kopf genau zwischen mir und der Sonne. Sonst hat er wild wuchernde Locken, jetzt aber ist es ein brennender Helm.

»Ja«, antworte ich und deute auf die Arzttasche neben meinem Bett.

Fünf Minuten später drehe ich den Schlüssel im Zylinder und überlege, ob ich etwas vergessen habe. Nein, habe ich nicht. Ich spüre das Gewicht der Tasche in meiner Hand. Die Habseligkeiten, die noch im Bauwagen liegen, kann man an einer Hand abzählen. Trotzdem kommt es mir vor, als würde ich wer weiß was zurücklassen.

Marc wartet mit seiner Frage, bis wir vor dem Kreisverkehr in der Frankfurter Allee stehen, die Sonne im Rücken. »Ist was?«

Der Brunnen auf der Mittelinsel schläft noch. An dem Schaltkasten neben mir lehnt eine verlorene Nachtgestalt und übergibt sich auf den Grasstreifen.

»Ich hätte mich gerne von Hit and Run verabschiedet«, antworte ich.

 

Als letzte Nacht gegen drei Achmed und sein BMW anrollten, saß ich noch auf der Leiter des Westflügels, blickte der untergegangenen Sonne hinterher und dachte über den Abend nach. Bei Bernhard vor dem Fernseher hatte ich noch überlegt, wie lange es uns wohl noch geben würde, so, zu viert. Dann kam Marc und elektrisierte alle mit seiner Idee, gemeinsam nach Frankreich zu fahren. Und plötzlich gab es uns wieder, uns vier. Vielleicht ist er auch deshalb so ein guter Gitarrist – weil bei ihm der Funke überspringt. Ich könnte das nie.

Achmed kam um den Bauwagen herum, warf einen Blick in die Nacht hinaus und streifte an der Regentonne den Kronkorken seiner Bierflasche ab. Sein Auto stand 30 Meter entfernt, trotzdem hörte ich, wie Bushido es gegen jeden verteidigte, der ihm zu nahe kam.

»Hab mir gedacht, dass du noch hier rumsitzt«, begrüßte er mich.

Er hatte zwei Flaschen dabei, eine für mich. Behauptete er.

»Ich trinke nicht«, sagte ich.

»Ach so, stimmt ja.«

Er trank. Anschließend studierte er das Etikett, das im Dunkeln nicht zu entziffern war: »›Green Lemon‹ oder so’n Scheiß. Fragt man sich doch, warum wir Türken da noch Deutsch lernen sollen.« Er nahm einen weiteren Schluck, wie um sicherzugehen.

»Schmeckt wie Zitronenpisse«, stellte er fest.

»Warum trinkst du es dann?«

Er zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche, zündete sich eine an, lehnte sich gegen den Wagen und blies den Rauch aus, der ihn lange einhüllte, bevor er sich verflüchtigte. Nicht einmal die Blätter an den Kirschbäumen bewegten sich heute Nacht.

Er grinste: »Schmeckt irgendwie ganz geil – Zitronenpisse.« Ich fragte mich, warum er das machte: Nachts um drei aufkreuzen, sich neben die Leiter stellen, gegen den Wagen lehnen, sein Bier trinken und wieder verschwinden. Möglich, dass er es selbst nicht wusste. Vielleicht gab es nicht einmal den Sicherheitsdienst, für den er angeblich arbeitete. Hätte mich nicht gewundert. Eigentlich ist er wie Hit and Run, dachte ich, außer dass er sein Bier selbst mitbringt.

»Morgen früh fahr ich vielleicht weg«, sagte ich.

»Und? Wohin?«

»Frankreich.«

»Was willst’n da? Frankreich ist doch Scheiße.«

»Hat mein Vater auch immer gesagt.« Trotzdem, denke ich, wollte er um jeden Preis Hugos Haus haben.

»Und?«, fragte Achmed. »Was willste dann da?«

»Weiß noch nicht.«

Achmed ließ erneut seinen Blick über das Gelände schweifen. Das Grundstück war noch da, Job erledigt. Bald darauf hebelte er den Kronkorken der zweiten Flasche ab.

»Könntest du Hit and Run füttern, solange ich weg bin?«, fragte ich.

»Wann kommst’n wieder?«

»Weiß ich noch nicht.«

Ein Vogel zwitscherte, ganz in der Nähe. Er musste in einem der Kirschbäume sitzen. Es gibt einen, der die ganze Nacht hindurch singt. Er meidet den Wettkampf. Erst wenn alle anderen verstummt sind, läuft er plötzlich zu Hochform auf.

Vorne im Gras bewegte sich etwas, aber als es näher kam, war es nur der Fuchs, der es auf das Katzenfutter abgesehen hatte.

»Was soll’n das überhaupt für ein Name sein?«, fragte Achmed, »Hit and Run.«

»Auf und davon«, sagte ich.

Er lehnte sich gegen den Wagen, nahm einen Schluck und blickte ins Nichts: »Ist doch kein Name – Auf und davon.«

4

Marcs Bus hat mal einem Lebenshilfeverein gehört, den »Straight Edges«. Die untere Hälfte ist leuchtend orange lackiert, die obere weiß. Auf der Schiebetür ist ein Schriftzug angebracht:

 

STRAIGHT EDGES

LEBEN OHNE DROGEN

 

Das Projekt wurde eingestampft, als sich herausstellte, dass der Vorsitzende sich einen nicht unbeträchtlichen Teil der öffentlichen Zuwendungen in Form von Kokain durch die Nase zog. Den Bus hat Marc dann bei einer Versteigerung erworben, inklusive handbestickter Sitzkissen mit lachenden Sonnen drauf sowie selbstgenähter Vorhänge in den Farben des Regenbogens. Wenn er mit einer Band auf Tour ist, glauben viele, es handle sich um eine schwule Lebenshilfeband namens »Straight Edges«, die den Drogen abgeschworen hat – bis Marc betrunken mit einem Groupie im Bus verschwindet und die Vorhänge zuzieht. Er sagt, er hat in seinem Leben noch nie so viel Spaß gehabt wie in seinem drogenfreien Bus. Bernhard meint, er solle doch wenigstens den Schriftzug übermalen, aber Marc glaubt fest daran, dass der Schriftzug wie ein Schutzschild funktioniert. Jedenfalls musste er noch nie einen Alkoholtest machen und ist noch nie gefilzt worden, auch wenn der Wunderbaum am Rückspiegel inzwischen selbst schon nach Dope riecht.

Seine besten Tage hat der Bus hinter sich. Und die meisten der weniger guten auch. Der dritte Gang bleibt nur noch drin, wenn man den Schalthebel festhält, das Schiebedach ist undicht, der Außenspiegel auf der Beifahrerseite mit Gaffa getapt. Bis Frankreich kein Problem, sagt Marc. »Solange du genug Gaffa im Auto hast, kann dir nichts passieren.«

 

Zoe mustert uns, als seien wir von einer Drückerkolonne. »Ach, ihr seid’s.«

»Wen hast du denn erwartet?«, fragt Marc.

Sie sieht nicht so aus, als wolle sie die nächsten Tage in einem altersschwachen VW-Bus zubringen. Eher so, wie attraktive Frauen sich kleiden, wenn sie ganz beiläufig auf jemanden einen besonderen Eindruck machen wollen: Teures, aber schlichtes Kostüm, weiße Bluse, dezente Ohrringe, die Haare wie mit dem Pinsel über die Schulter drapiert.

Zoes Schönheit hat etwas Erhabenes, egal, was sie anzieht. Sie ist von der Art, dass jeder sie sofort versteht, ohne allerdings zu begreifen, warum. Wie eine Folge von Pentagonalzahlen. Als ineinandergeschachtelte Fünfecke dargestellt, ahnt man sofort ihre verborgene Schönheit, auch wenn man sie auf den ersten Blick nicht erkennt. Aus diesem Grund sind Pentagonalzahlen neben den Primzahlen auch meine Lieblingszahlen. Sie schreien einem ihre Symmetrie nicht gleich entgegen wie Quadratzahlen oder vollkommene Zahlen.

Was ich an Zoe am meisten mag, ist der nicht erhabene Teil. Es gibt eine Seite an ihr, die sie als Schwäche empfindet. Hat mit Gefühlen und so was zu tun. In seltenen Momenten dringt etwas davon an die Oberfläche. Ist wie eine Blase unter dem Teppichboden. Du kannst sie runterdrücken, aber dann kommt sie an anderer Stelle wieder hoch. Am meisten mag ich also an ihr, was sie am stärksten zu verbergen versucht.

In Zoes Wohnung geht gerade die Sonne auf. Das gesamte Treppenhaus riecht nach morgendlichem Aufbruch.

Marc tastet mit seinem Blick ihre Beine ab, bis er den Boden erreicht hat. »Nur ein Koffer pro Mitfahrer«, sagt er, »und Handgepäck nur bis fünfzehn Kilo.«

Zoe lehnt sich gegen den Türrahmen und wechselt das Standbein. »Hört zu«, sagt sie und streicht sich ihre Haare über die Schulter, die danach exakt so aussehen wie vorher. »Ich … ich komme nicht mit.«

Marc löst den Blick von ihren Absatzschuhen: »Was soll denn das heißen?«

»Dass sie nicht mitkommt«, sage ich.

»Ja«, sagt Zoe und wendet den Kopf ab, als suche sie etwas, »ich schätze, das heißt es wohl.«

»Und warum nicht?«, fragt Marc.

Zoe verschränkt die Arme vor der Brust. Wenn sie eins nicht leiden kann, dann in die Defensive gedrängt zu werden: »Weil ich am Montag auf eine Konferenz nach Chicago fliege – sorry.«

Ich betrachte ihre Schuhe und wie sie den Fuß ihres Spielbeins auf dem Absatz leicht nach außen dreht. »Mit Ludger?«, frage ich.

Sie zieht die Schultern hoch und blickt sich wieder in der Wohnung um. »Sorry.«

Und plötzlich sind wir nur noch zu dritt.

 

Gleich sind wir nur noch zu zweit. Das denke ich, als wir auf dem Weg zu Bernhard sind. Wenn Zoe mitkäme, könnte Bernhard unmöglich hierbleiben. Aber was soll er in Frankreich, wenn sie in Berlin sitzt?

Als Marc gestern die Idee kam, nach Frankreich zu fahren, war Bernhard der Erste, der sagte, er könne nicht – wegen seines Jobs. Dabei hat er in den zwei Jahren, die er jetzt für »Nanotec« arbeitet, noch keinen Tag Urlaub genommen. In Wahrheit bringt er es nicht über sich, seine Mutter alleine zu lassen, die Parkinson hat, seit drei Jahren nicht mehr ohne Hilfe aus dem Bett kommt und seit einem Jahr gar nicht mehr. Sie ist im Pflegeheim »Rosengarten« untergebracht, und jeden Tag, wenn Bernhard nach der Arbeit dorthin fährt, schämt er sich. Der Gang zu seiner Mutter ist für ihn das Eingeständnis einer Kapitulation. »Das ist nicht der richtige Ort für sie«, sagt er.

Er gibt die Hälfte seines Gehalts zu ihrer Rente dazu, damit sie im »Rosengarten« wohnen kann, doch selbst das reißt es nicht raus. Im Gegenteil: Er hat das Gefühl, sich schuldig zu machen, indem er sich mit Geld aus der Verantwortung zieht.

Bernhard also wollte nicht mitkommen, so der Stand gestern Abend, 22 Uhr 45. Um 22 Uhr 46 rief Zoe dann unvermittelt aus: »Ich bin dabei!« Aus dem Hof schallten Fußballgesänge zu uns herauf. »Was glotzt ihr denn so?«, fragte sie. »Ich bin dabei.«

»Aber du kannst doch nicht einfach so Urlaub nehmen!«, wandte Bernhard ein.

Sie zog einen Schmollmund: »Warum eigentlich nicht?« Mit diesen Worten nahm sie ihr Handy aus der Tasche und verschwand auf dem Balkon.

»Gibt’s noch Bier?«, fragte Marc.

»Im Kühlschrank«, antwortete Bernhard, ohne seinen Blick von der Balkontür zu wenden.

»Noch jemand?«

Keine Antwort.

Nach zwei Minuten kam Zoe zurück. Marc stellte gerade seine Bierflasche neben dem Untersetzer ab.

Ihr Lächeln war ein Triumph: »Hab doch gesagt, ich bin dabei.«

Noch einmal zwei Minuten später war Bernhard auch dabei.

 

»Wo habt ihr denn Zoe gelassen?«

In seinem Schuhkrematorium wirkt Bernhard wie ein Hohepriester.

»Zu Hause«, antwortet Marc.

Bernhards Gesicht verformt sich zu einem bangen Fragezeichen.

»Sie fliegt am Montag auf einen Kongress nach Chicago«, erklärt Marc. »Future management business constructions oder so ähnlich.«

Wenn in Bernhards Flur eine von diesen altmodischen Uhren hängen würde, könnte man jetzt das Pendel hören.

»Mit Ludger?«, fragt Bernhard.

Er kennt die Antwort. Wir alle kennen sie. Deshalb sagt auch keiner etwas. Marc kratzt sich den Staub aus den Haaren. Mit seinen ausgetretenen Chucks, der zerschlissenen Jeans und dem verblichenen T-Shirt sieht er aus wie ein ungemachtes Bett.

»Du kannst hierbleiben und bis zur Sonnenwende deine Badewanne vollheulen – oder du kannst mit nach Frankreich kommen.«

Bernhard presst die Lippen aufeinander, schiebt seinen Unterkiefer von rechts nach links, vergräbt die Hände in den Taschen und sieht uns an, als müsste einer von uns jetzt etwas sagen, das ihn erlöst.

Am Ende erlöst er sich selbst: »Ach, was soll’s!«

Er verschwindet im Schlafzimmer, und als er wieder herauskommt, zieht er seinen Alu-Rollkoffer hinter sich her.

5

Was Marc zum Anziehen dabeihat, passt bequem in seine Sporttasche. Für seine CD-Auswahl dagegen ist unter zwei großen Holzkisten nichts zu machen.

»Noch weniger ging nun wirklich nicht«, kommentiert er Bernhards Blick.

Als wir die Stadt verlassen, uns auf der Avus nach Süden wenden und die verwaisten Tribünen passieren, stellt sich zum ersten Mal diese besondere Aufbruchsmelancholie ein. Nur dass bei mir der Aufbruch Abschied heißt. Marc hat den Beifahrersitz so montiert, dass man mit dem Rücken zur Fahrtrichtung sitzt. So sehe ich nie, was auf uns zukommt, sondern nur, was bereits hinter uns liegt. Wie meine Großmutter früher, den Blick immer in die Vergangenheit gerichtet. Vielleicht, denke ich, passiert das bei jedem irgendwann – dass sich der Sitz dreht und man nicht mehr nach vorne sieht, sondern nur noch nach hinten. Eine Frage des Alters. Oder der Einstellung. Vielleicht.

Ich jedenfalls sehe eine Rauchwolke, die sich an den Bus gebunden hat. Außerdem ist da ein merkwürdiges Geräusch – wie von etwas, das sich selbst zerstören will. Doch es ist nicht Bernhard, der dieses Geräusch macht, sondern der Auspuff.

»Glaubst du im Ernst, dass wir mit der Kiste bis nach Frankreich kommen?«, fragt Bernhard.

Marc blickt in den Rückspiegel. »Kein Problem.« Er macht eine beschwichtigende Geste, fährt auf die Standspur und lässt den Bus ausrollen.

Während wir warten, bis der Auspuff abkühlt, zupft Marc ein paar Akkorde auf der Gitarre, doch die passende Melodie dazu will nicht richtig gelingen.

»Die ganze Idee ist totaler Schwachsinn«, kommentiert Bernhard, »wir sind noch nicht mal aus der Stadt raus, und schon ist die Kiste im Arsch.«

»Wenn du einen Vorwand suchst, um abzuspringen«, antwortet Marc, »gibt keinen Gruppenzwang. Aber versuch nicht, uns den Trip auszureden. Den Gefallen tun wir dir nicht. Den Schwanz einziehen musst du schon alleine.«

Statt zu antworten, schnauft Bernhard nur und blickt aus dem Fenster.

Marc versucht es andersherum: Summt erst die Melodie, die er im Kopf hat, und legt anschließend die Akkorde darunter. In diesem Stadium höre ich ihm am liebsten zu: Wenn er schon eine Idee hat, aber noch keinen Song – wenn die Dinge bereits existieren, aber erst noch zueinanderfinden müssen.

»Lass doch so«, schlägt Bernhard vor, »klingt okay, finde ich.« Marc nimmt die Finger von den Saiten. Wenn er etwas zu sagen hat, kann er nicht gleichzeitig spielen. Beim Denken, sagt er, hilft Spielen, beim Reden stört es. »Erstens«, erklärt er, »ist ›okay‹ nicht genug, und zweitens öffnet sich der Refrain nicht. Da muss mehr Sonne rein, der Refrain muss ein Versprechen einlösen. Alles eine Frage der richtigen Energie.«

Wenn Marc über Musik redet, spricht er gerne über Energien, über Klang gewordene Emotionen und wie man all das physisch erfahren kann. Ich denke manchmal, was für ihn die Akkorde sind, sind die Zahlen für mich.

Bernhard kann mit beidem nichts anfangen. Bei Zahlen sieht er nur Vektoren und Effizienzquotienten, und bei Musik … gar nichts. »Energien …« Er lässt das Wort in der Luft hängen. »Das hat doch nichts mit Musik zu tun! Du immer mit deinem Gequatsche von Energien und wie sich Musik ›anfühlt‹. Musik fühlt sich nicht an. Vielleicht solltest du lieber mal mit Verstand rangehen, statt dich immer nur zu fragen, wie sich das anfühlt.«

Marc bedenkt Bernhard mit einem Blick, der irgendwo zwischen arroganter Schnösel und armer Tropf angesiedelt ist, legt die Gitarre in den Koffer zurück und steigt aus. »Was du nicht begreifst, Bernhard, und vermutlich nie begreifen wirst, ist, dass Gefühle ihren eigenen Verstand besitzen.«

Er wartet, bis klar ist, dass Bernhard dem nichts entgegenzusetzen hat, dann verschwindet er bis zur Hüfte unter dem Bus.

»Hab ich doch gleich gesagt!«, ruft er gegen das Dröhnen der vorbeifahrenden LKWs an. »Ein Fliegenschiss! Felix, gib mal ’ne Rolle Gaffa aus dem Bus!«

Marc klebt also den Auspufftopf mit Gaffa fest, und um das lästige Restklappern zu übertönen, schiebt er vor der Weiterfahrt eine CD ein.

»Die neue Cat Power – geiler Stoff«, klärt er mich auf.

Im nächsten Moment verschwinden meine Ohren im Bauch einer Bass-Drum. Das ist Marc: Der Bus hält nur noch mit Gaffa-Tape, aber mit der Anlage könnte man die Waldbühne beschallen.

Erst nachdem wir die Stadtgrenze passiert haben, wird mir klar, dass der Song eine Cover-Version von »New York, New York« ist, nur dass man Sinatras Text kaum wiedererkennt und die Musik gar nicht mehr. Doch das Gefühl ist da: Aufbruch, Möglichkeit, Sehnsucht. I’m leaving today … If I can make it there …

Die Autobahn schlägt eine Schneise durch einen Kiefernwald. Immer wieder offenbaren die Bäume für Sekundenbruchteile eine geheime Symmetrie und formieren sich zu Reihen, um gleich darauf in einem undurchdringlichen Chaos aufzugehen. Die Morgensonne bricht schräg durch die Baumkronen und verwandelt den Wald in einen Teppich aus gewebtem Licht. Achtzehn Jahre hat Onkel Hugo in diesem Haus in Südfrankreich gelebt, und ich habe ihn kein einziges Mal besucht. Ich weiß nicht einmal, warum.

 

Marc dreht mir sein Gesicht zu: »Fragst du dich, was gerade mit dir los ist?«

Inzwischen ziehen Felder vorbei, der Blick weitet sich. Manche Dinge verschmelzen in der Ferne zu bunten Punkten.

»Vielleicht«, antworte ich.

»Ein neuer Tag, ein neues Leben – das ist mit dir los.«

Also ist es auch bei dir angekommen, denke ich. Aufbruch, Möglichkeit, Sehnsucht.

Marc umfasst das Lenkrad, als drohe es ihm aus der Hand gerissen zu werden: »Ahh – ich fühl mich wie Odysseus!«

Ich sehe ihn an: »Du glaubst, wir werden Schiffbruch erleiden?«

»Nicht mit genug Gaffa an Bord!«

»Verstehe – du willst liebestolle Göttinnen mit gebrochenen Herzen zurücklassen.«

Marc grinst dieses spezielle Grinsen, mit dem er noch jede Frau in seinen Bus gelockt hat. »Wär doch geil, oder?«

»Und was ist mit Frau und Kind, die zu Hause treu und ergeben auf dich warten?«, wende ich ein.

»Shit – ich wusste, die Story hat einen Haken.« Er überlegt kurz: »War Odysseus eigentlich je in Frankreich?«

»Höchstwahrscheinlich nicht«, antworte ich.

»Hätte er mal machen sollen. Wein, Weib, Gesang … War’n Fehler von ihm, Frankreich auszulassen.«

I’m gonna ride … I’m gonna ride … Inzwischen träumen Cat Power und eine einsame Akustikgitarre davon, auf einem geklauten Pferd einer ungewissen Zukunft entgegenzureiten, the devil close behind. Reiten, reiten, immer weiter, auf der Suche nach etwas, von dem man erst weiß, was es ist, wenn man es gefunden hat. Was natürlich nie passieren wird. Egal, scheiß drauf – letztlich geht es ums Suchen, nicht ums Finden.

Bei Bernhard kommt von der Aufbruchsstimmung nichts an. Er scheint immun zu sein, sitzt gefangen in seinem Groll auf der Rückbank, spricht nur, wenn er etwas gefragt wird, bewegt sich nur, wenn es nicht anders geht, und trägt dabei den Ausdruck eines gedemütigten Hundes zur Schau.

Als wir an einem weiteren Straßenschild vorbeifahren, kommt plötzlich Leben in ihn. »Magdeburg?«, ruft er von hinten. »Warum fährst du denn nicht über Leipzig? Das ist doch mindestens eine Stunde Umweg!«

»Echt?« Marc grinst in den Rückspiegel: »Geil – dann können wir ja noch eine Stunde länger unterwegs sein.«

6

Bernhard wird von seinen Gedanken umkreist: Dass er seine Mutter nicht einen Tag alleine lassen kann, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Dass er die Vorstellung nicht erträgt, Zoe am Montag mit Ludger in einem Flugzeug nach Chicago zu wissen. Zoe, die Bernhards Hingabe seit Jahren mit Füßen tritt und sich stattdessen lieber unglücklich macht. Überhaupt: dieser Ludger. Nutzt sie doch sowieso nur aus. Hält sie wie ein Schoßhündchen, um sie auf Zuruf Kunststückchen machen zu lassen. Doch was soll sie tun? Sie liebt Bernhard nicht. Steht wahrscheinlich irgendwo geschrieben, wie ein Naturgesetz oder so. Was für ein Scheiß. Echt.

Irgendwann wird es hügelig. Die Sonne hat den höchsten Punkt erreicht, das Licht ist fast weiß. Die Luft, die mir bis eben den Mund ausgetrocknet hat, wird plötzlich kühl. Reste der Nacht hängen noch zwischen den Tannen. Sobald es bergauf geht, beginnt der Motor zu stöhnen, und der Auspuff klappert so laut, dass selbst die Red Hot Chili Peppers ihn nicht zum Schweigen bringen können. Immer wieder muss Marc in den dritten runterschalten und den Hebel festhalten.

Als wir einen noch langsameren LKW überholen, duckt sich ein schwarzer Sportwagen hinter uns, den Bernhard als Maserati identifiziert. Er fährt so dicht auf, dass durch die Heckscheibe nur noch sein Dach zu sehen ist. Kaum wechseln wir wieder auf die rechte Spur hinüber, schießt er vorbei und steuert direkt vor uns eine Tankstelle an. Zeitersparnis: ungefähr zwei Zehntelsekunden.

Als ich frage, wo wir sind, antwortet Marc: »Kasseler Berge – Kinderspiel.«

Und in diesem Moment wird mir klar, weshalb er diesen Umweg auf sich genommen hat. Ich sehe ihn an. Seine Sonnenbrille ist stur auf die Fahrbahn gerichtet. Doch er beginnt zu schmunzeln. Ich sage nichts. Was könnte ich auch sagen? Dass ich ihm dankbar bin? Für alles? Weiß er längst. Und will es sowieso nicht hören.

Kurz hinter Kassel, die Hügel haben sich wieder geglättet, steuert Marc einen unscheinbaren Rastplatz an, kuppelt aus, wartet, bis der Bus steht, und dreht den Zündschlüssel. Ruhe. Kein Klappern, keine Musik. Es ist, wie aus der Helligkeit in einen abgedunkelten Raum zu treten. Allmählich dringt das Sirren des Verkehrs zu mir durch, später auch Vogelgezwitscher.

»Wir sind da«, sagt Marc.

Bernhard sieht sich um: eine Böschung, ein paar Bäume, die den Rastplatz von der Autobahn abgrenzen, zwei Holzbänke, die von einem schmierigen Film überzogen sind, dazwischen ein einbetonierter Mülleimer. Kein Mensch außer uns.

»Wo?«, fragt er.

 

Es war am 9. Oktober, drei Tage vor meinem achtzehnten Geburtstag. Marc sollte mit einer Band auf Tour gehen, den Death Chunks. Folglich würde mein Geburtstag bestehen aus: Kuchen, dem traurigen Lächeln meiner Mutter und Schweigen. Mein letztes Schuljahr hatte gerade begonnen. In zehn Monaten hätte ich mein Abi in der Tasche.

Die Death Chunks waren alle mindestens fünf Jahre älter als Marc. Ihre Musik kreuzte Aggression mit Todessehnsucht. Als ich Marc fragte, weshalb er da mitspielte, wo er doch eigentlich auf Melodien stand, antwortete er: »Manchmal will man auch einfach nur den Verstärker aufreißen.«

Für die Tour hatten sich die Death Chunks einen Kleinbus gemietet. Am Tag der Abreise standen Marc und dieser Bus um Viertel vor acht bei mir vor dem Schultor.

Marc lehnte an der Haube und rauchte: »Ein Platz ist noch frei.«

Ich muss wohl ausgesehen haben, als sei er gerade vom Himmel gefallen. »Ich hab Schule«, erklärte ich.

»Hatte ich auch mal.«

»Du brauchst kein Abitur«, entgegnete ich, »du kannst Gitarre spielen.«

»Und du brauchst keine drei Sekunden, um auszurechnen, was 3256 zum Quadrat ist.«

»8742658.«

»Quot erat demonstrare oder so ähnlich. Face it, Mann: Deine Lehrer kriegen Schweißausbrüche, wenn sie dich sehen. Gönn denen mal ’ne Verschnaufpause.«

Auf dem Schulhof hatten sich Grüppchen formiert. An den Rändern, wie mit einer Zentrifuge gegen die Mauern geschleudert, fand sich eine Handvoll allein Stehender. Heute waren sie einer weniger. Als der Gong ertönte, liefen alle wie Öltropfen zu einer Pfütze zusammen und wurden durch den Eingang gesogen.

Ich warf meine Tasche auf die Rückbank und stieg ein. »10601536«, sagte ich.

»Was ist damit?«

»3256 zum Quadrat – 10601536.«

»Eins so gut wie das andere, wenn du mich fragst.« Marc legte den Gang ein und nickte Richtung Schule. »Sag tschüs.«

Ich blickte die graue Fassade mit den zu kleinen Fenstern empor. »Tschüs.«

An meinem Geburtstag spielten die Death Chunks in einem kleinen Club in Kassel, dessen Wände der Musik kaum standhielten. Am Vortag hatten sie in Marburg gespielt, in einem noch kleineren Club, der ebenfalls nur mit Mühe am Stück geblieben war. Kurz vor Kassel legten wir eine Pause ein. Bis zum Aufbau der Instrumente und dem Soundcheck waren noch drei Stunden totzuschlagen. Alles, was es zu sehen gab, war ein Basaltfelsen, der sich hinter dem Parkplatz in jahrtausendelanger Arbeit durch das Erdreich gedrückt hatte und jetzt wie der verfaulte Zahnstumpf eines Titanen aus der Landschaft ragte.

Ein Trampelpfad führte durch ein Wäldchen und hüfthohe Brennnesselsträucher die Böschung hinauf und endete an einer Felsfalte, die man als Einstieg nutzen und von wo man sich in wenigen Minuten bis auf die Spitze vorarbeiten konnte. Oben war es vor allem windig. Zigarettenstummel, leere Bierflaschen und ein benutztes Kondom zeugten davon, dass vor Marc und mir schon andere auf die Idee gekommen waren, den Felsen zu erklimmen. So ist der Mensch, dachte ich. Stell ihm einen Berg hin, und er klettert rauf. Kürzlich hatte hier jemand seine Lateinarbeit geopfert. In den Ritzen hatten sich DIN-A4-Blätter verfangen: Leoni Kapell, Klasse 9b, Note: 5. Ich schaute auf das benutzte Kondom und fragte mich, ob sie mit ihrer Arbeit auch gleich noch ihre Jungfräulichkeit geopfert hatte.

Marc und ich saßen auf einem Felsvorsprung, blickten nach Süden und kniffen vor der Mittagssonne die Augen zusammen. Felder, Wiesen, ein Dorf zwischen bewaldeten Hügeln, Bäume, eine Eisenbahnschranke – die perfekte Märklin-H0-Landschaft. Ich nahm das Blatt mit der Note, strich es glatt und faltete einen Flieger daraus. Marc zündete sich eine Zigarette an, legte den Kopf in den Nacken und stieß den Rauch aus wie eine Dampflokomotive.

»Moment«, sagte er unvermittelt, als ich den Flieger starten lassen wollte. Noch immer blickte er geradewegs in den Himmel. »Nicht so eilig, mein Freund. Das ist mein Geburtstagsgeschenk.«

Ich betrachtete den Flieger und überlegte, was daran sein Geburtstagsgeschenk sein könnte.

»Brauchst gar nicht so zu gucken«, fuhr Marc fort. »Was du nämlich nicht weißt, ist: Du kannst einen Wunsch mit an Bord nehmen. Pack einen Wunsch rein, und lass ihn fliegen.«

»Und du erfüllst dann den Wunsch?«

»Klar, Mann.«

Bei dem Wind würde der Flieger nicht weit kommen. Ich schob ein Kupferstück in den Rumpf und versuchte es in westlicher Richtung, aber kaum hatte er meine Hand verlassen, wurde er herumgerissen und über unsere Köpfe hinweggeweht, wo er anfing zu trudeln und lautlos in eine Felsspalte stürzte.

»Das war wohl nichts«, sagte ich.

»Ist egal, Mann. Hauptsache, dein Wunsch war an Bord.«

»War er.«

»Gut. Und – was war’s?«

Ich blickte auf den Parkplatz hinab und von dort über die Felder. Zwischen dem Bus und uns lagen nicht mehr als 50 Höhenmeter. Und trotzdem: Von dort unten sah man nichts, von hier oben alles. Der Horizont löste sich im Ungewissen auf. Der Wind stellte mir die Haare an den Armen auf, doch wenn er Atem holte, spürte man die letzte Wärme des Jahres auf der Haut.

»Ich dachte immer, solche Wünsche erfüllen sich nur, wenn man sie für sich behält.«

»Nicht, wenn ich sie erfüllen soll. Bin doch nicht Gott. Also?« Ich sah ihn an. Er sah mich an.

»Raus damit – ist dein achtzehnter Geburtstag.« Marc blies den Rauch aus, der ihm sofort von den Lippen gerissen wurde. »Heute wird jeder Wunsch erfüllt. Aber nur heute. Morgen kannste vergessen.«

Über den Feldern kreisten Bussarde. Aus der Ebene zog wärmere Luft herauf. Ideale Bedingungen. Manche hielten sich minutenlang auf gleicher Höhe, ohne einen Flügelschlag.

»Ich will nicht mehr zurück«, sagte ich.

»Wie meinst’n das?«

Ein Bussard legte die Flügel an und stieß zur Erde hinab, schneller, als mein Flieger in der Felsspalte verschwunden war. »Ich will nicht mehr in die Schule zurück, und ich will auch nicht mehr nach Hause zurück.«

Marc zog ein letztes Mal an der Zigarette. »Das ist dein Wunsch?«

»Ja.«

Er schnippte den Stummel über die Schulter. »Erfüllt.«

Als wir drei Tage später nach Berlin zurückkehrten, ging ich als Erstes meine Sachen packen. Die Schule betrat ich nie wieder.

 

»Ich denke, wir wollen nach Frankreich«, sagt Bernhard. »Das hier ist … gar nichts.«

Marc steigt aus, streckt sich – Uuuuuuaaaahhhh! –, geht um den Bus und zieht die Schiebetür auf.

»Siehst du den Berg da?«

Bernhard beugt sich vor und streckt seinen Kopf aus der Tür: »Na ja, Berg würde ich das nicht nennen …«

»Nenn es, wie du willst, jedenfalls gehen wir jetzt da rauf.«

Statt ihn auf andere Gedanken zu bringen, haben die vergangenen Stunden lediglich Bernhards Leid zementiert. 85 gestählte Kilo Missmut.

»Und wozu soll das gut sein?«, fragt er.

»Mann, Bernhard!« Marc schlägt sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Woher soll ich das wissen? Vielleicht ist es zu gar nichts gut – vielleicht ist es einfach nur ein großer Stein. Aber vielleicht findest du da oben auch die Antwort.«

»Die Antwort worauf?«

»Auf alles. Das Sein. Du weißt schon: Wo kommen wir her, wo gehen wir hin – der ganze Scheiß halt.«

Bernhard ist nicht überzeugt. »Aber wenn wir da jetzt raufgehen, dann brauchen wir ja am Ende noch länger.«

Das ist der Moment, in dem Marc die Geduld ausgeht. Den ganzen Vormittag hat er dieses Gesicht im Rückspiegel ertragen. Obwohl wir auf dem Weg nach Frankreich sind, ans Meer. Die Bäume sind so grün, dass es in den Augen schmerzt, die Vögel zwitschern, als ginge es um ihr Leben. Jetzt reicht es.

»Hör auf, Bernhard«, sagt er.

»Womit?«

»Du bist sauer, weil Zoe nicht mitgekommen ist – kapier ich. Aber wenn du deshalb jetzt bis Frankreich im eigenen Saft schmorst, dann flambier ich dich spätestens an der Schweizer Grenze!«

Marc hat noch nie länger als eine Nacht im eigenen Saft geschmort – bringt nichts. Deshalb kommen ihm die letzten fünf Stunden bereits wie eine Ewigkeit vor. Bei Bernhard ist das anders. Der würde am liebsten bis ans Ende seiner Tage im eigenen Saft schmoren, sich selbst zum Opfer darbringen. Wie Jesus. Der ultimative Liebesmärtyrer.

»Mach dich locker, Mann«, setzt Marc nach. »Wir sind garantiert nicht vor morgen Abend da. Wenn du jetzt schon anfängst, dich wegen einer Viertelstunde aufzuregen, wird die Fahrt ein Höllentripp für dich.«

 

Eine Stunde Umweg, mindestens. Um auf einen Basaltklotz zu klettern. Für eine Geste. Für mich. Marc ist der Felsen scheißegal. Dem sagen Basaltklötze gar nichts, und Klettern ist was für Sinnsucher.

Warum Marc ausgerechnet mich zu seinem Freund erwählt hat? Ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich für ihn der kleine Bruder, den er nie hatte. Dazu muss man wissen, dass es einen gab. Neun Monate lang. Bis zur Geburt. Marc kam als Erster. Dann gab es Komplikationen. Sein Zwilling starb, bevor er einen Namen hatte. Liegt nahe, so zu denken. Es scheint logisch. Aber mehr auch nicht. Die Leute denken ja immer, sie wüssten so viel, und am Ende stehen sie doch mit leeren Händen da. Vielleicht dachte Marc auch einfach, ich sei der Richtige, um mir seine Songs anzuhören. Ich habe ihn mal gefragt. Warum ich? Seine Antwort: »Was soll’n der Scheiß jetzt?«

Marc geht voran, ich in der Mitte, Bernhard hinterher. Die Brennnesseln sind genauso hoch wie damals. Bernhard tritt auf sie ein, als hätten sie es nur auf ihn abgesehen. Am Felsen angekommen, erweist sich der schwarze Stein als scharfkantig und abweisend, vor allem aber ist er so heiß, dass man sich die Finger daran verbrennt. Bis wir die Spitze erreicht haben, steht jedem von uns der Schweiß auf der Stirn. Leere Bierdosen und Zigarettenschachteln gibt es immer noch, aber keine Kondome und keine Lateinarbeiten.

Die Luft ist klar, man blickt wie durch ein Vergrößerungsglas. Selbst der Traktor in der Ferne scheint zum Greifen nah. Außerdem ist es windstill. Das Land atmet schwer und Marc mit ihm. Wir sitzen auf demselben Vorsprung wie damals. Der Ausblick ist erhebend, sogar Bernhard ist für einige Sekunden ganz in Anspruch genommen, bevor er sich wieder auf sein Leid besinnt: »Nachher hab ich garantiert einen Sonnenbrand.«

Wir fahren nach Frankreich, denke ich. Wir tun es tatsächlich. In das Haus von Onkel Hugo. In mein Haus. Das ich nie gesehen habe. Man fand ihn auf seinem Segelboot, das draußen auf dem Meer trieb. Der Notar sagte, es deute alles auf eine gezielte Selbsttötung hin. Offenbar hatte Onkel Hugo Knochenmarkkrebs und wollte sich ihm nicht ausliefern. Er war Internist, er wusste, was zu tun war.

»Hab was für dich.«

Marc zieht ein gefaltetes Blatt aus der Tasche und reicht es mir. 120 Gramm holzfrei, schätze ich, genau die richtige Stärke. Ich habe es ihn nicht einstecken sehen. Wahrscheinlich hatte er es bereits heute Morgen in der Tasche.

Ich beginne, den Flieger zu falten, und prüfe den Schwerpunkt. Heute könnte es gehen – bei so wenig Wind.

»Marc?«, sage ich.

»Hm?«

»Hab ich wieder einen Wunsch frei?«

»Vergiss es, Mann.«

Ich überlege, aus welcher Richtung der Wind kommt, aber da gibt es nichts zu überlegen. Kein Wind. Also lasse ich das Flugzeug nach Südwesten fliegen, nach Frankreich, ans Meer. Wir sehen ihm nach, Bernhard, Marc und ich, wie es in einer geraden Linie davonsegelt, ohne auch nur mit den Tragflächen zu zittern.

»Danke.« Jetzt habe ich es also doch gesagt.

»Weiß nicht, wovon du redest«, antwortet Marc.

Nach einigen Metern verlässt der Flieger den Windschatten des Berges und wird von einem Luftzug erfasst, der ihn in einem sanften Bogen nach rechts abtreibt, Richtung Parkplatz.

»Doch«, sage ich, »weißt du.«

»Halt einfach die Klappe.«

Der Flieger gerät in einen Luftwirbel, der ihn beinahe gegen den Felsen drückt, aber bevor es so weit kommt, zieht ihn eine plötzliche Strömung hinaus auf das offene Feld und um den Berg herum, bis er sich unseren Blicken entzieht. Unten krabbelt ein schwarzer Sportwagen wie ein Insekt auf den Rastplatz und parkt, von den Bäumen verdeckt, in der Haltebucht. Könnte der Maserati sein, der uns vorhin geschnitten hat, um die Tankstelle anzufahren.

»Prostata«, vermutet Marc. »Muss alle zehn Minuten raus. Was für ein Glück, dass es schnelle Autos gibt.«

»Können wir?«, fragt Bernhard.

Als wir den Abstieg hinter uns haben und uns durch die Brennnesseln in das Wäldchen vorarbeiten, wo es schattig wird, fragt Marc: »Und, Bernhard – wie war’s?«

Bernhard ist mit Brennnesseltreten beschäftigt: »Eine Antwort hab ich da oben jedenfalls nicht gesehen.«

»Die müsste dir ja auch in den Hintern beißen, damit du sie bemerkst.«

Wir kommen gerade rechtzeitig aus dem Wäldchen und hoppeln die Böschung zum Parkplatz hinunter, um mitzuerleben, wie sich die Beifahrertür des Maserati öffnet, das heißt: Sie öffnet sich nicht, sondern wird aufgetreten. Eine Umhängetasche fliegt auf den Parkplatz, dann springt eine Frau aus dem Wagen – sie »springt« tatsächlich – und bleibt in der Tür stehen, die sie mit ihrem Hintern aufhält, während eine Hand aus dem Wagen sie zuzuziehen versucht.

»Gib mir meinen Rucksack, Arschloch!«, schreit die Frau, und wir drei bleiben stehen, mitten auf der Wiese, neben dem einbetonierten Mülleimer.

Einen Moment ist es wie Armdrücken, er versucht, die Tür zuzuziehen, sie stemmt sich dagegen. Der Maserati ist nagelneu, nicht mal ein Fliegenschiss auf der Scheibe.

»Meinen Rucksack, hab ich gesagt!«

Die Hand wird zurückgezogen, kurz darauf stolpert ein Backpacker-Rucksack wie ein Lemming aus dem Wagen und landet mit dem Gesicht voran auf dem Asphalt. Die Frau tritt von der Tür zurück, die Hand zieht sie zu. Einen Augenblick später fährt ihr der Maserati um ein Haar über die Füße.

»Amore am Arsch, du Wichser!«, brüllt sie ihm hinterher.

Dann ist er weg.

Die Frau richtet sich auf, rückt ihren Rock zurecht, der irgendwie nicht da ist, wo er hingehört, und ordnet die Träger ihres … Was-auch-immer.

»Tank-Top«, sagt Marc von der Seite.

Alles an ihr ist unter Hochspannung, einschließlich ihres weißen Tank-Tops. Jeden Moment kann sie losfliegen und wilde Loopings drehen. Schließlich wischt sie sich ihre blonden Locken aus dem Gesicht und sieht zu uns rüber. Ich bin sicher, in diesem Augenblick kann man uns alle drei schlucken hören.

»Hätte nie gedacht, dass Scarlett Johansson per Anhalter fährt«, sagt Marc.

Sie sieht uns an, als müsste sie einen Freistoß treten, und wir seien die Mauer.

»Woher willst du denn wissen, dass sie eine Tramperin ist?«, fragt Bernhard.

Sie klaubt ihre Tasche und ihren Rucksack auf, den sie kaum schultern kann, schleppt beides zu uns herüber, lässt ihr Zeug ins Gras fallen und sich auf eine Bank. Wir bewegen uns keinen Millimeter.

Schließlich legt sie ihren Arm auf die Lehne und dreht sich zu uns um. »Was?«

Wissen wir offenbar auch nicht. Jedenfalls sagt keiner etwas. Schließlich fragt Bernhard: »Wer war’n das?«

Die Frau mustert uns und beginnt zu schmunzeln: »Rührt euch!«

Wir vergrößern den Abstand zwischen uns um einige Zentimeter, und Bernhard wiederholt: »Wer war’n das jetzt? Hat der dich beim Trampen mitgenommen?«

»Meinst du den Mensch gewordenen Samenstrang?«, fragt sie. »Franco. Wollte mich unbedingt mitnehmen.«

»Siehste«, sagt Bernhard zu Marc, »hab gleich gesagt: Die ist keine Tramperin.«

Marc hat nur noch Augen und Ohren für Scarlett. »Wo wolltest du denn hin?«

Sie dreht ihren Oberkörper, damit wir ihr Tank-Top besser sehen können und sie sich den Hals nicht verrenken muss. »Nach Genf, zu meiner Schwester.«

»Aber ohne Amore«, sagt Marc.

Scarletts sinnliche Lippen werden schmal wie Heftklammern. »Auf jeden Fall nicht mit Franco.«

»Und warum nicht?« Bernhard klingt, als sollten sich Frauen grundsätzlich glücklich schätzen, wenn Männer was von ihnen wollen. So stellt er sich das Paradies vor: Frauen, die ihm dankbar sind, weil er mit ihnen »Amore« macht.

»Ist das dein Ernst?«, fragt sie.

Bernhard zieht die Schultern hoch. »Ich meine – hey – warum nicht?«

»Wie heißt du eigentlich?«, will Marc wissen.

Sie schirmt mit der Hand die Augen ab: »Lilith. Und ihr?«

»Marc.«

»Bernhard.«

»Felix.«

»Also Bernhard, dann pass mal auf: Grob geschätzt gibt es eine Million Gründe, weshalb ich mit Franco niemals in die Kiste steigen würde. Einer davon – und das ist nicht mal der gewichtigste – ist: Ich steh nicht auf Männer.«

Marc, Bernhard und ich sehen aus, als warteten wir auf den Applaus und keiner klatscht.

»Worauf denn sonst?«, fragt Bernhard.

»Staubsauger«, antwortet Marc, und bevor Bernhard etwas erwidern kann: »Du kapierst aber auch gar nichts.«

»Sie steht auf Frauen«, kläre ich ihn auf.

Lilith genießt die Nachwirkung dieser Information, dreht ihr Gesicht in die Sonne, greift sich an die Stirn und sagt: »Scheiße.«

»Was denn?«, will Bernhard wissen.

»Meine Sonnenbrille ist gerade auf dem Weg nach Rom. Und außerdem ist diese Bank total schmierig.«

»Ach übrigens«, sagt Bernhard, »Genf liegt auf unserem Weg.«

 

Von jetzt an fahre ich. Habe mich sowieso schon gefragt, wann Marc mir die Schlüssel überantworten würde. Er fährt nicht gerne. Hat mit seinem Fuß zu tun. Ihm ist mal eine Sehne durchtrennt worden. Von einer Revolverkugel. Seitdem macht er beim Gehen mit dem rechten Bein eine unauffällige Schlenkerbewegung und kann feinmotorisch nicht mehr zuverlässig dosieren, was dazu führt, dass auf der Bühne sein Effektgerät manchmal verrückt spielt und er beim Fahren gelegentlich ruckartig beschleunigt oder abrupt bremst.

Zum ersten Mal sitze ich in Fahrtrichtung und sehe, was auf uns zukommt: Licht und Weite und Veränderung. Marc spukt immer noch die musikalische Idee von heute Morgen im Kopf herum, und wenn er sie nicht bald zu fassen bekommt, entschwindet sie für immer im Universum. Er teilt sich mit Bernhard die Rückbank, die Gitarre auf dem Oberschenkel, und versucht, seiner Phantasie Fesseln anzulegen, ohne ihr die Flügel zu stutzen. Bernhard weiß nicht recht, was er mit sich anfangen soll. Lilith sitzt neben mir, den Rücken zur Fahrtrichtung, und beobachtet die beiden. Die Sonne scheint senkrecht durch das Schiebedach, legt sich auf ihre Schultern und kitzelt ihr Dekolleté.

Irgendwann schnauft sie und sagt: »Ihr seid vielleicht ein komisches Trio.«

Marc hält die Saiten gedrückt, lässt den Akkord ausklingen und blickt zu ihr auf. Auch Bernhard sieht sie an. Und weil sonst keiner etwas sagt, frage ich:

»Was ist eigentlich passiert?«

Wieder schnauft sie. »Hat einer von euch eine Zigarette für mich?«

Sie fängt die Packung, die Marc ihr zuwirft, beiläufig auf und schüttelt sich eine Zigarette heraus.

»Eigentlich hab ich aufgehört«, sagt sie. Dann zieht sie den Rauch in die Lungen, als sei das die dümmste Entscheidung ihres Lebens gewesen.

»Auch eine?« Sie hält mir die Packung hin.

Ich mache ein Nein-Danke-Gesicht.

»Du rauchst nicht?«

Ich schüttle den Kopf.

Lilith zieht und lässt sich in den Sitz fallen. »Tut gut«, stellt sie fest.

»Warum hast du wieder angefangen?«, frage ich.

Sie betrachtet die Zigarette zwischen ihren Fingern: »Wie kommst du darauf, dass ich wieder angefangen habe?«

»War nur so ’ne Idee.«

Sie sieht aus dem Fenster. Rechts zieht Alsfeld an uns vorbei – ein liebenswertes Städtchen mit liebenswerten Einwohnern und einem Turm in der Mitte. Jedes Jahr zur Adventszeit versammelt sich der Posaunenchor auf dem Turm und verkündet die frohe Botschaft, dass wieder ein Jahr geschafft ist. Als die Stadt hinter einem Hügel verschwindet, drückt Lilith die Zigarette aus, setzt sich quer zur Fahrtrichtung, zieht die Knie an die Brust, stellt die Füße auf die Sitzfläche und lehnt sich gegen das Seitenfenster. Ihre rot lackierten Zehnägel blitzen in der Sonne.

Sie sieht mich an. »Also gut.«

7

Lilith hat gerade das Semester geschmissen. Eigentlich studiert sie Geobotanik, in Hannover, aber eigentlich hat sie ja auch mit dem Rauchen aufgehört. Keine Ahnung, ob sie weitermacht – mit dem Studium, nicht mit dem Rauchen. Das ist nur vorübergehend. Wenn ja, auf jeden Fall nicht in Hannover. Sie wollte eigentlich nicht in Hannover studieren – schon wieder eigentlich. Wer will schon nach Hannover, in eine Stadt, so spannend wie ein Reihenhaus?