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Wie wirst du zu dem, was du bist? Sunny sieht super aus, ist Schulsprecher und bei allen beliebt – ein echter Glücksgriff. Deshalb will es auch nicht in Lauras Kopf, dass ausgerechnet ihr Freund an einer U-Bahn-Schlägerei mit Todesfolge beteiligt gewesen sein soll. Die Bilder der Überwachungskamera lassen allerdings keinen Zweifel zu und Sunny muss in U-Haft. So lange, bis in Berlin ein anderer Tatverdächtiger festgenommen wird – Sunnys Zwillingsbruder Yasir. Ein Zwillingsbruder? Davon wusste Sunny gar nichts! Von einer Sekunde auf die andere bricht seine Welt zusammen. Aber auch für Laura beginnt eine Achterbahn der Gefühle: Ihr Herz fängt an zu rasen, als sie plötzlich die draufgängerische und nicht minder attraktive Version ihres Freundes vor sich sieht...
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Seitenzahl: 341
Edgar Rai
Cem Gülay
Sunny war gestern
Roman
Deutscher Taschenbuch Verlag
Originalausgabe
© 2014 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
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Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,
KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart
eBook ISBN 978-3-423-42154-6 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-74002-9
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Sunnys Mutter lässt ihre strahlend weißen Zähne aufblitzen: »Da fahren wir ja gerade zur rechten Zeit«, begrüßt sie mich augenzwinkernd, als ich mein Fahrrad in die Auffahrt schiebe. Neben ihr steht Bergmanns Geländewagen und hat die Heckklappe aufgerissen wie ein Bartenwal sein Maul.
»Hallo, Nazan«, erwidere ich. Sie hat mir das Du angeboten, vor zwei Wochen. Fühlt sich aber immer noch komisch an.
Frau Bergmann – Nazan – sieht irre gut aus. Ist eigentlich keiner Erwähnung wert, denn ich habe noch nie erlebt, dass die Mutter meines Freundes nicht irre gut aussieht. In ihrer Gegenwart hat man immer das Gefühl, zufällig einen Hollywood-Star privat zu treffen, Salma Hayek oder so. Ursprünglich kommt sie aus dem Libanon, aber das liegt so lange zurück, dass aus ihr inzwischen eine Fünfzig-fünfzig-Mischung aus Tausendundeine Nacht und hanseatischer Edelgattin geworden ist.
Sunnys königsblaues Hundertfünfzig-Gänge-Rennrad lehnt an der Laube für die Mülltonnen und glänzt, als hätte es gerade die Tour de France gewonnen. Ich stelle meins daneben, was ein bisschen einer Beleidigung gleichkommt. Tja, denke ich, müsst ihr mit klarkommen. Machen Sunny und ich schließlich auch.
Zur Begrüßung und zum Abschied umarmt mich Nazan immer. Heute muss sie sich dafür auf die Zehenspitzen stellen, weil sie nicht ihre üblichen High Heels trägt, sondern sportliche Freizeitschuhe. Sie mag mich. Und sie mag, dass ihr Sohn und ich zusammen sind. Über ihre Schulter hinweg sehe ich Sunnys Vater mit zwei identischen Reisetaschen aus dem Dunkel der Garage kommen und in den Sonnenuntergang blinzeln.
»’n Abend, Laura.« Schwungvoll hievt er die Taschen in den Kofferraum, drückt einen Knopf und wendet sich uns zu, während der Wal hinter seinem Rücken das Maul schließt.
So, wie Sunnys Mutter mich zur Begrüßung in die Arme schließt, schüttelt mir sein Vater die Hand. Auch er mag mich. Glaube ich. Weiß man bei ihm allerdings nicht so genau. Herzlichkeit ist nicht gerade seine hervorstechendste Eigenschaft.
»Hallo, Herr Bergmann.« Er hat mir das Du noch nicht angeboten.
»Wie geht’s dir?«, fragt er.
Manchmal bin ich kurz davor, »schlecht« zu antworten, einfach so, um zu sehen, wie er reagieren würde. Mach ich dann aber doch nicht. »Ganz gut, danke.«
Er legt Nazan einen Arm um die Schulter und blickt auf sie herab. »Bereit?«
Sieht lustig aus, wenn sie so eng nebeneinanderstehen. Sie ungefähr fünfzehn Zentimeter kleiner als ich, er ungefähr fünfzehn Zentimeter größer.
Sie blickt zu ihm auf, streicht sich beiläufig ihr glänzendes schwarzes Haar über die Schulter und legt ihm als Antwort auf seine Umarmung einen Arm um die Taille: »Auf geht’s, würde ich sagen.«
Sunnys Eltern verreisen, ein verlängertes Wochenende, Freitag bis Dienstag. Er hat mir erzählt, dass sie das machen, seit er denken kann, immer um Ostern herum – treffen sich Freitagabend mit einem befreundeten Ehepaar in Stralsund, um Samstag früh zu viert in See zu stechen und bis Dienstag Rügen zu umsegeln. Bis letztes Jahr ist dann immer die Haushälterin, Frau Schütz, für vier Tage in eins der Gästezimmer gezogen und hat sich um Sunny gekümmert. Dieses Jahr nicht mehr. Darauf hat Sunny bestanden. Wenn man mit siebzehn noch ein Kindermädchen braucht, um drei Tage zu überstehen, dann wird es langsam albern. Nazan hat schweren Herzens eingewilligt.
Wie auf ’s Stichwort taucht auch Sunny aus der Garage auf und blinzelt in die Abendsonne. Noch immer ist sein Daumen mit Tape bandagiert. Hat er bereits seit einer Woche dran. Er ist frisch geduscht und kommt gerade vom Training. Erkenne ich sofort. Er hat dann immer dieses Leuchten in den Augen. Ist am Ende nur eine Mischung aus Testosteron und Adrenalin, sagt mein Papa. Wie Biolehrer eben so ticken. Mir egal. Deshalb leuchten Sunnys Augen ja nicht weniger.
Als er mich sieht, grinst er sein Gewinnergrinsen, schlenkert zu mir herüber, sagt »Hi« und küsst mich auf den Mund. Dabei versucht er so zu tun, als würden wir uns schon seit Jahren vor seinen Eltern auf den Mund küssen.
Offiziell treffen wir uns, um fürs Abi zu lernen. Doch ich schätze, spätestens jetzt ist jedem in dieser Auffahrt klar, dass hier heute Abend niemand mehr fürs Abi lernen wird. Und dann stehen wir einander gegenüber: Herr Bergmann, der Nazan im Arm hält, und Soner, der von allen außer Herrn Bergmann nur Sunny gerufen wird und mich im Arm hält. Ich komme mir vor, als würden wir »erwachsen« spielen.
»Na dann«, Sunny wirft sich seine Tolle aus der Stirn, »viel Spaß.«
Nazan und Herr Bergmann verabschieden sich von Sunny auf die gleiche Art, wie sie mich begrüßt haben: Umarmung von Nazan, Handschlag von Herrn Bergmann. Wobei Nazans Umarmung inniger ausfällt, als Sunny lieb ist. Unauffällig schiebt er sie von sich weg. Kurz darauf stehen er und ich in der Einfahrt, Arm in Arm, und winken einem schwarzen Porsche Cayenne mit getönten Scheiben hinterher, bis der um die Ecke verschwindet. Mit leisem Grollen schiebt sich das automatische Rolltor ins Schloss.
Sunny lächelt mich an. »Drei Tage sturmfrei.«
Frau Schütz hat Sunny und mir ihre berühmten Clubsandwiches gemacht, bevor sie sich ins Wochenende verabschiedet hat – zwei für jeden, in perfekte Dreiecke geteilt, belegt mit allem, was sich im Kühlschrank auftreiben ließ. Unmöglich zu essen und für mich viel zu viel. Ich schaffe höchstens eins. Macht aber nichts, denn Sunny verdrückt nach dem Hockeytraining mühelos ein halbes Lamm. Er nimmt die Teller von der Anrichte und steuert das Sofa vor dem Fernseher an.
Ich zögere einen Moment. Essen vor dem Fernseher ist im Hause Bergmann eigentlich verpönt. Um es milde auszudrücken. Für Sunnys Vater kommt es kurz vor Auf-allen-vieren-aus-dem-Napf-fressen. »Wie ist denn das bei euch zu Hause?«, hat er mich mal gefragt. »Wird da vor dem Fernseher gegessen?« Ich habe ihm erklärt, dass bei uns schon deshalb nicht vor dem Fernseher gegessen wird, weil wir keinen haben. Darauf hat er dann nur »hm« geantwortet. Seitdem scheint er zu glauben, wir würden unser Wasser aus einem Brunnen schöpfen und hätten Petroleumlampen von den Zimmerdecken hängen.
Sunny hat sich breitbeinig ins Leder sinken lassen und kaut bereits auf seinem Sandwich: »Sturmfrei«, wiederholt er und fügt hinzu: »Getränke sind im Kühlschrank.«
Als ich die Edelstahltür aufziehe und mich im Kühlschrank umsehe, spüre ich zum ersten Mal eine wachsende Nervosität. Sturmfrei. So wie Sunny es ausspricht, klingt es fast nach einer Verpflichtung. Als müsste man dann vor dem Fernseher essen, sich betrinken, im Bett der Eltern Sex haben … Wahrscheinlich hätte Sunny am liebsten ein Bier, aber dann bekommen seine Küsse einen bitteren Beigeschmack, und das mag ich nicht. Ich ziehe also eine angebrochene Weißweinflasche aus der Tür, nehme zwei Gläser aus dem Schrank und schenke uns ein. Wenn wir schon »erwachsen« spielen, denke ich, dann richtig.
Ich setze mich zu Sunny auf das Sofa. Wir stoßen an. Es kommt mir wärmer vor, als es ist. Mein Pullover gleicht einer Thermojacke. Außerdem steigt mir der Wein von der Zunge direkt in den Kopf. Mann, wie ich auf Sunnys Geruch stehe! Besonders nach dem Training und frisch geduscht. Herb und gleichzeitig süß. Echt krass, was das mit mir macht. War auch das Erste, worin ich mich bei Sunny verliebt habe – sein Geruch. Dem Rest konnte ich noch eine Weile widerstehen.
Wir hatten schulfrei, alle, wegen des Hockeyturniers. Unsere Schulmannschaft war Stadtmeister geworden, richtete das Turnier für den Einzug in die Endrunde des deutschen Schulhockeypokals aus und stellte die Anlage zur Verfügung. Meine beste Freundin Ricky – für viele Lehrer Schulfeind Nummer eins – musste an einem der Stände belegte Brötchen verkaufen, und weil ich sie das nicht alleine machen lassen und außerdem bei meinem Sportlehrer ein paar Extrapunkte sammeln wollte, hatte ich mich freiwillig als Helferin gemeldet.
Das Turnier ist vorbei, Ricky und ich belegen die letzten Brötchen und stapeln sie übereinander, um sie an wen auch immer zu verschenken, einfach, damit wir endlich den Tapeziertisch zusammenklappen, Schluss machen und gehen können – da steht er plötzlich vor uns: Sunny, frisch geduscht, über der Schulter diese Monstertasche mit seinen Hockeyschlägern, seinem Reitsattel, seinem Jagdgewehr und was Typen wie er sonst noch so alles dabeihaben. Sie haben gewonnen, wir haben gewonnen. Halbfinale, wir kommen! Es steht ihm quer über das Gesicht geschrieben, in Leuchtbuchstaben: ICH BIN EIN GEWINNER! Unwillkürlich wische ich mir meine margarineverschmierten Finger an der Jeans ab, lege das Messer aus der Hand und streiche mir die Haare aus dem Gesicht.
Er grinst – so mit nur einem Mundwinkel – wie ein Cowboy, der aus der Hüfte schießt. Mit dem Kinn deutet er auf die Brötchenpyramide: »Was wollt ihr denn für diese Köstlichkeiten haben?«, fragt er.
»Eigentlich einen Euro«, antworte ich, »aber ab sofort sind sie, unglaublich aber wahr, umsonst zu haben.«
Er beäugt die Labberbrötchen mit dem verschwitzten Gouda, die er eben als Köstlichkeiten bezeichnet hat, stellt seine Tasche ab, zieht sein Portemonnaie aus der Jacke, fummelt ein Zwei-Euro-Stück heraus und lässt es in unsere Teedose fallen. Ich gebe zu, die Message dahinter ist mir nicht ganz klar: Ein Gewinner zahlt auch, wenn er etwas umsonst haben kann? Oder: hier, für euch, Ladies? Bin mir nicht sicher, ob ich das irgendwie cool oder irgendwie uncool finden soll. Sunny scheint es egal zu sein. Er klemmt sich ein Brötchen zwischen die Zähne, nimmt ein zweites in die Hand und wirft sich wieder seine Ich-ziehe-in-die-weite-Welt-hinaus-Tasche über die Schulter.
»Kommt ihr nachher zur Party?«, fragt er, das Brötchen im Mund.
Ich könnte mir in den Hintern beißen, aber mir fällt echt auf die Schnelle keine Antwort ein. Ja, nein, vielleicht? Ich weiß nicht einmal, von was für einer Party er redet.
Zum Glück springt Ricky ein. Die ist nie um eine Antwort verlegen: »Mal sehen«, antwortet sie. Als hätten wir einen ganzen Korb voller Partyeinladungen und müssten auslosen.
Er dreht sich zum Gehen. »Ihr kennt das Vereinsheim?«, vergewissert er sich, und in dem Moment wird mir klar, dass er echt will, dass wir zur Party kommen. Zumindest, dass Ricky dort auftaucht. Was mich angeht: Da bin ich nicht so sicher.
»Machst du Witze?«, entgegnet Ricky.
»Cool. Ich setz euch auf die Gästeliste. Ricky und« – er sieht mich an und mein Magen schnurrt auf die Größe einer Erdnuss zusammen – »Laura, richtig?«
Statt zu antworten, grinse ich nur dämlich. Der Typ hat mich vorher noch nie auch nur eines Blickes gewürdigt. Dachte ich jedenfalls. Und jetzt schüttelt er einfach so meinen Namen raus.
Er geht an uns vorbei, zieht seinen herbsüßen Ich-hab-gerade-ein-Spiel-gewonnen-und-bin-frisch-geduscht-Geruch hinter sich her und ich ertappe mich dabei, dass ich ihm wie ein Hund nachschnuppere und dabei auf den Hintern starre.
»Sitz!«, herrscht Ricky mich an. Da ist Sunny Gott sei Dank schon außer Hörweite. Sie kontrolliert meine Pupillen, als mache sie einen Drogencheck. »Bitte nicht, Laura. Der Typ ist total der Poser.«
Ich merke, dass auch Sunny nervös ist. Kann nicht mal genau sagen, woran. Ist wie eine elektrische Spannung, wie ein Stromkreislauf, der sich schließt, sobald wir uns berühren. Bin sicher, mein Papa hätte eine einleuchtende biochemische Erklärung parat. Außerdem ist er total warm, obwohl er nur Jeans und T-Shirt trägt. Ich koche derweil in meinem Pullover im eigenen Saft. Eine Sache hab ich noch gar nicht erwähnt: Sunny kann super küssen. Echt. Ich hab jetzt nicht die Wahnsinnserfahrung, aber viel besser kann’s nicht gehen. Als er mich jetzt zu sich heranzieht und sich unsere Lippen berühren, öffnen sich meine Hormonschleusen, und als er vorsichtig seine Zunge in meinen Mund schiebt und seine Hand unter meinen Pullover gleiten lässt, kann ich praktisch sehen, wie meine Synapsen fröhlich zerplatzen, als hätte jemand eine rosa Brausetablette in meinen Kopf fallen lassen.
»Wollen wir nicht erst mal fertig essen?«, frage ich, nachdem sich unsere Lippen voneinander gelöst haben. Da habe ich Gelenke aus Glibber und muss erst mal das Wohnzimmer scharf stellen.
»Klar.« Er lächelt, kreuzt die Beine und legt die Füße auf dem Couchtisch ab. »Lust auf Fernsehen?«
So war das zwar jetzt auch wieder nicht gemeint, aber vielleicht, denke ich, ist es für uns beide ganz gut, ein bisschen Nervosität abzulassen. »Keine Ahnung«, antworte ich. »Was gibt’s denn?«
Sunny schüttelt das Handgelenk und blickt auf seine Uhr: »Tagesschau«, sagt er und langt nach der Fernbedienung.
Ich nehme mein Weinglas und mache es wie er: kreuze die Beine und lege die Füße auf dem Couchtisch ab. »Von mir aus.«
Der Fernseher bei Bergmanns ist eigentlich kein Fernseher sondern ein schwarzes Segel, das an einem Sciene-Fiction-Gelenkarm von der Decke hängt. Als Sunny ihn einschaltet, wird das gesamte Wohnzimmer in blaues Licht getaucht und der Kopf des Nachrichtensprechers schwebt überlebensgroß im Raum. Sofort bereue ich, mit dem Küssen aufgehört zu haben.
Ungefähr fünf Minuten lang tun wir uns das an: sitzen Schulter an Schulter auf dem Sofa, jeder seinen Sandwichteller im Schoß, und blicken zu dem Flatscreensegel auf. Eigentlich aber warten wir nur darauf, dass es mit dem Knutschen weitergeht. Und mit was auch immer danach kommt. Während im Hintergrund Euroscheine eingeblendet werden, erzählt der Nachrichtensprecher etwas von Griechenland, anschließend ist Angela Merkel zu sehen, wie sie einen Mann begrüßt, den ich noch nie gesehen habe. Aus irgendeinem Grund ist der Kommentar dazu auf Serbokroatisch, jedenfalls ergeben die Worte keinen Sinn für mich, formen sich nicht einmal zu richtigen Sätzen.
Ich schließe die Augen, sauge Sunnys Geruch ein und schimpfe mit mir, dass ich nicht so feige sein soll. Ricky verdreht schon seit Wochen nur noch die Augen, wenn das Thema Sunny und ich und Sex zur Sprache kommt.
»Ihr seid so was von überfällig, das gibt’s gar nicht«, hat sie erst neulich wieder gesagt und vorhin in der Schule meinte sie nur: »Wenn’s heute Abend nicht endlich passiert, tu mir bitte einen Gefallen: Ruf nicht mich an, okay?«
»Stell dein Glas ab«, sage ich.
In den Nachrichten bringen sie etwas über eine U-Bahn-Schlägerei und irgendeine Debatte, die neu entfacht worden sei. »Wie bitte?«, entgegnet Sunny.
»Stell dein Glas ab, los.«
Er stellt sein Glas ab: »Und jetzt?«
Ich lasse eine Hand in seinen Nacken gleiten, wie eine Schlange, bevor sie zubeißt. »Jetzt komm her«, sage ich, lasse meine Hand zuschnappen, ziehe ihn zu mir heran und küsse ihn so, dass der Rest der Welt eigentlich in einzelne Atome zerfallen und zu Boden rieseln müsste. Los, denke ich, lass es uns tun. Lass uns endlich miteinander schlafen. Wir sind so was von überfällig, das gibt’s gar nicht.
»Mein Teller!«, versucht er noch zu sagen, aber meine Lippen kleben auf seinen, und außerdem ist es sowieso egal, denn sein Teller liegt längst auf dem Boden und das letzte halbe Sandwich hat sich über den Orientteppich verteilt.
»Scheiß auf deinen Teller«, ich gönne ihm eine kurze Atempause, »heute ist sturmfrei.«
Wir sehen uns in die Augen und lächeln verlegen, nur ein paar Sekunden lang. Wir sind so weit, es ist so weit. Let’s do it. Ich ziehe ihn halb auf mich drauf, er küsst mich, dass mir in meinem Kochtopfpulli gleich der Deckel wegfliegt – zieh mir doch endlich dieses Ding aus! –, ich taste nach der Fernbedienung, um dieses bescheuerte Monstrum auszumachen, finde sie, liege inzwischen auf dem Sofa, Sunny auf mir, überall, blicke mit einem halben Auge zum Leuchtsegel empor, will den blöden Knopf drücken und sehe … Sunny. Im Fernsehen. In den Nachrichten.
Mein Gehirn sucht nach einer Erklärung. Findet aber keine. Sunny, der Typ, der gerade auf mir liegt, ist in den Nachrichten – als Standbild, den Blick in eine Überwachungskamera gerichtet. Die Informationen gehen einfach nicht zusammen. Wie zwei gleich gepolte Magnete.
Sunny hört auf, mich zu küssen, und bringt unsere Gesichter auf Abstand.
»Da.« Ich deute mit der Fernbedienung zur Decke.
Er folgt meinem Blick. »Ist ein Fernseher«, sagt er. »Eine sehr komplexe Erfindung.«
»Das bist du!«
Das Foto, das eben noch den gesamten Bildschirm ausfüllte, wird jetzt verkleinert neben dem Nachrichtensprecher eingeblendet. Die Identität der Täter konnte noch nicht ermittelt werden …
Sunny dreht seinen Kopf in die Senkrechte, um besser sehen zu können. »Wusste gar nicht, dass ich so gut aussehe«, sagt er.
Ich schiebe ihn von mir weg und richte mich auf… . werden Stimmen in der Opposition laut, die eine konsequentere ¼berwachung öffentlicher Räume und Plätze fordern … Die Ähnlichkeit des Typen auf dem Foto mit Sunny ist beängstigend. Wie krass ist das denn, denke ich. Dann ist das Bild verschwunden und der Nachrichtensprecher liest die Ergebnisse der Freitagsspiele der Bundesliga vor.
Sunnys Hand schleicht sich unter meinen Pulli und sein getapeter Daumen tastet sich zu meiner Taille vor. Geistesabwesend greife ich nach seinem Arm und ziehe sie wieder heraus. »Der sah original aus wie du!«
Er blickt mich an, als sei das Bild in den Nachrichten nur ein inszenierter Gag von ihm gewesen. »Dann sehe ich also wirklich so gut aus?«
Noch immer die Fernbedienung in der Hand setze ich mich auf. Wie war das eben? Zwei Jugendliche, die einen Fahrgast zusammengeschlagen und lebensgefährlich verletzt haben. In einer U-Bahn-Station. In Berlin. Und wir liegen hier, aufeinander, in Hamburg-Othmarschen.
Vorsichtig nimmt mir Sunny die Fernbedienung aus der Hand und schaltet den Fernseher aus. Auf seinem Gesicht breitet sich wieder dieses Siegerlächeln aus, das mich in guten Momenten echt umhaut, mir aber in schlechten das Gefühl gibt, dass er mich nicht wirklich ernst nimmt. Als ob er am Ende sowieso bekommt, was er will.
Ich sehe ihn an, als hätte ich nicht die geringste Ahnung, wie ich ausgerechnet auf dieses Sofa gekommen bin.
»Schon vergessen?«, grinst er. »Sturmfrei.«
Ich bekomme das Bild von Sunny, wie er in die Überwachungskamera schaut, nicht aus dem Kopf. Auch wenn er sich große Mühe gibt, mich auf andere Gedanken zu bringen. Er hat die Lichter ausgeschaltet, macht den zweiten Schritt nicht vor dem ersten, küsst leidenschaftlich, ohne mich zu ersticken, und muss nicht minutenlang am Verschluss herumfingern, bevor er mir den BH abstreift. Zwischendurch denke ich, okay, jetzt, go. Doch dann ist da wieder dieses Bild und unterhalb meines Bauchnabels zieht sich alles zusammen. Außerdem wäre mir lieber, wir könnten in sein Zimmer gehen, statt auf dieser Couch zu liegen, umgeben von so viel Raum. Aber heute ist sturmfrei und da muss es wohl die Couch sein, schätze ich.
Beim Fast-nackt-aufeinanderliegen-und-knutschen geht es endgültig nicht weiter. Und das Problem dabei bin ganz klar ich. Barriere im Kopf. Ricky meinte ja, wenn wir uns erst einmal nackt auf dem Perser räkeln würden, käme der Rest von ganz alleine, und dass mein Körper mir dann schon sagen würde, was ich mit ihm anstellen soll. Ganz ehrlich: Bis jetzt merke ich nichts davon, dass da irgendetwas von alleine kommt. Bei mir jedenfalls nicht. Bei Sunny schon. Und alles, was mein Körper mir sagt, ist, dass er gleichzeitig mit festhalten und loslassen beschäftigt ist.
Überrascht stelle ich fest, dass Sunnys Gesicht reglos über meinem verharrt. Keine Ahnung, wie lange er mich schon ansieht.
»Hörst du das?«, fragt er.
Alles, was ich höre, ist mein Puls, wie er gegen das Trommelfell schlägt. »Was meinst du?«
Sunny dreht mir das rechte Ohr zu, als müsse er sich vergewissern: »Dein Kopf – brummt wie ein Hochleistungsgenerator.«
Nach diesen Worten weiß ich: Alles wird gut. Kein Grund, sich verrückt zu machen. Danke, Sunny. Es gibt kein Zurück mehr und ich will auch kein Zurück mehr. »Du hast mich schon viel zu lange nicht mehr geküsst«, flüstere ich und dann küsst er mich, meine Lippen geben nach, und ich merke, wie sich ein unglaublich warmes und zugleich prickelndes Etwas in meinem Körper ausbreitet.
Sekunden später bin ich so überschwemmt von Hormonen, dass ich kaum meinen Po heben kann, als Sunny mir den String ausziehen will, aber das macht nichts, denn Sunny weiß, wie das geht, und es gibt keinen Grund, überhaupt keinen, sich Sorgen zu machen, juchu, weil nämlich, alles wird ganz wunderbar.
Ziemlich genau, als mir dieser oder ein ähnlicher Gedanke durch den Kopf schwappt, schlägt etwas Hartes gegen die Terrassentür. Vor Schreck schreie ich auf und Sunny, der gerade meinen Bauchnabel küsst und noch immer mit meinem String beschäftigt ist, beißt sich auf die Zunge. Im Zickzack flitzt der Lichtstrahl einer Taschenlampe durchs Zimmer und bleibt an meiner nackten Brust kleben. Wieder schreie ich auf. Als hätte mir jemand eine Tarantel auf die Brust gesetzt. Ich versuche sogar, mit der Hand den Leuchtfleck wegzuschubsen, was natürlich völliger Unsinn ist. Also hebe ich hektisch mein Tanktop vom Boden auf und drücke mich in die Sofaecke. Inzwischen ist der Lichtstrahl auf Sunny übergesprungen und leuchtet ihm direkt ins Gesicht. Er schirmt die Augen ab und versucht zu erkennen, was auf der Terrasse los ist. Dabei gibt er einen lang gezogenen Laut von sich, der so viel heißen soll wie: Mist, meine Zunge blutet.
Erneut hämmert es gegen die Terrassentür. Gleich zerspringt die Scheibe, denke ich, und dann wird mir klar, dass es der Griff der Taschenlampe ist, der gegen das Glas geschlagen wird.
»Wer ist das denn?«, keuche ich, als müsste Sunny wissen, wer da draußen steht und was er will – wo es doch seine Terrasse ist.
Fakt ist: Sunny hat keine Ahnung und ist genauso überrascht wie ich, doch das spielt keine Rolle, denn die Frage beantwortet sich im nächsten Augenblick von selbst:
»Polizei! Öffnen Sie die Tür, sonst brechen wir sie auf!«
»Du kannst mir jetzt alles erzählen«, brüllt Ricky ins Telefon, »aber nicht, dass du noch Jungfrau bist!«
Dem Krach nach zu urteilen ist sie auf einer Home-Party. Und da weiß jetzt jeder, dass Rickys Gesprächspartner noch Jungfrau ist. Na toll. Sie hat getrunken, dann wird sie laut. Im Hintergrund wummert ein Song, den ich kenne. Etwas von den »Black Keys«, den Titel hab ich vergessen.
Statt zu antworten heule ich direkt los. Rickys Stimme zu hören ist wie den Wasserhahn aufdrehen, plötzlich sprudeln die Tränen aus mir heraus, tropfen auf das heilige Sofa und hinterlassen dunkle Flecken auf dem Leder.
»Laura, bist du noch dran?«, ruft Ricky.
Super. Jetzt weiß auch noch jeder auf der Party, dass die Jungfrau am Telefon ich bin. »Ja.«
»Was?!«
»Ja!«
»Und? Was ist jetzt?«
Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht: »Kannst du mal irgendwohin gehen, wo wir nicht die ganze Zeit schreien müssen?«
Sie merkt, dass etwas nicht stimmt. Man kann von Ricky sagen, was man will, aber wenn etwas nicht stimmt, dann merkt sie das. Egal, wie laut die Musik ist oder wie viel sie getrunken hat.
»Ey, Schnuppe, was ist los?« Macht sie immer: Wenn es mir schlecht geht, nennt sie mich Schnuppe.
Ich habe Gänsehaut an den Beinen. Die Terrassentür steht noch offen. Vom Garten zieht kalte Luft herein. Der leere Pool liegt da wie ausgeweidet. »Kannst du nicht irgendwohin gehen, wo es nicht so …«
»Schon unterwegs – wart mal kurz!« Ricky zwängt sich durch die Menge. Zwischendrin höre ich sie rufen: »Ey, Freunde des ungehemmten Anabolikakonsums – lasst mich mal durch!« Eine Männerstimme gröhlt etwas und Ricky gröhlt zurück: »Ja, Mann, super Bizeps, hab’s gesehen. Gibt’s den eigentlich auch für Männer?« Noch mehr Gejohle.
Dann ist sie irgendwo, wo es ruhiger ist. »Erzähl«, fordert sie mich auf.
Inzwischen sind die kleinen dunklen Punkte auf dem Sofa zu einem großen zusammengewachsen und sehen aus wie eine Insel, Island oder so. »Die Polizei war da«, sage ich.
Das nimmt selbst Ricky für ungefähr drei Sekunden den Wind aus den Segeln. »Weil ihr miteinander geschlafen habt?«
»Die haben ihn mitgenommen.« Bei dem Bild, wie die Polizisten Sunny mit auf den Rücken gedrehten Armen und in Handschellen aus der Terrassentür schieben, fange ich sofort wieder an zu heulen. »Verhaftet.«
»Versteh ich nicht – Sex ist doch nicht strafbar.«
»Die glauben, er hat jemanden zusammengeschlagen – in der U-Bahn.«
»Scherz.«
Ich schüttel den Kopf. Kein Scherz.
»Also habt ihr gar nicht miteinander geschlafen?«, fragt Ricky. Alles andere interessiert sie offenbar nicht.
Wieder schüttel ich den Kopf. »Kannst du herkommen?«
»Schon unterwegs. Wo steckst du denn gerade?«
»Auf dem Sofa.«
Sie seufzt theatralisch. »Wenn du jetzt noch die Güte hättest, mir zu sagen, auf welchem …«
Ungefähr eine halbe Stunde später ist sie da, klingelt und streckt ihre Zunge in die Überwachungskamera. Ich habe inzwischen meine Sachen angezogen, die Schiebetür geschlossen und aufgehört zu weinen. Weiter bin ich noch nicht.
»Ärmlich aber sauber«, stellt Ricky fest, als ich die Tür von Bergmanns Villa öffne. Und als wir ins Wohnzimmer gehen: »Was machen die mit dem ganzen Platz, der um die Sofas rum ist – Pferderennen? Gibt’s hier eigentlich auch was zu trinken?«
Ich sage ihr, dass im Kühlschrank noch eine angefangene Flasche Weißwein steht.
Sie geht um die Kochinsel, wischt mit zwei Fingern über das Induktionsfeld, inspiziert ihre Fingerkuppen, zieht die Kühlschranktür auf und wird in milchiges Licht getaucht. Vorübergehend verschwindet ihr Kopf. »Hier liegt jede Menge Champagner rum«, stellt sie fest.
Kurz darauf sitzen wir da, wo Sunny und ich vor ungefähr einer Stunde noch heftigst geknutscht haben, trinken Champagner und Ricky sagt: »Jetzt noch mal langsam und so, dass auch ich es verstehe.«
Ich berichte ihr alles der Reihe nach: Wie Sunny erst in den Nachrichten war und dass keine Stunde später plötzlich die Polizei auf der Terrasse stand und das Haus praktisch erstürmt hat, vier Beamte, zwei davon mit gezogener Pistole. Wie sich Sunny auf den Boden legen musste, mit nichts als seiner Unterhose an, die Arme ausgestreckt, dass dies eine Festnahme sei, wegen versuchten Totschlags, und wie Sunny gerade noch Gelegenheit hatte, in seine Sachen zu schlüpfen, bevor sie ihn wie bei einer amerikanischen Serie, eine Hand im Nacken, aus der Terrassentür geschoben haben und dann mit Blaulicht abgerauscht sind.
»Aber das kann doch nur eine Verwechslung sein«, sagt Ricky.
»Schon«, erwidere ich, »aber der Typ in den Nachrichten sah halt original aus wie Sunny.«
Sie zieht ihr Smartphone aus der Tasche, tippt darauf herum, findet auf Tagesschau.de das Foto aus den Nachrichten und vergrößert es, bis das Gesicht das gesamte Display ausfüllt. »Das ist jetzt aber mal echt … bizarr«, sagt sie.
»Und was soll ich jetzt machen?«
Ricky trinkt einen Schluck. »Seine Eltern anrufen?«
Hätte ich auch von selbst drauf kommen können, denke ich. Zwar habe ich die Handynummern von Sunnys Eltern nicht, aber am Kühlschrank klemmt ein Zettel, auf dem sie notiert sind, für alle Fälle.
Leider bringt uns das nicht weiter. Sowohl bei Nazan als auch bei Herrn Bergmann geht die Mailbox ran. Mir fällt etwas ein, das Sunny erzählt hat: Bereits vor Jahren hat Nazan eingeführt, dass die Handys über ihr gemeinsames Segelwochenende ausgeschaltet bleiben. Keine Geschäftstelefonate, keine privaten Anrufe. Abschalten. Und in welchem Hotel sie übernachten, weiß ich auch nicht.
Als Nächstes rufe ich bei der Polizei an. Ich will wenigstens wissen, was jetzt mit Sunny passiert. Doch auch da: Fehlanzeige. Erst spreche ich mit jemandem, der keine Ahnung hat und mir eine andere Nummer gibt. Unter der meldet sich jemand, der immerhin so tut, als hätte er eine Ahnung und mir ebenfalls eine andere Nummer gibt. Unter der wiederum meldet sich eine Frau, die mich zweimal weiterverbindet. Schließlich habe ich jemanden vom Polizeikommissariat 25 am Telefon, der mir theoretisch Auskunft geben könnte, es praktisch aber nicht tut, weil ich weder Sunnys Mutter noch seine Schwester bin und selbst dann müsste ich persönlich vorbeikommen und mich ausweisen. Bedaure. Abgesehen davon: »Vor Montag passiert hier sowieso nichts.« Am Ende lasse ich ratlos die Schultern hängen.
Ricky ist inzwischen bei ihrem dritten Glas Champagner angelangt. »Wir könnten noch mal auf Pauls Party«, meint sie.
Aber klar doch. Erst wird mein Freund verhaftet, anschließend gehe ich auf eine Party. »Ich fahr nach Hause«, sage ich.
Wir suchen meine Sachen zusammen und überlegen dreimal, ob ich auch nichts vergessen habe. Sobald ich die Tür ins Schloss gezogen habe, komme ich nicht mehr rein. Endlich bin ich so weit.
Ricky hält die Flasche hoch: »Glaubst du, ich kann den Rest mitnehmen? Bis Sunnys Eltern zurück sind, schmeckt der sowieso nicht mehr.«
»Laura?«
Papas Stimme kommt aus dem Wohnzimmer. Ich wäre gerne nach oben geschlichen, aber so leise bekomme ich die Haustür nicht zu, dass mein Vater sie nicht hört. Inzwischen hört er sie sogar besser als Solo, unser Hund – der erst jetzt aus der Küche getapst kommt, schwerfällig mit dem Kopf wackelt und mit seinem Schwanz wedelt so gut es geht. Solo ist fünfzehn Jahre alt, hat Hüftgelenksarthrose und sieht kaum noch etwas. Aber er freut sich immer noch jedes Mal aufs Neue, wenn einer von uns nach Hause kommt. Ich kraule ihm den Hals, führe ihn in die Küche zurück, setze mein Alles-in-Ordnung-Gesicht auf, seufze leise und öffne die Wohnzimmertür.
Meine Eltern sitzen auf dem Sofa und sehen aus wie ein Ölgemälde – die Oberkörper einander zugewandt, die Rücken gegen die Seitenlehnen gedrückt, die Beine ineinanderverschränkt. Sie haben die Leselampen eingeschaltet, die rechts und links des Sofas stehen. Während Papa Schularbeiten korrigiert, liest Mama in einem ihrer einhundert Prozent spaßbefreiten Fachbücher. In letzter Zeit machen sie es sich abends gerne gemütlich. Irgendwie werden sie alt, finde ich, und irgendwie nervt mich das, ohne dass ich genau sagen könnte, warum. Schließlich werden wir alle mal alt. Gerade jetzt allerdings ist es mir komplett egal. Sollen sie alt und grau und eins werden mit ihrem blöden Sofa.
Über den Rand seiner Brille wirft Papa mir einen Blick zu. »Du bist aber früh zurück«, stellt er fest.
Übersetzt heißt das: Wolltest du nicht bei Soner übernachten? Geht’s dir gut? Ist etwas vorgefallen? Erzähl doch mal!
Ich ziehe die Schultern hoch.
Spätestens jetzt ist meinen Eltern klar, dass etwas vorgefallen ist. Und dass ich nicht darüber sprechen will. Mama blickt von ihrem Buch auf. Auch sie hat seit einiger Zeit eine Lesebrille. Papa und sie haben dieselbe Dioptrienzahl. Wenn einer seine Brille verlegt, nimmt er einfach die des anderen. Sie finden das irgendwie knuffig, glaube ich, dass sie die Brille des jeweils anderen benutzen können – dass sie im selben Beat altern.
Mama lächelt mitfühlend, sagt aber nichts. Sie findet, man soll sein Gegenüber kommen lassen und ihn nicht in eine bestimmte Richtung lenken. Selbsterkenntnis. Ist das erklärte Funktionsprinzip ihrer Therapie. Wenn man den Patienten kommen lässt, sagt sie, führt er einen automatisch zum Ursprung seiner Probleme.
»Alles in Ordnung?«, hakt Papa nach.
Der Korrekturstift in seiner Hand wippt erwartungsvoll auf und ab – Stabilo, Fineliner, rot, 0,5 Millimeter. Er hat bestimmt zehn Stück davon in seiner Schreibtischschublade, mit einem Gummiband drum.
Ich sehe Sunny vor mir, mit diesem ungläubigen Blick, wie sie ihn, die Hände auf dem Rücken, durch die Terrassentür schieben. Sprachlos, ausgerechnet er, der sonst nie um Worte verlegen ist.
»Schätze schon«, sage ich.
Ich mag meine Eltern, ehrlich, aber sie jetzt dasitzen zu sehen, Papa mit seiner ewigen Sorge um mich und Mama, wie sie mich kommen lässt … »Ich bin nicht eine von deinen scheiß Patientinnen!«, hab ich sie früher manchmal angeschrien. Das war meine schärfste Waffe, wenn ich es nicht mehr ertragen konnte, dass sie immer Verständnis für alles hatte und nie eine eigene Meinung. Manchmal hab ich sie damit gekriegt, meistens nicht.
Nein, denke ich, ich will euch nicht erzählen, dass Sunny gerade verhaftet worden ist. Ich will deine klebrige Sorge nicht, Papa, und auf deine professionelle Anteilnahme, Mama, kann ich ebenfalls verzichten. Und ich will auch nicht das Gefühl haben, dass ich es euch eigentlich erzählen müsste, weil ich sonst euer Vertrauen missbrauche oder so.
Ich spüre, wie mir die Tränen kommen. Gerade noch rechtzeitig sage ich »ich geh ins Bett« und rette mich in den Flur.
»Gute Nacht«, folgt mir Mamas Stimme.
»Schlaf gut«, ruft Papa.
Schlaf gut. Aber sicher doch.
Gefühlte drei Stunden lang beobachte ich, wie das milchige Rechteck erst über meine Decke und anschließend über die Wand kriecht. Nicht dass dadurch irgendetwas klarer würde. Ich kapier es einfach nicht: wie sie ins Wohnzimmer gestürmt sind, wie Sunny sich auf den Boden legen musste, Gesicht nach unten, wie sie ihn in Hose und T-Shirt aus dem Haus geschoben haben. Der letzte Polizist hatte als »beweissichernde Maßnahme« bereits Sunnys Laptop und iPhone beschlagnahmt, seine Waffe wieder im Holster verstaut und sprach in ein Handy: Festnahme ist erfolgt. Der Verdächtige hat keine Gegenwehr geleistet. Verbringen den Verdächtigen auf das Kommissariat in der Notkestraße.
Bevor er ging, sah er mich an und versuchte, nicht an mir herabzublicken. Ich hatte nur mein Tanktop und meinen String an.
»Sie sind die Freundin?«, fragte er.
Mir fiel auf, wie jung er war. Höchstens fünf oder sechs Jahre älter als Sunny. Und kleiner.
Ich nickte. Einer seiner Kollegen hatte bereits meine Personalien aufgenommen.
»Und Sie können bezeugen, dass sich keine weitere Person auf dem Grundstück aufhält?«
»Nein – ähh, ja«, stotterte ich. »Sonst ist niemand hier, glaube ich.«
Er sah mich an, als suche er die Wahrheit hinter meinen Worten. Dann tippte er sich mit zwei Fingern an die Mütze und verschwand.
Ich hab ein Dachfenster über meinem Bett. Daher das milchige Rechteck, das inzwischen seine Form verändert und sich die Wand hinaufgearbeitet hat. Das ist das Beste an meinem Zimmer – das Fenster. Außerdem mag ich, dass man sich in meinem Zimmer wie in einem Zelt vorkommt. Lauter Schrägen.
Ohne mein Fenster wäre ich echt aufgeschmissen. Im Winter ist es manchmal zugeschneit, sodass man tagelang nur Weiß sieht, bei Regen trommeln die Tropfen gegen die Scheibe, im Sommer lasse ich es nachts auf und höre die Vögel singen. Heute scheint der Mond herein. Bei der Vorstellung, es hätte dieses Fenster die letzten Jahre nicht gegeben, komme ich mir sofort wie eingesperrt vor.
Ich habe meine Anlage leise gestellt, erst die Coldplay-CD durchgehört, dann die von Lenny Kravitz. Irgendwann sind meine Eltern unter mir ins Bett gegangen. Jetzt bin ich wieder bei Coldplay. Inzwischen ist der Mond aus meinem Blickfeld gerückt und nur noch sein Schein ist an der Wand zu sehen.
Ich gebe zu, mein Musikgeschmack ist nicht besonders originell. Ein bisschen wie ich, fürchte ich. Ich sehe zwar ganz gut aus, so oberflächlich betrachtet, aber ich hab nichts, das mich irgendwie anders oder außergewöhnlich macht. Na ja, ich kann ziemlich gut zeichnen, so technische Sachen. Aber das ist nicht wie Hockey-Juniorenauswahl oder schauspielern können. In der Schule bin ich guter Durchschnitt. Schätze, das trifft es irgendwie – guter Durchschnitt.
Glücklicherweise sieht Sunny das anders. Er sagt, ich sähe aus wie eine Göttin. Schönheit, meint Mama, liege im Auge des Betrachters. Mein Glück. Außerdem findet er, dass ich ganz normal bin, sei bereits etwas Außergewöhnliches – wo doch heute jeder unbedingt etwas Besonderes sein will und sich zum Idioten macht, nur um für zwei Sekunden ins Fernsehen zu kommen. Der hat gut reden. Schließlich muss Sunny sich nicht anstrengen, um etwas Besonderes zu sein. Nächste Woche bringt er ziemlich sicher den deutschen Schulhockeypokal mit nach Hause und nächsten Monat ein Abi mit einer Eins vor dem Komma. Sein Aussehen ist ebenfalls über jeden Zweifel erhaben – sofern man auf südländische Typen steht. Und das hat nichts mit dem Auge des Betrachters zu tun. Okay, er wäre gerne eins neunzig und nicht, wie ich, eins achtzig. Aber das stört ihn, nicht mich. Und irgendetwas gibt es ja immer, das einem an einem selbst nicht passt. Jedenfalls ändern seine eins achtzig nichts daran, dass der weibliche Teil der Oberstufe steil auf ihn geht, während der weibliche Teil der Lehrerschaft ihn gerne zum Schwiegersohn hätte. Logisch, dass man da zum Schulsprecher gewählt wird. Formsache.
Aber jetzt sitzt er im Gefängnis.
Und ich ertappe mich dabei, dass ich überlege, wo er gestern Abend gewesen ist. Wir haben telefoniert, nach der Schule. Er hätte Training haben sollen, aber sein Daumen war noch zu geschwollen, also wollte er zu Hause bleiben und lernen. Ich habe dann den ganzen Abend Rocco und Nola gebabysittet, die Kinder von Papas Kollegin Sylvie. Bis ich zu Hause und auf Facebook war, war Sunny schon nicht mehr online. Und selbst wenn er on gewesen wäre: Das hätte er auch von seinem iPhone von Berlin aus machen können.
Ich glaube das nicht. Ich glaube nicht, dass ich tatsächlich in meinem Bett liege und mir überlege, ob mein Freund gestern heimlich nach Berlin gefahren ist, um dort in der U-Bahn jemanden zusammenzuschlagen. Warum hätte er das tun sollen? Das ergibt überhaupt keinen Sinn und ist KOMPLETTER BULLSHIT!
Könnte aber sein.
Theoretisch.
Als mich das Handyklingeln aus dem Schlaf reißt, habe ich ein gleißendes Brennen in den Augen. Offenbar habe ich den Morgen komplett verpennt und jetzt scheint die Sonne direkt durch mein Dachfenster. Ich kneife die Lider zusammen, taste nach dem Handy, lese »10:32« und »unbekannt« und drücke die grüne Taste.
»Hallo?«, krächze ich mit eingetrockneten Stimmbändern.
»Hallo«, Pause, »ich bin’s«, Pause, »Sunny«.
Ich setze mich auf und versuche, mit der freien Hand die Sonne aus dem Zimmer zu verscheuchen. Die Bilder der letzten Nacht ploppen durch meinen Kopf wie Popcorn. »Was … Wo bist du?«
»Im Gefängnis.« Pause. »Hahnöfersand. Richterliche Anordnung.«
Meine Luftröhre zieht sich zusammen. »Und wo ist das?«
»Auf Hahnöfersand.«
Kapiere ich natürlich nicht.
»Ist eine Insel«, erklärt Sunny.
Sofort schießt mir das nächste Bild durch den Kopf: Sunny, in einem burgartigen Verließ, weit, weit draußen im Meer, verlassen von Gott und der Welt. Inzwischen ist meine Luftröhre so schmal wie ein Nadelöhr.
»Und wo ist die?«, will ich wissen.
»Hier, in Hamburg, in der Elbe. Kennst du die nicht?«
»Ach so«, sage ich, aber richtig kapiert habe ich es immer noch nicht.
»Ist nicht so wichtig«, meint Sunny. »Ich wollte dir nur sagen, dass sie mich in einer halben Stunde in die Stadt bringen – Haftprüfungstermin. Ich gehe davon aus, dass sich dann alles aufklärt.«
Er klingt, wie er klingt, wenn er als Schulsprecher eine Erklärung abgibt. »Wie geht’s dir?«, frage ich.
»Ganz passabel. Die Nacht war kurz und die Toiletten könnten sauberer sein. Aber alles in allem ist es nicht so schlimm, wie man vermuten würde. Bisschen wie in einer Jugendherberge.«
Er will unbesorgt klingen, doch ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass das seine Art ist, Unsicherheit zu verbergen. Noch immer schirme ich mit der freien Hand die Augen ab. »Soll ich dahin kommen – zu dem Termin, meine ich? Brauchst du irgendwas?«
»Nicht nötig«, meint Sunny. »Ich weiß auch gar nicht, wo das ist. Am besten, ich melde mich einfach, sobald ich da fertig bin.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Zum Glück weiß Sunny es.
»Laura?«
»Ja?«
»Mach dir keine Sorgen.«
Ich bin kurz davor, ihn zu fragen, ob er es war – der Typ in der U-Bahn. Doch dann sage ich nur: »Klar mache ich mir Sorgen. Was denkst du denn?«
Er würde mir jetzt gerne sagen, dass er mich liebt. Aber er ist nicht allein, glaube ich. Deshalb zieht er die Schulsprecher-Nummer durch und antwortet: »Musst du nicht. Das hier ist Deutschland, hier gelten Gesetze noch was.«
»Ich liebe dich auch«, erwidere ich.
»Das ist gut.«
»Okay?«
»Okay.«
»Also, bis später.«
»Ja, bis später.«
Pause. Ich atme, als hätte ich Asthma. »Ich leg nicht auf«, sage ich.
»Alles klar.«
Dann ist die Leitung tot.
Meine Eltern sind zum Glück ausgeflogen. Keine Erklärungen. Solo ist ebenfalls weg. Das bedeutet, Papa ist mit dem Hund unterwegs und Mama ist einkaufen. Was dauern kann. Solo kommt inzwischen keine zwei Querstraßen mehr weit, ohne ein Nickerchen zu machen. Selbst wenn Papa nur mit ihm um den Block geht, ist er vor zwei Stunden nicht zurück. Gleiches gilt für Mama und ihren Wochenendeinkauf. Die macht zwar zwischendurch kein Nickerchen, aber wenn sie auf den Markt geht, sind zwei Stunden das Minimum. Und da heute Samstag ist, ist sie auf dem Markt.
Auf dem Esstisch erwartet mich ein Teller mit einem Croissant. Daneben steht ein Glas frisch gepresster Saft, dessen violette Farbe mir sagt, dass da wahrscheinlich Orangen und Möhren drin sind, auf jeden Fall aber Rote Bete. Klingt zum Weglaufen, schmeckt aber meistens ziemlich gut, außer wenn Mama meint, sie muss das Gemüsefach leer machen, und deshalb so Dinge wie Fenchel oder Sellerie mit in den Entsafter steckt. Da wird dann sogar Papa bockig. Ich setze mich und probiere einen Schluck. Glück gehabt: Ingwer ja, Fenchel nein.