Nachtaufnahme - Katrin Sell - E-Book

Nachtaufnahme E-Book

Katrin Sell

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Beschreibung

Ein Buch wie eine Entführung und nicht geeignet für Bequemlinge und Deutungshoheitler. Und wer zu viel auf einmal davon nimmt, gerät in Geiselhaft. Die Autorin berichtet uns in surrealem Tonfall und ihren ganz eigenen Bildern ohne Pathos von einer Wahrhaftigkeit, die größer ist als kleine, ambivalente Wahrheiten. Jenseits zwanghafter Intaktheit und mit einer verschwenderischen Sehnsucht öffnen sich Raum und eine weite Sicht ohne Schwulst und intellektuelle Überheblichkeit. Und manchmal duften dort sogar graue Herbsttage nach Frühling. Wer sich hingibt und sich verliert in diesen Texten, wird sich finden.

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Seitenzahl: 93

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhaltsverzeichnis
Des Königs Schwermut
Vergeblicher Appell
Vom Glas der Hoffnung
In Vergessenheit
Isabels Löwe
Apologie einer Spezies
Physisch
Im Prozess
In fremden Zimmern
Abgeschaltet
Akkumulation
Amok
Tiefes Ohr
Arger Verbleib
Dennoch
Tag vor Abbruch
Klamm
In Residenzen
Erinnerungsschwärme
Nie mehr
Keine Immanenz
Denn es ist Vergessen
Unter Dächern
In Strömungen
Einsichten beim Schreiben
Eigener Feind
Vor November
Furcht und Ahnung
In den Eingeweiden
Immer wieder Schlacht
Philosophie
Kein Halten
Schwierige Beschreibungen von Einsichten
Schluchten
Gewisse Empfindungen beim Anblick des Meeres
Keine Mäßigung
Verschwiegenes Gesicht
Genie
Mein menschliches Auge
Heiliges Phlegma
Kurze Beschreibung eines Lebens
Totenklage am Wasser
Zurück in nasser Erde
Menschen
Verstrickung
Eremit
Verbleibt ein Lachen
Zurückgelassen
Tragender Atlas
Vorstellungen in großer Entfernung
Ausbleibende Vorsehung
Flächen
Erregung wie Nacht
Steine
Rapide Furcht
Elemente einer Stadt
Erweiterte Wahrnehmung
Seufzer
Fortwährend

Katrin Sell

Nachtaufnahme

Schritte und Geräusche

Texte

1. Auflage

Copyright © 2017 Katrin Sell

www.literaturbraut.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung

Peter Ahrens Artwork Berlin

www.peterahrens.net

eBook-Erstellung

www.ebokks.de

Des Königs Schwermut

Ach Akazie, ruft es. Der König hat heute schönes Wetter befohlen. Tatsächlich ist das Wetter sonnig und stündlich. Deshalb gehen sie dahin, Volk und Geschmeiß in sauberen Kostümen, friedfertig wie schlummernde Wölfe; nichts ist zu tun, außer den Tag zu kennen, wie er sich hinstreckt an einem Ufer und die Kirschen rollen lässt.

Der König träumt oben auf seinem Fels, zerzaust wie ein Windspiel geht er platonisch durch Gärten, deren abgerissene Blätter bewundernd.

Heute möchte ich mir auf den Kopf schlagen,

Kraniche sammeln und ein mysteriöses Rätsel stellen. Hängen sollte auch jemand, oder besser wäre es,

ihn zu erschießen, meint der König.

Eine Exekution mit Korallenzweigen und unerschrockenen Düften.

Alle sollen sprechen lernen, die richtigen Wörter

auf Bretter nageln zur Anschauung und Lehre und

den Reigen tanzen.

Man sollte auch öfter Dame sagen, Dummkopf und Dill.

Ach, soviel Aufgaben existieren!

Es ist gut, sie in ein Glas zu sperren und bisweilen dagegen-zu-klopfen – und vergessen sollte jeder,

wer er ist.

Herrliches Vergessen! Welch ein Betäubungsmittel!

Könnte man es zu sich nehmen in Löffeln und

durch die Kehle treiben!

Bin ich ein Hase, der Winkel schlägt, das Grün einer Wiese; oder ein Matrose mit kahlgeschorenem Nacken?

Du und Ich. Ich und Du. Wer? Doch sagt Euer Gnaden.

Anschwellende Wut, da möchte ich wieder jemanden töten. Oder mich prima in den Selbstmord transportieren.

Wenn ich laufen könnte oder ein Wüstenkönig wär'!

So müde kann ein Mensch sein, dass er seine Beine vergisst. Herrje, spricht der König.

Was träumt? Was möchte immerzu Locken sammeln?

Unehrenhaft wäre es, zu viel Schnaps zu trinken und an Bäume zu pissen.

Meine diabolische Nase riecht zu stark die schmutzigen Füße und das dumme Volk.

Doch Absolution und endlich Nacht.

Vergeblicher Appell

Der Tag mag beschrieben werden von Anfang an:

Bleibe bei den Wirklichkeiten, so lautet die Mahnung, auch wenn sie wie Gespenster sind, ebenso schrecklich und wirr. Denn der Drang nach Blütenketten ist vergeblich, zerstreut sind sie schon längst,

auf den Straßen wie nach Hochzeiten.

Gib nicht dem sanften Dunkel und seinen Spekulationen nach, denn sie ziehen in die schweigsame Traurigkeit hinein, so ohne Halt. Bleibt nur ein fieberhaftes Rot,

das Beruhigung will und die Weichheit von Federbüschen.

Alles wird wieder schreien, den ganzen Tag ein Lärm aus Häusern und Geschäften, und am Morgen die frühe Kälte in den Straßenbahnen und die salzigen, durchweichten Baguettes in den Auslagen;

und

so wird klar, unterwegs ist alles, irgendwohin, wenn auch nur auf ein Ende zu, wenn auch schon vergessen wie staubige Sofas.

Da will man stehenbleiben, eine Zahl sagen oder ein Gedicht zitieren, Abweichungen und Verzweigungen suchen oder banal werden, mit frisiertem Kopf,

wie ein Wellness-Denker.

Das ist der Tag mit seiner kühlen Atmosphäre, der ohne fragwürdige Gedichte auskommt, Befehle sucht und eine Beschreibung will vom Neuzeitlichen.

Das Überflüssige fällt nur dem Idioten ein, und die feindseligen Blicke richten sich auf ihn, weil er all die wertlosen Gedanken sieht und auf Teppiche kotzt,

wie ein Säufer. Jedoch, er ist real, sein Ohr ein eigener Körper, seine Worte philosophisch, als trage er Weisheiten umher, gerade er, mit seinen ungewaschenen Händen.

Der Abend roch nach Angebranntem.

Nicht vorstellbar waren die schläfrigen Dünste am Morgen. Die Nachtträume wurden melancholisch, dagegen half nur, sich etwas Weibliches zu erträumen, nackte Körper in Badehäusern, in diesen Stunden zwischen eins und drei, wenn sich nichts bewegt außer der Atem unter den Dächern.

Vom Glas der Hoffnung

Während in Gläsern Versprechen treiben, ohne Aussicht und zur Lauge verkommen, bleibt die Morgendämmerung am kühlen Fleisch hängen und verneigt sich das Alte anders als gedacht: nicht mit zerbrochenen Ventilatoren und krummen Rücken;

als wolle es wiedergefunden werden, angesichts der misslungenen Versuche und unendlicher Größe,

die noch irgendwo haust, wie angeflogen.

Ich weiß von Tagen, die kommen und wie blinde Zeichen sind, und von Nächten, in denen nichts an seinem Platz ist, vielmehr verströmt sich ein Duft wie ein rasender Galopp, die Haut erfassend und das viele Blut, sodass etwas Ungewisses treibt, ein Aufflammen von Farben oder nicht fassbaren Formen, und niemand kann sagen: Ich bleibe.

Und niemand kann sagen: Es ist nur das und das, es sind nur die stickige Luft und der Verbrecher mit den hohlen, düsteren Augen.

Es ist ein Stehen an Fenstern, das manchmal kommen kann, wenn sich etwas Gewaltiges spannt.

Da wuchert etwas, vorher noch in Schnecken wohnhaft, ungeahnt wie Asche und Nadeln, und durchbricht die flache, dünne Stelle am Hals vielleicht oder den bitteren Magen und sieht einen Himmel, aus dem es unentwegt rinnt.

Ich kenne die feuchte Geburt, die nur die erste ist und verfolgt wird von der Kindheit. Die hat noch Leistung in sich und Grauen.

Doch was ist mit den herabgesunkenen Taten dann, später, den Versammlungen und ehrlichen Meinungen, den hingeworfenen Schwüren?

Nein, will ich sagen, und auch du hast Zweifel, ob es Verpflichtungen gibt, von irgendwoher, uns gegenüber, weil das Leben Leben ist.

Ziehe deine Schuhe an und durchlaufe das, was du kennst, sagt ein Morgen voll von Erinnerungen und Beweggründen.

Aus Weiten kommend war ein Wunsch gewesen,

den inneren Strömungen zu folgen, dem Wasser auch,

das sich bewegt, und den Legenden, die wie Rauchschwaden sind, unaufhörlich ziehend, an den gesunden Adern des Kopfes vorbei, auffrischend und wieder schwer.

Ein Schauer traf die Gedanken, nicht aufgerufen zu sein bei den Anzeichen des besseren Lebens: vor allem weit entfernt zu stehen, von den verschwenderischen Flüssigkeiten und warmen Betten, dabei gesunken und schief.

Denn es ist eine besondere Stimme – oder ist es die Anstrengung, ganz aus sich selbst heraus zu schaffen, ungeachtet der verstrichenen Fristen? – die nichts bei sich behält und viel von süßen Mündern erzählt.

Ich darf nicht ermüdet sein, sage ich und sagt jemand, von Wunden ausgehöhlt und von harten Stichen.

In Vergessenheit

Geblieben ist: Ein Aufzählen von Angelegenheiten folgt, Räume und Plätze kommen hinzu, wie das Warten in Abflughallen, und Zeug, das niemand mehr sehen will, diese Erinnerungen, schlimm und verwirrend,

weil sie öde Bürostühle kennen und verschluckte Gegenstände und am Ende ein Schweigen,

jenes,

das die unaussprechlichen Namen in seiner Brust behält. Denn manches ist besser nicht zu denken.

Ja, vielleicht kann man sich mit einem Funkeln am Morgen begnügen und es weitertragen bis zum Abend.

Gegen die Zeit und ihre Verluste kommt nur das beste Wetter an, wie überhaupt das Denken auf schöne Witterung aus sein soll. Leicht und gemäßigt darf es sein, wie ein südwestlicher Wind, und sich nicht vergraben zwischen Wirtschaft und Papieren.

Bisweilen wünscht man sich, dass nichts bliebe, nicht diese zurückgelassenen Haare auf Kopfkissen,

diese angebissenen Baguettes und Fingernägel in Waschbecken.

Dann stelle ich mir Räume vor, kahl und ins Vergangene gefallen; nur aus einer Ecke dringt es leise, ein Raunen vielleicht, davon berichtend, was gewesen war: Blut und Sperma und pralle Tage bis in das anbrechende Morgengrauen hinein.

Vorüber war dann alles.

Warum nicht?

Denn die Nächte hatten sich verbraucht,

und

in den Schößen der Frauen waren nur Ausdünstungen geblieben.

Das Verschwinden kann wie ein lautloses Schiff gleiten.

Isabels Löwe

Wie unüberhörbar können Stimmen und Geräusche sein,

wie das Kratzen auf Blechen und grünen Tafeln!

Sie kommen von draußen her, als hätten sich die Dinge gegen den Morgen verschworen, sammeln Schreie und verstimmte Klaviere,

und

Worte gehen umher alten Stiefeln ähnlich, hörbar noch in Bienenwaben und Sand.

In den schläfrigen Augen der traurigen Isabel schlummert das Feuer des Nachts, in dem sie selbst war.

Erfasst von einer Wut führte sie ihren brüllenden Löwen spazieren, aggressiv und tötend, dann schweißgebadet und klebrig am Schluss.

Irgendjemand musste sterben, denn unter ihren schmerzvollen Haaren hatte sich etwas eingenistet,

das nach erfahrenen Beleidigungen und Kränkungen roch. Wie ein Stausee war sie, Isabel, gärend schließlich und angewidert von falschen Berührungen und Küssen.

Eine beschwerliche Passivität hatte sie neben Küchengeschirr und Staubsaugern alt gemacht.

Formlos und umhergetrieben war sie, zwischen Atemstößen keine Klänge mehr spürend. Doch da war ein Verlangen, sehr irdisch, nach Intensität und Gerechtigkeit: Den blanken Seelen darf nicht verziehen werden, rief sie, den schmierigen Dealern und Armeeröcken, den gleichgültigen Köpfen und Lügnern, den Fettwänsten, Frauenschändern und Mackern.

Keine Sanftheit legte sich auf die Stirn von Isabel, als die Nacht durch Wände kroch und sie schlafen wollte, so wie man eben schläft, schwer und etwas plump, um den Zorn nicht zu merken, die drängende Verzweiflung, da wenig Besseres ist und die Hände

zu klein.

Ich bin sind Worte, sie können bedeuten: Hier bin ich, immer noch, ohne schweigenden Mund,

gleich einem Aufstand gegen alles.

Denn war er nicht schon längst geplant, dieser schrille Laut, der herausplatzt aus dem immer unruhigen Blut?

Gute Isabel, ich verstehe dich.

Apologie einer Spezies

Das fragwürdige Glück ist weiter verschollen und

die Eberesche schüttelt ihre Zweige in den Himmel.

Wie gehabt, bleiben in der Ferne die monströsen Versprechen und ein ängstliches Begehren. Wenn ein Tag zieht, vorbei am Geröll eines fremden Herzens,

das keine Zuwendung will, verweilt eine Wolke beim armen Träumer. Er nennt die Dinge bei ihrem Namen, denn er ist ein Narr mit seinen blanken Augen und seinem Anisgeruch.

Und unterirdisch wuchern die Rosen mit erneuter Sanftheit, um noch einmal den Aufbruch zu wagen, hinaus aus den Schmerzen und dem frühen Rückzug. Noch immer sind Stimmen und Teppiche da sowie die Normalität von Glastüren und Plastikbechern.

Sich festhalten an der stummen Materie, die ihren Wandel durch uns vollzieht: Du musst durchhalten, wenn auch niemand kommt; und nur Frachtschiffe

sind voll Kohle und Ruß, wie aus abgelebten

Jahrhunderten.

Nein, sagt manchmal der Träumer, obwohl sich etwas regt, wie auferstanden. Sein Herz ist träge geworden, und Maden sichtete man schon an seinen Rändern. Und selbst, wenn in den Verstecken

seines Ichs Erschütterungen von Tänzern fühlbar werden, lächelt er nur knapp.

Welchen Anreiz gibt es, wenn die Erfüllung Trauer trägt, weil sie die roten Münder fraß? Zu viel Erdigkeit, zu viel Planet und Stoff, zu viel Hinterher, Verbrauch und klebrige Dinge.

Im Wollen soll das Glück enthüllt werden. Ganz Geist dann, gleitet wie ein Schwan. Wäre alles nur gleitend und leise, hätte Federn und lange Schleppen!

Von Ahnungen kann der Träumer erzählen,

den vielen, die in Bäuchen schwimmen, sich verlieren an den Drähten eines einfachen, harten Tages; denn die anbrechende Dämmerung ist nicht sein Gebiet.

Ich sehe Wasser und Wölbungen, sagt er, Zungen,

die auf Süßem kauen und verwandelte Gegenstände,