Nachtexpress - Ursula Sternberg - E-Book

Nachtexpress E-Book

Ursula Sternberg

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Beschreibung

Ein junger Obdachloser wir schwer misshandelt im Nachtexpress aufgefunden und liegt seitdem im Koma. In derselben Nacht verschwindet die Essener Schülerin Bella spurlos. Als Ermittlerin Toni Blauvogel gebeten wird, das Mädchen zu suchen, weiß sie zunächst nicht, wo sie anfangen soll. Bellas drei Freundinnen halten mit etwas hinter dem Berg, da ist sie sich sicher. Doch erst ein Schulaufsatz, den Bella geschrieben hat, bringt Toni auf die richtige Spur, Bellas Verschwinden und der Fall des misshandelten Mannes im Nachtexpress haben nämlich einiges miteinander zu tun. Nach »Ruhrschnellweg« (WAZ: Ein packender Krimi von hier, dessen Tempo und Spannung sich der Leser kaum entziehen kann...) und »Insolvenzgeld« ist dies der dritte Fall mit der verschrobenen Essener Ermittlerin wider Willen Toni Blauvogel. Neuauflage der gleichnamigen Originalausgabe (2010)

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Seitenzahl: 291

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Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Für Schammy, »meinen« Max

in vergangenen Zeiten

und die vielen guten Jahre mit ihm.

Bodo Herzog fährt Nachtexpress und kommt zu Tode.

Bella Brissano ist noch sehr jung und spurlos verschwunden.

Angela und Guiseppe Brissano sind verzweifelt und suchen Hilfe.

Sandra Gutenberg, Gudrun Heckel und Mareike Tesch sind Bellas beste Freundinnen und wissen mehr, als sie sagen.

Rita Melchor ist Direktorin des Maria Wächtler Gymnasiums und bewahrt die Nerven.

Susanne Becker ist Schulpsychologin und versteht was von Mädchen.

Katrin Welsch arbeitet im Jugendhaus Rübe und ist immer sehr fröhlich.

Peter Biborsch ist alles andere als hübsch und im Jugendhaus klebengeblieben.

Frank Zöllinger ist Redakteur bei der Essener Ruhr Zeitung und macht sich jünger, als er ist.

Hanno Helm hat ein Geheimnis und rückt nicht damit raus.

Tierpfleger Eberhart sieht mehr, als man ihm zutraut.

Theodor Krummholz, Miriam Wessler und Iris Ritter fahren lieber RoadRunner statt Nachtexpress und betreuen auffällige Jugendliche.

Lasse ist obdachlos und sehr nett.

Bea Hellebrosch von der Kripo Essen hat mit dem Fall nichts zu tun und sorgt für Überraschungen.

Reinhold Schütte ist bei der Kripo Bochum und kennt sich mit der Vermisstensuche aus.

Kerstin Haberle arbeitet im Kommissariat für Sexualdelikte, Prostitution und Vermisstenfälle und hat schon viel zu viel gesehen.

Max Schulze denkt strukturiert und schafft den Durchbruch.

Toni Blauvogel zieht gerade um und gibt trotzdem Gas.

Prolog

Friedhelm Görske gähnte verstohlen hinter vorgehaltener Hand. Er warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr. Noch eine halbe Minute.

Ein flüchtiger Blick in den Rückspiegel: Der Bus war nun fast leer. Nur ein Mann noch, dort hinten in der vorletzten Reihe. Ein ganzer Schwung Fahrgäste war eben ausgestiegen. Fast alles Kids. Dass die um diese Uhrzeit noch unterwegs sein durften, erstaunte ihn jedes Mal aufs Neue. Seine Eltern hätten ihm das früher nie und nimmer erlaubt. Schließlich war es knapp zwei Uhr in der Früh.

Ein weiterer Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk sagte ihm, dass die fahrplanmäßige Abfahrtzeit erreicht war. Friedhelm Görske setzte den Bus leise schaukelnd in Bewegung. Der Fahrgast hinten im Bus schaukelte mit. Er schlief. Sein Kopf hing nach vorne und bewegte sich sanft im Rhythmus der Bodenwellen. Die ganze restliche Fahrt. Auch an der Endhaltestelle blieb er sitzen. Friedhelm Görske überlegte flüchtig, ob er ihn wecken sollte, entschied sich dann aber dagegen. Abgerissen hatte er ausgesehen, der Mann, und etwas schmuddelig. Und kalt war ihm gewesen. So kalt, dass seine Hand gezittert hatte, als er das Geld auf die schwarze Ablage gelegt hatte, sorgsam abgezählt in kleinen Münzen. Sicher ein Obdachloser. Die wurden auch immer jünger.

Ich lass ihn schlafen, den armen Kerl, dachte er. Bezahlt hat er ja schließlich. Ob er noch eine weitere Runde mitfährt, kann mir doch scheißegal sein. Die EVAG wird dadurch gewiss nicht ärmer.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel EINS

Kapitel ZWEI

Kapitel DREI

Kapitel VIER

Kapitel FÜNF

Kapitel SECHS

Kapitel SIEBEN

EINS

Im ersten Moment wusste ich nicht, wo ich war. Wieso war es so fürchterlich dunkel? RWE-Pimmel abgefackelt? Oder Stromausfall und deshalb keine Lichter mehr, die aus dem Turm in mein Schlafzimmer leuchteten?

Dann fiel es mir wieder ein. Umzug. Adlerhorst gegen Erdhöhle. Mein neues Zuhause.

Ich spitzte die Ohren. Spionierte die unbekannten Geräusche aus. Lauschte dem Atem des Hauses, in dem ich nun wohnte. Aber ich hörte nichts. Absolut nichts. Kein Wasserrauschen durch schlecht abgedämmte Rohre, das das Aufstehen irgendwelcher Frühschichtler oder Frühaufsteher aus Überzeugung begleitete. Kein Motorgeräusch. Keine entfernten Stimmen, obwohl wir doch mitten in der Stadt waren. Unnatürlich war das, eine solche Stille. Ein Giftanschlag, dem die Anwohner dieses Viertels zum Opfer gefallen waren? Eine Epidemie, die alle dahingerafft hatte?

Der Kühlschrank in der Küche sprang an. Dankbar lauschte ich dem monotonen Brummen. Ein vertrautes Geräusch, auch wenn mir der Kühlschrank lauter zu sein schien als in meinem Domizil am Isenbergplatz. Ehemaliges Domizil, verbesserte ich mich.

Wahrscheinlich aufgewühlt durch das Geschaukel. Hieß es nicht, man müsse einen Kühlschrank erst mal mindestens einen halben Tag lang stehen lassen nach einem Transport, ohne ihn einzuschalten? Damit sich die Kühlflüssigkeit beruhigen kann, die durchgeschockelte? Natürlich hatte ich nicht gewartet und sinnierte nun darüber nach, ob ich ihn wohl damit kaputt gemacht hatte.

Der Kühlschrank schüttelte sich heftig und das Brummen hörte auf. Die merkwürdige Stille hatte mich wieder im Griff. Grabesstille. Totenstille.

»Sei nicht albern«, sagte ich laut. Meine Stimme hallte unnatürlich in dem noch weitgehend leeren Raum. »Du hast schon oft in diesem Haus übernacht, direkt in der Wohnung nebenan.«

Aber nicht ohne Max, sagte meine innere Stimme. Und die Terrassentür steht offen. Was, wenn jetzt einer vom Garten aus einfach in mein Zimmer kommt?

Jetzt reicht es aber, Blauvogel! Du hast über sechs Jahre in einem Haus geschlafen, in dem sich ansonsten nur Anwalts- und Arztpraxen befinden. Da warst du wirklich allein. Hier nicht!

Aber da habe ich ganz oben gewohnt. Unten war die Haustür immer abgeschlossen. Und eine offene Balkontür im fünften Stock macht gar nichts!

Max liegt direkt nebenan. Ohr an Ohr sozusagen. Nur eine Wand ist dazwischen, versuchte ich meine innere Stimme zu beruhigen.

Warum habe ich ihn bloß weggeschickt, ich dumme Kuh, ausgerechnet in der ersten Nacht, jammerte sie weiter.

Damit von vorneherein klar ist, dass es getrennte Wohnungen bleiben, Dummerchen.

Genau. Blöde Prinzipienreiterei!

Ein Rascheln in der Ecke ließ mich hochfahren. Ich spähte angestrengt ins Dunkel. Dann hörte ich das leise Tappen von Pfoten auf den Holzdielen und lache erleichtert.

»Bonnie? Clyde?«, fragte ich in die Dunkelheit hinein. Ein leises Maunzen. Also Bonnie. Sie war in allem so viel zarter als ihr Bruder. Ich war gerührt, dass sie mich gleich in meiner ersten Nacht besuchte, so, als sei es ganz selbstverständlich, dass ich nun hier wohnte.

»Bonnielein, Süße«, lockte ich und klopfte einladend mit der Hand aufs Bett. Sie kam bereitwillig. Knetete eine Weile mit spitzen Milchtritten die Bettdecke und schmiegte sich schließlich schnurrend an meinen Bauch. Nichts ist so beruhigend wie leises Katzenschnurren, dachte ich zufrieden.

Kurz darauf schlief ich wieder ein.

Das frühe Tageslicht offenbarte den Nebel. Deshalb war es so beklemmend still gewesen in der Nacht. Fahles Licht versackte in milchigen Schwaden, die um die knorrige kleine Weide waberten. Die Backsteinmauer, die den Garten vom Nachbargrundstück trennte, war schon nicht mehr zu sehen.

Dafür tauchte Max in der offenen Terrassentür auf, die Tageszeitung in der rechten Hand.

»Oh, ein Zeitungsbote in unziemlicher Kleidung. Für wen halten Sie mich!«, hauchte ich.

Max warf die Zeitung neben das Bett und schleuderte seine Pantoffeln mit gekonntem Dreh von seinen Füßen.

»Rennst du immer im Schlafanzug durch den Garten?«, fragte ich amüsiert.

»Nur wenn die Nachbarwohnung von schrägen blauen Vögeln bewohnt wird. Ich wollte dir bloß die Zeitung bringen und mich verabschieden.« Er warf auch den Schlafanzug auf den Boden. »Brrrr«, machte er und schüttelte sich, während er schnell unter meine Decke kroch.

»Wieso denn das?«, fragte ich überrascht. Dann fiel es mir wieder ein. »Ach ja, richtig, der Herr verkrümelt sich ja lieber gleich mehrere Tage auf die Messe nach Hannover, als hier mit Hand anzulegen.«

Ich meinte es nicht ernst. Ich wusste selbst, dass Max sich auf der CeBIT nicht nur über technische Neuerungen auf dem Sicherheitstechniksektor informieren wollte, sondern dass sein neuer Geschäftspartner ihn dort diversen Kunden vorstellen würde.

»Genau!« Seine Stimme klang verdächtig fröhlich. »Ist das nicht ein gutes Timing?«

»Kleiner Hacker«, murmelte ich zärtlich. »Und jetzt sogar völlig legal!«

Max hatte sich ein halbes Jahr zuvor als System- und Netzwerkexperte mit der Idee selbstständig gemacht, Sicherheitslücken in fremden Netzwerken ausfindig zu machen. Darin war er wirklich gut. Ich wusste es aus eigener Erfahrung, denn als ich selbst einen Hacker benötigt hatte, war Max mir empfohlen worden. So hatten wir uns vor anderthalb Jahren kennengelernt.

»Ein genialer Schachzug, nicht wahr?« Damit schob er mir seine kalte Hand zwischen die noch schlafwarmen Schenkel.

»Nimm demnächst lieber den Schlüssel zu meiner Wohnung, anstatt halb nackt durch den Garten zu hopsen«, knurrte ich.

Eine Stunde später saß ich in der Küche auf meinem Barhocker neben einem Stapel Kisten und versuchte, die Zeitung zu lesen. Auf der Arbeitsfläche aus Buchenholz hatte ich mir einen halben Meter erkämpft, Platz genug für den Becher mit Kaffee und ein paar trockene Kekse. Ich schlug die Beine übereinander und bemühte mich um eine entspannte Position. Dazu jedoch fehlte mein Stehtisch, auf den man sich so schön gemütlich stützen konnte. Der war noch nicht aufgebaut, und wenn ich es mir ernsthaft überlegte, wusste ich auch gar nicht, wo der überhaupt hinpassen würde.

Es gab viel zu tun. Vorher aber wollte ich in Ruhe Kaffee trinken. Und Zeitung lesen. Auch wenn es unbequem war. Ich las einige Artikel aus dem Hauptblatt und überflog schließlich den Regionalteil. An einer eher kleinen Nachricht blieb ich hängen. »Schwerverletzter im Nachtexpress«, las ich.

In der Nacht zum Sonntag wurde ein junger Mann schwer verletzt im NE5 aufgefunden. Der Mann wurde in die Notaufnahme des Alfried Krupp Krankenhauses in Steele gebracht. Er hatte über drei Promille Alkohol im Blut und liegt seitdem im Koma. Da sein Körper zahlreiche Trittverletzungen aufwies, schalteten die Ärzte die Polizei ein. Der ca. 25-jährige Mann konnte bislang nicht identifiziert werden. Die Hintergründe der Tat liegen ebenfalls im Dunkeln, die Polizei geht jedoch davon aus, dass der Mann von mehreren Tätern attackiert wurde, die noch auf ihn eintraten, als er bereits wehrlos am Boden lag. Der Busfahrer des NE5 erlitt einen Schock und wurde ebenfalls ins Krankenhaus eingewiesen.

Solche Meldungen regten mich auf. Mehrere gegen einen. Und dann noch draufhauen, wenn einer schon am Boden liegt. Seine Wut an denen auslassen, die sich nicht wehren können. Angewidert legte ich die Zeitung beiseite und nahm den letzten Schluck Kaffee.

Clyde riss mich aus meinen trüben Gedanken. Er betrat die Küche mit hoch erhobenem Schwanz, stieß eine Reihe von Tönen unterschiedlichster Couleur aus und strich begrüßend um den Barhocker, auf dem ich saß.

»Auch schön, dich zu sehen.« Ich beugte mich zu ihm hinunter und kraulte seinen schwarzen Pelz. Dann griff ich wieder zur Zeitung.

Clyde steuerte zielgerichtet auf das Fenster zu, witterte einmal prüfend und tänzelte zu mir zurück. Sein Ton wurde energisch. Er hockte sich auf die Hinterbeine, reckte sich zu ganzer Länge an meinem Hocker hoch und legte mir auffordernd eine Pfote ans Bein.

»He, Max hat euch adoptiert, nicht ich!«, protestierte ich. Das stimmte. Allerdings hatte Max auch darauf spekuliert, mir mit den beiden Kätzchen den Umzug in die frei werdende Nachbarwohnung in dem Mietshaus schmackhaft zu machen, in dem er wohnte. Sein Kalkül war aufgegangen. »Du hast bestimmt schon dein Frühstück gehabt.«

Clyde schien das anders zu sehen. Erneut legte er seine Pfote auf mein Bein, dieses Mal mit deutlich ausgefahrenen Krallen.

»So was nennt man räuberische Erpressung unter Androhung von Gewalt«, teilte ich ihm mit. »Aber sie fruchtet nicht. Ich habe nichts im Haus. Siehst doch selbst, was hier los ist. Gerade erst eingezogen, verstehst du? Mit anderen Worten: Bei mir ist nichts zu holen. Absolut nichts. Nada. Niente!«

Der Kater ließ von meinem Bein ab und trippelte wieder in Richtung Fenster.

»Hat die alte Nachbarin dir hier immer ihren Obolus entrichtet, oder was zieht dich so hartnäckig in diese Ecke?«

Ich erntete ein kehliges Miau.

»Da muss ich dich aber enttäuschen, mein Lieber. Das dort wird mein Platz. Nix Katzentischlein Deck dich rund um die Uhr. Stehtisch, du verstehst? Für Zweibeiner. Erwachsene Zweibeiner!«

Clyde strich wieder um meinen Stuhl. Als ich mich zu ihm hinunterbeugte, um ihn zu kraulen, biss er mir in die Hand. Nicht richtig fest, aber mit einer deutlichen Botschaft. Dann rannte er aus der Küche.

»Ratte!«, rief ich ihm hinterher. Ich hätte schwören können, dass er lachte.

Lustlos betrachtete ich die Umzugskartons, die sich im Wohnzimmer türmten. Bevor ich sie auspacken konnte, musste ich mich um die Leitern der Bücherregale kümmern. Denn als wir sie gestern aufbauen wollten, passten sie nicht. Waren zu hoch, die Biester. Ganze zwei Komma acht Zentimeter, wie Max sarkastisch grinsend festgestellt hatte. Schlussendlich. Der Klugscheißer!

Ich ärgerte mich. Dabei hatte ich sie ausgemessen! Nur offensichtlich nicht richtig. Und schiefe Fußböden hatte ich dabei erst recht nicht bedacht.

Eine Stunde später war ich aus dem Baumarkt zurück, schleppte die um drei Komma fünf Zentimeter gekürzten Regalleitern zurück in die Wohnung und begann mit dem Aufbau der Regale. Ich war fast fertig, als das Telefon klingelte.

»Guten Tag. Spreche ich mit Frau Blauvogel?«

Die Stimme war angenehm, mit einem melodiösen, weich fließenden Akzent, wie ihn Franzosen oder Italiener häufig haben, wenn sie Deutsch sprechen.

»Ja«, bestätigte ich. »Aber wenn das wieder ein Werbeanruf ist, können wir uns die Zeit sparen. Ich brauche keine neue Versicherung, keinen anderen Mobilfunkvertrag und auch kein Werbeabo. Ich will überhaupt keine Telefonakquise.«

»Das kann ich gut verstehen«, sagte die Frau leise. »Mein Name ist Angela Brissano. Der Richter hat gesagt, ich könne mich an Sie wenden.«

Richter? Welcher Richter?

»Äh ...«

Sie musste mir meine Verwirrung angehört haben. »Richter Monk«, erklärte sie schnell. »Sie kennen doch Richter Monk. Er sagt, Sie könnten mir vielleicht helfen.«

»Ja«, bestätigte ich vorsichtig. Augustus Monk kannte ich tatsächlich. Der alte Herr hatte mich im vergangenen Sommer tatkräftig unterstützt, als ich beweisen wollte, dass Ruby, die neue Liebe meines Nachbarn Bertold, keine Mörderin war. »Worum geht es denn?«

»Meine Tochter ist verschwunden«, brach es aus ihr heraus. Plötzlich klang Verzweiflung aus ihrer Stimme.

»Warum wenden Sie sich nicht an die Polizei?«

»Das habe ich«, erwiderte sie. »Aber die sagen, sie sei vermutlich durchgebrannt. Dabei würde sie das nie tun. Niemals!«

»Hm«, brummte ich.

»Sie bieten doch Detektivarbeit im Rahmen der Nachbarschaftshilfe an«, drängelte die Frau. »Ich möchte nur, dass Sie sich ein wenig umhören.«

Ich fluchte still. Die Tauschbörse für nachbarschaftliche Hilfsleistungen VNH Essen-Süd, die ich selbst ins Leben gerufen hatte, hatte ich völlig vergessen. Vielmehr den Eintrag, mit dem ich in einem Anflug von Größenwahn meine detektivischen Fähigkeiten dort angeboten hatte.

»Herr Monk hält große Stücke auf Sie. Bitte! Helfen Sie mir!«

»Ich kann mir die Sache ja mal anhören«, sagte ich zögernd. »Aber das heißt noch nicht, dass ich das wirklich übernehmen werde. Wo kann ich Sie treffen?«

Sie nannte mir den Namen eines italienischen Restaurants auf der Frankenstraße.

Die Klamotten, die ich trug, waren nach den zwei Tagen Plackerei alles andere als öffentlichkeitstauglich, aber meine Kleider befanden sich alle noch in irgendwelchen ungeöffneten Umzugskartons.

Ohnehin fehlte mir ein Kleiderschrank. Schließlich hatte ich den ultimativen Schrank zurücklassen müssen, das Schmuckstück aus geschrubbtem, matt schimmerndem Metall, das in die Stirnseite meines Spitzgiebels eingepasst war ...

Hör auf, zu jammern, Blauvogel, unterbrach ich mich rigide. Du wolltest hierher ziehen. Trotz deines ultimativ matt schimmernden, maßgefertigten Metallschranks in deinem wundervollen Spitzgiebel. Das stimmte, und wenn ich ehrlich war, hatte ich mich dort seit dem Einbruch ohnehin nicht mehr so richtig wohl gefühlt, ganz allein in diesem Haus voller Anwalts- und Arztpraxen. Neben den Katzen ein weiteres Argument für den Umzug. Außerdem war diese Wohnung um einiges preiswerter als meine alte, was meinem Budget als arbeitslose IT-lerin entschieden mehr entsprach.

Ich ging Max Wohnung hinüber, nahm mir ein frisches T-Shirt aus seinem Schrank und warf mir eine seiner Kapuzenjacken über, deren Ärmel ich einfach hochkrempelte. Mehr konnte ich nicht tun.

***

Angela Brissano war eine Frau von herber, südländischer Strenge. Mit ihrer dunklen Kleidung, den straff aus dem Gesicht gebundenen blauschwarzen Haaren und den ausdrucksstarken dunklen Augen über einer etwas zu lang geratenen, leicht gebogenen Nase weckte sie bei mir Assoziationen an eine schwarze Witwe in einem Film über die sizilianische Mafia.

»Bitte entschuldigen Sie mein Aussehen«, sagte ich. »Ich bin gerade mitten im Umzug, und die Kleider sind größtenteils noch verpackt.«

»Das ist doch nicht wichtig. Danke, dass Sie trotzdem gekommen sind.« Ihr herzliches Lächeln milderte die Strenge und machte sie attraktiv. Äußerst attraktiv, fand ich. »Darf ich Ihnen etwas anbieten?«

»Cappuccino bitte.« Ich lächelte zurück. »Den bereiten Sie doch bestimmt nicht mit Sahne zu.«

»Aber nein!«

Ich sah mich um, während sie hinter der Theke zwei Cappuccini machte.

»War hier nicht früher ein Grieche?«, fragte ich, als sie mit den Tassen auf einem Tablett zurückkehrte.

»Das ist richtig. Wir haben das Bellissimo erst vor knapp zwei Jahren aufgemacht«, bestätigte sie. »Mein Mann Guiseppe und ich.«

»Aber Sie sind schon länger in Deutschland, scheint mir. Ich wünschte, ich könnte so gut Italienisch, wie Sie Deutsch sprechen.«

»Seit über zwanzig Jahren«, sagte sie bescheiden.

Ich nippte an meinem Cappuccino. Er war heiß und stark.

»Ihre Tochter ist also verschwunden«, eröffnete ich schließlich das Gespräch, wegen dem ich hier war.

»Ja.« Sie schniefte einmal kurz auf. »Unsere Bella. Schon fast zwei Tage!«

»Wie alt ist sie denn?«

»Fünfzehn.« Angela Brissanos dunkle Augen füllten sich mit Tränen.

»Und es kann wirklich nicht sein, dass sie einfach nur zu einer Freundin gegangen ist und vergessen hat, Bescheid zu sagen?«

»Dort habe ich natürlich überall angerufen. Keine ihrer Freundinnen hat Bella seit Samstagnacht gesehen.«

Ich registrierte, dass Bella offensichtlich der Name der Tochter war, keine Koseform. »Auf welche Schule geht sie denn?«

»Auf das Maria-Wächtler-Gymnasium.«

»Das ist in Rüttenscheid, richtig?«

»Ja. An der Rosastraße. Sie ist dort auf dem bilingualen Zweig. Sie möchte Sprachen studieren. Später als Dolmetscherin arbeiten oder als Übersetzerin, vielleicht auch im auswärtigen Dienst.«

Scheint sehr zielbewusst zu sein, das Mädchen, dachte ich. Mit fünfzehn hatte ich keine so klaren Vorstellungen davon, womit ich mir später meine Brötchen verdienen wollte.

»Hat Ihre Tochter kein Handy?«

»Doch, natürlich. Aber da geht nur die Mailbox ran.« Angela Brissano schluchzte erneut auf. Kurz und trocken.

»Erzählen Sie mir etwas über Bella«, bat ich. »Was macht sie denn so in ihrer Freizeit?«

»Sie trainiert regelmäßig in einem Selbstverteidigungskurs für Mädchen. Mittwochnachmittags.«

Gut, dachte ich. Das ist wenigstens etwas beruhigend. »Und sonst?«

»Natürlich trifft sie sich mit Freundinnen, mal bei uns zu Hause, mal umgekehrt. Manchmal gehen sie abends ins Kino. Oder sie gehen tanzen. Aber nur am Wochenende.«

Angela Brissanos Lippen zitterten, und ich wartete geduldig, bis sie sich wieder gefasst hatte.

»Ab und zu hilft sie auch bei uns im Restaurant aus. Wenn eine Bedienung kurzfristig ausgefallen ist, zum Beispiel. In den Schulferien auch häufiger, vor allem im Sommer, wenn wir draußen ein paar Tische stehen haben. Verstehen Sie mich nicht falsch.« Sie hob die Hände in einer flehentlichen Geste. »Wir verlangen das wirklich nur im Notfall von ihr. Sie soll eine unbeschwerte Jugend haben. Aber sie verdient sich in den Ferien gerne was dazu. Sie ist ein gutes Mädchen.«

Ich sah, wie ihr wieder die Tränen in die Augen traten, und legte begütigend eine Hand auf ihren Arm. »Sie sagten, sie ginge ab und zu tanzen. Wissen Sie, wo?«

»In einer Jugenddisco im Jugendzentrum Rübe. Bella tanzt leidenschaftlich gerne.«

»Jungs?«

Angela Brissano schüttelte zögernd den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste. Sie hat eine Reihe von Freunden, fast alle von ihrer Schule, darunter natürlich auch ein paar Jungen. Aber ich wüsste nicht, dass sie sich für einen von ihnen näher interessieren würde. Obwohl das in ihrem Alter natürlich ganz normal wäre.« Sie lächelte traurig. »Wir leben hier ja nicht hinter dem Mond.«

»Wann genau ist sie verschwunden?«

»Samstagnacht. Sie war aus am Abend, sie wollte wieder in die Rübe, hat sie erzählt. Als wir vom Restaurant nach Hause kamen, war es gegen zwei Uhr früh. Wir hatten an dem Abend eine Geburtstagsgesellschaft, die ziemlich in Feierlaune war. Bella war noch nicht da, obwohl sie eigentlich direkt nach Hause kommen sollte. Die Disco geht bis Mitternacht.«

»Kam es öfter vor, dass Bella später als verabredet nach Hause kam?«

»Sie ist ein gutes Mädchen«, wiederholte Angela Brissano. Es klang, als wolle sie sich an dem Gedanken festhalten. »Sie ist immer da, wenn wir von der Arbeit kommen.«

»Wann schließen Sie denn im Regelfall das Restaurant am Wochenende?«

»Wenn die letzten Gäste gegangen sind.« Sie sah mich etwas hilflos an. »Also, an Wochenenden ist das selten vor Mitternacht. Aber dann müssen wir ja auch noch aufräumen. Vor ein Uhr sind wir eigentlich nie zu Hause.«

Dann kann sie gar nicht wissen, ob sich ihre Bella wirklich immer an diese Verabredung hält und direkt um Mitternacht nach Hause kommt, dachte ich. Ich als junges Mädchen hätte das vermutlich nicht getan.

»Was haben Sie gemacht, als Sie festgestellt haben, dass Bella nicht da ist?«

»Wir haben die ganze Nacht gewartet, aber sie kam nicht. Morgens haben wir bei ihren Freundinnen angerufen. Aber keine wusste, wo sie steckte. Sie erzählten nur, dass Bella relativ früh gegangen war. So gegen dreiunzwanzig Uhr schon. Da haben wir dann die Polizei eingeschaltet.«

»Und was sagen die dazu?«

»Sie haben uns nach Schwierigkeiten in der Familie gefragt«, sagte Angela Brissano bitter. »Insbesondere nach Schwierigkeiten zwischen meinem Mann und Bella. Fast so, als würden sie denken, mein Mann hätte sich an ... aber das würde er niemals tun!«

»Solche Fragen müssen sie stellen.« Ich bemühte mich um einen ruhigen Tonfall. »Vermutlich kommt es häufiger vor als man denkt, dass ein junges Mädchen von zu Hause einfach ausreißt.«

»Aber doch nicht unsere Bella. Sie hat doch gar keinen Grund dazu!« Eine Träne löste sich und lief ihr über das Gesicht. »Sie ist gut in der Schule, hat nette Freundinnen, verdient sich bei uns im Restaurant was dazu, wenn sie will, und stockt damit ihr Taschengeld auf. Es hätte auch kein Problem gegeben, wenn sie einen netten Jungen gefunden hätte. Wir waren ja ohnehin ganz verwundert, dass sie da so ein Spätzünder ist.«

»Die Polizei hat doch aber sicher auch etwas unternommen, außer der unschönen Fragerei?«

»Es gab eine Suchaktion gestern Abend, und heute waren sie in der Schule. Sie haben sie nicht gefunden.« Sie wischte sich eine weitere Träne aus dem Augenwinkel. »Werden Sie sie suchen?«

»Ich verstehe nicht viel von jungen Menschen«, sagte ich hilflos.

»Bitte!«, flehte Angela Brissano. »Hier sind Fotos von ihr. Und hier eine Liste mit ihren Freunden. Bitte!«

Ich zögerte.

»Richter Monk hält so große Stücke auf Sie. Bitte suchen Sie sie. Wir werden Sie dafür natürlich auch bezahlen!«

»Ich will kein Geld.«

»Dann kommen Sie zum Essen zu uns, wann immer Sie wollen«, drängte sie.

»Darum geht es doch nicht! Ich weiß einfach nicht genau, wie ich das machen soll«, sagte ich verlegen. »Einen Menschen aufspüren ...«

»Aber Sie können es doch wenigstens versuchen.«

***

Müde ließ ich mich auf mein rotes Sofa plumpsen. Doch ich fand keine Ruhe. Stand wieder auf und suchte in meinem Rucksack herum. Fand die Fotos und die Liste mit Bellas Freunden, die Angela Brissano mir gegeben hatte. Und setzte mich zurück aufs Sofa, die beiden Fotos in der Hand.

Ich betrachtete das Gesicht, das mir von einem der Fotos entgegenlachte. Ein frisches, unverbrauchtes Gesicht mit den rundlichen, unausgeprägten Formen eines jungen Mädchens, das seinen Babyspeck noch nicht ganz losgeworden war. Ihr Teint hatte die zarte Olivtönung der Süditaliener. Das dunkle, glatte Haar und die leicht gebogene Nase erinnerten stark an ihre Mutter. Ihre Augen jedoch leuchteten in einem überraschend intensiven Blau. Bella trug ihren Namen zu Recht. Noch ein paar Jahre, etwas mehr Reife, und sie würde eine richtige Schönheit sein.

Falls sie überhaupt noch lebte.

Mein Versprechen drückte mir schwer auf den Magen. Wie anfangen? Und wo? Sofort bei den Freundinnen anrufen? Besser nicht. Das Telefon war nicht gerade mein beliebtestes Medium, um mit Fremden Kontakt aufzunehmen. Und planlosen Aktionismus mochte ich schon mal gar nicht. Jetzt am Abend würde ich also nichts mehr ausrichten. Ich konnte nur nachdenken und mir das weitere Vorgehen zurechtlegen.

Ich stand auf und rückte dem Chaos in meiner Bude energisch zu Leibe. Dübelte eine Leiter mit einem Winkel an die Wand, räumte Kisten leer und dachte nach. Zwei Stunden später waren die Bücher eingeräumt. Die Klamotten, mit denen ich die schweren Bücherkisten aufgefüllt hatte, türmten sich in Ermangelung des Kleiderschrankes als unordentlicher Haufen vor der leeren Wand im Schlafzimmer. Und ich hatte zumindest eine vage Vorstellung davon, wie ich weiter vorgehen wollte in Sachen Bella Brissano.

Zum wiederholten Mal knurrte mein Magen, dieses Mal zum Steinerweichen. Kein Wunder. Nur ein paar Kekse zum Frühstück. Also vegetarische Türkenpizza beim Istanbul-Grill.

Mit der in Alu gewickelten Rolle in der Hand schlenderte ich über meine neue Peripherie. Na ja, so ganz neu nun auch nicht. Ich hatte oft genug hier eingekauft, seit ich mit Max zusammen war. Nun aber wohnte ich hier. Direkt um die Ecke. Ab sofort war das ein Heimspiel.

Es war das erste Mal, dass ich mich über die absurd langen Ladenöffnungszeiten freute. Neuerdings hatten die großen Supermarktketten fast alle bis zweiundzwanzig Uhr geöffnet. So auch der Lebensmittelladen auf der Gemarkenstraße. Kurz vor Ladenschluss deckte ich mich mit den wichtigsten Vorräten ein. Auch mit Katzenfutter. Clydes Biss am Morgen hatte gewirkt.

Wieder zu Hause, streckte mich auf dem Sofa aus. Ich war entsetzlich müde. Doch Bellas Bild schob sich hartnäckig vor mein inneres Auge und ließ mir keine Ruhe. Und eine weitere Frage drängte sich in den Vordergrund. Was passierte eigentlich, wenn ein Mensch als vermisst gemeldet wurde? Wie ging die Polizei in einem solchen Fall vor?

Spontan wollte ich zum Hörer greifen und meine mehr oder weniger guten Kontakte zur Polizei spielen lassen. Zu Bea Hellebrosch, mit der ich jahrelang Qi Gong gemacht hatte, ohne zu wissen, dass sie bei der Kripo Essen war. Bis sie mich eines schönen Tages damit konfrontiert hatte. Sie stand meinen detektivischen Tätigkeiten sehr viel skeptischer gegenüber als ihr Freund Reinhold Schütte von der Kripo Bochum. Und machte mich immer zur Schnecke, wenn sie mitbekam, dass ich mal wieder privat ermittelte. Reinhold Schütte hingegen zollte mir sogar so etwas wie Anerkennung dafür, dass ich immerhin schon zwei Verbrechen aufgeklärt hatte. Reine Notwehr im ersten Fall. Schließlich war ich selbst verdächtigt worden. Von Bea und Schütte. Aber das war Schnee von gestern. Mittlerweile zählte ich nicht nur Bea, sondern auch Schütte zu meinen Freunden.

Ein Blick auf die Uhr verriet mir jedoch, dass es keine gute Idee wäre, mich jetzt noch zu melden. Das würde ich gleich morgen früh erledigen, noch bevor ich dem Maria-Wächtler-Gymnasium einen Besuch abstattete.

Ich stellte mir diesen Besuch dort im Sekretariat vor. Hallo, ich bin Toni Blauvogel und ... Und was? Ermittele? Als was? Warum? Und durfte ich das überhaupt?

Das sollte ich vorher klären. Jetzt. Sofort. Ich konnte ohnehin nicht schlafen, todmüde hin, todmüde her.

Leider war mein Rechner noch nicht aufgebaut. Und Max’ PC war mit einem Passwort geschützt. Ich fluchte, als ich hinter den Schreibtisch kroch und die Geräte mit den zugehörigen Kabeln verband.

Zwanzig Minuten später war ich im Netz.

Ich war verblüfft über das, was ich dort erfuhr. Denn Privatdetektiv ist kein geschützter Beruf in Deutschland. Es gibt keine Lizenz, keine Sonderrechte und keine hoheitlichen Befugnisse für diesen Berufsstand. Diese Spezies arbeitet mit nichts anderem als den sogenannten Jedermannsrechten, den Rechten, die allen gleichermaßen zustehen. Dazu zählt auch die Jedermanns-Festnahme.

Ich runzelte die Stirn. Was, zum Teufel, war das schon wieder? Konnte jeder jeden festnehmen? Wohl kaum. Ich googelte weiter.

Jedermanns-Festnahme, so erfuhr ich, bedeutete tatsächlich, dass eine Privatperson einen anderen Menschen kurzfristig und mit angemessenen Mitteln festhalten kann, zum Beispiel, um diesen Menschen an einer Straftat zu hindern oder zu verhindern, dass er sich nach einer Straftat davonmacht.

Hört, hört! Da könnte ich also tatsächlich jeden festhalten, der mir blöde kommt. Ich grinste sarkastisch über diese Vorstellung und wandte mich wieder dem Hauptthema zu. Den Privatdetektiven.

Normale Gewerbetreibende, stand da zu lesen. Laut Gewerbeordnung dem überwachungsbedürftigen Gewerbe, auch Vertrauensgewerbe genannt, zuzuordnen. Überwachungsbedürftiges Gewerbe? Vertrauensgewerbe? Grässliche Worte! Ich schüttelte mich. Die Aufschlüsselung der zugehörigen Berufe dieses Gewerbezweiges verschob ich auf unbestimmte Zeit. Musste was mit Bewachen zu tun haben, mit Personenschutz, mit Überprüfen, Kontrollieren, Herausfinden.

Ich widmete mich weiter dem Berufsbild des Detektivs. Und staunte nicht schlecht. Denn es gibt in Deutschland keine Ausbildungsregeln dafür. Und warum? Weil das Berufsbildungsgesetz diesen Beruf gar nicht kennt! Zwar bietet die IHK einen Fortbildungslehrgang zur Fachkraft Detektiv an, die mit einer Zertifizierung abschließt. Aber für die Teilnahme an diesem Lehrgang braucht man keine Referenzen oder Vorkenntnisse außer einer vorausgesetzten »persönlichen Eignung«, die mehr als vage formuliert und nicht weiter spezifiziert ist.

Es kann also jeder, der um die viertausend Euro auf den Tisch legen kann und nicht auffällig verhaltensgestört ist, diesen sechsmonatigen Lehrgang besuchen und eine IHK-Zertifizierung erwerben, die man aber nicht mal braucht, um sich Privatdetektiv zu schimpfen.

Als letzten I-Tupf bekam ich noch eine Zahl an die Hand. Ungefähr tausend Schnüffler arbeiten derzeit in Deutschland. Ob IHK-zertifiziert oder nicht, konnte ich dem Netz leider nicht entnehmen.

Genug für heute! Feierabend. Ich startete eine Playlist und freute mich, dass ich doch noch die Kurve bekommen hatte, den Rechner aufzubauen. So konnte ich jetzt Musik hören. Amy Winehouse, die in Back to Black von High Heels sang, oder Katie Meluas Spiders Web. Danach stand mir jetzt der Sinn. Schön kuschelig und leicht verrucht. Und noch etwas wollte ich: Wein und Chips!

Also ging ich erneut in die Nachbarwohnung, lieh mir Korkenzieher, Weinglas und Schüssel aus Max’ Küche, entkorkte den Tempranillo, den ich soeben gekauft hatte, und freute mich an dem verheißungsvollen Knistern beim Öffnen der Chipstüte.

Salute, Blauvogel! Ich grinste albern, während ich auf imaginären Stöckelschuhen meine Hüften im langsamen Takt des Blues wiegte. Salute, prostete ich meinem Bild zu, das sich in den dunklen Glasscheiben des Wohnzimmerfensters spiegelte. Küss die Hand, Frau Schnüfflerin. Willkommen im neuen Berufsstand. Ich durfte mich, ohne rot zu werden, Privatdetektiv nennen! Das war echt stark. Bea konnte sich ihre ewig gleichen Predigten jetzt sonst wohin stecken.

Ich ließ mich wieder auf mein Sofa fallen und stopfte eine Handvoll Chips in mich hinein.

Es gab nur einen einzigen kleinen Schönheitsfehler, sinnierte ich weiter, während ich dem nächsten Glas Wein zu Leibe rückte. Nämlich dass ich kein Gewerbe angemeldet hatte. Also war ich ein schwarz arbeitender Privatdetektiv, oder? Krachend kaute ich eine weitere Handvoll der frittierten Kartoffelscheiben.

Andererseits war ich im Rahmen der Nachbarschaftshilfe engagiert worden. Der VNH Essen-Süd ist ein gemeinnütziger Verein. Meine Dienstleistung war also nicht steuerpflichtig, denn ich nahm ja kein Geld dafür.

So langsam begann mir die Sache Spaß zu machen. An das verschwundene Mädchen dachte ich nicht mehr. Und das war auch gut so, für heute Abend jedenfalls. Die Geschichte würde mich noch genug Nerven kosten.

Mit Bonnie auf dem Bauch und Clyde eng an meine Seite gekuschelt, schlief ich auf dem Sofa ein.

ZWEI

Früh um halb acht rief ich im Sekretariat des Maria-Wächtler-Gymnasiums an und bat um einen Termin mit der Direktorin.

»In welcher Angelegenheit wollen Sie sie sprechen?«, fragte die Sekretärin. Sie schien schwer erkältet.

»Ich ermittle wegen des Verschwindens einer Ihrer Schülerinnen, Bella Brissano.«

»Schon wieder die Polizei?« Ihre Stimme klang jetzt nicht nur schwer erkältet, sondern auch schwer ablehnend.

»Nein. Ich bin ...« Das Wort Privatdetektiv wollte mir doch nicht so recht über die Lippen. »Ich ermittle privat im Auftrag von Angela Brissano. Da die Polizei offensichtlich nicht weiterkommt, hat sie mich eingeschaltet.«

Die Sekretärin seufzte genervt.

»Das junge Mädchen ist verschwunden«, drängte ich. »Angela Brissano hat große Angst um ihre Tochter. Ich will ja nicht behaupten, dass ich es besser kann. Aber vielleicht stelle ich andere Fragen als die grünen Freunde und Helfer.«

Sie gab mir einen Termin für elf Uhr.

Mein zweiter Anruf galt der Polizei. Ich entschied mich wohlweislich für Schütte. Nicht Bea, die mich vermutlich erst mal abkanzeln würde. Und ohne die weinselige Stimmung der gestrigen Nacht fühlte ich mich nicht stark genug, mit meinen neu gewonnenen Erkenntnissen über private Schnüffler zu kontern.

Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube wartete ich darauf, dass Schütte abhob.

»Sag, Reinhold, was unternimmt die Polizei eigentlich, wenn eine Person als vermisst gemeldet wird?«, fiel ich mit der Tür ins Haus.

»Nun, kommt darauf an, wie alt die Person ist«, sagte Schütte verblüfft. »Wie geht es dir, Reinhold? Lange nichts mehr von dir gehört«, flötete er mit verstellter Stimme und fuhr dann fort: »Ich freu mich auch, mal wieder von dir zu hören, Toni!«

»Sorry«, sagte ich zerknirscht. »Aber ich muss das wirklich wissen. Und da dachte ich ...«

»Schon gut. Höflichkeit ist nun mal nicht deine Stärke.« Ich hörte förmlich, wie er grinste. »Also, was willst du wissen?«

»Was genau die Polizei unternimmt, wenn eine Person verschwunden ist.« Ich war erleichtert, dass er mir den uncharmanten Überfall nicht weiter krumm nahm.

»Wie schon gesagt: Es kommt drauf an, ob die Person volljährig ist oder nicht. Aber dazu muss die Person erst mal vermisst werden. Das heißt, jemand muss sie offiziell als vermisst melden.«

»Einleuchtend«, stimmte ich zu.

»Wenn ein Mensch vermisst gemeldet wird, dann gibt es drei Fragestellungen«, fuhr Reinhold fort. »Genauer gesagt, vier. Erstens: Hat die Person ihr gewohntes Umfeld komplett verlassen, also Wohnung, Arbeit, Freizeitkurse, Kneipen, in die sie regelmäßig geht, und so weiter. Das Lebensumfeld halt. Zweitens: Weiß wirklich niemand in ihrem Umfeld, wo sie sich aufhält?«

»Hm«, machte ich zustimmend.

»Das allein reicht aber noch nicht. Die Polizei wird erst dann aktiv, wenn drittens der begründete Verdacht besteht, dass sich diese Person in Gefahr befindet, sie also selbstmordgefährdet ist oder Opfer einer Straftat oder eines Unfalles geworden ist oder werden kann. Oder wenn sie hilflos ist. Ein alter Mensch beispielsweise, der verwirrt ist und deshalb vielleicht orientierungslos. So was in der Art.«

»Aha«, sagte ich. »Aber ein Verschwinden kann doch auch andere Gründe haben. Jemand hat einfach die Schnauze voll und haut ab.«

»Stimmt. Der berühmte Satz ‚Ich geh eben mal Zigaretten holen’«, witzelte Reinhold. »Das macht die Sache bei erwachsenen Menschen ja auch so schwierig. Es kann Streit mit dem Liebsten gegeben haben, Krach mit dem Chef, jemand kann was ausgefressen haben und deshalb das Weite suchen ...«

»Also muss da vermutlich erst mal genau hingeguckt werden«, schloss ich.

»Ja. Denn grundsätzlich darf ein Erwachsener frei entscheiden, wo er sich aufhalten will. Nur bei Jugendlichen, also nicht volljährigen Menschen, ist das anders. Die haben diese Entscheidungsfreiheit nämlich nicht.«

»Was heißt das genau?«, fragte ich neugierig.

»Das heißt, dass die Rechtsgrundlage für das Eingreifen der Polizei eine andere ist. Und damit bin ich bei Punkt vier. Bei Minderjährigen wird immer von einer ›Gefahr für Leib und Seele‹ ausgegangen, wenn sie plötzlich verschwinden und niemand weiß, wo sie stecken.«

»Gilt das grundsätzlich für alle Minderjährigen? Oder wird da auch noch unterschieden? Also, ich meine, ob die Person wirklich noch ein Kind ist oder bereits ein Teenager kurz vor der Volljährigkeit?«

»Ich denke schon, dass das einen Unterschied macht. Bei Kindern bis zum Alter von vierzehn wird vermutlich noch mal anders reagiert als bei Jugendlichen oder einem Menschen, der in drei Monaten achtzehn wird. Bei jungen Mädchen vermutlich ebenfalls anders als bei Jungs. Wegen der Statistiken. Mädchen werden halt doch öfter Opfer eines Gewaltverbrechens. Aber im Detail weiß ich das auch nicht. Ist nicht mein Ressort. Warum interessierst du dich dafür?«

»Im Bekanntenkreis ist ein fünfzehnjähriges Mädchen verschwunden«, sagte ich bedrückt. »Seit Samstagnacht.«

»Dann wurde sie doch sicher schon als vermisst gemeldet«, wandte Schütte ein.

»Ja. Natürlich. Ich wollte nur wissen, was dann passiert. Von offizieller Seite, meine ich.«