Ruhrschnellweg - Ursula Sternberg - E-Book

Ruhrschnellweg E-Book

Ursula Sternberg

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Beschreibung

Eine eiskalte Nacht auf der A 40, auch Ruhrschnellweg genannt. Ein Mann liegt auf den Betionelementen des Mittelstreifens. Er ist tot. Was würden Sie tun, wenn Sie einen Toten finden würden mitten in der Nacht auf der A 40, einen Toten, der zufälligerweise auch noch ihr Chef ist und Ihnen gerade die Kündigung reingereicht hat? Toni Blauvogel jedenfalls ist keineswegs glücklich über ihren Fund, zumal sie schnell ins Visier der polizeilichen Ermittlungen gerät. Um ihre Unschuld zu beweisen, forscht sie nach möglichen Tätern. Ihr Wissen um die sogenannten schwarzen Karteien der Unternehmensgruppe erweist sich dabei als äußerst nützlich. Ebenso wie Max Schulze, ein Hacker, der ihr mit seinen Kenntnissen aufs Freundlichste zur Seite steht. Und was die beiden herausfinden, stinkt nach schlagzeilenträchtiger Korruption... Frech, witzig und spannend - ein Ruhrgebietskrimi der Spitzenklasse.

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Inhaltsverzeichnis
Ruhrschnellweg
Die Personen
Nacht vom 3. auf den 4.Dezember
Mittwoch, 4.Dezember
Donnerstag, 5.Dezember
Freitag, 6.Dezember
Samstag, 7.Dezember
Sonntag, 8.Dezember
Montag, 9.Dezember
Dienstag, 10.Dezember
Mittwoch, 11.Dezember
Donnerstag, 12.Dezember
Freitag, 13.Dezember
Samstag, 14.Dezember
Sonntag, 15.Dezember
Montag, 16.Dezember
Dienstag, 17.Dezember
Mittwoch, 18.Dezember
Donnerstag, 19.Dezember
Freitag, 20.Dezember
Samstag, 21.Dezember
Sonntag, 22.Dezember
Montag, 23.Dezember
Dienstag, 24.Dezember
Mittwoch, 25.Dezember
Donnerstag, 26.Dezember
Freitag, 27.Dezember
Samstag, 28.Dezember
Sonntag, 29.Dezember
Montag, 30.Dezember
Dienstag, 31.Dezember
Schlussbemerkung der Autorin
Dank
Über die Autorin
Erschienene Titel
Impressum

 

 

 

Ursula Sternberg

 

 

Ruhrschnellweg

 

Kriminalroman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dir, Muschan,

in Liebe

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Die Personen

Werner Paschke ist die Stufenleiter ziemlich weit hinauf gekommen. Mit Outsourcing, Stellenabbau und Lohnsenkung liegt er ebenso im Trend wie mit der Hege und Pflege geschäftlicher Beziehungen. Nun liegt er auf der A 40. Tot.

Helena Schmiedenberg ist Paschkes Sekretärin und man munkelt, mehr als das. Die tüchtige Schöne gibt sich sehr zurückhaltend.

Ralf Echsenstein kocht sein eigenes Süppchen, obwohl er als Betriebsratsvorsitzender einen anderen Auftrag hat. Die Frage ist nur, warum.

Max Schulze hat Spaß am Knacken fremder Systeme und mit der Sache eigentlich nichts zu tun.

Wanda Paschke sitzt selbst fest im Sattel und scheint vom Tod ihres Mannes nicht sonderlich berührt.

Reinhold Schütte ist nicht so wichtig, wie er tut und eigentlich sogar ganz nett.

Bea Hellebrosch als ermittelnde Beamtin hat die Nase voll von Tonis Eskapaden und keine Lust, ihren Job für sie zu riskieren.

Toni Blauvogel führt als leicht verschrobene Akteurin wider Willen die Leser durch Essens Szenerie und einen Teil des Ruhrgebiets. Als Ich-Erzählerin nimmt sie dabei kein Blatt vor den Mund.

Nacht vom 3. auf den 4.Dezember

 

 

 

Kalt war es geworden. Schweinekalt. Der Schlüssel im Schloss der Fahrertür rührte sich nicht. Keinen Millimeter. Ich rieb meine tauben Finger und fluchte, weil ich keine Handschuhe dabei hatte. Es half nichts. Das Reiben nicht und auch nicht das Fluchen. Letzteres machte die Sache nur ein wenig erträglicher.

Ein Blick über das Parkdeck bestätigte mir, was ich ohnehin schon wusste. Keiner hier um diese gotterbärmliche Zeit. Niemand, der mir mit Enteiser hätte aushelfen können.

Ich seufzte, öffnete die Heckklappe meines Ford und begann, den ganzen Krempel wieder herauszuräumen, den ich im Laufe der letzten Stunde dort hineingestopft hatte. Ein paar kleinere Pflanzen. Drei gerahmte abstrakte Drucke, schwer in ihrer Größe. Ein ausladender Eukalyptus, ebenfalls schwer. Vier Umzugskartons voll mit Büchern und Aktenordnern. Schwer natürlich. Eine Lampe, wie sie in den Filmen der Schwarzen Serie auf den Schreibtischen der Kommissariate zu finden ist. Ein Sitzball. Mehrere Tüten voll mit Zeugs. Becher. Schmuckdosen. Teebüchsen. Besteck. Mitbringsel aus diversen Urlauben. Keramik. Handschmeichler. Fächer. Holztiere. Zeugs eben. Nie wieder, schwor ich mir, nie wieder würde ich irgendeinen Arbeitsplatz noch einmal mit meinem persönlichen Müll so voll stopfen.

Ich kletterte über die nun freigeräumte Ladefläche meines verbeulten Kombis und tastete über der Lehne des Vordersitzes nach dem Knopf der Verriegelung. Nach kurzem Ruckeln gab der Knopf nach und die Tür war frei.

Als ich zurück kroch, riss ich mir die Hand an etwas Scharfkantigem auf. Eine Klemme von einem der Bilderrahmen, tippte ich, während ich das Blut aufsaugte. Es war eindeutig nicht mein Tag heute.

 

 

Eine halbe Stunde später befand ich mich auf der A 40. Das Gebläse verbreitete lautstark einen Hauch von Wärme. Olli Briesch klotzte ein paar freche Sprüche. Nickelback wurde gespielt. Ich drehte das Radio auf und röhrte lautstark den Refrain mit. How do you remind me.... Schlagartig besserte sich meine Laune.

Ich trat das Gaspedal durch und spornte mein altes Möhrchen zu Höchstleistungen an, trieb es am Kreuz Bochum vorbei, jegliche Geschwindigkeitsbeschränkung ignorierend. Durch den Tunnel hindurch und vorbei an der Baustelle, die bereits seit drei Tagen die linke Spur im Tunnel blockierte. Wusch! Köstliche Rache für all die Stunden, die ich so häufig damit verbracht hatte, mich Zentimeter für Zentimeter von Essen nach Dortmund zu quälen. Oder nach Mönchengladbach. Oder nach Köln. Hin und zurück. Tag für Tag. Mal besser, mal schlechter. Aber nie gut.

Aus diesem Grund nannte ich die in den achtziger Jahren zur Autobahn beförderte ehemalige Bundesstraße 1 nach wie vor nur Ruhrschnellweg. Den Begriff ‚Autobahn‘verdiente sie einfach nicht. Autobahn impliziert schließlich ein schnelles Vorankommen.

 

 

Das Licht der Scheinwerfer erfasste etwas. Groß. Liegend. Eindeutig nicht dort hin gehörend. Ich stieg voll in die Bremsen und brachte den Wagen auf dem Seitenstreifen zum Stehen. Angestrengt spähte ich zurück ins Dunkel. Nichts zu erkennen.

Fahr heim, brummelte ich. Da ist nichts. Fahr heim, leg dich endlich schlafen und vergiss diesen gottverdammten Tag. Der Gedanke war verlockend.

Dennoch legte ich den Rückwärtsgang ein. Setzte langsam auf dem Seitenstreifen zurück, Meter für Meter, bis ich es wieder im Blick hatte, dort, in der sanften Biegung der Rechtskurve.

Es befand sich auf dem Mittelstreifen, dessen langwieriger Bau im vergangenen Jahr sehr zur Freude der Berufspendler beigetragen hatte.

Der Mittelstreifen der Autobahn 40 ist hier eigentlich kein Streifen mehr. Betonelemente erheben sich bis auf Kinnhöhe, und oft habe ich mich gefragt, warum sie nicht noch fünfzig Zentimeter höher hätten gebaut werden können. Dann wäre mir der Zweck wenigstens klar. Ein Blendschutz. Allein das konnte der Grund jedoch nicht sein für diese aufwendige Baumaßnahme, denn selbst mich mit meinen nur knapp einssechzig blendet der Gegenverkehr nach wie vor.

Um diese Uhrzeit jedoch blendete nichts. Kein Schwein schien unterwegs zu sein. Nur ich.

 

 

Es lag da wie aufgebahrt. Ägyptische Mumie oder so was. Wegen der Füße, die exakt parallel ausgerichtet in die Höhe ragten. Und der Arme, die über der Brust gekreuzt zu sein schienen. Eindeutig menschlich. Reglos. Platt auf dem Rücken, auf der Grasnarbe des aus Betonelementen gebauten Mittelstreifen der A 40, auch B1 genannt. Oder Ruhrschnellweg. Um drei Uhr morgens.

„Hallo“, rief ich hinüber. „Kann ich Ihnen helfen?“ Die Frage kam mir ziemlich bescheuert vor.

Es regte sich immer noch nicht. Also vergewisserte ich mich, dass kein Scheinwerferlicht ein nahendes Fahrzeug ankündete, rannte über die Fahrbahn und stemmte mich auf den Betonstreifen hinauf.

Der Mann trug weder Schuhe noch Mantel. Sein Körper wirkte, als wäre er gerade aus einer Gefriertruhe geholt worden. Schnurrbart, Augenbrauen und Haare waren von hellen Eiskristallen dicht bestäubt, so dass sie wie Zuckerwatte aussahen, das Gesicht schien unter der dünnen Eisschicht verzerrt und dadurch bizarr entstellt. Schnell ließ ich mich in die Hocke nieder, rüttelte leicht an der Schulter des Mannes und registrierte die frostige Kälte, die dieser Körper verströmte.

Hier konnte ich nichts mehr tun. Ich kramte mein Handy hervor und wählte die 110. Der Wind schnitt mir eisige Furchen ins Gesicht.

 

 

Endlich kam einer, der was zu sagen zu haben schien. Leider einer von den Typen, mit denen ich in Windeseile aneinander gerate. Wir brauchen uns nur anzusehen, und schon geschieht es. Unaufhaltsam. Eine Art Selbstläufer. Ich weiß nicht warum. Das heißt, wenn ich mit so einem gesprochen habe, weiß ich im Regelfall schon, warum. Aber mit diesem hier hatte ich noch kein Wort gewechselt, und bereits jetzt war mir klar, dass das kein erfreuliches Gespräch werden würde. Es musste an diesem dünnen, geschwungenen Oberlippenbärtchen liegen. Oder an der eckigen goldgefassten Brille. Oder an den sorgfältig nach hinten gegelten Haaren. Oder an diesem Flair von Mr. Wichtig, das ihn umhüllte wie ein zu schweres After Shave. Oder einfach nur an diesen paar Zentimetern, die er mir zu dicht auf die Pelle rückte.

Er richtete den Strahl einer Taschenlampe unverschämt direkt in mein Gesicht. „Name?” Sein Tonfall war brüsk.

Ich schob die Lampe ein paar Zentimeter beiseite. „Toni Blauvogel.” Dann erst trat ich einen Schritt zurück.

„Toni?“ Sein Blick wanderte über meine Brüste, die sich unter der dicken Winterjacke abzeichneten. Er grinste sarkastisch.

Schützend verschränkte ich die Arme vor meiner Brust. Ich mochte es nicht, wie er mich taxierte. „Antoinette“, korrigierte ich widerwillig.

„An-to-i-net-te“, flötete er melodiös, jede Silbe einzeln betonend. „Ist doch viel schöner als Toni.“

Ich zuckte mit den Schultern. Was ging es ihn an. „Sonst noch was?“, fragte ich.

„Alter?“

„Vierundvierzig.“

„Wohnort?“

„Essen.“

„Postleitzahl?“

Der Kasernenton ging mir auf die Nerven. „45130. Hören Sie...“

„Straße?“, unterbrach er mich brüsk.

„Jawoll!“ Zackig riss ich meinen Körper in die Senkrechte und imitierte den militärischen Gruß.

„Rellinghauser 111.“ Dann schüttelte ich befremdet den Kopf. „Sagen Sie mal, können Sie eigentlich auch normal reden?“

„Beruf?“

„Was tut denn das hier zur Sache!“

Er fixierte mich mit strengem Blick.

„Beruf?“, bellte er erneut.

„DV-Organisatorin ... nein ... arbeitslos ... hm ... nein ... auch nicht.“

„Also was denn nun?“, fragte er gereizt.

Mir platzte der Kragen. „Demnächst arbeitslos“, blaffte ich zurück. „Bald eventuell selbstständig. Oder wieder irgendwo angestellt. Suchen Sie sich‘s aus, irgendwas wird schon passen. Aber ich weiß verdammt noch mal nicht, was das mit diesem Menschen da auf dem Mittelstreifen zu tun hat. Ich habe ihn im Vorbeifahren dort liegen sehen. Ich habe angehalten und den Notruf angerufen. Seit über einer Stunde sitze ich nun hier, beobachte Ärzte und Polizei bei der Arbeit, friere mir den Arsch ab und muss mir auch noch Ihren bescheuerten Feldwebelton reinziehen. Mir reicht es für heute. Ich fahre jetzt nach Hause!“

„Das werden Sie nicht tun!“ Drohend richtete er den Strahl seiner Taschenlampe erst direkt in mein Gesicht, dann auf das Chaos im Innern meines Wagens.

„Ach ne“, höhnte ich aufgebracht. „Werde ich also nicht?“ Ich öffnete die Fahrertür. „Ich habe aber nichts mehr zu sagen. Und deshalb werde ich jetzt fahren, bevor hier der morgendliche Berufsverkehr anrollt. Falls Sie noch Fragen haben – Sie haben ja meine Adresse. Aber bitte zu einer angemesseneren Tageszeit, wenn’s recht ist, und in angemessenerem Ton!“

Der Escort, wieder kalt geworden, protestierte hustend gegen den neuerlichen Start. Hoppelnd fuhr ich in Richtung Essen davon.

„Mensch Vogel“, fluchte ich. „Was für ein Scheißtag!“

Mittwoch, 4.Dezember

 

 

 

Das Klingeln des Telefons drang in meinen morgendlichen Dämmerschlaf. Ich hörte, wie der Anrufbeantworter ansprang, warf einen Blick auf den Funkwecker und schauderte. Acht Uhr zwanzig. Viel zu früh nach dieser Nacht!

Ich kuschelte mich tiefer in meine Decken und versuchte, wieder einzuschlafen. Aber es half nichts.

Da war dieses Etwas auf dem Mittelstreifen der Autobahn. Da war dieser Mr. Wichtig. Kripo Bochum? Wahrscheinlich. Und auf der Straße stand mein vollgepacktes Auto im Halteverbot.

Grunzend rollte ich mich aus dem Bett, kletterte das fragil wirkende, leiterähnliche Gebilde aus Drahtseilen und Holz hinunter und verschwand im Badezimmer.

 

 

Ein Parkplatz in unmittelbarer Nähe wurde gerade frei. Dankbar setzte ich den Ford in die Lücke. Dann ging ich zwei Häuser weiter.

„Hallo Bertold!“ Ich klopfte an das Fenster der Bude. „Gibt es noch Vollkornbrötchen?“

„Hi Toni. Biste nicht arbeiten?“ Bertold zog die Scheibe beiseite und schob seinen polierten Schädel in mein Blickfeld. Massig und kahl, wie er war, hielt manch einer ihn für einen Skin. Der Eindruck täuschte. Bertold hatte sein ohnehin schon spärliches Haar bei einer Chemotherapie vor drei Jahren verloren. Seitdem wuchs es nicht mehr. „Was willste denn drauf?“

„Mit dem Arbeiten ist es vorerst vorbei. Brie und rohen Schinken, ein Croissant und eine Milch. Und Butter bitte.“

„Warst wohl mal wieder nicht einkaufen, was?“ Bertold lächelte mich an. „Toni, kannst bei mir einsteigen, wenn du willst. So ab und zu könnt ich ´ne Entlastung brauchen.“

Ich lächelte gerührt. „Dank dir, Bertold, das ist lieb. Aber im Moment geht es noch. Bis die Tage!“

Während das Kaffeewasser heiß wurde, schleppte ich die Pflanzen nach oben. Die Kälte war ihnen nicht gut bekommen. Ich stellte sie in den kleinen Raum gegenüber meiner Wohnung, den ich bisher als Abstellraum benutzte. Auch hier war es eiskalt. Die Heizung gab glucksende Geräusche von sich, als ich sie aufdrehte. Ich würde sie entlüften müssen. Aber das musste warten.

Ich trug einen Becher Presskaffee mit aufgeschäumter Milch zu meinem Stehtisch unter dem Fenster, schwang mich auf den Barhocker und hakte die Füße um die hohen Beine. Genüsslich biss ich in das Schinkenbrötchen.

Der Spielplatz auf dem Isenbergplatz war leer. Eine verfrorene Mutter schob einen Kinderwagen hin und her. Vier Schritte auf, vier Schritte ab. Sobald sie stehen blieb, öffnete das Kind die Augen und verzog sein Gesichtchen zu einem Greinen. Also weiter. Vier Schritte auf, vier Schritte ab.

Die Regional-Nachrichten im WDR2 brachten die Meldung, dass heute in den frühen Morgenstunden ein männlicher Toter auf der A 40 gefunden worden war. Die Polizei bat um Unterstützung von Autofahrern, die in der Zeit zwischen ein und drei Uhr morgens zwischen Bochum Hofstede und dem Bochumer Kreuz etwas beobachtet hätten.

Der morgendliche Anruf fiel mir wieder ein und ich hörte den Anrufbeantworter ab. Ein Kommissar Schütte bat um Rückruf zwecks Terminvereinbarung. Na also, geht doch, dachte ich zufrieden. Ich lehnte es dankend ab, dass sie bei mir vorbeikommen wollten und vereinbarte stattdessen einen Termin im Essener Polizeipräsidium. Hübsch unpersönlich. Wer will schon die Bullen in der Wohnung haben.

 

 

Auch bei ihm hatte die Nacht Spuren hinterlassen. Seine Nase war gerötet, die gegelten Haare lagen nicht mehr ganz so glatt, seine Augen waren vor Müdigkeit geschwollen und das Flair von Wichtigkeit schien ihm abhandengekommen.

„Bitte folgen Sie mir“, sagte er knapp und reichte mir kurz die Hand.

Also stieg ich die geschwungene Treppe hinter ihm hoch.

Er klopfte an, bevor er die Tür öffnete. „Kollegin Hellebrosch von der Kripo Essen“, stellte er vor.

Verblüfft starrte ich auf die zierliche Frau hinter dem Schreibtisch. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Auch sie wirkte überrascht.

„Mensch, Toni“, sagte sie schließlich. „Das ist ja ein Zufall!“

„Bea, was machst du denn hier? Ich wusste gar nicht, dass du bei der Kripo bist!“

Mr. Wichtig sah zwischen uns beiden hin und her. „Die Damen kennen sich?“, fragte er etwas steif.

„Ich kenne Frau“ – Bea warf einen Blick in ihre Akte – „Frau Blauvogel von einem gemeinsamen Sportkurs“, antwortete sie freundlich. „Damit erschöpft sich unsere Bekanntschaft auch schon.“

„Ja, Qi Gong“, fügte ich hinzu. „Dienstags abends.“

„Ach so.“

Und ab und zu begegneten wir uns im Bahnhof Süd. Nicht sehr oft, aber wenn, dann wechselten wir ein paar Worte miteinander. Das jedoch ging ihn nun wirklich nichts an.

„Herr Schütte ist von der Kripo Bochum“, erklärte mir Bea. „Wir arbeiten zusammen an dem Fall.“

Ich nahm auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch Platz.

„Kannst du mir noch mal erzählen, wie du ihn gefunden hast?“

Ich nickte und fasste mein Erlebnis auf der Autobahn zusammen.

„Ist dir irgendetwas aufgefallen, Autos, die unterwegs waren oder auf dem Seitenstreifen parkten, Menschen auf der Fahrbahn, irgendwie so was?“

Bedauernd schüttelte ich den Kopf. „Es war so wunderbar leer“, sagte ich schließlich. „Das war auffällig. Ich glaube, auf der ganzen Strecke habe ich keine zwanzig Fahrzeuge gesehen. Aber ich habe nicht auf sie geachtet. Ich war so begeistert, dass ich ein bisschen zu sehr auf die Tube gedrückt habe – soweit das bei meiner Karre möglich ist.“

„Was haben Sie dort überhaupt gemacht um diese Zeit?“ Schütte richtete die Frage an meinen Nacken.

Ich drehte mich zur Seite, um ihn im Blick zu haben. „Ich habe meinen Arbeitsplatz geräumt.“

„Mitten in der Nacht?“ Sein Ton implizierte Misstrauen.

Er war schon wieder aus meinem Blickfeld verschwunden. Erneut verrenkte ich meinen Hals. Dann gab ich auf. „Bea, muss der so in meinem Rücken herum stehen? Das ist verdammt unbequem.“

Beas Mundwinkel zuckten. „Herr Schütte, sie hat recht. Das ist sehr unhöflich. Bitte setzen Sie sich hier hin.“ Mit dem Kinn wies sie auf den freien Stuhl an der Längsseite ihres Schreibtisches.

Ich sah Wut in seinen Augen, als er sich niederließ. „Also“, schnappte er. „Sie wollen uns erzählen, dass Sie mitten in der Nacht Ihren Arbeitsplatz geräumt haben. Fristlos gekündigt, ja! Was haben Sie denn ausgefressen?“

Was für ein Kotzbocken! „Wir haben weit über vier Millionen Arbeitslose und eine nicht unerhebliche Dunkelziffer auf diesem Gebiet, Herr Schütte“, sagte ich eisig. „Leider scheinen auch Sie das weit verbreitete Urteil zu teilen, dass die Ursache für die Arbeitslosigkeit bei den Betroffenen selber zu suchen ist.“ Damit wandte ich mich an Bea. „Ich wurde freigestellt. Den Brief fand ich im Kasten, als ich von der Arbeit nach Hause kam. Ich hielt es für eine gute Idee, noch am selben Abend meinen Krempel zu packen und zu verschwinden. Deshalb war ich um diese Uhrzeit dort unterwegs. Ich denke, das reicht zu diesem Thema.“

„Wer ist dein Arbeitgeber?“, fragte Bea leise.

„Die Exapta“, antwortete ich arglos.

Mr. Wichtig straffte sich und holte Luft, doch Bea schnitt ihm mit einer klaren Geste das Wort ab. Die Art, wie sie mich jetzt ansah mit leicht gerunzelter Stirn und schräg gelegtem Kopf, löste ein seltsames Gefühl in meiner Magengrube aus.

„Geh nach Hause, Toni“, sagte sie schließlich. „Aber ich muss dich bitten, in der Stadt zu bleiben. Wir haben bestimmt noch weitere Fragen an dich.“

 

 

Es war immer noch bitter kalt. Dennoch ging ich mit strammen Schritten eine Runde um den Haumannpark, der an das Polizeipräsidium angrenzt. Ich wollte den Wichtig-Mief loswerden. Und Beas gerunzelte Stirn vergessen.

Ein Köter, ein kariertes Deckchen um den kleinen Leib gezurrt, rannte wild kläffend auf mich zu.

„Pfui, Peedy“, schimpfte sein Frauchen. „Die nette Dame hat dir doch nichts getan. Entschuldigen Sie bitte.“ Wie verloren lächelte sie mich an.

Spärlich lächelte ich zurück und ging zügig weiter. Ich wollte nicht nett sein. Ich wollte nicht mit einsamen alten Frauen sprechen. Ich wollte nicht über mumienhaft aufgebarte Tote auf dem Ruhschnellweg nachdenken. Ich wollte nicht an meinen Arbeitsplatz denken und schon gar nicht daran, dass ich keinen mehr hatte. Ich wollte einfach nur meine Ruhe haben.

Also beschloss ich, auf dem Heimweg einzukaufen und mir etwas zu kochen. Ein ruhiger Abend. Ein leckeres Essen. Ein paar Gläschen Wein. Eine schöne Vorstellung.

Für das Fleisch machte ich einen Umweg über die Gemarkenstraße. Der Türke dort bietet neben gutem, preiswertem Lammfleisch frisches Gemüse zu halbwegs fairen Preisen. Okraschoten. Knoblauch. Ungespritzte Zitronen. Sonnengereifte Tomaten. Knackigen Salat. Und scharfe luftgetrocknete Paprikasalami. Bei Backbord besorgte ich noch ein Vollkornbrot.

Mit einem schweren Beutel an jeder Hand wanderte ich schließlich heimwärts. Das Plastik drückte Riefen in meine behandschuhten Finger und störte die Blutzirkulation.

 

 

Im Haus waren nur noch die beiden Putzfrauen. Außer meiner Wohnung befinden sich lediglich Büros in dem Gebäude. Abends und am Wochenende kann ich tun und lassen, was ich will. Ich störe niemanden und ich werde durch niemanden gestört.

Meine Wohnung befindet sich im ausgebauten Dach des Hauses. Neben einer relativ kleinen Küche und einem noch kleineren Bad hat sie einen großen Raum, der sich über zwei Ebenen erstreckt. Der untere Bereich geht auf den Isenbergplatz hinaus. Die Fenster sitzen in den ausgebauten Gauben des Daches. Sie beginnen erst auf Brusthöhe und ziehen sich als schmales, durch schulterbreite Mauerstücke unterbrochenes Band fast über die gesamte Front des Wohnraums.

Ich grillte das Lammfleisch und zwei Tomaten, dünstete die Okraschoten mit viel Knoblauch, Zwiebeln und geriebener Zitronenschale an, häckselte die glatte Petersilie mit einem schweren Küchenmesser und streute sie über Lammfleisch und Tomaten. Der Duft ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Zum Essen gönnte ich mir ein Glas Rotwein und beobachtete von meinem Barhocker am Stehtisch aus, wie das De Prins unter mir zum Leben erwachte.

Gesättigt stand ich schließlich auf. Ich packte Rotwein, ein Stück Manchego und ein Messer in meinen Rucksack, löschte die Lichter und kletterte über die grazile, nicht sehr praktische Konstruktion aus Drahtseilen und Buchenholz in die zweite Ebene hinauf.

Wie immer, wenn ich im Dunkeln hier oben ankomme, hielt ich für einen Moment die Luft an. Denn die Front dieses Spitzgiebels besteht komplett aus Glas und gibt den Blick frei auf ein Lichtermeer: Den erleuchteten RWE-Turm vor dem gläsernen Karree der RAG und einen Teil der Essener Innenstadt.

Im Sommer fluche ich über die Hitze, im Winter über die Kälte. Aber diese zweite Ebene der Wohnung, so unbequem sie auch ist, ist der Grund, warum ich vor fünf Jahren hier eingezogen bin. Hier oben schlafe ich. Hier oben habe ich meinen bequemen Sessel stehen. Hier oben höre ich Musik, beobachte die Vögel in den Baumkronen beim Nisten und blicke über die Lichter der Stadt. Hier oben senkt sich die Pulsfrequenz. Hier oben werde ich ruhig, hier treffe ich Entscheidungen.

Und nun dachte ich bei Rotwein, Käse und der transparenten Stimmgewalt von Marie Boine darüber nach, wie es weitergehen sollte, eine Frage, vor der ich mich bisher weitestgehend gedrückt hatte.

Donnerstag, 5.Dezember

 

 

 

Meine Entschlüsse setzte ich gleich am nächsten Morgen in die Tat um. Ich öffnete den zu meiner Wohnung gehörenden Abstellraum gegenüber, räumte ihn bis auf die Regale leer, schleppte das Gerümpel in den Keller, putzte Regale und Fenster und saugte den Boden. Die kleineren Pflanzen drapierte ich auf der Fensterbank, die große in einer Ecke auf dem Boden. Meine Aktenordner, Bücher und der Krempel aus dem Büro kamen in die Regale.

Aus dem Keller schleppte ich eine Hartholzplatte und die zugehörigen zwei Böcke hoch und montierte daraus den Schreibtisch zusammen, den ich in meiner Studentenzeit gehabt hatte. PC und Drucker aus meiner Wohnung vervollständigten schließlich mein Vorhaben.

Dann rief ich Willi an.

Willi – ganz branchentypischer Tüftler und Bastler – hat einen kleinen Laden in Bredeney, eine Art Servicestelle für sämtliche Probleme rund um Netzwerke, PCs und Telefone.

Er versprach, nach Ladenschluss vorbei zu kommen und mir von meinem ISDN-Anschluss von meiner Wohnung aus Leitungen nach nebenan in die Kammer zu legen. Ich wollte Telefon, Modem und Internet in meinem neuen Büro haben.

Schließlich hängte ich noch meine beiden Drucke auf und drapierte ein großes Stück buntgemusterten Stoffes als eine Art Volant um das Fenster. Auf meinem Sitzball nahm ich hinter dem provisorischen Schreibtisch Platz und betrachtete mein Werk.

Toni, nickte ich zufrieden, das hier ist ein guter Tag.

Ich belohnte mich mit Cappuccino und einem großen Stück Apfelkuchen im Café Click. Vereinzelte Studenten saßen lesend, rauchend und Kaffee trinkend im gläsernen Wintergarten herum. Auch ich holte mir eine der ausliegenden Tageszeitungen.

Die Schlagzeile im Regionalteil sprang mir sofort ins Auge.

Mysteriöser Todesfall auf der A 40, stand dort in fetten Buchstaben. Die Polizei bittet um Ihre Mithilfe. In der Nacht zum Mittwoch wurde um 3 Uhr früh nahe dem Bochumer Tunnel eine Leiche auf dem Mittelstreifen der Autobahn gefunden. Der Tote lag auf dem Rücken und zeigte keinerlei Spuren von Gewalteinwirkung. Wie der Mann dorthin gelangt ist, ist zurzeit noch unklar. Aufgrund der seltsamen Umstände, unter denen der Tote gefunden wurde, geht die Polizei jedoch nicht von einem natürlichen Tod aus. Autofahrer, die in der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember zwischen 1:00 und 3:00 Uhr morgens dort vorbei gekommen sind, werden dringend gebeten, sich mit der Kripo Bochum oder Essen in Verbindung zu setzen.

Bei dem Toten handelt es sich um Werner Paschke, einen der beiden Geschäftsführer der Exapta GmbH, einer Tochtergesellschaft der Krippenhagen&Goll Unternehmensgruppe. Er hinterlässt seine Ehefrau in Essen.

 

Langsam ließ ich die Zeitung sinken. Mit flauem Gefühl in der Magengrube schob ich den Rest des Kuchens beiseite. Ich legte einen Fünfer und etwas Münzgeld auf den Tisch und trat auf den Platz. Ein paar Tauben pickten unter einer Platane an einem Stück Brot herum. Es dämmerte bereits, und vor dem De Prins ging die rote Lichterkette an.

Der Anrufbeantworter blinkte böse im Halbdunkel meines Wohnzimmers. Donnerstag, 5. Dezember, 14 Uhr 43, modulierte das Gerät. Mr. Wichtig bellte, dass ich mich umgehend beim Präsidium melden solle. Sie hätten noch ein paar Fragen an mich.

So nicht, dachte ich wütend. Nicht in diesem Ton. Aber ich wusste, dass es besser war, sofort anzurufen.

Eine Sekretärin teilte mit, dass Frau Hellebrosch und Herr Schütte derzeit in einer Besprechung seien. Sie zitierte mich für neun Uhr des folgenden Tages ins Präsidium.

Immer noch zornig stöpselte ich den Anrufbeantworter aus und trug ihn in die Kammer hinüber.

 

 

Willi hatte bis halb neun die Leitungen verlegt und die Telefonanlage programmiert, die er mir mitgebracht hatte, und bis halb zehn eine Flasche Wein geleert. Meine Wohnung stank nach den Selbstgedrehten, die er in einem fort rauchte. Dafür war mein neues Büro mit ISDN, Telefon und Anrufbeantworter versorgt. Ich musste nur noch bei der Telekom zwei weitere Nummern frei schalten lassen, die ich bereits bei meinem Einzug vorsorglich im Fünferpack beantragt hatte.

Als ich Willi endlich losgeworden war, hatte „NRW am Abend“ leider schon begonnen. Ein Polizeisprecher bestätigte, dass Werner Paschke keines natürlichen Todes gestorben war. Um eindeutig zu bestimmen, ob es sich um Freitod oder Tod durch Fremdeinwirkung handele, müsse der Obduktionsbericht abgewartet werden. Erneut wurde die Bevölkerung um Hilfe gebeten. Ein Foto von Paschke im Großformat wurde eingeblendet.

Der Druck in meinem Magen verstärkte sich. Mit einigen Gläsern Malt Whisky bekämpfte ich ihn und zählte die erleuchteten Fenster von RWE und RAG. Schließlich fielen mir die Augen zu.

 

 

Paschke schlug mir mit einem dicken Prügel in die Kniekehlen, sodass ich hart auf dem Boden aufschlug.

Dann demolierte er mit dem Knüppel in aller Seelenruhe meine Einrichtung. Meinen alten Schreibtisch. Meinen Nippes. Meine Bilder. Meine Pflanzen. Meinen PC. Er zerstörte, was mir lieb und teuer war. Er ruinierte meine Existenz.

Als ich mühsam auf ihn zukroch, schlug er noch mal zu. Hart traf mich der Schlag im Kreuz.

Sie sind entlassen, höhnte er. Und Sie wissen ja, wer mit vierundvierzig arbeitslos wird, ist raus. Ene mene mu und raus bist du! Mit spitzem Zeigefinger stach er mir zu jeder dieser absurden Silben in die schmerzenden Rippen.

Dann stierte er mich mit seinen seltsam überquellenden basedowschen Augen an und wackelte drohend mit dem Zeigefinger. Und wenn ich Sie damit noch nicht klein habe, dann jetzt mit meinem Tod.

Schweißgebadet wachte ich auf.

Freitag, 6.Dezember

 

 

 

„Du warst also bei der Exapta angestellt. Eine der Top Ten in Sachen System- und Unternehmensberatung?“ An dem neutralen Tonfall, in dem Bea ihre Frage stellte, merkte ich, wie verfänglich die Frage eigentlich war.

„Ja. Ich habe dort als Organisatorin gearbeitet.“

„Und dann ist dir gekündigt worden“, stellte Bea fest. Sie schlang sich den strengen Zopf, in den sie ihre herrlichen Haare gebannt hatte, fest um ihr Handgelenk. Es sah aus, als wolle sie etwas strangulieren.

„Ja“, antwortete ich. „Ich habe dagegen geklagt. Und ich bekomme noch drei Monate Gehalt. So schnell geht das alles nun auch nicht, selbst wenn die Gesetzgebung sich heutzutage große Mühe damit gibt, es den Unternehmen wieder hübsch einfach zu machen mit dem Rausschmeißen von Leuten.“

„Warum wurde Ihnen gekündigt?“ Mr. Wichtig mischte sich von der Seite her ein. Immerhin hatte er gleich brav Platz genommen auf dem ihm zugewiesenen Stuhl.

Der Traum der vergangenen Nacht war plötzlich wieder unangenehm präsent. „Ich bin nur eine von vielen“, sagte ich leise. „Die Exapta hat beschlossen, 120 Arbeitsplätze abzubauen.“

„Aber viele Kündigungen sind bis jetzt noch nicht ausgesprochen worden. Und keiner hat sich so dagegen gewehrt wie Sie. Einige haben einfach eine Abfindung eingestrichen. Was ist eigentlich Ihr Problem, Frau Blauvogel?“

Er brachte mich schon wieder auf die Palme. In Windeseile. Er brauchte nur den Mund aufzumachen, und schon passierte es. „Bea, mit dem da rede ich nicht mehr“, motzte ich. „Das muss ich mir wirklich nicht anhören!“

„Leider doch, Toni. Es ist eine normale Methode. Wir lernen es in der Polizeischule. Provozieren nennt sich das. Und anhören musst du es dir leider auch. Wenn du bei der Exapta gearbeitet hast, kanntest du dann nicht auch Herrn Paschke?“

„Verkauf mich nicht für dumm! Ich habe gestern Zeitung gelesen, ich habe die Lokalnachrichten gesehen und mir ist vollkommen klar, dass das alles ausgesprochen merkwürdig aussieht. Natürlich kannte ich den Paschke. Er hat die Kündigungswelle in Gang gesetzt, und mir ist gekündigt worden. Und? Ich wurde freigestellt. Und? Ich habe mein persönliches Zeug aus dem Büro geholt, meine Schlüssel in der Bürotür stecken lassen und bin nach Hause gefahren. Dabei habe ich den Paschke gefunden. Wie aufgebahrt auf dem Mittelstreifen der A 40. Ja, Scheiße, das habe ich, auch wenn ich zwei Tage später erst überhaupt mitbekommen habe, um wen es sich da eigentlich handelt. Und mehr kann ich dazu nicht sagen!“

Wütend stand ich auf. Ich band mir die Gürtelstrippe meines Mantels um die Taille, schnappte mir Rucksack und Handschuhe und verließ türenknallend das Büro. Wie in einem schlechten Film.

Ich wusste, dass mein Verhalten falsch war. Ich wusste aber auch, dass ich in dieser Stimmung, in die ich mich gerade hinein gesteigert hatte, nur noch mehr Mist bauen würde. Also war es besser zu gehen. Und das tat ich.

 

 

Ich rief bei der Telekom an und sorgte für die Freischaltung meiner beiden zusätzlichen Telefonnummern. Nur so zum Trotz, weil mir die Energie dazu eigentlich völlig fehlte und ich mir das nicht eingestehen wollte.

Dann klappte ich zusammen, so, als hätte mir dieser Anruf das letzte Quantum Kraft aus den Adern gesogen. Die Wut, die sich seit dem unerquicklichen Gespräch im Präsidium in mir eingenistet hatte, wich einer dumpfen Niedergeschlagenheit, und der unangenehme Druck hinter meinen Augen breitete sich nun in rhythmischem Klopfen bis in die Schläfen hinein aus.

Also ließ ich die nachtblauen, mit schemenhaft eingewebten Sternen versehenen Stoffbahnen fallen, die ich über dem Fensterdreieck meiner zweiten Ebene als eine Art Vorhang angebracht hatte. Mit den dunklen Stoffen schirmte ich mich gegen das Licht ab, mit den kleinen gelben Schaumstoffkegeln aus dem Drogeriemarkt gegen die Geräusche der Stadt. Nichts hören, nichts sehen, nichts reden.

Ich weiß nicht, ob ich geschlafen habe. Aber als ich aus dem Dämmerzustand wieder auftauchte, ging es mir besser. Nicht gut, aber besser. Entfernt drangen die Stimmen der Putzfrauen aus dem Treppenhaus zu mir hoch. Dann fiel die Haustür zu und wurde abgeschlossen. Ich war allein.

 

 

Später, nachdem ich ein paar Bissen gegessen hatte, später, nachdem ich die Stoffbahnen wieder beiseite gerafft und das Lichterspiel eingelassen hatte, später, nachdem ich in meinem Sessel zur Ruhe gekommen war, sehr viel später also klingelte es.

Spontane Gäste sind nicht gern gesehen bei mir, und eigentlich weiß das auch jeder. Dennoch tappte ich durchs Treppenhaus nach unten. Ich öffnete die Klappe in der schweren Haustür und spähte hinaus.

Es war Bea. „Darf ich reinkommen?“

„Als Bulle oder privat?“, fragte ich grantig.

Bea seufzte. „Beides, Toni. Das lässt sich im Moment nicht trennen. Aber du siehst, ich bin alleine gekommen. Als Arbeitszeit werde ich das auch nicht anrechnen. In Ordnung?“

„Schön blöd von dir!“ Ich schloss die Tür auf. „Ganz nach oben“, murmelte ich und folgte ihr die Treppen hinauf.

„Nette Wohnung“, sagte Bea. Sie warf einen Blick auf den Isenbergplatz. „Und alles Wesentliche im Blick. Das Click, das De Prins...“, grinste sie. Sie löste das Gummi aus ihrem strengen Zopf und schüttelte die üppigen Haare auseinander.

Aus einer spontanen Eingebung heraus dirigierte ich sie noch eine Ebene höher.