Variationen der Wahrheit - Ursula Sternberg - E-Book

Variationen der Wahrheit E-Book

Ursula Sternberg

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Beschreibung

Sternbergs rasanter Gourmet-Krimi spielt größtenteils im Elsass und provoziert beim Lesen einen unwiderstehlichen Appetit auf französischen Käse ... Harald Schreiber, Kommissar der Europäischen Kommission, wird in einer Straßburger Gasse erschlagen. In seinen Mund hat man Käse gestopft. Und über der Leiche befindet sich eine Protestparole französischer Käsebauern gegen einen Gesetzentwurf der Europäischen Kommission, der die Herstellung von Rohmilchkäse stark einengt. Ausgerechnet Anna Mandinsky, eine deutsche Käsehändlerin, stolpert über die Leiche, und ein ewig schlecht gelaunter Commissaire ermittelt in diesem Fall vielleicht nicht ganz unparteiisch. Deshalb und aus vielen anderen Gründen mischen sich die agierenden Personen in die Ermittlungen ein - der intellektuelle französische Käsebauer Marcel Fouchard, der einsame Feinschmecker Hugo Rouvillion, die abtrünnige Ehefrau des Ermordeten Renate Schreiber sowie der suspendierte Mitarbeiter des Toten Wolfgang Ackermann - und präsentieren lauter kleine Variationen der Wahrheit.

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Ursula Sternberg

 

 

 

 

 

Variationen der Wahrheit

 

oder

 

Von Liebe, Käse und anderen Dingen

 

 

 

 

Kriminalroman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitelübersicht
Variationen der Wahrheit
Die Personen
05. Oktober
22. September
05. Oktober
23. September
06. Oktober
24. September
06. Oktober
25. September
06. Oktober
26. September
06. Oktober
29.September
06. Oktober
30.September
06. Oktober
01. Oktober
06. Oktober
02. Oktober
06. Oktober
03. Oktober
06. Oktober
04. Oktober
05. Oktober
06. Oktober
08. Oktober
10. Oktober
11. Oktober
12. Oktober
13. Oktober
14. Oktober
15. Oktober
16. Oktober
17. Oktober
18. Oktober
19. Oktober
20. Oktober
24. Oktober
01. November
Elf Monate später...
Anhang
Über die Autorin
Impressum

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Andreas

Ohne dich, deine Ideen und deine Unterstützung am Anfang

hätte ich dieses Buch nie geschrieben.

Die Personen

 

 

 

Harald Schreiber liebt Frauen, Geld und Anzüge. Von Käse hat er keine Ahnung, von Gesetzen umso mehr. Wegen eines dieser Dinge verliert er sein Leben.

 

Renate Schreiber hat die Liebe neu entdeckt und findet Geld nicht wichtig, solange es vorhanden ist. Käse ist für sie kein Thema.

 

Anna Mandinsky hat Angst vor der Liebe und liebt ihre Ruhe. Käse mag sie in allen Variationen.

 

Wolfgang Ackermann liebt im Verborgenen und verliert seinen Job. Auch ihm ist Käse ziemlich egal.

 

Marcel Fouchard macht sich um Liebe keine Gedanken und stolpert hinein. Er macht den Käse, den andere lieben.

 

Frauke Burger weiß einiges von der Liebe und noch mehr von der Freundin. Natürlich isst sie Käse, aber auch eine ganze Menge mehr.

 

Hugo Rouvillion liebt den Käse und kann sich an die Liebe nicht mehr erinnern.

 

Commissaire Geouffre liebt nicht einmal sich selbst und hasst seinen Job. Welchen Käse man ihm auftischt, sollte man sich besser genau überlegen.

05. Oktober

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Den heftigen Schlag registrierte er eher durch das damit verbundene hässliche Geräusch, als dass er ihn spürte. Von der Wucht des Hiebes wurde Harald nach vorn geschleudert, knallte hart auf die Knie und spürte den Stoff seiner Hose reißen. Auf den Handballen schlidderte er über das Kopfsteinpflaster, kleine Steinchen bohrten sich unter die nachgebende Haut.

Oh Gott, verdammt... Instinktiv versuchte er sich hoch zu rappeln, wobei ihn der Schmerz verzögert, dafür aber umso intensiver erreichte. Blitzartig breitete er sich vom Schädel bis tief in den Rücken hinunter aus. Ihm wurde übel. Etwas Warmes rann über sein Gesicht, verschleierte seine Augen, vermischte sich mit Tränen. Ich sehe ... ich kann ... ich kann nicht mehr sehen ... Panisch krabbelte er auf allen Vieren, wahllos eine Richtung einschlagend, bloß weg, weg! Der zweite Schlag traf ihn am Hinterkopf. Nun spürte er nichts mehr.

 

 

Anna war völlig überdreht. Die Bilder des Nachmittags hafteten hartnäckig in ihrem Kopf. Sie purzelten durcheinander in unzusammenhängenden Sequenzen.

Müde und durchgefroren wie sie mittlerweile war, wollte sie jetzt nur noch schnell in ihr Zimmer. Sie hielt Ausschau nach einem Straßenschild. Im Schein einer Laterne nahm sie den Kampf mit den Falten des Straßburger Stadtplanes auf. Natürlich war die kleine Straße, die in den Platz nahe von ihrem Hotel mündete, mitten im Knick.

In der schmalen Gasse beschleunige Anna ihren Schritt. Verdammt dunkel hier, dachte sie und konzentrierte sich auf das schwache Licht, das ihr das Ende der Gasse ankündigte. Da, vor ihr auf dem Weg ... was zum Teufel war das? Scharf sog Anna die Luft ein und ließ sich in die Hocke nieder.

„Kann ich Ihnen helfen?“ Vorsichtig berührte sie den Mann an der Schulter. Er bewegte sich nicht. Seine Arme waren irgendwo unter dem Körper begraben. Mit einiger Überwindung tastete sie an seinem Hals nach dem Puls und packte hinein in zähflüssige Feuchtigkeit.

Hastig zog sie die Hand zurück. Es klebte. Ein eigenartiger Geruch ließ ihre Magensäfte katapultartig in die Höhe schnellen. Sie fing an zu würgen, würgte weiter, übergab sich, konnte gar nicht mehr aufhören, bis die Kontraktionen des Magens nur noch bittere Galle aufs Pflaster beförderten.

Schließlich taumelte sie benommen zum nächsten Hauseingang. „Vite, vite!“ Heftig trommelte sie an die nächstgelegene Tür und knallte immer wieder mit der Hand auf sämtliche Klingelknöpfe.

 

 

Missmutig betrachtete der Commissaire die Szenerie. Grelles Licht fiel jetzt auf den leblosen Körper. Die Leiche lag schräg auf dem Bauch, eine klebrige dunkle Spur breitete sich vom Kopf aus und verlor sich zwischen dem Kopfsteinpflaster. Der Schädel eingeschlagen. Schöne Sauerei. Widerwillig streifte er sich ein Paar Gummihandschuhe über und hockte sich vor die Leiche. „Wer hat denn hier so rumgekotzt, pfui Teufel!“

„Das war ich.“ Schüchtern löste sich Anna von der Hauswand.

„Bleiben Sie bloß weg hier. Sie können am Wagen warten, wenn Sie mir was zu sagen haben!“ Mit spitzen Fingern griff Geouffre in den Mantel hinein, fand die Brieftasche und studierte die darin enthaltenen Papiere. Harald Schreiber. Deutscher. Bonn. Bundeshauptstadt. Ach nein, das ist ja jetzt Berlin. Drei Photos, zweimal Kind, einmal Frau. Ein Haufen Karten. Visa. Euro Gold. EC. Master. Golden American Express. Platin. ADAC. Versicherung. Führerschein. Fahrzeugbrief für ein Mercedes Sportcoupé. Kleiner Flitzer, schweineteuer.

„Hallo, was haben wir denn hier.“ Leise pfiff Geouffre durch die Zähne. Ein EU-Kommissar. So ein Mist! Das riecht nach Überstunden, nach langen Nächten und einem ewig nörgelnden Chef. Und nach Einmischung durch die deutschen Behörden. Sauerkrautfresser. Merde!

Neben ihm ließ sich die Gerichtsmedizinerin in die Hocke nieder. Aufmerksam begann sie zu schnüffeln. „Irgendwas riecht hier seltsam“, stellte sie schließlich fest.

„Ich rieche nichts“, sagte Geouffre aggressiv. Ein dumpfes Grollen aus seinem Magen erinnerte ihn daran, dass er wie üblich nicht dazu gekommen war, vernünftig zu essen.

„Doch, es riecht streng hier“, beharrte die Ärztin. Sie beugte sich noch dichter an den Toten heran. „Irgendwie nach Käse, nach einem dieser Stinkkäse, die immer so den Kühlschrank verpesten.“

Hastig erhob sich Geouffre aus der unbequemen Position. Er wandte sich unauffällig beiseite, blies prüfend in die vorgehaltene Hand und schnupperte. Ein unangenehmes Gemisch von Latex und Hungermagen schlug ihm entgegen. Resigniert fischte er ein Pfefferminzdrops aus seiner Jackentasche. Ich bin doch Franzose, Herrgott noch mal! Immer dieses Fastfood. Von wegen französischer Lebensstil mit gemütlichen Mittagessen in kleinen Bistros ... verdammter Job! Und abends bekam er auch nichts Vernünftiges mehr auf den Tisch, seit Mathilde…

„Haben Sie das hier an der Wand gesehen, Commissaire?“, unterbrach der Mann von der Spurensicherung seine Gedanken. „Es fällt erst mal nicht sehr auf, deshalb – aber es ist noch frisch. Obwohl, richtige Farbe scheint das nicht zu sein.“

Missmutig sah Geouffre sich die Hauswand an. Die Schmiererei in dünnen, krakeligen Buchstaben an der Mauer war in der Tat leicht zu übersehen. „La bureaucratie, elle tue nos fromageries!“, buchstabierte er. „Die Bürokratie ruiniert unsere Käsereien.“ Ein frisch gesprühter Spruch über der frisch gemordeten Leiche eines Kommissars der Europäischen Union. Das kann ja heiter werden!

 

 

Anna saß immer noch auf diesem entsetzlichen Flur. Wartete. Irgendjemand hatte ihr einen Becher mit einer Flüssigkeit in die Hand gedrückt, an der sie sich die Zunge verbrannte. Die Plörre schmeckte bitter und erinnerte nur schwach an das, was man sonst Kaffee nennt. Müde versuchte Anna, auf dem orangefarbenen Hartschalensitz eine bequemere Position zu finden. Durch die nur angelehnte Tür drangen Gesprächsfetzen zu ihr. Irgendein unverständlicher Name wurde gesagt.

„...im Hotel Regent Petite France,“ verstand sie. „Allein ... erst heute Mittag angekommen ... nichts Auffälliges im Zimmer. Keine Anrufe ... Auto ... Tiefgarage des Hotels.“

„Da waren wir ja mal richtig fleißig, was? Und so schnell! Wollen wir Karriere machen, Albert?“ Der sarkastische Ton von Commissaire Geouffre war sehr viel deutlicher zu verstehen als das leise Gestammel seines Mitarbeiters.

„Unsere lieben Kollegen sind nun hoffentlich endlich alle hier eingetrudelt von ihren samstäglichen Vergnügungen. Hocherfreut und deshalb hochmotiviert, versteht sich. Trommeln Sie sie im Besprechungszimmer zusammen.“

22. September

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Käse! Kleine Meisterwerke, deren Rezepturen auf jahrhundertealter Kenntnis und Tradition basieren. Köstlichkeiten in zarten Farbtönungen, sich oft hinter unappetitlichem Äußeren und noch unappetitlicherem Geruch verbergend. Geronnene Milch, verschimmelte, angegammelte Substanzen.

Wie verzweifelt hungrig musste ein Mensch sein, um da freiwillig hineinzubeißen. Es zu schlucken, dieses alte, schimmelige, mit einer frischkäseähnlichen Substanz überzogene Butterbrot, das der Legende nach eine Woche in einer Höhle gelegen hatte. In dieser Zeit an diesem feuchten Ort hatte sich mit der Butter jene biochemische Reaktion vollzogen, die schließlich als Camembert in die Geschichte der Esskultur einging.

 

Taugte das als Einleitung für einen Artikel über französische Käse? Anna konnte sich nicht entscheiden. Wieder und wieder las sie die Zeilen durch, veränderte hier ein Wort, dort die Satzreihenfolge. Wie üblich zu Beginn einer Arbeit lähmte sie dieser fatale Wunsch nach Perfektion. Immer war das so bei neuen Artikeln. Führst dich auf, als ginge es um den Pulitzerpreis. Blöde Akribie, Mandinsky! Mach voran. Überarbeiten kannst du das später noch. Endlich raffte sie sich auf und schrieb weiter:

 

Über 370 verschiedene Käsesorten werden mittlerweile in Frankreich hergestellt, wobei nur die bekannteren Sorten gezählt wurden. Rechnet man die vielen bäuerlichen, noch manuell gefertigten Produkte als eigenständige Sorten, ohne sie einer der großen Gattungen zuzuordnen, ist die Zahl um ein Vielfaches größer.

Die französischen Käse lassen sich zunächst unterteilen in die groben Kategorien Frischkäse, Ziegenkäse, Weißschimmelkäse, Rotschimmelkäse, Blauschimmelkäse, Schnittkäse sowie Hartkäse.

 

Frischkäse

Neben den Produkten, die auf Quark basieren, gibt es eine Fülle von handwerklich hergestellten Spezialitäten, die so jung verzehrt werden, dass sich noch keine Rinde bilden konnte. Die Farbe ist weiß wie bei allen jungen Käsen, die Konsistenz von locker körnig bis cremig wird durch den Fettgehalt bestimmt, der zwischen 45 % und 75 % i.Tr. liegen kann. Die Frischkäse werden aus Ziegen-, Schaf- und Kuhmilch hergestellt und häufig mit Gewürzen, Kräutern, gehacktem Knoblauch oder Zwiebeln, aber auch mit Honig, Zucker oder Marmelade angereichert.

 

 

„Der Gesetzesentwurf wird der Europäischen Kommission am 07. Oktober zur Abstimmung vorgelegt.“ Harald Schreiber schaltete das Diktiergerät ab und seufzte. Er griff zum Telefon. „Frau Brammes, ich habe hier noch was für Sie, wenn Sie das bitte heute noch fertig machen könnten, es ist dringend.“

Er lehnte sich zurück und starrte aus dem Fenster, in Gedanken schon weit weg von der morgigen Sitzung der Europäischen Kommission, der er in seiner Funktion als Kommissar beiwohnen würde. Wie leicht ließen sich doch in vermeintlich neutralen Vorschriften Vorteile für die deutsche Lebensmittelindustrie unterbringen, dachte er zufrieden. Und sein eigener Vorteil war dabei nicht zu kurz gekommen...

Das müsste eigentlich gefeiert werden. Jetzt mit Renate die Stadt unsicher machen, so wie früher. Konzert, Oper oder einfach nur eine dieser gemütlichen Brüsseler Kneipen. Um seinen Mund legte sich ein bitterer Zug. Gesundheitlich nicht auf der Höhe, das hatte sie so lange erzählt, bis er nicht mehr gefragt hatte. Dumme Gans! So einen Krach zu veranstalten. Obwohl – gestört hatte es ihn ja erst mal nicht. Unwillkürlich musste er lächeln.

In seinen Gedanken wurde er durch Frau Brammes unterbrochen, die den Raum mit dem Diktiergerät genauso unauffällig wieder verließ, wie sie ihn betreten hatte. Gleichgültig sah Harald ihr hinterher. Ganz schön fetter Arsch. Und ohnehin viel zu alt. Aber deswegen hatte er sie ja schließlich eingestellt. Gedankenverloren strich er gegen die Borsten seines kurz gehaltenen Schnauzers.

Ein paar Minuten später registrierte er leicht verwundert, dass er schon wieder an Renate dachte. Er hatte erwartet, es würde sich von selbst einrenken. Aber nein! Es war bei diesem einen kühlen, distinguierten Wortduell geblieben. Und eingerenkt hatte sich gar nichts. Trist starrte er auf die eingerahmte Feininger -Reproduktion an der Wand. Vielleicht hätte er ja doch noch mal mit ihr reden sollen.

Schön, wenn sie jetzt hier wäre. Er seufzte. Unglaublich hübsch in letzter Zeit, richtig aufgeblüht, wirklich erstaunlich. Allerdings hätte sie ihn vorher fragen sollen, ob sie sich die Haare kurz schneiden lassen darf. Wirklich schockierend, alles ab, die ganze Pracht. Aber sie sieht jünger damit aus, knabenhaft, attraktiv. Ein Grinsen zog über sein Gesicht. Sie hatte sich schön gemacht für ihn. Seine Kleine! Er musste sich einfach wieder mehr um sie kümmern, sie mitnehmen, keine Widerrede dulden.

 

 

Sacht strich Marcel Fouchard über die verwitterten Kanten seiner Bank. Dunkel war sie, die Bank, aus hartem Holz gesägt und geschnitzt. Jede Pore ihrer rissigen Oberfläche schien eine Geschichte zu erzählen. Man musste sich nur die Mühe machen und zuhören, und schon erschienen sie, die Reihen von Hinterteilen, die sich über Jahrzehnte auf dieser Fläche breit gemacht hatten. Gehüllt waren sie in die unterschiedlichsten Stoffe. Leder. Samt. Leinen. Baumwolle. Jeans. Windeln. Dicke Hinterteile, ausladend wie Pferdebacken, hungrige Gestalten, durch die die Sitzbeine stakten, sanft geschwungene, birnenförmige Rundungen mit matt schimmernder Haut, hängende, faltige Altershintern, schwielige Reitergesäße, seufzende, furzende, sehnsüchtige Ärsche und solche, zu müde, um Sehnsucht zu haben. Die warme Spätsommersonne schmeichelte sich in seine träge dahinplätschernden Gedanken, trieb die Vielzahl dieser Bilder vor sich her und waberte wie etwas zu dünn geratener Kartoffelbrei durch die Winkel seiner Gehirnwindungen. Schließlich trieb er den letzten Po, den runden, weichhäutigen, einladend sanft geschwungenen, in eine kleine Gehirnzelle, sperrte ihn dort ein und öffnete die Lider.

Das helle Licht trieb ihm die Tränen in die Augen, so dass er den See zunächst nur verschwommen wahrnahm, der sich südlich vor den bereits in schattige Graufärbung gehüllten Bergen der Vogesen erstreckte. Er liebte diese Aussicht, kam in ihr zur Ruhe. Jeden Nachmittag freute er sich aufs Neue an diesem Blick. Das, genau das war es, was er gesucht hatte, als er sich vor zwei Jahren hier niedergelassen hatte. Jawohl! Er, Marcel Fouchard, hatte dem ganzen Mist den Rücken gekehrt und war einfach gegangen.

Das Stadtleben vermisste er nicht. Hektik, Lärm, Gestank und viel zu viele Menschen auf einem Haufen. Glänzende Schaufenster, sülzende Frauenstimmen ´Bitte berücksichtigen Sie auch unsere Sonderfläche im ersten Stock´. Obdachlose, die im Februar auf ihren ausgebreiteten Zeitungen auf dem Pflaster erfroren. Nicht eine Träne hatte er diesem Leben bisher nachgeweint.

Auch nicht seiner Arbeit. Konkurrenz, Ellenbogen, Schleimerei. Und diese permanente Bornierung auf diese bescheuerten Karren! ´Design´ nannte sich das. Ein Auto ist und bleibt ein Auto. Ein Mittel, um von Punkt A nach Punkt B zu kommen. Funktional und technisch sicher, so weit so gut. Aber mehr eben auch nicht. Landeten sowieso auf Halde, die Kisten. Weil es nämlich viel zu viele davon gab, letztendlich. Schickere, modernere, schnellere. Noch schnellere, schickere, modernere. Produktion für die Halde, nicht billig genug und deshalb nicht zu gebrauchen. Zu gebrauchen natürlich, aber eher wurde das Zeug verschrottet als verschenkt. Ebenso wie Butter. Oder Obst. Oder Kaffee. Oder... Auf jeden Fall kein guter Grund, dauernd diese irrsinnigen Zwölf-Stunden-Schichten zu schieben. Es taugte bestenfalls zum Kohle machen und dabei Nerven zu lassen. Und noch mehr Nerven zu lassen. Und ein Nervenbündel zu werden.

Und dann seine Frau. Warf ein paar Klumpen Lehm auf eine Leinwand und träufelte Menstruationsblut darüber. Oder machte Reliefs aus blutigen Tampons und eingetrockneten Monatsbinden. Mutter Erde nannte sie diese unappetitlichen Absurditäten, oder Die Notwendigkeit der Befreiung, oder Female revolution. Und so was nannte sie politische Aktion!

Ob sie sich damit von ihm, vom Tampon oder von der Menstruation befreien wollte, war ihm nie so ganz klar geworden. Er hatte auch keine Lust, das zu verstehen. Vollkommen abgedreht, das Weib, mittlerweile. Früher war sie ganz vernünftig gewesen.

 

 

Anna langweilte und ärgerte sich gleichermaßen. Diese Typen! Wo kam bloß immer dieser Profilierungsdrang her? In der letzten Stunde hatte dieser hier ihr ununterbrochen mit Anekdoten aus seinem Büro- und sonstigem Leben zu verstehen gegeben, was für ein wichtiger und interessanter Mann er doch war. Nun hatte sie das Wort.

„Grundstoff bei der Käseherstellung ist das Milcheiweiß, Fachbegriff Kasein. Durch bakterielle Milchsäuerung bei Sauermilchkäse oder mit Hilfe von Lab bei Süßmilchkäse wird dieses Kasein ausgeschieden. Spezielle Zusätze, Verfahren, Reifungsgrade bestimmen den Charakter des Endproduktes.“ Anna leierte die Worte mehr, als dass sie sie sprach.

Sein Blick bettelte um Erlösung.

Klar. Das Thema interessiert dich nicht die Bohne. Aber selbst dran schuld, warum fragst du auch so blöd. Trocken fuhr Anna fort: „Zu den den meisten deutschen Bürgern bekannten Sauermilchkäsen gehören solche Schaurigkeiten wie Harzer, Limburger, Korbkäse oder Kochkäse.“ Bedauernd dachte sie an ihren gemütlichen Bademantel, das blaue Sofa und einen unterhaltsamen Schmöker.

„Das ist wirklich sehr beeindruckend, was du alles darüber weißt.“ Er versuchte, ihr tief in die Augen zu blicken, während seine Linke ihr Knie berührte.

Sie zog es beiseite. Wie gönnerhaft. Natürlich weiß ich Bescheid, ist ja schließlich mein Job!

Gnadenlos fuhr sie mit ihrem Monolog fort: „Eines größeren Beliebtheitsgrades erfreuen sich Süßmilchkäse, die am besten so jung sind, dass sie nach gar nichts schmecken. Ich meine hiermit Gouda, Edamer, Tilsiter und absolut schnittfesten Brie.“ Gut sah er ja aus, ein Don-Johnson-Verschnitt mit verwegenem Schopf, der ihm in die Stirn fiel, und draufgängerischem Blick. Sie gähnte ausgiebig. Reicht nicht. Reicht überhaupt nicht. Diese unerfreuliche Selbsteinschätzung. Blödes Katergepinkel!

„Anna, lass uns doch irgendwo noch gemütlich was trinken gehen!“ Flüchtig drückte sein Knie gegen ihres.

„Ich bin noch nicht fertig“, erwiderte Anna streng. „Zum ausgefeilteren Käsegeschmack gehört natürlich der Genuss von Emmentaler oder einem reiferen Camembert.“ Mit ironischem Glitzern in den Augen sah sie ihn an. „Ich vermute, du mit deiner weltmännischen Erfahrung hast diesen ausgefeilten Geschmack. Das habe ich mir gleich gesagt, als ich dich gesehen habe: dieser Mann isst nicht Gouda, nein, er isst Camembert!“ Ihr Ausdruck hatte jetzt etwas ausgesprochen Gehässiges. Aber jetzt wird die Balz abgekürzt. „Ich möchte nun wirklich gehen, ich muss morgen sehr früh raus.“ Sie winkte den Kellner heran.

„Halt, stopp, ich lade dich ein!“ Eilfertig zückte er seine Brieftasche.

„Danke nein, ich zahle selber.“

„Aber dafür, dass ich eine so aufregende Frau kennen lernen durfte, möchte ich gern ein kleines Dankeschön aussprechen“, protestierte er lächelnd.

Ich und aufregend. Sonst noch was? Aber gut. Wenn du dein Geld unbedingt in eine aussichtslose Sache investieren möchtest ... Resigniert zuckte Anna mit den Schultern und stand auf.

 

 

Anna rannte die Treppen zu der kleinen Dachgeschosswohnung hinauf, wobei sie immer zwei Stufen auf einmal nahm. „Mach das nicht noch mal“, drohte sie, als sie oben ankam.

Frauke ließ sie wortlos ein.

Wütend rauschte Anna ins Wohnzimmer. Die Arme angriffslustig vor sich verschränkt, baute sie sich vor dem üppigen Benjamin auf und legte los. „Fragst mich, ob ich Lust hätte, mit dir eine Kleinigkeit essen zu gehen, verschwindest dann mit einer fadenscheinigen Begründung und lässt mich mit diesem blasierten Affen da hängen? Ich finde Käse wahnsinnig aufregend ... blubb, blubb, blubb. Du tickst wohl nicht ganz richtig!“

„Jetzt mach mal halblang.“ Auch Frauke verschränkte die Arme vor ihrem schmalen Körper. „Es ist ein Bekannter von Rainer. Wir dachten, du würdest ihn vielleicht mögen. Du übertreibst ein bisschen mit deinem igeligen Einsiedlerdasein, und deshalb...“

„Ist ja reizend“, unterbrach Anna sie brüsk. „Da gluckt meine beste Freundin mit meinem Verflossenen zusammen und versucht, mich zu verkuppeln. Ich sehe schon die Annonce vor mir ´Suche lieben Mann für Ex-Geliebte, damit ich sie in guten Händen weiß´. Wirklich rührend.“

Störrisch reckte Frauke ihr Kinn nach vorn. „Wir machen uns Sorgen um dich, verdammt noch mal. Merkst du eigentlich nicht, wie gereizt und unausgeglichen du in letzter Zeit bist?“

„Unausgeglichen? Auch das noch! Und deshalb diagnostizierst du, mir fehlt ein Mann. Klasse. Fragen Sie Frau Frauke! Du bist ja wohl nicht ganz gescheit. Treibst dich selber schon jahrelang zufrieden alleine in der Gegend herum und hetzt mir ausgerechnet so einen an den Hals. Ein bisschen besser solltest du mich eigentlich kennen. Ich bin stinksauer!“

„Okay, es war eine blöde Idee. Vergiss es. Wird nicht wieder vorkommen.“ Verlegen wuschelte sich Frauke durch das strubbelige Haar. „Aber wo wir nun mal gerade beim Thema sind – jetzt machen wir wirklich reinen Tisch. Ich treibe mich nicht mehr alleine in der Gegend herum. Ich habe mich mit Rainer zusammengetan.“

Anna sah sie sprachlos an.

„Mach den Mund zu. Hat sich halt so ergeben. Wir wollten es dir nicht gleich auf die Nase binden, hätte ja auch schnell wieder vorbei sein können. Es ist aber richtig schön. So schön, dass wir tatsächlich zusammenziehen wollen. Und das ausgerechnet mir!“ Unsicher lächelte sie Anna an. „Schlimm?“

Anna war immer noch entgeistert. Frauke ... mit Rainer zusammen getan... Diese Worte ergaben keinen Sinn, stoben als einzelne Begriffe durch ihr Hirn und fügten sich nur langsam zu einem verständlichen Inhalt zusammen. Schließlich fing sie leise an zu kichern. „Du und Rainer? Das ist zu komisch!“

„Haha, ich lache mich tot.“

Abrupt hörte Anna auf, zu lachen. „Verdammt! So war das doch nicht gemeint, wirklich nicht. He Kleine, komm.“ Sie nahm Frauke in die Arme und drückte sie fest. „Viel Glück, euch beiden! Vielleicht könnt ihr ja besser miteinander umgehen als wir damals.“

 

 

Das Wasser, schmeichelnd warm, legte sich um den Körper als gewichtslose, nach Zedernholz duftende Hülle. Wohlig dehnte und streckte Marcel sich und lockerte die müden Muskeln. Aus dem Wohnraum drang in weichen Klängen Stan Getz´ Tenorsaxophon in seine in der Wärme der Wasserdämpfe entspannten Sinne ein. Marcel formte ein bizarres Gebilde aus Badeschaum, pustete sachte hinein und beobachtete die leichten Fetzen, die träge durch die Luft trieben.

Als das Wasser kühler wurde, warf er dem Ungetüm von Boiler einen resignierten Blick zu. Wie gerne würde er jetzt heißes Wasser nachlaufen lassen und noch eine Weile vor sich hin dösen. Aber das Relikt aus den Zwanzigern wurde mit Kohle beheizt und brauchte eine Stunde, um das Wasser zu erhitzen. Ein Tank reichte gerade aus, die monströse Wanne zu füllen, die sich auf geschnörkelten Füßen von der schwarzgrauen Kachelung des Bodens erhob.

Marcel betrachtete seine verschrumpelten Finger. Er hievte sich aus der Wanne, trocknete sich ab und vollführte zu Girl from Ipanema ein paar herausfordernde Tanzschritte auf den Spiegel zu. „Na ja, ein kleines bisschen mollig bist du ja“, sagte er kritisch zu seinem Spiegelbild. „Aber schon wesentlich besser als damals in Paris!“ Freundlich tätschelte er seine rundliche Hüfte, grinste sich an und wackelte mit dem Hintern. Eingewickelt in einen kimonoähnlichen glänzenden Morgenmantel tanzte er zum Kühlschrank, holte sich ein Glas Weißwein und schaltete die Nachrichten ein.

„...gab es Protestmärsche im ganzen Land gegen die geplante Landwirtschaftsreform. Mehrere tausend Bauern haben die Zufahrtsstraßen nach Paris blockiert, indem sie ganze Wagenladungen faulen Obstes auf die Fahrbahn kippten.“ Marcel grinste.

 

 

Der Höhepunkt kam schnell und heftig. Ineinander verknäult blieben sie auf dem flauschigen, weichen Teppich liegen. Renate Schreiber dehnte sich wohlig, wodurch sich die feuchte Haut ihres Bauches mit einem schmatzenden Geräusch von seiner trennte.

Nie hätte sie geglaubt, dass Sex einmal eine so große Rolle für sie spielen würde, und schon gar nicht, dass er so viel Spaß machen könnte. Seit über einem Jahr ging das nun so. Sobald sie alleine waren, fingen sie an, sich anzufassen, zu streicheln und die Schichten von störenden Kleidern beiseite zu raffen. Sie sehnte sich nach diesen Begegnungen mit einer Heftigkeit, die sie selbst überraschte, sie begehrte ihn mit der ganzen Intensität von zwanzig verlorenen Jahren. Anfangs liebten sie sich auf unbequemen Autositzen, nassen, stacheligen Wiesen und in schäbigen Hotelzimmern. In dem kleinen Café mit den roten Plüschnischen, in dem sie sich oft trafen, streichelten sie sich unter dem Tisch, mit lächelndem, fest verschlossenem Mund jeden Laut unterdrückend und immer bereit, die Hände sofort zurückzuziehen, wenn die Bedienung vorbeikam. Später dann, nach einem halben Jahr, gestalteten sie es sich etwas komfortabler. Wenn Harald beruflich unterwegs war, genossen sie nun die Vertrautheit eines gemeinsamen Erwachens und ein gemeinsames Frühstück, als wären sie ein richtiges Paar.

„Babuschka“, flüsterte Wolfgang ihr ins Ohr. „Kleines Mütterchen.“ Dabei strich er ihr ganz zart über die Lippen.

Sie biss zu.

„Autsch“, rief Wolfgang.

Renate gab den Finger wieder frei. „Mütterchen! Du Frechdachs! Aber ich bin wirklich...“

„Ich weiß“, unterbrach er sie. „Du bist sechseinhalb Jahre älter als ich, alle Leute lachen über uns und fragen sich, wie denn dieser junge, göttliche Adonis mit dem vollen Haarschopf“ – er tätschelte seinen unverkennbaren Bierbauch und strich sich über die Halbglatze – „zu so einer faltigen, alten Vettel kommt.“

Sie tastete nach dem erstbesten Gegenstand, den sie zwischen die Finger bekam. Lachend richtete sie sich auf und warf ihm voller Wucht ihren Schuh vor die Plauze.

„Wie rabiat!“

Renate lachte immer mehr, um die Augen breitete sich ein Netz von kleinen Fältchen aus.

Wolfgang rollte sich auf den Rücken und zog sie halb auf sich herauf. Mit beiden Händen griff er ihr ins kurz geschnittene Haar, in dem sich einige graue Strähnen breit machten, zog ihren Kopf zurück und sah ihr in die Augen. „Ich verzehre mich nach deinen Runzeln, Babuschka.“

„Es scheint so, als würdest du nicht lügen.“ Renate schmunzelte und rollte sich vollends auf ihn. „Im Augenblick zumindest.“

 

 

Müde schloss Anna die Tür zu ihrer Wohnung auf. Wie immer brannte die kleine Lampe in der Diele, denn sie hasste es, in eine dunkle Wohnung zu kommen. Sie streifte die halbhohen Pumps von den Füßen und ließ sie zusammen mit dem weichen Microfasermantel mitten in der Diele liegen. Auf ihrem üblichen Rundgang durch die Wohnung schaltete sie überall Licht an.

„Hallo Olli“, sagte sie, als sie das vertraute Reißen und Knacken am alten Weidenkorb in der Diele hörte.

Er schritt langsam auf sie zu, maunzte einmal laut und begann mit seinem Ritual: Beine lang nach vorne dehnen, Schultern und Kopf zum Boden hin, dabei den ganzen Rücken nach hinten ziehen, den Hintern hoch in die Luft gereckt, den Schwanz als Verlängerung der Linie weit ausgefahren. Nun das rechte Bein noch ein Stückchen weiter nach vorne dehnen, die Krallen leicht in den Teppichboden schlagen, dasselbe mit dem linken Bein. Fertig. Ausgiebiges Gähnen, begrüßend um die Beine streichen, und mit zum Fragezeichen gebogenen Schwanz verschwand der Kater auffordern in der Küche.

Anna streifte Jeans und rotes T-Shirt ab, ließ die Unterhose als kleines Häufchen auf dem Schlafzimmerteppich zurück und stieg in den alten, ausgeleierten Pyjama.

Erneut strich ihr Olli um die Beine, um dann wieder demonstrativ in Richtung Küche zu verschwinden. Diesmal drehte er sich auf halber Strecke um und beobachtete, ob Anna ihm folgte. Er stieß eine Reihe von Maunzlauten der unterschiedlichsten Färbungen aus.

„Ja ja, ich komm ja schon“, brummte sie und nahm den Plastikverschluss von der Dose. „Lecker, Krabbentöpfchen! Puh, dass das Zeug so stinken muss!“ Angewidert verzog sie das Gesicht.

Olli, der bis dahin aufgeregt auf der Stelle getrippelt hatte, roch einmal kurz daran und sah sie vorwurfsvoll an.

„Das habe ich heute Morgen frisch aufgemacht“, verteidigte sich Anna. „So hungrig kannst du nicht sein, sonst würdest du es fressen, du Snob.“

Mit einer Flasche trockenem Riesling-Sekt aus dem Kühlschrank ließ sie sich im Wohnzimmer auf ihrem kobaltblauen Sofa nieder. Sie entkorkte die Flasche und schenkte sich ein Glas ein. Aus der Küche kam lautes Schmatzen. „Na also, geht doch“, rief sie. Mit angezogenen Beinen kuschelte sie sich in die Sofaecke.

„Prost Rainer“, sie trank dem roten Sessel zu, „prost Frauke, lasst es euch gut gehen.“ Schnell stürzte sie den Sekt in sich hinein, schenkte nach und trank in großen Schlucken. Nachdenklich starrte sie auf den bunten Blumenstrauß auf dem Glastisch. Rainer und Frauke. Seltsam. Frauke und Rainer? Diesen Gedanken verfolgte sie mir einem weiteren Glas. Noch seltsamer. Erneut füllte sie auf. Die beiden zusammen im Bett? Übersteigt mein Vorstellungsvermögen. Hätte ich nie geglaubt. Wo ich die beiden doch so verdammt gut kenne.

„Prost, ihr Mistviecher!“, sagte sie laut. „Ja, ich kenne euch. Ich kenne euch wirklich gut. Aber ihr, ihr kennt mich gar nicht. Überhaupt nicht. Hetzt mir diesen Typ da auf den Hals, diesen Schleimsack!“ Sie schüttelte sich und griff erneut nach der Flasche. Die war fast leer. „Rennen denn nur solche Idioten herum?“ Ganz leise fing sie an zu weinen. „Scheiße, nicht heulen“, schimpfte sie und biss die Zähne zusammen. Aber jetzt ging es erst richtig los.

Der Kater sprang zu ihr auf die Couch und leckte ihre Hand.

„Ach Mist“, schluchzte sie, während er es sich auf ihrem Schoß bequem machte. „Ich weiß überhaupt nicht, was los ist. Ich will doch gar nichts mehr von ihm.“ Sie heulte noch eine ganze Weile weiter.

Mit gespitzten Ohren sah Olli sie aufmerksam an. Als sie sich langsam beruhigte, begann er zu schnurren. Er boxte ihr den Kopf unters Kinn, sie legte den Arm um seinen schwarzen Wanst. Der Kater schien zu seufzen, als er sein ganzes Gewicht in ihre Armbeuge rutschen ließ.

Auch Anna seufzte, kuschelte sich noch ein Stück tiefer ins Sofa und schlief erschöpft vom Weinen ein.

 

 

Der erste, wohlig entspannte Schlaf war vorbei. Ruhelos wälzte Renate sich von einer Seite auf die andere. Um Wolfgang nicht zu stören, stand sie schließlich auf, hüllte sich in ihren Mantel und sah aus dem Fenster.

Lichter der Großstadt, dachte sie und hatte plötzlich die Melodie von Chaplins Limelight im Ohr, unsagbar rührend und traurig. Die Stirn gegen das kühle Glas gepresst pfiff sie leise vor sich hin: Dadadidadi dadidadi ... Morgen würde Harald aus Brüssel zurückkommen ... dadadidadi, da di da da... Er würde ihr ausführlichst von den zwei Sitzungstagen der Europäischen Kommission berichten und seine eigenen Beiträge minutiös fast wörtlich zitieren. Renate fing an zu gähnen und spürte, wie die alte Müdigkeit sie wieder einzufangen drohte.

Nein! Sie löste sich von der Scheibe und straffte ihren Körper. Sie sah nun klar vor sich, was sie zu tun hatte.

05. Oktober

„La bureaucratie, elle tue nos fromageries!HmHm.“ Nachdenklich drückte Commissaire Geouffre den linken Zeigefinger mit der rechten Hand so weit nach hinten, bis es laut knackte. „Das waren doch diese Bauerntölpel heute, die randaliert haben. Jemand soll sich mit der Bereitschaftspolizei in Verbindung setzen, Robert, ja!“ Er ignorierte den knurrenden Magen und befühlte seine lange Nase. „Versuchen Sie, etwas über die Demonstration herauszubekommen. Wenn das wirklich damit zusammenhängt, können wir einen Heuhaufen durchsuchen!“

Prüfend sog er die Luft durch die Nase ein und registrierte den dumpfig unangenehmen Geruch, der seinen Atem anfüllte wie von Bakterien durchsetztes Fleisch in einem zu warmen Raum. Er griff zum Telefon. „Ich brauche etwas zu essen“, knurrte er in den Hörer. „Na, Gratin von Steinpilzen, Morcheln und feinen Trüffeln an in Honig gebratenen Wachteln natürlich. Mon Dieu, es ist mir vollkommen egal, was, nur bitte nicht schon wieder dieses Käsebaguette!“ Mit zornigem Blick bedachte er die Runde.

„Wer kümmert sich um die Frau, die die Leiche gefunden hat? Musste die so rumkotzen, die blöde Gans? Anette! Ein bisschen weibliches Mitgefühl bitteschön, so von Frau zu Frau. Vielleicht hat sie ja doch etwas bemerkt. Gehen Sie das Ganze noch mal mit ihr durch, und dann bringen Sie sie nach Hause. Morgen will ich sie selber sprechen. Nein, ich weiß noch nicht, wann wir hier so weit sind. Sie soll sich bereithalten. Ein bisschen merkwürdig ist das schon, Deutsche findet Deutschen in Straßburg, tot...“

Er begann, sich die Schläfen zu massieren.

Es war spät und alle waren müde. Im Raum war es still, denn jeder duckte sich gewissermaßen, um ja nicht um diese späte Stunde mit einer unliebsamen Aufgabe bedacht zu werden.

„Olivier, Sie setzen sich mit den Herren Kollegen in Bonn in Verbindung. Die sollen alles zusammenstellen, was sie über den Toten haben. Und über die Frau auch, die glückliche Finderin. Schaffen Sie mir morgen früh die Mieze vom Rechenzentrum ran, wir brauchen eine Verbindung nach Bonn. Besprechen Sie das mit den Fritzen in Bonn, ja. Aber Fingerspitzengefühl, bitte!“ Mit zusammengezogenen Brauen starrte er Olivier an, um dann jedem der übrigen Anwesenden die gleiche Drohung zu übermitteln. „Das gilt für alle, die an diesem verdammten Fall arbeiten, ist das klar! Der Mann ist Politiker, und wir müssen die Sauerkrautfresser bei Laune halten. Ich selbst nehme mit der Europäischen Kommission Kontakt auf. Das wird jetzt am Wochenende vermutlich nicht einfach sein. Aber zunächst werde ich mit unserem Chef sprechen müssen. Es ist ohnehin fraglich, ob da nicht unsere lieben Freunde von der Sécurité eingeschaltet werden. Also noch mal: Fingerspitzengefühl! Haltet euch gefälligst dran.“

Gereizt nahm er das Päckchen in Empfang, das seine Sekretärin ihm brachte. „Oh, danke, Mademoiselle! Sie wissen doch wirklich, was gut für mich ist.“

„Es gab nur das“, lautete gleichgültig die Antwort.

Mit spitzen Fingern zog er ein schwabbeliges Baguette aus seiner Cellophanumhüllung. Zwischen den Hälften lappten welker Salat und blässlich trockener Bonbel armselig hervor. „Mein Gott!“, murmelte Geouffre und biss hinein.

23. September

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Welch liebliches Antlitz“, knurrte Anna, während sie ihr vom Weinen verquollenes Gesicht im Spiegel betrachtete. Das Kreuz tat ihr weh vom Schlafen auf dem Sofa, und in ihrem Schädel pochte es heftig. Sie klatschte sich viel kaltes Wasser ins Gesicht. Nach zwei Bechern Kaffee ging es langsam besser. Sorgfältig kaute sie auf einem trockenen Brotkanten herum.

Ich sollte nicht trinken, wenn ich schlecht drauf bin, schimpfte sie. Blöde Kuh. Dieser Weltschmerz! Ich habe doch Glück gehabt, schoss es ihr durch den Kopf. Nachdenklich schob sie die Krümel auf dem Küchentisch zu einem Häufchen zusammen und fegte die Krümel in ihre Hand. Sie hatte wirklich Glück gehabt. Denn gerade als ihr bewusst wurde, dass ihre Beziehung schon lange dieses ungesunde Stadium des gleichgültigen nebeneinander her erreicht hatte, das leider so typisch für ein langjähriges Zusammenleben zu sein schien, wurde im Vorderhaus über ihrem Käsehandel eine Wohnung frei, zwei luftige Altbauzimmer mit Wohnküche, kleinem Balkon und Blick über die Hinterhöfe. Kurz entschlossen hatte sie die Gelegenheit genutzt. Dabei wollte sie ursprünglich nur eine räumliche Trennung vollziehen, denn sie hatte gehofft, die Liebe würde sich dadurch beleben und, vom Alltagsmüll entrümpelt, wieder spannender und interessanter werden. Es zeigte sich schnell, dass das Gegenteil der Fall war. Die erotische Beziehung starb einen schnellen Tod und zurück blieb so etwas wie Freundschaft, basierend auf acht Jahren gemeinsamen Lebens. Rainer und sie sahen sich nur noch relativ selten.

Es war so einfach gewesen und auch wieder nicht. Denn wenn Anna ganz ehrlich war, dann spürte sie tief in sich einen leisen Groll. Zu leicht hatte Rainer sich in die Situation gefügt, die Veränderung einfach akzeptiert ohne sichtbare Trauer. Keine Verzweiflung, keine Wut. Er hatte sie gehen lassen, gerade so, als wäre diese Trennung ihm insgeheim recht gewesen, als hätte er sich bereits lange vorher innerlich von ihr verabschiedet und den Vollzug ganz einfach ihr überlassen. Das war´s, was wehtat.

Ach egal. Schnee von gestern. Anna gähnte ausgiebig, kratzte sich den Kopf und verschwand wieder im Badezimmer. Eigentlich fühle ich mich viel wohler so. Mit verkatertem Lächeln bedachte sie ihr immer noch etwas desolat wirkendes Spiegelbild.

Von Olli begleitet schleppte sie ihre Reisetasche nach unten ins Geschäft. Der Flachbau, an dem Wein empor rankte, lag im Hinterhof. Eine Eisentreppe, eine rote Metalltür, dahinter ein Büro, geziert mit einer Ansammlung von Gebrauchtmöbeln. Hinter dem Büroraum gab es mehrere unterschiedlich temperierte Kühlräume. Hier lagerten die Käse. An einer Seite des Flachbaus führte eine Verladerampe direkt zur Einfahrt des Hinterhofes, wo die beiden Kleinlaster mit dem ebenfalls kühlbaren Laderaum standen.

 

 

Mit geschlossenen Augen ertastete Marcel Fouchard den Wecker und versetzte ihm einen wohlgezielten Schlag. Es war noch früh, gerade mal halb sieben. In embryonaler Haltung zusammengerollt blieb er noch ein Weilchen liegen, schälte sich dann grunzend aus der Decke und tappte auf nackten Füßen zur Küche.

Marcel hasste Kaffeemaschinen. Das Zeug, was da herauskam, schmeckte immer miserabel. Deshalb machte er sich die Mühe, seinen Kaffee mit der Hand aufzubrühen und mit heißer Milch aufzufüllen. Mit kleinen Schlucken trank er den café au lait und kaute ein Stück trockenes Baguette.

Duschen, Anziehen, Hundefutter mischen. Den Napf in der Hand trottete er die ausgetretenen Holzstiegen hinunter.

„Auf geht´s, Armand“, rief er dem gefleckten Mischling zu, der in seiner ganzen beachtlichen Größe wie üblich noch ziemlich verschlafen mitten im Stallraum lag. Während der Hund sich über das Futter her machte, betrachtete Marcel geruhsam den See und atmete die morgendliche Stimmung in sich hinein. Dichte Nebelschleier hingen über dem Lac de Schiessrothried und gaben ihm ein märchenhaftes, unwirkliches Aussehen. An einigen Stellen schimmerte das Wasser durch die Schwaden, von der verhangenen Morgensonne schwach erleuchtet. Die Berge auf der gegenüberliegenden Seite waren noch vollständig in Wolken gehüllt.

Schließlich ging er hinüber zu dem Jeep mit dem Anhänger, auf dem die gereinigten Milchkannen vom Vortag in einer Gitterkonstruktion mit Halteringen abgestellt waren. Über einen Schotterweg holperte der Wagen hinauf in die Berge. An einer Kreuzung standen bereits fünf große Kannen am Wegrand, gefüllt mit noch warmer, leicht schäumender Ziegenmilch.

Marcel tauschte volle gegen leere Gefäße und trug Anzahl und Datum unter dem Namen des Bauern in sein Buch ein. Insgesamt achtunddreißig Kannen Milch waren an diesem Tag an seiner Route abgestellt, das würden 380 bis 400 Liter ergeben. Zurück auf dem Hof fuhr er direkt an die Rampe des mittlerweile zur Käserei umfunktionierten Wirtschaftsgebäudes, hob die Kannen auf den bereit stehenden Handkarren und zog sie nacheinander in den Kühlraum hinein.

„Salut René, salut Jaques“, rief er in den benachbarten Raum hinein. „Wie geht´s?“ Während die beiden die Vorbereitungen für die Fertigung der Rohmasse trafen, begann Marcel, Proben von der frischen Milch zu entnehmen und sie auf Bakterien hin zu untersuchen.

 

 

Als sie hörte, wie die Haustür geöffnet wurde, versteifte Renate sich am ganzen Körper. Seit sie ihre Kleider, die wichtigsten Unterlagen, Bücher, Bilder und persönlichen Gegenstände zusammengerafft und weggebracht hatte, fürchtete sie sich vor diesem Augenblick und versuchte, sich innerlich zu wappnen. Wieder und wieder hatte sie die Worte gedreht und gewendet, die sie ihm sagen wollte. Sie hatte den Tonfall geprobt, auf ihre Stimmlage geachtet und sich dabei beobachtet wie eine Schauspielerin. Trotzdem war sie nicht vorbereitet.

„Renate, ich bin wieder da“, schallte es von unten herauf. „Wo bist du?“

Dem geschäftigen, energischen Hantieren lauschend spürte sie, wie seine geballte Energie sich den Weg zu ihr nach oben bahnte. Wie einfach wäre es doch, sich davon einlullen zu lassen. Langsam ging sie die Treppe hinunter. Da stand Harald, silbergraues volles Haar, leicht gebräunt und frisch nach Karl Lagerfeld duftend.

„Du, ich war brillant“, rief er ihr zu und strahlte sie aus blauen Augen an. „Ich habe fast alle überzeugt!“

Er gab ihr einen Kuss, hakte sich bei ihr ein und zog sie ins Wohnzimmer.

Nur nicht schwach werden. Er absorbiert mich, saugt mich auf.

„Ach, übrigens kommt Monsieur Fabian morgen Abend zum Essen, bestell doch bitte einen Tisch für uns drei im l’orquivit“, tönte es weiter. „Er findet dich ja so charmant.“

Mit einem Ruck machte Renate sich von ihm los.

„Ihr werdet ohne mich auskommen müssen.“ Sie brachte ein paar Meter Distanz zwischen sich und seine sie lähmende Energie. „Ich ziehe aus, ich möchte mich scheiden lassen.“

Warum dieser kraftlose Ton, dachte sie ärgerlich.

„Was möchtest du?“

Vor Überraschung vergaß Harald, den Mund zu schließen, was Renate plötzlich ein Gefühl der Sicherheit gab.

„Aber ich war diesmal wirklich ganz brav“, protestierte er schließlich. „Das meinst du doch nicht ernst!“ Er grinste sie jungenhaft charmant an.

Diese Selbstgefälligkeit! Angewidert trat sie einen Schritt beiseite, als er mit ausgebreiteten Armen auf sie zukam.

„Ich Schuft habe dich vernachlässigt. Komm, ich will dich verwöhnen, Häschen.“ Dazu ein vielsagendes Lächeln. „Ab sofort begleitest du mich wieder nach Brüssel, damit du nicht mehr auf so dumme Gedanken kommst.“

Wie schafft er es nur, alles immer so zu seinen Gunsten zu deuten! Diese wahnsinnige Selbsteinschätzung, diese Vereinnahmungsversuche! Renate war nun sehr ruhig. Anstatt weiter auszuweichen, blieb sie stehen und taxierte ihn kühl. Sie stand so dicht vor ihm, dass sie die Minze seiner Zahnpasta roch. „Fass mich nicht an, Harald.“

Überrascht trat er einen Schritt zurück.

„Und sag nicht Häschen zu mir. Ich kann es nicht ausstehen.“ Sie starrte ihm noch einen Moment in die Augen.

Dann drehte sie sich um und zündete sich betont langsam eine Zigarette an. Er mochte es nicht, wenn sie rauchte. Nervös nahm sie einen Zug, während sie beobachtete, wie die selbstgefällige Mine einem irritierten Ausdruck Platz machte.

Jedes Wort einzeln betonend, sprach sie nun wie zu einem Kind. „Ich meine es ernst, Harald. Ich will die Scheidung.“

Sie hörte ihn atmen. Wie immer, wenn er die Kontrolle über sich behalten wollte, atmete er betont tief ein und aus. Wie ein Blasebalg, dachte sie.

Eine Weile starrten sie sich an, bis Harald sich abrupt umdrehte und den Raum verließ. Die Haustür knallte zu. Kurz darauf heulte der Motor seines Wagens auf.

 

 

Anna war müde. Das Fahren strengte sie zunehmend an, zumal es jetzt dunkel wurde und ihr Nacken schmerzte von der Anspannung.