Ruhrtopia - Ursula Sternberg - E-Book

Ruhrtopia E-Book

Ursula Sternberg

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Beschreibung

Kriminalhauptkommissarin Ewa Kuschka aus Essen würde zurzeit keinen Beliebtheitswettbewerb gewinnen. Sie untersucht einen schweren Stromunfall in einer Adventurespiele-Firma, deren neues Level RUHRTOPIA viel Geld in die Kassen spült. Dann wird ein Toter mit einer Kopfverletzung aufgefunden. Im Lauf der Ermittlung bringt Ewa sich immer mehr ins Abseits. Zunehmend stellt sie sich Fragen, die weg von dem Fall zu führen scheinen. Woher kam das Wasser, in dem der Mann mit der Kopfverletzung ertrunken ist, und wohin ist es wieder verschwunden? Wieso überhaupt so viel Wasser in dieser lang anhaltenden Dürreperiode? Warum verenden plötzlich so viele Tiere? Und was hat das mit dem Abstellen der Pumpen und der Flutung der Bergwerke im Ruhrgebiet zu tun? Dabei erhält sie Unterstützung von unerwarteter Seite. Von Ursula Sternberg Autorin des Fracking-Thrillers RUHRBEBEN

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Für Rena. Du fehlst!

Inhaltsverzeichnis

Eins: Dienstag – 04. August 2043

+++Breaking News Ruhr+++

Uni-Klinikum, Essen-Holsterhausen

Ruhrnachrichten - 04.05.2043

Kokerei Zollverein, Essen-Katernberg

Zeche Bonifacius, Essen-Kray

Zweigstraße, Essen-Borbeck

Ulmenstraße, Essen-Stadtwald

Zwei: Mittwoch – 05. August 2043

+++Breaking News Ruhr+++

Polizeipräsidium, Essen-Bredeney

Salzlager Kokerei Zollverein, Ruhr Adven

Befragung von Paul Schelski

Befragung von Laleh Çelik

Salzlager Kokerei Zollverein, Level 6, Essen

Ulmenstraße, Essen-Stadtwald

Drei: Donnerstag – 06. August 2043

+++Breaking News Ruhr+++

Polizeipräsidium, Essen-Bredeney

Befragung von Laleh Çelik

Befragung von Paul Schelski

Befragung von Laleh Çelik

Schachtanlage 2, Zollverein, Essen

Squash-Club Maestro,

Vier: Freitag, 07. August 2043

+++Breaking News Ruhr+++

Uni–Klinikum, Essen-Holsterhausen

Befragung von Tobias Holtau

Polizeipräsidium, Essen-Bredeney

Befragung von Malte Zeitler

Befragung von Tobias Holtau

Mobilheimplatz, Essen-Schönebeck

Rote Schule, Essen-Schönebeck

Vollzugsanstalt, Essen-Holsterhausen

Polizeipräsidium, Essen-Bredeney

Befragung von Paul Schelski

Schachtanlage 2, Zollverein, Essen-Katernberg

Panic-Room

Fünf: Sonntag – 09. August 2043

+++Breaking News Ruhr+++

Polizeipräsidium, Essen-Bredeney

Raum 502

Sechs: Sonntag – 09. August 2043

+++Breaking News Ruhr+++

Polizeipräsidium, Essen-Bredeney

Ulmenstraße, Essen-Stadtwald

Notaufnahme Europäische Wohlfahrt, Essen-West

Sieben: Dienstag – 11. August 2043

+++Breaking News Ruhr+++

Ostfriedhof, Essen-Südostviertel

Ulmenstraße, Essen Stadtwald

Acht: Freitag – 14. August 2043

+++Breaking News Ruhr+++

Ostfriedhof, Essen-Südostviertel

Ulmenstraße, Essen-Stadtwald

Neun: Samstag – 15. August 2043

+++Breaking News Ruhr+++

Wasserturm am Steeler Berg, Essen-Südostviertel

Zehn: Sonntag – 16. August 2043

+++Breaking News Ruhr+++

Mobilheimplatz, Essen-Schönebeck

Gebhardstraße, Essen-Holsterhausen

Ulmenstraße, Essen-Stadtwald

Elf: Dienstag, 18. August 2043

+++Breaking News Ruhr+++

Ulmenstraße, Essen-Stadtwald

Wasserturm am Steeler Berg, Essen-Südostviertel

Squash-Club Maestro, Gewerbegebiet Essen-Bergerhausen

Ulmenstraße 12, Essen-Stadtwald

Zwölf: Mittwoch – 19. August 2043

+++Breaking News Ruhr+++

Rhein-Ruhr-Klinik, Essen-Kettwig

Fakultät für Ingenieurswissenschaften, Universität Duisburg-Essen, Duisburg

Schachtanlage 2, Zollverein, Essen-Katernberg

Wasserturm am Steeler Berg, Essen-Südostviertel

Steeler Straße, Essen-Südostviertel

Ulmenstraße, Essen-Stadtwald

Dreizehn: Donnerstag – 20. August 2043

+++Breaking News Ruhr+++

Wasserturm am Steeler Berg, Essen-Südostviertel

Ulmenstraße, Essen-Stadtwald

Vierzehn: Freitag – 21. August 2043

+++Breaking News Ruhr+++

Seniorenresidenz Augustinum, Essen-Rellinghausen

Weberstraße, Bottrop-Kirchhellen

Wasserturm am Steeler Berg, Essen-Südostviertel

Fünfzehn: Samstag – 22. August 2043

+++Breaking News Ruhr+++

Ulmenstraße, Essen-Stadtwald

Polizeipräsidium, Essen-Bredeney

Befragung von Tobias Holtau

Polizeipräsidium, Essen-Bredeney

Kantine

Mobilheimplatz, Essen-Schönebeck

Polizeipräsidium, Essen-Bredeney

Vernehmung von Ben Novak

Squash-Club Maestro, Gewerbegebiet Essen-Bergerhausen

Sechzehn: Sonntag – 23. August 2043

+++Breaking News Ruhr+++

Weberstraße, Bottrop-Kirchhellen

Ulmenstraße, Essen-Stadtwald

Siebzehn: Montag – 24. August 2043

+++Breaking News Ruhr+++

Polizeipräsidium Essen-Bredeney

Rhein-Ruhr-Klinik, Essen-Kettwig

Polizeipräsidium, Essen-Bredeney

Vernehmung Professor Dennis Keitel

Wasserturm am Steeler Berg, Essen-Südost

Ulmenstraße, Essen-Stadtwald

Achtzehn: Dienstag, 25. August 2043

+++Breaking News Ruhr+++

Ulmenstraße, Essen-Stadtwald

Polizeipräsidium, Essen-Bredeney

Kleiner Besprechungsraum

Schachtanlage 2, Zollverein, Essen-Katernberg

Mobilheimplatz, Essen-Schönebeck

Neunzehn: Mittwoch, 02. September 2043

+++Breaking News Ruhr+++

Ulmenstraße, Essen-Stadtwald

Ostfriedhof, Essen-Südostviertel

Zwanzig: Dienstag, 06. Oktober 2043

+++Breaking News Ruhr+++

Ulmenstraße, Essen-Stadtwald

Einundzwanzig: Dienstag, 07 Juni 2044

+++Breaking News Ruhr+++

Ruhrnachrichten, 07.06.2044

Für die, die es interessiert: Aus Ewas Recherchen

Die Geschichte der Deutschen Steinkohle ab

Zollverein und das Weltkulturerbe

Ewa und der Rap

In dieser Stadt

Nachwort

Dank

Quellen

Eins

Dienstag – 04. August 2043

+++Breaking News Ruhr+++

… ganz Deutschland im Dürre-Schock … Geschäftsführer der Ruhr Adventures GmbH nach Stromunfall schwer verletzt … Hitze hat das Ruhrgebiet fest im Griff …

Uni-Klinikum, Essen-Holsterhausen

Er ist ein gut aussehender Mann, soweit sich das in seinem Zustand beurteilen lässt. Dunkles, zerzaustes Haar auf weißem Kissen, ovales Gesicht mit kantigen Backenknochen und kräftigem Kinn. Ein violett schillerndes Veilchen und die blauschwarzen Ansätze von Bartstoppeln stechen aus der Kreide seines Gesichtes hervor und geben ihm etwas Morbides.

Er ist nicht ansprechbar, vollgepumpt mit starken Schmerzmitteln und allerhand anderem Zeug. Die Brust hebt und senkt sich in regelmäßigem Rhythmus. Ein Bein, in einer Art schmaler Wanne gelagert, ragt bis zum Knie unter der Bettdecke hervor, bedeckt von dünnen Schichten einer sterilen Binde. Sonst keine weiteren sichtbaren Verletzungen.

Und dennoch: schwerer Stromschlag unter undurchsichtigen Umständen. Unklar genug, um bei uns im K 11, dem Kommissariat für Todesermittlungen und Tötungsdelikte, zu landen. Die Kollegen von der Streife waren der Meinung, da solle unbedingt mal jemand genauer draufschauen.

Unfall, versuchter Totschlag oder versuchter Mord?

Mein letzter Fall ist so gut wie abgeschlossen. Ein wenig Aufräumen noch, der Abschlussbericht. Ist schon recht, dass ich das hier übernehme, solange sie mich in Ruhe alleine machen lassen und mir nicht wieder Leon oder Alina ans Bein binden, was bei der dünnen Personaldecke erst mal wenig wahrscheinlich ist.

Ich muss an Akin denken. Mit ihm habe ich mich zum Schluss blind verstanden. Der Gedanke an meinen langjährigen Partner tut immer noch verdammt weh. Akin kannte mich, er kannte meine Schwächen, er konnte regulierend auf mich einwirken und das Beste aus mir herausholen. Umgekehrt ebenso. Wir waren ein wirklich gutes Team, das Dream-Team im K 11 mit einer hohen Aufklärungsquote. Als der Hirntumor bei ihm entdeckt wurde, war es zu spät. Knappe zehn Monate ist das nun her. So ein Scheißdreck!

Eine Weile bleibe ich hinter der Scheibe stehen und sehe Tobias Holtau beim Atmen zu. Dann gehe ich zurück zum Personalraum.

Das Pflegepersonal ist ausgeschwärmt. Stattdessen sitzt dort nun eine Frau im obligatorischen weißen Kittel und trinkt ein Gebräu, dessen Geruch allein ausreicht, meine Magenschleimhäute in Rebellion zu versetzen. Sie scheint auf mich zu warten. Das Schild auf ihrer Brust weist sie als Oberärztin aus.

„Kriminalhauptkommissarin Ewa Kuschka“, stelle ich mich vor. „Wie stehen die Chancen? Kommt er durch?“

„Da bin ich mir sicher. Aber wie lange wir ihn noch so stark sedieren müssen, kann ich beim besten Willen nicht sagen.“

Hatte ich auch nicht anders erwartet. „Wann wurde er eingeliefert?“

„Gestern am Spätnachmittag. Er war nicht ansprechbar und hatte starke Schmerzen. Stromunfall. Heftiges Herzflimmern, Verbrennungen dritten Grades an beiden Knöcheln und eine weitere am rechten Unterschenkel. Außerdem starke Muskelverkrampfungen.“

Ich betrachte die Fotos, die sie mir reicht. Der eine Fuß sieht nicht gut aus, ein wenig wie gegrillt.

„Der Stromschlag muss ziemlich heftig gewesen sein.“

„Nicht unbedingt. Schuhe und Socken waren nass. Es muss also Wasser mit im Spiel gewesen sein. Und das leitet bekanntlich sehr gut.“

„Wasser? Bei der Trockenheit?“

Sie zuckt mit den Schultern. „Da ist aber noch was.“ Sie grinst mich an und zwinkert mir zu, so, als würde sie mit etwas hinterm Berg halten. Ein Sahnehäubchen, aufgehoben für den Schluss sozusagen.

Nun mach's mal nicht so spannend! Ich verziehe keine Miene, während ich sie auffordernd ansehe.

„Er hatte ein Elektrodenimplantat“, gibt sie schließlich nach mit einem Blick, der Spielverderber signalisiert. „Das haben wir heraus gepult.“

„Einen Herzschrittmacher?“, frage ich.

„Nein. So eine Art Fitnesstracker.“ Sie schiebt mir ein Tütchen mit einem verklumpten kleinen Teil über den Tisch zu. „Der ist nun allerdings futsch. Vielleicht können Sie ja trotzdem noch was damit anfangen.“

Ich bedanke mich, klaube die Unterlagen und das Tütchen zusammen und mache mich davon, nicht ohne ihr einzuschärfen, dass man mich unverzüglich informieren soll, sobald der Mann wieder ansprechbar ist.

Im Dienstfahrzeug gehe ich noch einmal durch, was ich von den Kollegen der Streife bekommen habe:

Am Montag, dem 03.08.2043, wurde gegen 15:45 Uhr Tobias Holtau, 32, Geschäftsführer der Ruhr Adventures GmbH, schwer verletzt aufgefunden. Gemeldet wurde der Unfall von Paul Schelski, Gründungsmitglied und ebenfalls Geschäftsführer der Ruhr Adventures GmbH. Er hatte den Verunfallten zusammen mit einem seiner Mitarbeiter gefunden und sofort Rettung sowie Polizei gerufen.

Auffindeort: Die stillgelegte Zeche Bonifacius, Essen-Kray. Dort in einem Seitengebäude der ehemaligen Lohnhalle ist eines der Spiele-Level implementiert, die von der Ruhr Adventures GmbH entwickelt wurden.

Erst vor kurzem war die Spielstätte wegen eines technischen Störfalles für den Publikumsverkehr gesperrt worden.

Die Streife hatte den Unfallort abgesperrt und ein Team der Spurensicherung geordert, denn in dem Raum, in dem der Verunglückte aufgefunden worden war, befand sich ein Stromkabel, und der Boden wies Spuren von Feuchtigkeit auf. Erste Zeugenbefragungen im Unternehmen ergaben, dass anscheinend niemand weiß, warum der Verunglückte die Spielstätte aufgesucht hat, denn Tobias Holtaus Aufgaben liegen im administrativen, nicht im technischen Management des Unternehmens. Zwei Angestellte haben zudem von starken Spannungen in der Unternehmensführung berichtet. Der Verunglückte selbst ist nicht vernehmungsfähig.

Ruhr Adventures GmbH, da klingelt es leise bei mir. Ich gebe den Namen in die Suchmaschine meines Compuflex ein und werde schnell fündig.

Ruhrnachrichten - 04.05.2043

Festakt zur Eröffnung

Die Ruhr Adventures GmbH hat einmal mehr wieder sämtliche Erwartungen übertroffen. In einem feierlichen Akt wurde am vergangenen Wochenende der neue Level des erfolgreichen interaktiven Spiels Ruhr Adventures eröffnet. Zahlreiche Prominenz aus Politik, Kultur und Wissenschaft, aber natürlich auch viele Fans waren zu dem Festakt in die ehemalige Kokerei der Kokerei Zollverein in Essen geladen. Nicht umsonst haben die Fans so lange auf den nächsten Level gewartet.

„Wir haben uns wirklich selbst getoppt“, erzählt Dr. Tobias Holtau, einer der drei Geschäftsführer der Ruhr Adventures GmbH, bei der Pressekonferenz. „Unsere Mitarbeiter*innen in den Bereichen Grafik, Trickfilm, Technik und Recherche, unsere Computerfachkräfte und Handwerker: Sie alle haben einen hervorragenden Job gemacht. Während wir bislang mit historisch gut recherchierten Epochen vergangene Zeiten haben auferstehen lassen, ist uns mit Level 6 ein spektakulärer Blick in die Zukunft gelungen, der trotz futuristischer Elemente ein hohes Maß an Realismus bietet. Gerade das macht diesen Level so interessant.“

Mit der Idee, Adventurespiele mit ihren virtuellen Welten in eigens dafür ausgestattete Gebäude zu integrieren und dem Spiel damit eine viel größere räumliche Dimension geben zu können, als es in einem PC-Spiel üblicherweise möglich ist, starteten die beiden Gründungsmitglieder Paul Schelski und Stefan Holtau, die heute zusammen mit Dr. Tobias Holtau den Vorstand der Ruhr Adventures GmbH bilden, in eine ungewisse Zukunft. „Damals wurden die beiden ausgelacht und für verrückt erklärt“, erzählt Dr. Tobias Holtau. „Und Geldgeber haben sie erst recht keine gefunden. Zu Hause an ihren miteinander vernetzten PCs haben sie ganz klein angefangen. Sie waren besessen von der Idee, spannende virtuelle Welten zu schaffen. Sieben Jahre lang haben sie entwickelt, bevor sie mit ihrem ersten Level an den Start gehen konnten, in dem sie die innovative Idee umgesetzt haben, virtuelle Adventures in eigens dafür ausgerichtete Räumlichkeiten zu transferieren. Die Spieler bewegen sich sozusagen mitten im Geschehen. Lebensgroß. In Echtzeit können sogar verschiedene Spieler gegeneinander antreten.“

Damit begann ein kometenhafter Aufstieg, dessen Krönung nun in Level 6 stattfindet, verspricht Dr. Tobias Holtau.

„Und warum gerade das Ruhrgebiet?“, fragen wir. „Wie erklären Sie sich den Hype, den gerade dieses Adventure ausgelöst hat?“

„Warum nicht?“ Dr. Holtau lacht. „Warum müssen Adventures immer in fiktiven Welten auf anderen Planeten spielen? Gerade die Idee, gut recherchierte Historie spielerisch erfahrbar zu machen, und das in einer Welt, die man kennt, fanden wir ausgesprochen reizvoll. Und als wir dann auch noch die Zusage der Stadt Essen bekommen haben, brachliegende Räumlichkeiten der Industriekultur zu diesem Zweck nutzen zu dürfen, konnten sich auch die Banken dem Reiz dieses Projektes nicht mehr entziehen.“

Der Erfolg gibt ihnen recht. Die Ruhr Adventures GmbH ist mittlerweile führend, man könnte auch sagen, die Nummer 1 auf dem europäischen GamesSektor.

Computergesteuerte Simulationsspiele, Ruhr Adventures. Mal was anderes als diese ewigen häuslichen Beziehungsdramen! Könnte Spaß machen, da noch ein wenig tiefer zu graben, so rein wegen des Ambientes.

„Weiter“, befehle ich dem Compuflex, und er startet einen Film, der zurzeit im Netz offensichtlich hoch im Kurs steht. Schnell aktiviere ich den Sensor in meinem Ohr.

Eröffnungsfeier, Kokerei Zollverein, Essen, 30.04.2043, läuft der Titel über den Bildschirm.

„… und deshalb freuen wir uns, mit Ihnen, mit euch, meine lieben Gäste, meine lieben Mitarbeiter*innen, unseren erneuten kleinen Sieg feiern zu dürfen. Lassen Sie sich entführen in eine aufregende Welt. Das Spiel ist eröffnet. Prost!“

Gewinnendes Lächeln, Glas in die Höhe, perfekt in Szene gesetzt von der einsetzenden Musik. Bombastisch sphärische Klänge, ein bisschen wie Und also sprach Zarathustra aus Odyssee im Weltall, genau die Assoziation, die vermutlich beabsichtigt ist, gefolgt von frenetischem Applaus.

Da ist er: mein Körperverletzungsdelikt, deutlich vitaler allerdings, als ich ihn eben im Krankenhaus gesehen habe.

Tobias Holtau verneigt sich schwungvoll mehrmals hintereinander. Ein Entertainer, der platzt ja förmlich vor Dynamik. Und wie ein Opfer sieht der eigentlich auch nicht aus.

Eines der Service-Mädels stelzt auf gefährlich hohen Hacken mit einem Tablett durchs Bild. Sehr trendy in minimalistischem Tankini-Outfit aus durchsichtig schwarzer Nano-PE-Knitterfolie, die eng am Körper klebt. Auf dem Kopf wippen aus eben dieser Folie zwei matt schimmernde Hasenohren.

Jemand nimmt sich ein Glas und tritt einen Schritt in die dämmrige Schattenzone der Wand zurück.

Ich klicke auf die Pausentaste und vergrößere das Bild. Jetzt erkenne ich ihn wieder von dem Foto aus den Ruhrnachrichten. Paul Schelski, der Mann, der mein Körperverletzungsdelikt gefunden hat. Gründungsmitglied und Geschäftsführer sowie Technischer Leiter der Ruhr Adventures GmbH. Der hält sich lieber hübsch am Rand des Geschehens. Bloß nicht im Mittelpunkt stehen.

Die Bedienung lächelt artig und stakst davon, ein fluoreszierendes Stummelschwänzchen wippt lasziv im Takt ihrer Schritte.

Haben die das wirklich nötig? Ein kleines spacey Nano-Häschen im nostalgischen Playboy-Stil? Peinlich! Passt aber irgendwie zu dieser pompösen Show hier.

Schelski scheint das gleiche zu denken wie ich, denn er schüttelt den Kopf in einer Art Irritation, als er ihr nachblickt.

Die Musik geht nun in leise Sphärenklänge über. Schon besser. Und pompös ist eigentlich auch nicht das richtige Wort für das, was hier stattfindet. Oder ist denen da etwas entglitten, weil die Gäste nicht mitgespielt haben? Eine Hommage der anderen Art?

Denn es ist eine merkwürdige Mischung, die sich dort in der ehemaligen Mischanlage der Kokerei Zollverein versammelt hat. Viele der ungefähr hundertfünfzig Anwesenden haben sich für die signifikanten Outfits der vorangehenden Level entschieden: Neandertaler, mittelalterlich anmutende Gestalten, Siedler und Bauern und die Malocher des fünften Levels. Dazwischen dunkle Anzüge und glitzernde Abendkleider von kurz bis knöchellang sowie Freaks Marke Grabowski oder Crocodile Dundee. Und hoppla, eine Lederlady! Mega sexy Look, ganz Lara Croft, selbst die Haare sind zu einem langen Zopf geflochten. Allerdings etwas sehr üppig gebaut für dieses Outfit. Genau so würde ich aussehen, wenn ich mich in diese Kluft zwängen würde. Ich muss grinsen.

Alles wirkt irgendwie seltsam. Möchte gern Hollywood aber kann nicht so recht, Ruhrlywood lässt grüßen.

Nun verändert sich das Licht. Es wird immer dunkler, gleichzeitig wird die Musik wieder lauter. Ein weiterer pompöser Tusch, und die kuppelförmige Leinwand beginnt zu glimmen. Sieht aus, als würde die Sonne gleich aufgehen, nicht schlecht!

Der Fußboden beginnt zu glitzern und suggeriert Nässe.

Und plötzlich stehen die Menschen inmitten einer seltsamen Wasserlandschaft, aus der bizarre Bäume wie verwachsene Gnome ihre knorrigen Äste recken. Ein gläserner Kahn bahnt sich lautlos seinen Weg über das Wasser. Die Gestalt darin ist nur als Silhouette zu erkennen vor der roten Glut des Sonnenballs. Das Boot steuert seitlich vom Publikum weg und scheint in den Hintergrund hineinzugleiten, der noch im Dunkeln verborgen liegt.

Und während die Musik anschwillt, wird auch dieses Dunkel von Licht getränkt, nicht nur vom Schein der aufgehenden Sonne, sondern von innen heraus. Tausende von erleuchteten Fenstern lassen eine Stadt auferstehen, ein funkelndes Meer von Straßen und Gebäuden. Dann erfasst die aufgehende Sonne die Kulisse.

Ein Raunen geht durch das Publikum. Die gläsernen Gebäude beginnen von außen zu leuchten, und die signifikanten Karrees und Türme der Energieriesen schälen sich aus dem Lichtermeer heraus. Dahinter der Förderturm des Weltkulturerbes, als überdimensionale Fotomontage hinter die Stadtkulisse geschnitten. Die Silhouette der Stadt Essen, die in einem tropisch anmutenden, mangrovendurchwachsenen Sumpfgelände zu schwimmen scheint. Es sieht verblüffend echt aus, eine surreale Realität.

„Darf ich vorstellen!“ Die Stimme von Tobias Holtau überschlägt sich fast vor Begeisterung. Die Streichinstrumente gleiten in ein leises Tremolo hinein, und er breitet seine Arme in einer allumfassenden Geste aus. Für einen Moment verharrt er in dieser Pose.

Der betet sich selbst an, der Kerl, schießt es mir durch den Kopf.

„Hier ist es. Level 6. Willkommen in Ruhrtopia!“

Das Ruhrgebiet als futuristische Wasserlandschaft? Was für eine abgefahrene Idee! Und Tobias Holtau? Bläst sich hier ganz schön in den Vordergrund, der Junior! Dabei ist nicht er der Entwickler dieser Spiele.

Ich lasse mir die nächsten Artikel vorlesen:

Ruhrnachrichten - 06.06.2043

Technischer Zwischenfall bei den Ruhr Adventures Nach der grandiosen Eröffnungsfeier zum langersehnten Level 6 der Ruhr Adventures kam es zu einem Zwischenfall, der zumindest einem der Spieler in unangenehmer Erinnerung bleiben wird. „Ich befand mich mitten in einer der Spielsequenzen, als der Ton plötzlich immer lauter wurde“, berichtet Janina S. aus Dortmund. „Es war ein entsetzlicher Laut, ein Kreischen, das etwas Menschliches an sich hatte. Dieses Kreischen schwoll immer mehr an. Ein bisschen zu realistisch für meinen Geschmack, habe ich gedacht und darauf gewartet, dass es aufhört. Aber es hörte nicht auf. Also habe ich versucht, die Spielszene schnellstmöglich zu verlassen, das hat nicht geklappt. Dann habe ich das Notsignal ausgelöst. Als ich endlich draußen war, habe ich gemerkt, dass ich auf einem Ohr taub war und mir Blut aus dem Ohr gelaufen ist. Seitdem kann ich auf diesem Ohr nicht mehr richtig hören. Die Ruhr Adventures GmbH wird die Behandlungskosten vollständig übernehmen und hat mir darüber hinaus ein großzügiges Schmerzensgeld angeboten.“

Ruhrnachrichten - 17.06.2043

Schwerer Unfall bei den Ruhr Adventures

Und wieder überschattet ein tragischer Unfall die Freude am neuen Level der erfolgreichen Ruhr Adventures.

Ein Jugendlicher wurde von einer Tür auf Level 4 eingeklemmt, die er geöffnet hatte, um von Simulationsraum 1 in Simulationsraum 2 zu gelangen. Bei einer Notoperation ist es gelungen, den Arm des Jungen zu retten.

„Ich habe keine Erklärung für das, was da geschehen ist“, sagt Paul Schelski, Gründungsmitglied und Technischer Leiter der Ruhr Adventures GmbH, in einer ersten Stellungnahme. „Aber seien Sie versichert: Wir tun alles, um diese schrecklichen Vorfälle schnellstmöglich aufzuklären.“

Weitere technische Störfälle, die bereits etwas länger zurückliegen, vermerke ich für mich. Und nun dieser Stromunfall. Gehört der auch mit in diese Unglücks-Serie?

Das war's. Zumindest bieten die anderen Artikel keine neuen Informationen.

Aber immerhin: Ein junger Geschäftsführer, der sich selbst mit fremden Federn schmückt. Ein älterer, der Gründungsmitglied dieses verrückten Haufens ist.

In dem ersten Artikel der Ruhrnachrichten war jedoch von drei Geschäftsführern die Rede. Ich überfliege den Text noch mal. Ah, da ist es: Zwei Freunde, Paul Schelski und Stefan Holtau, die beiden Gründungsmitglieder und Geschäftsführer der Ruhr Adventures GmbH, sowie Sohn Tobias Holtau, der nun nach einem schweren Stromschlag im Krankenhaus liegt.

Und das in diesem völlig schrägen Ambiente. Die Ruhr Adventures, wie konnten mir die bisher entgangen sein! Allein das schon ist Grund genug, dort weiter herumzustochern.

Kokerei Zollverein, Essen-Katernberg

Der Cabin passiert ein Tor und dann ein Neubaugebiet, spuckt mich vor einer Art tiefergelegtem Parkdeck aus und rollt weiter auf die rot-weiße Schranke zu, die sich nach kurzem Scan des Nummernschildes hebt, denn als Fahrzeug der Kriminalpolizei Essen hat es die Sesam-Öffne-Dich-Plakette eingebaut.

Sengende Hitze schlägt mir vom Asphalt der Straße entgegen, während ich mich etwas irritiert umsehe. Ich hatte die Kokerei Zollverein als Zielort angegeben. Die kann ich jedoch nicht entdecken, nicht so, wie ich sie in Erinnerung hatte auf jeden Fall. Hat das Navi versagt?

Etwas versetzt hinter den Neubauten, die die Straße zieren, stehen jedoch ein Gasometer, ein kleiner, deutlich weniger imposanter Bruder des Oberhausener Gasspeichers, sowie die filigranen Gerüste zweier Kühltürme. Ein Straßenschild verrät mir, dass ich mich auf einer Straße befinde, die hübsch hochtrabend „Im Welterbe“ heißt. Also doch richtig.

Ich zurre die Kapuze des Coolcats fest um meinen Kopf, klappe das Sonnenschutz-Visier herunter, drehe die Kühltemperatur des Anzugs auf Vollgas und folge dem rot glühenden Rallystreifen, der die Flanke einer Treppe ziert, hinauf auf das Dach des Parkdecks. Von hier oben aus betrachtet scheint es die Größe eines Fußballfeldes zu haben. Es ist mit anthrazitfarbenem Split belegt, durchbrochen von Grünflächen, die trotz der hohen Temperaturen nicht vertrocknet sind, was auf eine permanente Bewässerung hinweist.

Das v-förmige Gebäude zur Linken ist zwar nicht mehr neu, aber eindeutig nachträglich auf das Zechengelände gebaut worden. Ein Schild weist darauf hin, dass sich hier die Saar-Ruhr-Kohle AG ein schickes kleines Nest gebaut hat.

Zur anderen Seite hin blicke ich auf die Flanke der Kokerei in ihrer Längsachse. Die Kokerei, dieses Monster aus Ziegeln, Stahl, Schornsteinen und gigantischen Kesseln, wirkt deutlich weniger imposant, als ich sie in Erinnerung habe, nicht so atemberaubend. Irgendetwas ist hier sehr anders als damals, als ich noch jung gewesen war und die grandiose Ausstellung Sonne, Mond und Sterne in der Kokerei mich in ihren Bann gezogen hatte. Dann begreife ich, dass es die vielen Neubauten sind, die von dem strengen geometrischen Aufbau dieses Kolosses der Industriekultur ablenken und sie so ihres Charmes berauben.

Aber deswegen bin ich nicht hier.

Ich folge der menschenleeren Kokereiallee, die sich baumlos parallel zu den Wasserbecken neben der bestimmt einen halben Kilometer langen Front der Mischbatterien der Kokerei erstreckt. Zur Rechten muss sich irgendwo das Salzlager befinden, in dem sich die Ruhr Adventures GmbH niedergelassen hat, aber außer einer roten Metalltür, die mich an eine Kellertür erinnert und verschlossen ist, kann ich keinen weiteren Eingang entdecken.

Die Sonne knallt mir erbarmungslos ins Gesicht und ich fange an zu schwitzen, obwohl mein Coolcat im Cabin wieder voll aufgeladen worden ist. Flüchtig überlege ich, ob ich den Cabin herbei pfeifen soll, dann entdecke ich einen Wegweiser, der ein Café ankündigt, und gehe doch zu Fuß weiter.

In der ehemaligen Mischanlage der Kokerei empfängt mich dieser spezifische Geruch, den Zechengebäude selbst lange Zeit nach ihrer Stilllegung in sich bergen, ein Gemisch aus Staub, Kohle und Metall. Im Café langweilt sich eine Bedienung hinter der Theke. Immerhin kennt sie sich hier aus und zeigt mir auf einem Lageplan, wo ich falsch abgebogen bin.

Endlich habe ich mein Ziel erreicht. Ein dezentes Schild verrät, dass hier die Ruhr Adventures GmbH zu finden ist. Ehemalige Salzverladung, steht auf dem Lageplan zu lesen. Daneben das Salzlager. Hier bin ich richtig.

Dem Display am Empfang entnehme ich, dass Schelskis Büro sich im oberen Stockwerk des Gebäudes befindet. Ich pule mich aus meinem Coolcat, hänge ihn an eine der Ladestationen am Eingang, strubbele meinen silbergrauen Stufenschnitt zurecht, scanne am Display meinen Dienstchip ein und warte darauf, dass sich die Tür zum Treppenhaus öffnet. Über eine Innentreppe aus Stahl klettere ich in die dritte Ebene hinauf. Dort zücke ich erneut meinen Dienstchip, klopfe an und pralle mit einer jungen Frau zusammen, die sich an mir vorbei aus dem Raum drängt, seltsam hastig und so, als wäre sie auf der Flucht. Dunkle Haare, schmales, apartes Gesicht, registriere ich. Für einen Moment begegnen sich unsere Blicke, und husch, ist sie weg. Ich sehe ihr nach. Hat sie Angst?

Dann bittet mich eine kratzige Männerstimme, einzutreten. Angenehme Kühle empfängt mich.

Es sieht nicht nach Büro aus. Dicker, anthrazitfarbener Teppichflor schluckt meine Schritte, an einer Wand befindet sich ein üppiges Sofa aus blaugrauer Mikrofaser unter einer abstrakten Grafik. Bei genauerem Hinsehen erkenne ich, dass es sich dabei um einige Gebäude der Zeche Zollverein handelt, die kunstvoll mit anderen Elementen der Stadt Essen verwoben sind.

Eine zerknüllte Fleece-Decke auf dem Sofa zeugt davon, dass hier offenbar gerne auch mal ein Nickerchen gemacht wird. Oder war es ein Schäferstündchen, bei dem ich gestört habe? Schelski faltet die Decke zusammen, wirft sie nachlässig über die Sofalehne und fordert mich mit einer kleinen Geste auf, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Es sieht so einladend aus, dass ich befürchte, mich dort einlullen zu lassen. Hinsetzen und die Augen schließen, den Kopf an die Polster lehnen und sich entspannen. Wie verlockend!

Stattdessen setze ich mich an den Tisch und sehe Schelski zu, wie er eine verchromte Kaffeemaschine zum Leben erweckt und hin und her wuselt, um Mineralwasser und einen herrlich duftenden Kaffee vor mir auf dem Tisch zu platzieren.

Paul, der Jüngere oder der Kleine. Gleichzeitig höre ich Akin lachen und etwas von bleib mir bloß weg mit diesem Scheiß murmeln. Ja, stimmt, ich habe da dieses Ding mit den Vornamen. Immer will ich wissen, was sie bedeuten, und wenn ich es nicht weiß, schaue ich nach. Klein und jünger passt nicht zu Schelski, denke ich, während ich ihn betrachte. Aber wer weiß. Vielleicht war er ja der kleine, der jüngere Sohn. Groß ist er auf jeden Fall nicht. Stämmig. Bodenständig. Ein alter Haudegen, so wie ich. Graue Haare, in sich verdreht wie Stahlwolle. Ebenso struppige Augenbrauen. Hat wenig von Geschäftsführer, finde ich. Eher was von einem Drahthaarterrier. Und von Alexis Sorbas. Verdammt sympathisch, schießt es mir durch den Kopf. Und das mag ich gar nicht, wenn mir jemand, den ich befragen will, spontan so gefällt. Dann habe ich das Gefühl, den Überblick zu verlieren. Ich muss schlucken. Akin hätte mich jetzt schnell wieder geerdet. Das konnte er gut, obwohl sein Name eigentlich etwas anderes impliziert. Akin, das bedeutet Flut, Schwall, Ansturm. Aber so war er nicht. Akin war zurückhaltend und dennoch von einer starken Präsenz gewesen.

Ich informiere Schelski darüber, dass ich ihn als Zeugen zum Stromunfall von Tobias Holtau befragen möchte, mache ihn darauf aufmerksam, dass ich unser Gespräch aufzeichnen werde, und starte die Aufnahmefunktion an meinem Compuflex.

Nur zu, besagt seine Geste. Lassen Sie sich nicht stören.

Also das übliche Vorgeplänkel: Name, Wohnort, Alter, so ein Zeug halt, und alles Dinge, die ich ohnehin schon weiß.

„Soll ich Ihnen auch noch mein Gewicht verraten?“

Leises Glitzern in den Augen, aber Schelskis Tonfall bleibt ernst.

„Wohnhaft?“

Ein Grinsen breitet sich in seinem Gesicht aus. Er versucht erst gar nicht, das zu verbergen, der Sauhund. „Sie meinen, wo ich wohne?“

„Genau das meine ich.“

„Zurzeit hier.“ Wieder dieses Glitzern in den Augen. „Ich habe im Büro geschlafen. Ein Wassereinbruch in meiner Wohnung unten an der Ruhr, ziemliche Schweinerei. Das wird gerade von einem Fachbetrieb behoben.“

„Vorab: Wissen Sie vielleicht, wo sich Stefan Holtau befindet? Wir haben ihn bislang nicht erreichen können.“

„Wenn er nicht hier in der Firma ist? Tut mir leid. Er ist ein großer Junge und muss sich bei mir nicht abmelden.“

Jetzt macht der sich schon wieder lustig über mich, gibt's doch nicht!

„Sie haben Tobias Holtau gefunden. Was hat Sie veranlasst, gerade dort am Standort Ihres SpieleLevels 5 auf der Zeche Bonifacius nach ihm zu suchen?“

„Ich habe nicht nach ihm gesucht. Ich bin dorthin gefahren, weil ich mir die Technik vor Ort noch mal ansehen wollte. Der Level ist nach ein paar Störfällen immer noch für den Publikumsverkehr gesperrt. Einer meiner Techniker ist mitgekommen.“

So steht es auch im Protokoll, das die Streife aufgenommen hat.

„Ihr Techniker hat gestern den Kollegen von der Streife gegenüber ausgesagt, dass Tobias Holtau überhaupt nicht zuständig für die Kontrolle der Level ist. Was hatte er dort also zu suchen?“, komme ich auf das eigentliche Thema zu sprechen. „Es gibt doch eine klare Aufgabenteilung zwischen Ihnen, Herr Schelski. Sie die Technik, Stefan Holtau die Grafik, Tobias Holtau Finanzen und Marketing. Wie kam es, dass Tobias Holtau diese Begehung in Level 5 gemacht hat?“

„Das frage ich mich auch. Mit mir war das jedenfalls nicht abgesprochen. Fehlt grade noch, dass der sich jetzt auch noch in die Technik reinmischt!“

„Haben Sie es herausgefunden?“

„Was?“ Schelski runzelt die buschigen Augenbrauen.

Ich präzisiere: „Was war der Grund für den Strom in Level 5, und wo kam er her? Er wurde durch das Wasser auf dem Boden geleitet.“

„Das habe ich doch gestern alles schon mit Ihren Jungs von der Technik geklärt“, brummelt Schelski. „Es gibt dort auf Bodenhöhe ein paar Zugangsklappen, durch die man an die Verteiler kommt. Von irgendwoher ist Wasser durch diesen Schacht gerauscht, hat eine dieser Klappen weggesprengt und ist in den Simulations-Raum geschossen. Der Raum selbst hat dann wohl unter Wasser gestanden, neun, zehn Zentimeter vielleicht, das konnte man an den Folien an den Wänden erkennen.“

Das deckt sich mit den Informationen, die ich von der Spurensicherung bekommen habe. Sie haben in dem Raum, in dem Tobias Holtau den Stromunfall erlitten hatte, eine dieser Klappen aus scharfkantigem Metall gefunden. Ich nicke also und setze an, meine nächste Frage zu formulieren.

Doch Schelski hat nur kurz Luft geholt und hastet bereits weiter, plötzlich sehr schnelles Tempo, er steht unter Druck. „Aber wo zum Teufel kam dieses Wasser her? Da sind keine Wasserrohre in den Versorgungsschächten, und die Sanitärräume sind ganz woanders. Ich verstehe das einfach nicht.“

„Kein Rohrbruch also“, stelle ich fest. „Und was hatte das Stromkabel dort im Raum zu suchen?“

Schelski seufzt. „Ich hatte den Level wegen einer anderen Störung komplett für den Besucherverkehr sperren lassen. Wir haben ein Stromkabel quer durch den Raum gezogen, um eine Studioleuchte in einer Ecke aufstellen zu können, dort, wo der andere Versorgungsschacht verläuft. Da befinden sich etliche Relais, die haben wir durchgecheckt. Wir waren mit der Prüfung noch nicht fertig.“

Ich glaube ihm.

Nun verdreh mal nicht die Augen, Akin! Hast du nicht gemerkt, wie aufgewühlt Schelski ist? Wie es ihn zerfrisst, dass er keine Erklärung für das hat, was da passiert ist? Du weißt genau, dass wir uns auf unsere Intuition verlassen müssen. Können wir auch, denn sie beruht auf langjähriger Erfahrung. Bullenerfahrung. Also glaub mir: Schelski sagt die Wahrheit, auch wenn es mit bärbeißigem Brummen daherkommt. Der lügt nicht, obwohl die Spurensicherung das mit dem Stromkabel extrem merkwürdig fand, so mitten in einem der Simulations-Räume von Level 5. Der lügt nicht, der weiß einfach nicht, was da genau passiert ist, und schon gar nicht, warum.

„Aber wie kann ein Wechselstrom-Kabel einen so schweren Stromunfall provozieren?“, platzt Schelski in meine Gedanken hinein. „Da hätten doch sofort die Sicherungen rausfliegen müssen!“

„Die Technik ist noch dran. Und ganz offensichtlich hat es zusammen mit dem Wasser im Raum gereicht“, sage ich. „Aber vielleicht haben wir ja Glück.“

„Wie das?“

„Er hat sich eine Elektrode implantieren lassen. Wussten Sie das nicht?“

„Äh, was? Wofür das denn?“

„Damit er seine Work-Life-Balance besser kontrollieren kann“, fasse ich bissig das zusammen, was mir die Technik erklärt hat. „Muskeltonus, Kalorienverbrennung, Schrittzählung, allgemeine Fitness, so ein Kram halt.“

„Ach du heilige Scheiße“, sagt Schelski entgeistert. „Dieser ganze Schnickschnack wird uns irgendwann allen noch mal den Hals brechen!“

„Die Elektrode wurde durch den Strom zerstört.“

Für einen Moment lang hängt jeder seinen Gedanken nach.

Dann formuliere ich die nächste Frage: „Sie haben von anderen technischen Vorfällen im Vorfeld gesprochen, Herr Schelski. Was waren das für Vorfälle?“

Und Schelski erzählt. Er berichtet von Stromausfällen, Wassereinbrüchen, Kurzschlüssen, Ausfall der Akustik, Türen im falschen Schließmodus und einem schmerzhaften Erlebnis bei einer eigenen Begehung einer der Spielszenen.

„Ich hatte dermaßen einen gewischt bekommen, das war nicht von schlechten Eltern! Mein Team habe ich ordentlich zur Schnecke gemacht, das können Sie mir glauben! Irgendwer muss da diese Feuchtigkeit auf Level 4 reingebracht haben, ohne daran zu denken, den Strom wegzunehmen.“ Er massiert sich die Brust irgendwo unterhalb der Herzgegend, eine unbewusste Geste. Dann sieht er mir in die Augen. „Aber keiner wollte es gewesen sein, und in den Änderungsprotokollen war auch nichts eingetragen. Dabei ist das eine absolute Pflicht: Wer was ändert, trägt es ein. Zwingend! Irgendwie habe ich meinen Leuten geglaubt. Und knapp zwei Monate später ist dann diese Geschichte mit der Tontechnik passiert. Das ging damals natürlich sofort durch die Presse“. Schelskis Stimme ist ebenso düster wie sein Gesichtsausdruck.

„Das war die Geschichte mit der Frau und dem Hörschaden, richtig?“

„Ja. Tobias hat ihr eine fette Entschädigung gezahlt, dadurch beruhigte sich die Sache schnell wieder. Aber ich habe ums Verrecken nicht herausbekommen, wie das passieren konnte. Und solange ich den Grund für etwas nicht kenne, ist mir verdammt unwohl bei der ganzen Geschichte. Am liebsten hätte ich den Laden für eine Weile dicht gemacht, aber da war was los!“

„Tobias Holtau?“

„Genau der. Sie machen sich wirklich keine Vorstellung. Er kam in mein Büro hereingeplatzt, natürlich wie üblich ohne zu klopfen. Wie ich das hasse! Er hat verlangt, dass Level 5 sofort wieder für den Publikumsverkehr freigegeben werden müsse, gerade jetzt, wo Level 6 so erfolgreich angelaufen wäre. Der Prestigeverlust, und die Kosten … bla bla.“ Schelski verdreht die Augen. „Ich habe ihm gesagt, dass er sich das von der Backe putzen kann, solange ich hier die Verantwortung habe und der Grund für den Fehler nicht gefunden ist.“ Trockenes Auflachen. „Er hat dann vorgeschlagen, mir jemanden zur Seite zu stellen, wenn ich die Sache nicht schnell in den Griff bekommen würde. Er hätte da schon jemanden im Kopf, frisch von der Uni.“

Ein grimmiger Zug legt sich um Schelskis Mund, und seine Augen verengen sich zu bösen Schlitzen.

„Da hat er Sie aber ziemlich unter Druck gesetzt.“

„Eine klare Drohung! Der Junge wird echt immer dreister!“

„Und? Haben Sie die Ursache für die technischen Probleme gefunden?“

„Nein. Immer nur die Auswirkung: Feuchtigkeit und Strom, keine gute Partnerschaft. Also habe ich jemanden engagiert, da weiter zu bohren. Malte Zeitler, einen Investigator.“ Er reicht mir eine Visitenkarte.

Investigator? Was soll denn das nun schon wieder sein?

Schelski scheint meine Irritation zu bemerken, denn er grinst. „Namen sind Schall und Rauch. Malte recherchiert und beobachtet. So einfach ist das.“

„Aha. Früher hat man Privatdetektiv dazu gesagt“, sage ich spöttisch.

„Stimmt.“ Schelskis Lachen ist entwaffnend. „Ein Mittelding zwischen Security, Observation und Recherche halt. Ist ja auch egal. Auf jeden Fall wurde mir Malte empfohlen und er ist jung genug, um bezahlbar zu sein.“

„Sie denken an Sabotage?“, frage ich, während ich die Adresse von Zeitler in meinen Compuflex scanne.

Schelski zuckt mit den Schultern und brummelt, dass er nicht genau weiß, was er denken soll.

„Die Ruhr Adventures sind sehr erfolgreich?“, frage ich.

„Schon“, sagt Schelski bescheiden.

Merkwürdig. Obwohl ich selbst früher viele Computerspiele gemacht und immer schon hier in dieser Stadt gelebt habe, sind die Ruhr Adventures bislang komplett an mir vorbeigegangen. „Viel Werbung machen Sie offensichtlich nicht“, taste ich mich an meinen Gedanken heran.

„Erst seit Tobias Holtau mit an Bord ist, wird kräftig an der Werbetrommel gerührt. Bislang haben wir gut von der Mund-zu-Mund-Propaganda gelebt. Am Tag können wir auch nicht beliebig viele Spieler durch so einen Level schleusen. Deshalb arbeiten wir mit Voranmeldungen.“

„Ich kann mir das nicht vorstellen. Also, wie man so einen Level spielt.“ Und vielleicht kann ich deshalb auch nicht richtig nachvollziehen, was genau dort passiert sein könnte, überlege ich.

Ist das wirklich ermittlungsrelevant? Oder hast du nur Bock auf dieses Spiel, Ewa? Herrgott noch mal, Akin, nun sei mal nicht so ein Spielverderber!

„Ist das ermittlungsrelevant?“, fragt Schelski prompt.

„Ich weiß es nicht“, sage ich erstaunlich ehrlich. „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ermittlungstechnisch betrachtet nie verkehrt, sich Dinge im Detail anzuschauen, die man nicht auf Anhieb versteht.“ Ich deaktiviere die Aufnahmefunktion und grinse Schelski an, „bin ich auch so interessiert. Die Aufnahmen der Eröffnungsfeier haben mich ganz schön angefixt! Das ist aber nichts fürs Protokoll.“

Verstanden, zwinkert Schelski mir zu.

Ich aktiviere die Aufnahmefunktion wieder.

„Kurzfristig wird immer mal was frei, wenn jemand einen Termin absagen musste. Wir haben zwar Wartelisten von Interessenten für die jeweiligen Level, die gerne auch kurzfristig einspringen. Aber ich gebe Ihnen Bescheid, wenn etwas frei wird.“

„Das wäre toll!“ Das wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, das Gespräch zu beenden, denke ich. Dann aber streift mein Blick die flauschige Decke, die jetzt, nicht besonders akkurat gefaltet, auf der Lehne des Sofas liegt. Flauschdecke. Frau mit ängstlichem Gesichtsausdruck. Oder schuldigem? Schäferstündchen? „Diese Frau vorhin“, greife ich nach dem Ende meiner Gedankenkette. „Wer war das?“

Für einen Moment wirkt Schelski irritiert, er kann mir nicht folgen. Dann hellt sich sein Gesicht auf.

„Ah, Sie meinen Laleh Çelik.“ Ein Anflug von Stolz schwingt in seiner Stimme mit. „Sie ist eine unserer Besten, wirklich ungeheuer talentiert.“

„Was ist ihr Aufgabenbereich?“

„Grafik Design. Sie hat uns vor zwei Jahren buchstäblich den Arsch gerettet.“

Wie das, denke ich. Aber bevor ich fragen kann, erzählt Schelski schon weiter.

„Wir saßen ganz schön in der Bredouille. Tobias hatte sich bereits zu weit aus dem Fenster gelehnt und mit dem Marketing für den geplanten neuen Level der Ruhr Adventures begonnen. Level 6 sollte in der Zukunft spielen, und keiner hatte auch nur annähernd eine zündende Idee, wie das aussehen könnte. Alles abgedroschen, langweilig, tausendmal gesehen. Laleh war brandneu im Unternehmen, Praktikantin oder so, ich hatte sie bei dieser Besprechung zum ersten Mal gesehen. Und dann hat sie uns so mir nichts, dir nichts übers Wochenende ein Konzept für den neuen Level vorgelegt, mit wirklich atemberaubenden Skizzen.“

Ich bin verblüfft. „Aber sie ist doch noch so jung!“

„Sie gehören offensichtlich auch zu denen, die alles unter Dreißig noch extrem jung finden?“ Schon wieder dieses entwaffnende Lächeln. „Geht mir genauso. Aber wie ich schon sagte: Sie ist einfach unglaublich talentiert. Und Talent hat mit dem Alter wenig zu tun.“

„Hat das jeder so gesehen?“

Leiser Knurrlaut. „Oh, gesehen durchaus. Nur entsprechend bezahlen wollte Tobias nicht!“ Dann zieht ein Leuchten über Schelskis Gesicht. „Aber ich habe mich durchgesetzt.“

„Sie haben Frau Çelik also sehr schnell gegen den Willen von Tobias Holtau zu einer Festanstellung verholfen“, fasse ich zusammen.

Zufriedenes Grinsen, ganz Kater, der von der Wurst stibitzen konnte.

Mein Blick wandert wieder zu der lässig gefalteten Decke auf der Sofalehne. „Vielleicht sind Sie ja auch ein kleines bisschen verliebt in sie?“, sage ich leichthin, leises Augenzwinkern in der Stimme, ist ja nicht so ernst gemeint.

Blöde Tuss! Dieser Gedanke steht ihm förmlich auf die Stirn geschrieben.

Ich grinse in mich hinein. Du magst sie gerne. Sehr, sehr gerne. Und du denkst, dass mich das absolut nichts angeht. Aber da hast du dich getäuscht.

„Nö“, sagt Schelski, verschränkt die Arme vor der Brust und presst die Lippen zusammen.

„Wie also ist das mit dieser Çelik?“, bohre ich nach.

Mein Gegenüber schweigt beharrlich, bis ihm das Schweigen auf den Sack zu gehen scheint.

„Sie hat einfach mehr verdient, als irgendwo im Niemandsland zwischen Essen und Mülheim in einem abgewrackten Mobilheim zu hausen. So einfach ist das. Außerdem ist sie ein wirklich feiner Mensch.“ Er steht auf und sieht aus dem Fenster. „Sie hat es nicht leicht gehabt.“ Dann dreht sich mir wieder zu und lehnt sich ans Fenstersims. „Ihre Familie flüchtete kurz nach der Schließung der Balkan-Route aus dem syrisch-türkischen Grenzgebiet, sie selbst war da knapp ein Jahr alt. Wie zigtausend andere sind ihre Eltern bereits auf der Flucht im Meer verreckt, auch ihr Bruder ist mit über Bord gegangen und ertrunken. Blieb nur die Großmutter, die ist dann aber auch bald gestorben.“

Mein Blick bleibt indifferent, neutral. Profiblick. Ist immer interessant, wie sie darauf reagieren, wenn sie eine empathischere Reaktion erwarten.

Hat sie keiner gezwungen, herzukommen, liest Schelski aus meinem Blick, denn seine Stimme wird ebenso energisch wie sein Tonfall grantig ist.

„Fremdes Land, fremde Sprache, nicht richtig heimisch sein, angefeindet werden. Können Sie sich vorstellen, was das bedeutet?“

„Das ist bestimmt nicht einfach gewesen.“ Kleines Bonbon, so ein Zugeständnis. „Tobias Holtau war also gegen die Festanstellung von Frau Çelik“, springe ich zum eigentlichen Thema zurück. „War das der einzige Streitpunkt zwischen Ihnen und Tobias Holtau, Herr Schelski?“

Schelski kratzt sich durch das graue Gewöll auf seinem Kopf, und ich frage mich, ob es sich so anfühlt, wie es aussieht: robust und kratzig wie Stahlwolle.

„Wissen Sie was?“ Er gibt sich einen Ruck. „Ich will das schon noch mal erklären, das mit mir und Laleh und Tobias: Da waren diese großartigen Entwürfe, von wunderbar leichter Hand gezeichnet und dennoch von intensiver Plastizität. Die Figuren, die sie skizziert hatte, die Landschaft, in der Rudimente des jetzigen Ruhrgebiets zu schweben schienen. Eine neue, andere, aufregende Welt, und dennoch eindeutig hier in Essen. Und einen Plot, eine Handlung für den Level hatte sie auch gleich mitgeliefert. So unglaublich begabt! Ich habe mich neben ihr plötzlich alt gefühlt, irgendwie abgenutzt. Wir brauchen diese jungen Leute, habe ich gedacht. Wir brauchen sie dringend. Und sie, diese ganzen jungen Leute, sie brauchen ebenso dringend eine Chance. So langsam ist es an der Zeit, abzutreten, habe ich gedacht. Also, nicht im Sinne von Sterben, so meine ich das nicht, sondern einfach in dem Sinne, seinen Platz anderen zu überlassen. Jüngeren.“

Der Gedanke, den Schelski da gerade vor mir ausgebreitet hat, erwischt mich kalt. Er macht mich traurig und auch ein bisschen wütend. Weil er so erschreckend richtig ist, dieser Gedanke, und dann auch wieder nicht.

„Und dann musste ich wieder an Tobias denken“, fährt Schelski fort. „Auch er will seine Chance. Aber etwas ist anders bei ihm. Gierig, habe ich gedacht. Nicht einfach nur hungrig, sondern gierig, das ist er. Und ich habe mir da zum ersten Mal eingestanden, dass ich Tobias nicht mag, ihn nicht und erst recht nicht seine ganze Art. Und dann habe ich gedacht, dass ich so einem wie dem gar nicht Platz machen will und ich, wenn ich das tun würde, also, Tobias den Platz zu räumen, ihm einfach widerspruchslos das Feld überlassen würde. Nein, es blieb nicht bei dieser einen Auseinandersetzung. Sie war bloß der Auftakt. Die Erkenntnis, dass ich mich hier deutlich positionieren muss, um nicht untergebügelt zu werden von so einem wie Tobias.“

„Hm.“ Skepsis schwingt in diesem Laut mit und tut seine Wirkung: Schelski geht hoch wie eine Rakete.

„Verdammt noch mal, der Bengel kam frisch von der Uni und führte sich bald darauf schon so auf, als wäre er Gottvater persönlich. Seine Allüren sind mir schon eine ganze Zeit lang auf den Keks gegangen. Ich meine, anfangs war ich wirklich froh, dass sich da jemand um die Buchhaltung kümmern wollte. Das liegt mir nun mal nicht besonders, und Stefan, den kann man dafür völlig vergessen, der lebt in einer eigenen Traumwelt, in der Zahlen keine Rolle spielen. Aber Tobias hat sich immer tiefer ins Geschäft eingemischt, er wollte alles grundlegend verändern. Permanentes Wachstum, Global Playing, so ein Scheiß! Warum denn bloß? Uns geht es doch gut so. Es reicht dicke, was wir uns aufgebaut haben! Und es fängt beim Team an. Ich will Menschen, die Spaß an der Arbeit haben und deshalb einen guten Job machen. Und die davon auch vernünftig leben können. Das eine bedingt nämlich das andere, finde ich. Es liegt mir nun mal nicht, Leute über den Tisch zu ziehen. Irgendwann ist das Fass voll, und dann muss man auch mal die Klappe aufmachen.“

„Und so war das, als es um die Festanstellung von Frau Çelik ging?“

„Ja, so war das mit Laleh.“

„Duzen Sie eigentlich alle Ihre Mitarbeiter?“

„Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Frau Kriminalhauptkommissarin Kuschka. Nur so fürs Protokoll: Nicht ICH duze alle meine Mitarbeiter, sondern WIR duzen UNS alle gegenseitig. Wir können sonst nämlich nicht arbeiten, verstehen Sie? Weder Stefan noch ich. Aber deshalb habe ich noch lange kein Verhältnis mit Laleh, wenn es das ist, was Sie wissen wollen.“

Genau das hatte ich wissen wollen. Ich senke den Blick und hebe beschwichtigend meine Hände.

Die Grafik-Designer sitzen in einem Großraumbüro im Erdgeschoss des Gebäudes. Laleh Çelik kann ich nicht entdecken.

Der Raum ist sehr hoch, so wie es Räume in alten Fabrikgebäuden häufig sind. Die Arbeitsplätze sind mit schulterhohen Regalen abgeteilt, hinter denen man im Sitzen komplett abtauchen kann. Jeder Schreibtisch ist mit mindestens drei großen Bildschirmen sowie mehreren tageslichtähnlichen, separaten Lichtquellen ausgestattet. Zwei Sitznischen mit üppigen Eckcouches, zwei mit Ruhesesseln, die man fast in die Waagerechte fahren kann. Ich habe selbst so einen zu Hause. Einen Trinkbrunnen entdecke ich auch. Keine Seitenfenster, dafür ein großes Dachfenster mit einer hellen Stoffmarkise in der Mitte des Raumes, das einen Dschungel mit üppigem Grünzeug in Licht taucht. Auch hier dämpft Teppichflor meine Schritte. Ein Arbeitsplatz, der darauf ausgelegt ist, dass das Team sich wohlfühlt.

Auf der mir gegenüberliegenden Seite des quadratischen Raumes zwei offenstehende Türen. Hinter einer eine Teeküche, hinter der anderen ein weiteres Büro, ähnlich großzügig ausgestattet wie das von Paul Schelski. Stefan Holtaus Büro, vermute ich.

Der ist immer noch verschwunden. Merkwürdig, finden inzwischen auch die sechs anwesenden Mitarbeiter, mit denen ich darüber spreche. Dass er mal für ein paar Tage abtaucht, würde schon vorkommen. Stefan nenne das seine kreative Pause. Aber im Regelfall würde er vorher Bescheid geben, wenn er sich eine solche Auszeit nimmt. Hat er aber nicht. Natürlich würden sie alle gelegentlich auch im Homeoffice arbeiten, aber zu Hause sei er ebenfalls nicht.

Und Tobias Holtau? Scheint nicht sonderlich beliebt zu sein in diesem Team. So richtig auskotzen bei mir mag sich jedoch keiner von ihnen.

Draußen schlägt die Hitze über mir zusammen. Mein Compuflex zeigt 47 Grad an. Ich klappe das Sonnenvisier mit dem hohen Lichtschutzfaktor herunter, trete in den Schatten der Eingangsüberdachung zurück, schalte die Kühlung des Coolcats auf Höchsttouren und warte auf den Dienstcabin. Während er mich zum Unfallort bringt, gönne ich mir vier Schokoriegel, zwei Flaschen Wasser und einen Eistee aus der Kühlbox des Cabins.

Zeche Bonifacius, Essen-Kray

Mehrere Backsteingebäude aus rötlichen Ziegeln, durchbrochen von Mustern aus weißen Steinen. Das größte der Gebäude hat einen kunstvoll treppenförmigen Giebel. Ein pfeilförmiges Schild im verdorrten Gras weist in die Richtung, in der die Ruhr Adventures zu finden sind. Ich umrunde das Gebäude, gelange über Kopfsteinpflaster in einen Innenhof, steuere den Trinkbrunnen an, der deutlich sichtbar in der Mitte des Hofes steht, und fülle die Wasserflasche auf, die ich immer mit mir führe. Zur Rechten entdecke ich eine Fabrikhalle. Ruhr Adventures - Level 5, steht über dem Portal.

Bereits die schwere Eingangstür ist elektronisch mit dem Polizeisiegel gesperrt. Da hat sich das aber jemand sehr einfach gemacht, denke ich, als ich das Siegel mit dem Compuflex deaktiviere. Gleich das ganze Gebäude absperren? Hmmm.

In der Eingangshalle das Übliche: zur Linken ein Garderobenbereich mit vielen Ladestationen für die Coolcats, zur Rechten ein Tresen mit Terminals zum Einloggen. Daneben ein Regal mit elektronischen Schubfächern. Hier bekommt man, so das Display über dem Tresen, die Steuerungselemente für das Spiel, wenn man sich nach dem Zahlvorgang eingeloggt hat. An der Stirnseite der Halle eine weitere Tür, über der in Leuchtschrift Viel Spaß steht. Auch hier ein polizeiliches Siegel, das ich deaktiviere.

Voller Spannung betrete ich den Raum, der augenblicklich in grelles Licht getaucht wird. Ein Bewegungsmelder als Auslöser?

Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber dieses nüchterne Ambiente hier auf jeden Fall nicht: Der Raum ist komplett mit fester, weißer Reflektor-Folie ausgekleidet. Selbst der Fußboden ist mit dem Zeug bedeckt. Die Folie sieht schmutzig und fleckig aus, so, als wäre sie vor kurzem noch mit Wasser bedeckt gewesen.

An einer Seite des Raumes sehe ich eine Schiebetür, die ins Mauerwerk eingelassen ist. Scheint eine elektronische Steuerung zu sein. Kein einfacher Bewegungsmelder, denn die Tür öffnet sich nicht, als ich auf sie zu trete. Quer durch den Raum ist ein weißes Kabel gezogen, das kurz vor der gegenüberliegenden Wand die Studioleuchte anschließt, von der Schelski gesprochen hat. Neben der Studioleuchte eine weiße, scharfkantige Metallklappe. Dort also irgendwo ist der junge Holtau zu Schaden gekommen.

Ich schaue mir die Drohnenaufnahmen vom Polizeieinsatz noch mal an. Ja, genau dort hat er gelegen. Und der Boden ist sichtbar eine gute Handbreit hoch von Wasser bedeckt gewesen, so steht es auch im Protokoll. Was zum Teufel hat Tobias Holtau hier gewollt?

Mit der Kamera leuchte ich in den Versorgungsschacht. Keine Rohre, nur Leitungen, genau so, wie Paul Schelski es gesagt hat. Der Schacht selbst sieht trocken aus. Keine Spuren von Wasser.

Mehr ist nicht zu sehen. Ich bin enttäuscht. Keine Spiele-Grandezza, keine schillernden Welten. Die Fahrt hierher hat mich nicht weitergebracht.

Zweigstraße, Essen-Borbeck

Der Cabin kutschiert mich in eine Siedlung im Nordosten von Essen, bestehend aus einem Gemisch von Zechenhäusern und Reihenhäusern der Art, wie sie vor der Jahrtausendwende gebaut worden waren, nüchtern und praktisch. Während der Fahrt lasse ich mir ausspucken, was zu Malte Zeitler bekannt ist: Geboren in Rees, seit dem Tod seiner Eltern bei einem Verkehrsunfall bei seinen Großeltern in Essen aufgewachsen, da war er gerade neun gewesen. Die Großeltern sind auch schon länger tot, das Haus hat er vor sieben Jahren vom Großvater geerbt. Zeitler ist Anfang Dreißig, abgebrochenes Studium in Journalistik.

BUR – Büro für unabhängige Recherchen, steht auf einem Schild neben der grün gestrichenen Tür des Zechenhäuschens. Ich lache in mich hinein. Büro für unabhängige Recherchen? Ein hochtrabender Name für einen Privatdetektiv.

Malte Zeitler ist überrascht, als ich mich ausweise. Aber als ich ihm sage, dass ich seine Adresse von Schelski erhalten habe und Schelski mir auch von Zeitlers Recherchen bei der Ruhr Adventures GmbH berichtet hat, lässt er mich ein. Er bietet mir eine Ladestation für den Coolcat an und wartet geduldig, bis ich mich in dem engen Flur aus dem Overall geschält und ihn angeschlossen habe. Dann führt er mich in einen Raum im Erdgeschoss, offensichtlich sein Büro. In der Ecke brummt lautstark eine altmodische Klimaanlage, die die besten Jahre schon hinter sich gelassen hat.

Ein Naturbursche vom Niederrhein, der Herr Zeitler: Augen, klar und graugrün wie das Wasser eines Gletschersees, volle Lippen, blondes strubbeliges Haar. Ein Gesicht, so glatt wie geschliffener Speckstein. Nicht der Schatten eines Bartes, nur ein leises Fläumchen. So was gibt's ja, also, Männer mit schwachem Bartwuchs. Auf jeden Fall wird der auch in zehn Jahren noch immer so aussehen, als hätte er gerade erst Abi gemacht. Ein kleiner großer Junge, den man allerdings nicht unterschätzen sollte. Er sieht zwar harmlos aus, aber ich spüre instinktiv, dass man sich an ihm ordentlich die Zähne ausbeißen kann.

Auf dem Fenstersims seines Büros landet eine Taube mit viel Tamtam. Zeitler vollzieht mit dem Bürostuhl eine leichte Drehung und beobachtet sie.

So von der Seite betrachtet sieht er plötzlich gar nicht mehr so jung aus. Merkwürdig, vorne Babyface, im Profil markant. Die Taube späht mit schief gelegtem Kopf durchs Glas und entblößt ein Krebsgeschwür an ihrem Hals.

„Wie die das bloß aushalten da draußen, so ungeschützt bei diesen Temperaturen, die Vögel?“ Er schwingt wieder zu mir herum. „Obwohl, viele Vögel gibt es ja nicht mehr, eigentlich sind fast nur die Tauben geblieben.“ Ein trauriges Lächeln legt sich um seine Mundwinkel, und plötzlich ist er auch von vorne nicht mehr Bubi.

Ich hebe meinen Arm mit dem Compuflex, signalisiere, dass ich ihn als Zeugen befragen und das Gespräch aufzeichnen möchte, wenn er damit einverstanden ist.

Dann lege ich los. Die üblichen Fragen nach Namen, Wohnort et cetera pp. beantwortet er knapp und unaufgeregt. Erst als ich ihn nach seinem Beruf frage und danach, was ich mir unter unabhängigen Recherchen vorstellen müsse, wird er lebhaft.

„Vielleicht haben Sie ja schon mal von der Integra gehört?“

Ja, ich hatte sogar beruflich schon mal mit der Integra zu tun. Trotzdem schüttele ich den Kopf und lasse ihn weitererzählen.

„Die sitzen hier in Essen. Ein Verband unabhängiger Journalisten, die sich seit Anfang Zweitausend auf schwer recherchierbare Themen spezialisiert haben. Investigativer Journalismus unter dem Motto: unabhängig von Wirtschaft und Parteien.“ Seine Augen leuchten auf, während er das erzählt. „Dort habe ich ein halbes Jahr lang ein Volontariat gemacht. Danach habe ich mich selbstständig gemacht.“

„Warum sind Sie nicht bei der Integra geblieben? Wollten die Sie nicht übernehmen? Ach, stimmt ja, das ging nicht, weil Sie Ihr Studium abgebrochen haben, richtig?“

Zeitlers Gesichtsausdruck verändert sich bei dieser Frage, minimal zwar nur, aber ich scheine einen wunden Punkt getroffen zu haben. Er wäre nur zu gerne bei der Integra geblieben, erkenne ich.

Er hat sich sofort wieder im Griff. Übergeht meine Frage einfach und erzählt munter weiter, etwas zu lebhaft für meinen Geschmack.

„Ich bin Investigator und biete Recherchearbeiten für die kleinen Leute an. Für solche, die sich die Integra nicht leisten können. Wenn die Probleme haben mit ... beispielsweise Gerüchen, die sie belästigen, weil irgendeine Industrie bei ihnen das Zeug in die Luft bläst. Lärmbelästigung, Probleme auf dem Arbeitsplatz, Mobbing, stalkende Zeitgenossen, Belästigung ihrer Kinder. So was halt.“

„Und das läuft?“ Ich versuche erst gar nicht, meine Skepsis zu verbergen.

Zeitler nickt knapp.

Nein, so richtig gut läuft es nicht, denke ich. Eher so lala, gerade mal zum irgendwie über die Runden kommen, so geht es ihm. Und er wäre verdammt gerne bei der Integra geblieben, deutlich lieber, als in die unsichere Selbstständigkeit zu gehen, das sagt mir sein leicht verletzter Blick. Und dass mich das nichts angeht, das sagt sein Blick ebenfalls. Nix da, Jüngelchen, was mich was angeht und was nicht, das entscheide immer noch ich. Kommt darauf an, wie sich die Sache hier entwickelt!

Aber jetzt ist Schluss mit dem Vorgeplänkel. „Waren die Ermittlungen, mit denen Schelski Sie beauftragt hat, undercover oder offiziell?“

„Undercover. Paul hat mich als Sohn eines Freundes eingeschleust und mir eine Einladung zur Eröffnungsfeier von Level 6 gegeben. Da ging das Ganze dann los.“

„Die Eröffnungsfeier? Da wäre ich wohl auch gerne dabei gewesen!“

Mein Enthusiasmus ist nicht gespielt, denn die Bilder dieser Feier haben sich in mein Gehirn gebrannt. Kommt auch bei Zeitler gut an, dieser Enthusiasmus, denn er lächelt in sich hinein.

„Und? Haben Sie etwas gefunden?“

„Etwas, was auf Sabotage hinweisen könnte? Nicht direkt. Was genau ist mit Tobias passiert?“

„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Also, was haben Sie herausbekommen?“