Nachtgeschwister - Natascha Wodin - E-Book

Nachtgeschwister E-Book

Natascha Wodin

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Beschreibung

»Ich wusste sofort, dass ich auf etwas Großes gestoßen war, auf etwas Einmaliges, auf einen Dichter, wie es sie zu allen Zeiten nur vereinzelt gegeben hat.« Ein Bändchen mit Gedichten, eher zufällig mitgenommen in einer Buchhandlung, ist der Auslöser für eine leidenschaftliche Liebesgeschichte, eine Obsession, eine quälende Verstrickung. »Schon von den ersten Zeilen ging eine Kraft aus, ein Licht, eine Dunkelheit, ein Schmerz, eine Schönheit, eine Wucht« – so erzählt die Frau, die die Gedichte liest –, »dass sich die Welt in einem einzigen Augen­blick für mich verändert hat, weil es in ihr jetzt diese Stimme gab.« Die Stimme des Seelenverwandten, die Stimme eines Verlorenen. Aber auch eines Gefundenen. Denn nun setzt sie alles in Bewegung, um den Autor dieser Gedichte zu treffen, der unerreichbar ist im anderen Teil Deutschlands. Sie schreibt, sie ruft an. Und als er eines Tages tatsächlich kommt, wird ihr Traum wahr. Und zum Albtraum. Denn der Mann, der kommt und bleibt, ist anders, als sie ihn sich erfunden hat. Natascha Wodin erzählt in betörenden Bildern von einer Liebe und ihrer Unmöglichkeit. Zu unterschiedlich sind die Welten, die Erfahrungen, die Bedürfnisse. Zu groß ist die mitgebrachte Verstörung. Seine Existenz und ihrer beider Leben ist das Schreiben, die Nacht. Das ist es, was von ihrer Liebe bleibt.

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Seitenzahl: 340

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Zum Buch

Eine leidenschaftliche Liebesgeschichte, eine Obsession, eine quälende Verstrickung.

„Ich wusste sofort, dass ich auf etwas Großes gestoßen war, auf etwas Einmaliges, auf einen Dichter, wie es sie zu allen Zeiten nur vereinzelt gegeben hat.“ Ein Bändchen mit Gedichten ist der Auslöser für eine leidenschaftliche Liebesgeschichte, eine Obsession, eine quälende Verstrickung. „Schon von den ersten Zeilen ging eine Kraft aus, ein Licht, eine Dunkelheit, ein Schmerz, eine Schönheit, eine Wucht“ – so erzählt die Frau, die die Gedichte liest –, „dass sich die Welt in einem einzigen Augenblick für mich verändert hat, weil es in ihr jetzt diese Stimme gab.“ Die Stimme des Seelenverwandten, die Stimme eines Verlorenen. Nun setzt sie alles in Bewegung, um den Autor dieser Gedichte zu treffen, der unerreichbar ist im anderen Teil Deutschlands. Sie schreibt, sie ruft an. Als er eines Tages tatsächlich kommt, wird ihr Traum wahr. Und zum Albtraum. Denn der Mann, der kommt und bleibt, ist anders, als sie ihn sich erfunden hat.

Über die Autorin

Natascha Wodin, 1945 in Fürth geboren, lebt als freie Schriftstellerin und Übersetzerin aus dem Russischen in Berlin. Für ihre Bücher (u.a. »Die gläserne Stadt«, »Einmal lebte ich«, »Erfindung einer Liebe«) ist sie mit dem Hermann-Hesse-Preis und dem Adalbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet worden. Natascha Wodin erhielt 2017 den Preis der Leipziger Buchmesse..

Natascha Wodin

Nachtgeschwister

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

Ich wage zu behaupten: Nahezu alles Wissen, das nicht Wissen um uns selbst ist,ist umsonst.

IMRE KERTÉSZ

MEINEN TÄGLICHEN WEG VON DER M-Straße in die I-Straße nenne ich den Weg zum leeren Briefkasten. Außer den üblichen Reklamesendungen, mit denen die verbeulten Briefkästen im Treppenhaus ständig vollgestopft sind, findet sich darin nur gelegentlich eine Sendung für die Studentin, von der ich die Wohnung vorübergehend gemietet habe. Kuverts mit Kontoauszügen ihrer Bank, Schreiben der Hausverwaltung, die ich absprachegemäß öffne, persönliche Reklamesendungen des Fitnessstudios, in dem die Sportstudentin gejobbt hat, bevor sie nach Australien ging. Einmal fand ich eine Ansichtskarte, auf der mein Name stand. Sie war von der Studentin, die mir herzliche Grüße aus Down Under schickte, von tollen Grillpartys am Strand schwärmte und mir eine gute Zeit in ihrer Wohnung wünschte. Auf der Vorderseite der Karte war eine junge Frau in weißen Shorts abgebildet, die vor dem Eingang zu einem Zoo stand und ein possierlich auf den Hinterbeinen stehendes Känguru fütterte.

Es ist drei Uhr nachmittags, aber es dunkelt schon, die Autos fahren mit Licht. Für viele ist der Arbeitstag bald zu Ende, aber ich bin erst vor einer halben Stunde aufgestanden und fühle mich deshalb auf eine diffuse Weise schuldig, obwohl ich nicht länger schlafe als andere, sondern nur zu einer anderen Zeit. Viele Jahre habe ich versucht, mich Jakobs Lebensrhythmus zu entziehen, aber auf Dauer gelang es mir nicht; nach und nach entfernte ich mich ebenfalls mehr und mehr vom Tagleben und geriet zunehmend in den Sog von Jakobs Nachtexistenz.

In der M-Straße, in der ich ein winziges Schlafzimmer habe, dessen Fenster auf eine verrußte Wand hinausgeht, ziehe ich mich meistens nur schnell an, ich putze mir nicht einmal die Zähne, sondern kämme mir nur schnell das Haar, nehme den bunten Stoffbeutel vom Haken, den ich meine Hinundhertasche nenne, und verlasse die Wohnung. Im Flur höre ich Jakob hinter der Tür zu seinem Arbeits- und Schlafzimmer schnarchen, ich höre ihn um Luft ringen im Schlaf; er scheint sich gegen die Luft zu wehren, mit ihr zu kämpfen wie mit einem Feind, der ihn im Schlaf erwürgen will. Ich weiß nicht, wie lange er schläft, seit ich ihn nicht mehr wecke, seit ich ihn seinem Schlaf überlassen habe, aus dem er nicht allein aufwachen kann.

Ich gehe also in Richtung I-Straße, wie jeden Nachmittag, der mein Morgen ist, kleine, stachelige Schneeflocken fallen mir in den Kragen und verwandeln sich in klebrigwarme Feuchtigkeit in meinem Nacken. Alles um mich herum ist eingeschmolzen in ein einheitliches, filziges Grau, der Himmel, die Luft, die Häuser, die Straßen. Den ganzen Winter leide ich an Reizhusten. Qualm, Ruß und Gestank der verheizten ostdeutschen Braunkohle gehen hier eine infernalische Symbiose mit den Ausstößen der neuen Westwagen ein, die jetzt auch hier die Straßen verstopfen. Die Wiedervereinigung der deutschen Luft scheint eine ungeahnte, lebensgefährliche Konzentration an Gift hervorzubringen.

Gewohnheitsmäßig umschiffe ich Baustellen und Absperrungen, balanciere an Baugruben entlang, denen ein Brechreiz erzeugender Verwesungsgestank entweicht. Andere Erdlöcher setzen einen seltsam chemischen Geruch frei, eine Art Zahnarztgeruch in vielfacher Konzentration. Es ist, als entströmte den aufgerissenen Eingeweiden der Stadt ein in Jahrhunderten aufgestauter Gestank, die Leichenfäulnis von Generationen, die jetzt freigesetzt wird von den Baumaschinen.

Vor dem Eingang zu einer Eckkneipe, die aus unerfindlichem Grund »Zum Seestern« heißt, liegt, geschützt unter dem Baugerüst, der gottergebene Schäferhund, der hier immer liegt, bei jedem Wetter und zu jeder Tages- und Nachtzeit, meist auch dann, wenn ich am frühen Morgen von der I-Straße zum Schlafen in die M-Straße gehe. Auch um diese Uhrzeit ist die Kneipe noch oder schon wieder geöffnet; sie scheint rund um die Uhr Herberge für solche zu sein, die auf der Strecke geblieben sind, die ihre alten Arbeitsstellen verloren und den Anschluss an die neue Gesellschaft nicht geschafft haben, Wendeabfall, abgewickelte, entsorgte Menschen. Für sie existieren diese Kneipenasyle, Heimathäfen, in denen sie unter sich sind und den Rest ihres Lebens vertrinken. Der Schäferhund, der den Eingang bewacht, hebt eine Braue und wirft mir träge einen halben Blick zu, während ich vorübergehe, eine von denen, die er kennt, die hier immer vorübergehen, jeden Tag, jede Nacht und bei jedem Wetter.

Die ganze Gegend ist gezeichnet von den Kürzeln einer unentzifferbaren Geheimschrift, die Fassaden der Häuser, Laternenpfähle, Baucontainer, irgendwelche nie gesichteten Wesen gehen um und schmelzen alles in diese Hieroglyphen ein, stecken ihr Terrain ab, zeichnen es mit ihren rätselhaften Chiffren. Aber es gibt auch lesbare Äußerungen: »Liebe das Leben und hasse den Staat« steht auf einer verrotteten, immer herabgelassenen Jalousie, »Die Anarchie ist machbar, Herr Nachbar« hat jemand an eine verrußte Mauer geschrieben, die zu einem Haus mit zerplatzten Karyatiden und halb eingestürzten Balkonen gehört. Auch die funkelnagelneue Fassade eines Hauses, dessen Sanierung bereits abgeschlossen ist und das aussieht wie ein luxuriöses Implantat in einem morschen Greisengebiss, ist bereits getauft, »Yuppies raus« steht in großen schwarzen Lettern auf dem schneeweißen neuen Putz mit den hellblauen Rosetten über den Fenstern.

Ich gehe an der Konditorei vorbei, wo es die vielstöckigen Buttercremetorten gibt, die mich an die westdeutschen Fünfzigerjahre erinnern, so fett und schwer wie nur möglich, das Riesenstück für eine Mark. Das Geschäft läuft; immer sieht man Kunden im Laden, die westliche Hungermode ist hier noch nicht angekommen.

Ein paar silbergespickte Punks mit roten und grünen Haarsicheln ziehen gemächlich an mir vorüber, begleitet von ihren langmütigen Hunden. Wer sind sie? Junge Westberliner, die hier einen neuen Abenteuerspielplatz gefunden haben, oder sind es junge Ostdeutsche, die so schnell in eine westdeutsche Antihaut geschlüpft sind? Nie weiß ich, was ich hier sehe, wo ich eigentlich bin, in welcher Zeit, an welchem Ort. Ist das noch der Osten oder schon der Westen, ist es die Vergangenheit oder schon die Zukunft? Ich weiß nur, dass ich in einer Welt des Verschwindenden bin, jeder Blick ist ein erster und ein letzter zugleich, schon morgen, schon in der nächsten Stunde kann das, was ich gerade sehe, für immer verschwunden sein. Ich schaue und möchte die Zeit anhalten, ich fühle mich wie die letzte Zeugin einer untergehenden Realität, ihre einzige Protokollantin; ich befinde mich in einem ständigen Wettlauf mit der Zeit, der ich entreißen muss, was unentwegt zu Ende geht.

Eine alte Frau kommt mir entgegen, schleppt ihre aufgedunsenen, aus den Schuhen quellenden Beine über das brüchige Pflaster. Sie hat die Augen auf den Boden unter sich geheftet und hält sich an ihrer Handtasche fest wie an einem Geländer. Woher kommt sie, wo geht sie hin? Man sieht, dass ihr schwerer Körper eine kaum noch tragbare Last für sie ist. Sie schafft immer nur drei, vier winzige Schritte hintereinander, dann muss sie anhalten, um zu verschnaufen, und jedes Mal scheint es, dass sie für immer stehen geblieben ist, dass sie es nicht mehr schaffen wird, ihren zu Tode erschöpften Körper noch einmal in Bewegung zu setzen.

Ich gehe, schaue und weiß schon wieder nicht, wo ich bin. Wie von einer Zeitmaschine wird man ständig von einer Epoche in eine andere katapultiert. Auf einer Straßenseite ein neu eröffneter, hypermoderner Copyshop, auf der anderen Straßenseite werden Kohlen abgeladen. Zwei Männer mit schwarz verschmierten Gesichtern heben die schweren, grobmaschigen Säcke, die noch genauso aussehen wie in der Nachkriegszeit, von einem Pritschenwagen und schleppen sie auf ihren Rücken in einen geöffneten Hauseingang. An einem Haus, das aussieht wie ein verwittertes, halb eingestürztes Dornröschenschloss, steht in neuen roten Leuchtlettern das Wort »Finnsauna«.

Ich biege in eine schmale, wenig frequentierte Straße ein, in der die Baumaschinen noch nicht angekommen sind, in der es wahrscheinlich noch fast genauso aussieht wie früher. Keine Geschäfte, kaum Autos, dunkle Toreinfahrten, Stille. Wie Wracks einst prächtiger Ozeanriesen stehen die Häuser an der Straße, verfallene Paläste, Stein, der sich selbst überlassen wurde, seinem Eigenleben, seinem natürlichen Verfall. Sichtbare Vergangenheit, Geschichte, Geschichtetes, von der Zeit Abgetragenes und neu Überlagertes, in zahllosen Schichten, lebender, überlebender, überlebter Stein, den es bald nicht mehr geben wird, auf den von allen Seiten das Heer der Baumaschinen zurückt. Ein einzelner, sonnenrot angestrichener Fensterrahmen kommt mir vor wie ein Schiffchen, das sein kleines farbiges Segel dem ozeanischen Ewigkeitsgrau der Straße entgegenhält. Die vielen Satellitenschüsseln, die stumm von den Häusern in die Straße schauen, erwecken den Eindruck irgendeines mysteriösen Radarsystems, das Außerirdische hier hinterlassen haben.

Ich verstecke mich tiefer im Kragen meines Mantels, ich friere, und ich habe Angst davor, gesehen zu werden. Man kennt sich in diesem Viertel, viele kennen hier Jakob und wissen, dass ich seine Frau bin, die zu werden ich einst nicht zu träumen wagte, und die zu sein ich mich jetzt so schäme. Jeder, der an mir vorbeigeht, kann jemand sein, der mich kennt, ohne dass ich es weiß. Jeder, der weiß, dass ich Jakobs Frau bin, kann, so scheint es mir, bis auf den Grund meines Fiaskos sehen. Ich gehe wie durch eine Schneise wissender Blicke, die mich für eine Unwissende halten, und mein einziger Triumph ist, dass das nicht stimmt, dass ich eine wissende Betrogene bin. Aber dieser Triumph ist gleichzeitig meine tiefste Schmach. Ich weiß es nur deshalb, weil ich Jakobs Leben ausspioniere, fortgesetzt und zwanghaft, getrieben von der Hoffnung, nichts mehr zu finden, das mich zwingt, Jakob zu verlassen, obwohl ich keine Ahnung habe, warum ich immer noch bei ihm bin, was mich noch an ihn bindet außer der Angst vor dem Alleinsein mit mir selbst. Vielleicht ist diese Angst so groß, dass ich lieber mich selbst aufgebe als Jakob; vielleicht brauche ich ihn nur noch, um mir selbst nicht begegnen zu müssen. Vielleicht brauche ich auch meinen Hass gegen Jakob, um meine Angst nicht mehr zu spüren. Schon oft habe ich geglaubt, jemanden zu hassen, aber ich hatte keine Ahnung, was Hass wirklich ist, was für eine Macht er besitzt und wie er funktioniert. Ich habe gedacht, dass Hass zu Entzweiung, zu Trennung führt, aber das Gegenteil ist der Fall. Der Hass bindet mich stärker, unauflöslicher denn je an Jakob, der Hass hat die Eigenschaft, den Hassenden mit dem Gegenstand seines Hasses zu verschweißen, und in dieser Aussichtslosigkeit reproduziert und potenziert er sich unentwegt selbst, wie eine Stichflamme, die sich ständig an sich selbst entfacht. Ich gehe und versuche, mich zu erinnern, immer wieder. Wie das alles angefangen hat. Ich suche nach des Rätsels Lösung, ich suche so fieberhaft und panisch danach, als ginge es um meinen Kopf, als handelte es sich um das Rätsel jener Sphinx, die jeden tötet, der die Lösung nicht findet. Ich bin der Wahnidee verfallen, dass ich Jakobs Rätsel lösen, dass ich in mir den Blick finden muss, der ihn erklärt und damit entmachtet. Ich bilde mir ein, dass mich nur das retten kann. Retten vor dem Gefühl, dass ich nicht mehr leben kann, solange Jakob lebt. Dass es nur diese Wahl gibt. Er oder ich. Ich gehe, versteckt in meinem Mantelkragen, und höre mein Herz hämmern: er oder ich, er oder ich… Ich gehe und versuche, mich zu erinnern. Immer wieder, zum hundertsten, zum tausendsten Mal fange ich von vorn an…

Es war dreieinhalb Jahre vor dem Mauerfall, als ich das kleine, schon etwas angegilbte Taschenbuch auf dem Wühltisch einer Buchhandlung fand. Ich nahm es mit, weil es nur eine Mark kostete und weil mir der Name des Autors ins Auge fiel: Jakob Stumm. Ein Dichter, der ausgerechnet Stumm hieß. Es klang wie ein Witz. Ich fand unter den Ramschexemplaren noch einen Erzählband von Arthur Schnitzler, eine Taschenbuchausgabe von Thomas Bernhards »Kalkwerk« und Nabokovs »Einladung zur Enthauptung«, dann ging ich zur Kasse und bezahlte bei dem freundlichen Buchhändler, in dessen Laden ich einst eine meiner allerersten Lesungen hatte. Wir unterhielten uns noch ein wenig, dann trat ich wieder hinaus auf die Straße, in den windigen, regnerischen Apriltag. Aus irgendeinem Grund erinnere ich mich genau, dass ich ein gebatiktes Kopftuch in stumpfen Lilatönen mit gelblichen und orangefarbenen Sprenkeln trug.

Erst etwa einen Monat später fiel mir der kleine Gedichtband des Autors mit dem seltsamen Namen zufällig wieder in die Hände. Ich schlug es auf und war wie vom Blitz getroffen. Schon von den ersten Zeilen, auf die mein Blick gestoßen war, ging eine Kraft aus, ein Licht, eine Dunkelheit, ein Schmerz, eine Schönheit, eine Wucht, dass ich zurückprallte und mich buchstäblich an der Tischkante festhalten musste, um nicht vom Stuhl zu fallen. Ich wusste sofort, dass ich auf etwas Großes gestoßen war, auf etwas Einmaliges, auf einen Dichter, wie es sie zu allen Zeiten nur vereinzelt gegeben hat.

Mein Freund Paul, mit dem ich seit über dreizehn Jahren zusammenlebte, arbeitete für eine Dritteweltorganisation und war gerade auf einer seiner langen Auslandsreisen. Ich war für mehr als fünf Monate allein in unserem Häuschen auf dem Land, das wir zusätzlich zu unserer Stadtwohnung in Nürnberg gemietet hatten. Es war ein einfaches, im billigen Nachkriegsstil erbautes Einfamilienhaus, das am Rand eines typischen Schlafdorfes stand, in dem es keine Bauern mehr gab. Alle Einwohner arbeiteten irgendwo in der Stadt; tagsüber war der Ort ausgestorben, abends belebt nur von dem blauen Geflimmer der Fernseher hinter den gefältelten Gardinen. Außer der Kirche, die jede Viertelstunde die Zeit schlug, gab es hier nur noch einen kleinen Edeka-Laden und eine Gaststätte, die neben der einstigen Dorflinde stand und »Zur Linde« hieß. Man konnte hinaufsteigen zu einer Aussichtsplattform, von der aus man einen weiten Blick über die Miniaturberge und Täler der Fränkischen Schweiz hatte und deretwegen sich manchmal ein paar Touristen in den Ort verirrten.

Aus den hinteren Fenstern unseres Häuschens sah man in einen Wald aus Kirschbäumen. Es war Mai, die Bäume standen in voller Blüte, ich sah hinaus in das gischtende Weiß vor meinem Fenster; an diesen Augenblick erinnere ich mich genau: Ich hatte meine Augen von dem vor mir liegenden Buch gehoben, und für immer hat sich mir die erste Kunde von Jakob Stumm mit dem Bild des weißen Blütenozeans verbunden. Von diesem Moment an war nichts mehr so, wie es eben noch gewesen war, in einem einzigen Augenblick hatte sich die Welt für mich verändert, weil es jetzt in ihr diese Stimme gab, die Stimme aus diesem halb verwitterten Bändchen mit Gedichten, die Stimme irgendeines sang- und klanglosen Jakob Stumm, der, wie im Klappentext zu lesen war, in der DDR lebte.

Ich hatte Angst vor dem Weiterlesen, davor, dass ich schließlich doch keinen Platz finden würde in den Gedichten, dass das Gefundene sofort wieder das Verlorene sein würde. Wahrscheinlich, so nahm ich vorweg, war ich beim Aufschlagen des Buches nur auf einen grandiosen Zufallstreffer des Autors gestoßen, der Rest würde mir genauso wenig sagen wie der größte Teil der mir bekannten deutschen Gegenwartslyrik. Doch je weiter ich las, immer fieberhafter umblätternd, desto weiter, gewaltiger, dröhnender wurde der Raum, in den ich eintauchte. Es war, als öffnete sich hinter jeder Tür noch eine und noch eine; ich stockte, es verschlug mir den Atem, aber es ging weiter, immer weiter, jede Zeile, die ich las, schien die vorherige noch zu übertreffen an Sprachgewalt. Das andere Deutschland, in dem ich nie gewesen war, das immer nur ein Schattendasein in meinem Bewusstsein geführt hatte, war schlagartig zum wichtigsten Ort der Welt für mich geworden. Es musste tatsächlich irgendein ganz anderes, meiner Vorstellungswelt unzugängliches Deutschland sein, wenn es der Ursprungsort solcher Gedichte war.

Das kleine Buch war schon vor sechs Jahren in einem angesehenen westdeutschen Verlag erschienen; im Klappentext hieß es, dass die Gedichte die erste Veröffentlichung des Autors waren und dass sie in DDR nicht erscheinen durften. Der Autor, der fünf Jahre älter war als ich, lebte in Leipzig und schlug sich, wie es hieß, als Fabrikarbeiter durch. Vor dem Hintergrund der Gedichte klangen die kurzen biografischen Angaben ungeheuerlich, sie lieferten, sozusagen, den Beweis für den Realitätsgehalt der Gedichte. Sie handelten von der Finsternis und Verdammnis eines Menschen, der der einsamste und verlorenste war, von dem ich je gehört hatte. Ein Arbeiter, der Worte fand für eine Welt, die eine Wüste war, eine Wüste, in der es außer ihm kein einziges anderes Lebewesen gab. Ein Arbeiter, der Worte fand für seine aussichtslose Sehnsucht nach einem anderen Leben. Es waren die Worte eines Verkannten und Verbannten, die Klopfzeichen eines Unterirdischen, eines Verschütteten, die ich vernommen hatte. Klopfzeichen, die mir galten; ich wusste es, ich wusste es mit einer Sicherheit wie noch nie etwas vorher. Wie sollte ich ihm mitteilen, dass ich ihn gehört hatte, dass er ein Gefundener war?

Noch nie zuvor in meinem Leben hatte ich an einem Ort gewohnt, wo ich der DDR so nah war wie jetzt, in dem Häuschen in der Fränkischen Schweiz. Es waren nur knappe hundert Kilometer bis zum Grenzübergang Hirschberg; ich sah die Schranken und Wachttürme vor mir, die Elektrozäune und die eisigen Gesichter der Grenzbeamten; ich sah das graue Nichts der Transitstrecke nach Westberlin vor mir, ich erinnerte mich genau an das Ausfahrtsschild mit der Aufschrift »Messestadt Leipzig«. Es war eine unwirkliche Vorstellung, dass Jakob Stumm mir räumlich so nah war, dass er denselben Himmel sah wie ich, dass bei ihm vielleicht derselbe Regen fiel wie hier, dass die Landschaft hinter Leipzig vielleicht der glich, die ich hier aus dem Fenster sah. Fast kam es mir vor wie ein heimlicher, verbotener Blick in sein vor mir verborgenes Leben, seine Wirklichkeit hinter den Gedichten, hinter der undurchdringlichen Grenze zur anderen deutschen Welt. Er war nur zwei Autostunden von mir entfernt und doch unerreichbarer als er es irgendwo auf den Fidschi-Inseln gewesen wäre.

Ich betrachtete sein Foto auf der Rückseite des kleinen Bandes. Das Brustbild einer absichtsvoll verdunkelten, im Gegenlicht aufgenommenen Gestalt ohne Umgebung, ohne Hintergrund. Die Umrisse eines offenbar nicht allzu groß gewachsenen, ungeschlacht wirkenden Mannes, der im Leeren stand, wuchtig und zugleich irgendwie schwankend. Man sah ihm den Arbeiter, den Underdog deutlich an, man schien das Maschinenöl an dieser Gestalt zu riechen, den Schweiß körperlicher Arbeit. Alles andere als ein Schöngeist, ein feinsinniger Intellektueller, vielmehr ein Wesen aus dem Reich des mir kaum vorstellbaren Proletariats der DDR. Ein klobiges, slawisch wirkendes Gesicht mit einer scharfen senkrechten Falte über der Nasenwurzel, die die Stirn in zwei Hälften zu teilen schien. Es ging etwas völlig Unzugängliches, Undurchdringliches von ihm aus; er gab der Kamera keinen Zentimeter von sich preis. Es war, als blickte man auf ein Haus ohne Fenster und Türen. Und zugleich auf eine Lichtgestalt. Der Fotograf hatte dem Mann in der unansehnlichen Arbeitskluft einen Heiligenschein verliehen. Die von hinten durchleuchteten zerzausten Locken, die einem verspäteten Hippie gehören konnten, bildeten am Rand einen hellen, flimmernden Lichtkranz um seinen wuchtigen Kopf. Ein unnahbarer, verschatteter Cherub, dessen Geheimnis nicht zu ergründen war. Je länger ich ihn ansah, desto unsicherer wurde ich mir seiner Existenz außerhalb von mir, desto mehr schien er ein Teil von mir selbst zu werden, ein inneres Bild meiner Sehnsucht, das ich in die Außenwelt projizierte.

Eine biografische Tatsache, in der ich bisher nur einen Zufall gesehen hatte, gewann plötzlich schicksalhafte Bedeutung für mich. Mein Leben hatte einst in Leipzig begonnen, im Körper einer jungen ukrainischen Zwangsarbeiterin, die, interniert in einem Außenlager des KZs Buchenwald, für einen Rüstungsbetrieb des Flick-Konzerns arbeiten musste, eine der Zahllosen, die die Nazis während des Kriegs aus ihren östlichen Heimatländern nach Deutschland verschleppt hatten, zur Zwangsarbeit. Jetzt war ich getrennt von Jakob Stumm, aber damals, in meiner bewusstlosen Vorzeit, war ich an dem Ort, an dem er sich jetzt befand. Wahrscheinlich, so sagte ich mir, hatte er auch schon damals, ein Kind noch, in Leipzig gelebt, und ich war sicher, dass unsere Verbindung bereits aus dieser Zeit stammte, dass Leipzig unser gemeinsamer Ursprungsort war und unsere Fäden sich schon damals miteinander verknüpft hatten.

Ich traute mich nicht, bei seinem Verlag anzurufen, wahrscheinlich hätte man mir, einer fremden Anruferin, seine Adresse ohnehin nicht preisgegeben. Ich schrieb einen Brief und schickte ihn an die Adresse des Verlags, mit der Bitte um Weiterleitung an den Autor. Nun konnte ich beginnen zu warten.

Draußen regnete es. Der Regen schlug an die Fensterscheiben, rauschte im Laub der Kirschbäume, trommelte auf den Beton der kleinen Veranda, gurgelte in der Dachrinne. Es regnete und regnete, als hätte die Ewigkeit eingesetzt. Die Felder standen unter Wasser, mein Garten hinter dem Haus war längst ertrunken, mehr und mehr schien die flüssige Materie Oberhand über die feste zu gewinnen, mehr und mehr fiel der Regen vom Himmel in sich selbst hinein. Auf dem Nachbargrundstück stand ein Pferd im Morast, reglos, mit gesenktem Kopf, als wäre es für immer eingeschlafen im Regen oder im Stehen gestorben.

Die Wochen vergingen, und es kam keine Antwort von Jakob Stumm. Wahrscheinlich, so dachte ich, hatte mein Brief ihn gar nicht erreicht, entweder hatte der Verlag ihn nicht weitergeschickt, oder er war irgendwo in dem dunklen Spalt zwischen den Welten verschwunden. Schließlich stellte sich heraus, dass eine meiner Freundinnen den Cheflektor des Verlags kannte, in dem Jakob Stumms Buch erschienen war. Sie versprach mir, ihn anzurufen, und kurz darauf war ich im Besitz der Buchstaben und Zahlen, die direkt zu Jakob Stumm führten, zu seiner privaten Adresse in Leipzig.

Wenn gegen Mittag der gelbe Postwagen vor dem Haus hielt und wieder wegfuhr, lief ich in fiebriger Erwartung hinaus zum Briefkasten, der am Gartentor hing wie ein verwittertes Vogelhäuschen, doch wieder vergingen die Wochen, und auch auf den Brief, den ich direkt nach Leipzig geschickt hatte, kam keine Antwort. Nur von Paul bekam ich fast jeden Tag einen Luftpostbrief vom anderen Ende der Welt. Als ich ihn vor dreizehn Jahren kennenlernte, glaubte ich, dem Albtraum meiner Vergangenheit endlich entronnen zu sein. Der Welt meiner Eltern, die nach dem Ende des Kriegs zu überflüssiger Menschenbeute in Deutschland geworden waren, sogenannte Displaced Persons, die in ihren Heimatländern als Verräter und Kollaborateure galten, weil sie sich hatten zwingen lassen, für den deutschen Kriegsfeind zu arbeiten, in Deutschland blieben sie slawische Untermenschen, der bolschewistische Weltfeind im eigenen Land. Ich wuchs im Bewusstsein meiner negativen Besonderheit auf. Die deutsche Schule war meine tägliche Folterbank, mein täglicher Pranger. Ich saß allein in der letzten Bank, und alle sahen sich nach mir um. Ich war schuld daran, dass zahllose deutsche Väter und Söhne in Russland gefallen oder als Krüppel aus dem Krieg zurückgekommen waren; ich war schuld daran, dass russische Soldaten ungezählten deutschen Frauen das Schlimmste angetan hatten; ich war schuld daran, dass die Russen den Deutschen ihr halbes Land weggenommen hatten; ich war schuld daran, dass die Russen dem Verlobten unserer Lehrerin Fräulein Schorrn die Augen mit glühenden Kohlen ausgebrannt hatten. Mein Vater war zu einem steinernen Gast in Deutschland geworden, er war in seine Innenwelt emigriert, meine Mutter zerbrach und nahm sich das Leben, als ich zehn Jahre alt war. Meine einzige Hoffnung war schon im Kindesalter der deutsche Mann, der mich später einmal heiraten würde. Die Ehe, die ich mit neunzehn Jahren einging, war mehr als das Erhoffte, ein gesellschaftlicher Aufstieg, von dem ich nicht zu träumen gewagt hatte. Doch das gehobene deutsche Bürgertum, das ich für das höchste Glück auf Erden gehalten hatte, erwies sich sehr schnell als neues Gefängnis für mich, eine Welt, in der ich mir nach kurzer Zeit vorkam wie ein Zierfisch in einem Aquarium. Erst als ich schließlich beinah über Nacht in die Welt der linken deutschen Studenten geriet, begann für mich endlich das Leben. Ich lernte Menschen mit völlig anderen Gedanken und Ansichten kennen, mit ganz anderen Bedürfnissen und Lebensentwürfen; zum ersten Mal in meinem Leben war es nichts Schlechtes mehr, eine Russin zu sein, es war, im Gegenteil, etwas Gutes; ich stammte nicht von Untermenschen ab, sondern vom fortschrittlichsten Volk der Welt, das als erstes das Experiment des Sozialismus gewagt hatte. Kurz nach meiner Scheidung lernte ich Paul kennen, einen Soziologiestudenten, und zog mit ihm in eine Wohngemeinschaft. Er war völlig anders als mein geschiedener Mann; er versuchte nicht, mich zu bevormunden, zu erziehen, zu verändern, im Gegenteil, er schien mich zu bewundern, er war der erste Mensch in meinem Leben, der mich so liebte wie ich war, der mir die Freiheit gab, ich selbst zu sein. Aber meine Freiheit währte nicht lange. Der Raum, den Paul mir für mich gab, füllte sich langsam und schleichend mit Angst, immer mehr Angst. Die Angst begann in mich hineinzustürzen wie durch einen gebrochenen Damm. Mein ganzes bisheriges Leben hatte mein Körper unentwegt die Kampfenergie erzeugt, die ich zum Überleben gebraucht hatte. Jetzt bedrohte mich plötzlich nichts mehr, und das schien die größte Bedrohung zu sein. Die überflüssig gewordene Kampfenergie, die mein Körper weiterproduzierte wie ein Automat, den ich nicht anhalten konnte, verwandelte sich, so schien es mir, ständig in Angstenergie. Die Bedrohung kam jetzt nicht mehr von außen, sondern aus mir selbst. Jetzt war ich selbst die Gefahr geworden, und dieser Gefahr konnte ich nicht mehr entrinnen, vor ihr gab es kein Versteck. Ich war in einem Körper mit etwas zutiefst Feindseligem, mit irgendeinem zweiten, mir unbekannten Lebewesen, das ständig versuchte, mich zu töten.

Damals begann es mit dem Schreiben, dem ganz anderen als in meiner Jugend, als ich Liebesgeschichten erfand, deren Unglück romantischer war als mein eigenes. Jetzt war es vorbei mit der Romantik; ich saß hinter geschlossenen Vorhängen, weil jeder Blick in die Außenwelt haltlose Panik in mir erzeugte, und schrieb um mein Leben, ich schrieb im Wettlauf mit der Angst, deren Namen ich finden musste, bevor sie mich verschlang. Zum ersten Mal begriff ich, dass ich keine normale Kindheit gehabt hatte, dass das, was mir als Kind meiner Eltern in Deutschland widerfahren war, ganz offensichtlich zum Verlust wesentlicher Persönlichkeitsanteile geführt hatte, wie mein Psychotherapeut es in seinem Gutachten für die Krankenkasse ausdrückte. Hätten meine Eltern mich ein paar Monate früher gezeugt, wäre ich wahrscheinlich nicht am Leben geblieben. Die Fortpflanzung war laut Adolf Hitler ein Privileg der hochbeinigen, erbgesunden deutschen Frau; die Kinder der Zwangsarbeiterinnen, der robusten, kurz stampfenden Slawinnen, wie Hitler sie nannte, wurden den Müttern sofort nach der Geburt weggenommen und in sogenannte Aufzuchtsräume für Bastarde gebracht, wo man sie verhungern ließ. Darüber sprach damals niemand in Deutschland, es kamen immer mehr Gräuel über den Genozid an den Juden ans Tageslicht, aber niemand gedachte der Millionen verschleppter Zwangsarbeiter, niemand wusste, wie viele von ihnen an Vernichtung durch Arbeit zugrunde gegangen waren, an Hunger, an Entkräftung, an Krankheit, wie viele man erschlagen, erschossen hatte. Auch ich wusste es nicht. Mir stand die Erkenntnis noch bevor, das Begreifen meiner Herkunft und meiner Zusammenhänge in der Welt, der Einbruch des Bewusstseins in meinen dunklen, pflanzenartigen Innenraum.

Mehr und mehr wurde ich zu Pauls Pflegefall, er rettete mich täglich vor etwas, das erst durch ihn in Gang gekommen war. Er besaß irgendeine geheime, unerklärliche Macht über das zweite, fremde Lebewesen in mir, nur er konnte es bezähmen, in Schach halten wie ein Dompteur ein wildes Tier. Ich versuchte es mit einer jahrelangen Psychotherapie, ich versuchte es mit der Philosophie, mit der Soziologie, mit der Poesie, mit den Menschen, mit Gott und mit dem Teufel. Ich versuchte es mit Krieg und Ergebung, ich ließ allen Widerstand fahren, ich warf mich der Angst in die Arme, damit sie mich endlich umbrachte, aber die Angst brachte mich nicht um, sie lachte nur über mich. Meine einzige Rettung blieb Paul. Ich konnte mich längst nicht mehr fragen, ob ich ihn liebte, darum ging es nicht mehr. Ich brauchte ihn, ich brauchte ihn wie der Ertrinkende die Planke. Und über diese Planke wusste ich nichts anderes zu sagen, als dass sie eben eine Planke war und ihre einzige Eigenschaft darin bestand, mich über Wasser zu halten. Ich konnte in Paul nichts anderes mehr sehen als diese Funktion für mich, womit ich ihm fortgesetzt Unrecht tat, aber ich konnte es nicht ändern. Ich wusste, dass ich nicht genesen konnte, solange ich Paul nicht losließ, solange ich es nicht wagte, aus seiner Schutzzone herauszutreten und mir selbst zu begegnen; jeden Tag, jede Stunde setzte ich an zum Sprung, ich lebte unentwegt in dieser angesetzten, abgebrochenen Bewegung, in deren Verhinderung auf halbem Weg sich Tag für Tag meine ganze Kraft verbrauchte. Paul gehörte zur Welt der anderen, er war meine einzige, brüchige Verbindung zu dieser Welt, aber seit ich Jakob Stumms Gedichten begegnet war, hatte sich alles verändert. Ich war nicht mehr allein. Zum ersten Mal gab es jemanden, mit dem ich die Unzugehörigkeit zu den anderen teilte, ich war einem Zweiten in meiner Wüste begegnet, einem nie erträumten deutschen Bruder.

Als vor einigen Jahren mein erstes Buch erschienen war, hatten sich mir plötzlich Türen geöffnet, die von da aus, wo ich herkam, gar nicht als Türen vorstellbar waren. In meiner Kindheit hatte man mir den Eintritt ins deutsche Schwimmbad verweigert, weil man fürchtete, ich würde es verseuchen mit meinem russischen Schmutz, jetzt wurde ich ins Allerheiligste der deutschen Literatur gerufen. Rezensionen in allen großen Zeitungen, Interviews, Einladungen zu Lesungen, Literaturpreise. Alles das kam mir vor wie die Vorbereitung meiner endgültigen Hinrichtung. Wenn es noch eine Steigerung meiner Außenweltphobie gab, dann hatte sie jetzt ihren Höhepunkt erreicht. Hätte eine gute Fee mir einen Wunsch freigestellt, hätte ich mir gewünscht, mich mit einem Knopfdruck unsichtbar machen zu können, zu verschwinden aus all den Blicken, die jetzt auf mich gerichtet waren und die im nächsten Augenblick entdecken mussten, dass ich ein Fehler im System war, ein Kuckucksei, die Braut mit Blut im Schuh.

Ich wartete auf Antwort von Jakob Stumm. Um nicht ganz allein zu sein, hatte ich nach Pauls Abreise meinen Nachbarn, ebenfalls Städtern, die sich hier ein altes Bauernhaus gekauft hatten, eines der kleinen Kätzchen abgenommen, das in einer ausrangierten Scheune im Ort geboren war. Es hatte Angst vor mir, es ließ sich nicht anfassen, verkroch sich stundenlang in dem engen dunklen Spalt hinter dem Badeofen oder schoss in Anfällen haltloser Tollheit durch die Zimmer. Es stieß Blumentöpfe von der Fensterbank, kratzte die Tapeten von der Wand und dachte nicht daran, die Katzentoilette zu benutzen. Täglich fügte es meinen von seinen Krallen und Zähnen gemusterten Armen und Beinen neue blutige Spuren hinzu. Das Einzige, was das kleine Monstrum zu besänftigen vermochte, war ausgerechnet meine Schreibmaschine. Sobald ich zu tippen anfing, sprang es auf den Schreibtisch, ließ sich vertrauensvoll neben der Maschine nieder und folgte fasziniert, mit fast hypnotischer Aufmerksamkeit der Bewegung des Wagens; ab und zu tippte die grau melierte Pfote prüfend auf das eingespannte Blatt Papier.

Ich schrieb im wahrsten Sinn des Wortes für die Katz. Das, was mich früher vor dem endgültigen Ertrinken in meiner Angst gerettet hatte, war jetzt nur noch Qual, nur noch Selbstverhinderung. Die Worte hatten ihre Magie verloren, im Licht der Öffentlichkeit war ihr Glanz für mich sofort erloschen; ich sah in der Beschäftigung des Schreibens nur noch mein Scheitern am Leben, nur noch einen Käfig aus Buchstaben, in den ich mich ständig selbst einschloss.

Immer wieder trug ich in Gedanken das Wenige zusammen, was ich von Jakob Stumms Welt kannte. Zu den Schätzen meiner Transitstrecken- und Raststätten-DDR gehörten das Wort Autofahrerbier, das ich einmal auf einer Fahrt nach Westberlin aufgeschnappt hatte, der dünne Bohnenkaffee, bei dessen Bestellung man für Milch und Zucker extra bezahlen musste, ein junges Paar mit nagelneuen Eheringen an den Fingern, das in einer Raststätte saß wie in einem Nobelrestaurant und mit schweigender Andacht Schwarzwälder Kirschtorte verzehrte, ein kleiner Junge, der an einer Imbissbude »Kaugummi, der klebt« verlangt hatte, woraus ich schloss, dass es in der DDR mindestens zwei Sorten Kaugummi gab, einen, der klebte, und einen, der nicht klebte. Einmal hatten wir gesehen, wie ein Betrunkener im besseren Teil einer Raststätte, wo wir und andere Westdeutsche Wildgulasch mit Nudeln für zwei Mark achtzig aßen, von zwei Kellnern dezent, aber mit unmissverständlicher Bestimmtheit aufgefordert wurde, das Lokal zu verlassen, worauf der Mann sofort gehorsam aufstand und wankend davonging. Ich erinnerte mich an Devisenläden mit dichten Vorhängen an den Schaufensterscheiben, an verwitterte, nie besetzte Zeitungskioske, hinter deren schmutzblinden Scheiben verblichene Zeitschriften ausgestellt waren. Ich erinnerte mich genau, dass eine davon »Der Funkamateur« hieß.

Oft gingen meine Gedanken zu einem Traum, den ich einmal geträumt hatte. Ich fuhr in der Abendsonne mit dem Auto auf einer kleinen, hügeligen Asphaltstraße durch Wiesen und Felder, ich wusste, dass ich im anderen Deutschland war, aber zugleich war es auch Russland. Das Deutsche und das Russische, das in mir selbst immer ein antipodischer Gegensatz geblieben war, waren ineinander übergegangen, waren eine Einheit geworden. Kein Auto kam mir entgegen, während ich fuhr, mein eigenes war das einzige weit und breit, ich war allein, zum ersten Mal in meinem Leben eins mit mir selbst und glücklich in einer Stille, die es im rasenden Tempo der westlichen Konsumwelt nicht mehr gab.

Ein einziges Mal, vor sehr langer Zeit, war ich in Ostberlin gewesen. Es musste etwa 1966 gewesen sein, ich hatte vor kurzem den deutschen Mann geheiratet und war von einem passlosen, staatenlosen Wesen zu einer deutschen Staatsbürgerin geworden. Nun überschritt ich, ausgestattet mit einer Tagesaufenthaltsgenehmigung, ängstlich festgeklammert am Arm meines deutschen Ehemannes, zum ersten Mal in meinem Leben die Grenze zu dem Teil der Welt, aus dem meine Eltern kamen. Mein Mann hatte mir das Wochenende in Berlin zum Geburtstag geschenkt, und zum Sightseeingprogramm gehörte natürlich auch ein Besuch im Ostteil der Stadt. Wir gingen durch die dunkle, eisige Schlucht des fast menschenleeren Alexanderplatzes, über den nur ab und zu ein Auto fuhr, mit schwachen Scheinwerfern hineinleuchtend in die Welt des Kommunismus, wo man seit jeher auf mich wartete, um an mir Rache zu nehmen für den Verrat meiner Eltern, die, anstatt den Heldentod fürs Vaterland zu sterben, für die Rüstungsindustrie des deutschen Kriegsfeindes gearbeitet hatten. Der eisige Wind, der sich hier zwischen den dunklen Gebäudekolossen herumtrieb, schien mir bereits aus Russland zu kommen, aus dem Totenreich der sibirischen Lager, wo die Schwester meiner Mutter einst für immer verschollen war. Ich war sicher, dass ich in die Falle gegangen war, dass man mich im nächsten Augenblick ergreifen und auch dorthin bringen würde, wo nachts die Wölfe heulten und wo einem das Haar im Schlaf an der Pritsche festfror.

Was ich schließlich sah, verwirrte alle meine Vorstellungen vom Ordnungsgefüge der Welt. Ich wusste genau, dass Menschen, die an Gott glaubten, im Kommunismus verfolgt und umgebracht wurden, dass der Gottesglaube im Kommunismus verboten war, aber wir waren um eine Ecke gebogen und standen plötzlich auf einem Weihnachtsmarkt. Viele weihnachtlich geschmückte Buden waren zu sehen, es wurden Lebkuchen, Glühwein und Rauschgoldengel verkauft, eine elektrische Orgel, die aussah wie eine antike, bunt blinkende Lokomotive, spielte »Oh du fröhliche«. Vor einem Karussell, dessen erleuchtete Gondeln sich in der dunklen Nacht drehten, hatte sich eine lange Warteschlange aufgereiht. Die Menschen standen stumm und starr in der Kälte und warteten, in einer soldatisch korrekten Zweierreihe, niemand sprach, niemand lachte, selbst die eingemummten Kinder an den Händen ihrer Eltern mucksten sich nicht. Einerseits musste das Leben im Kommunismus noch viel schrecklicher sein, als ich es mir immer vorgestellt hatte, wenn die Menschen schier zu erfrieren bereit waren, nur um einmal Karussell fahren zu dürfen, andererseits konnte es sich gar nicht um den Kommunismus handeln, weil hier »Oh du fröhliche« und »Ihr Kinderlein kommet« gespielt wurde. Die sogenannte Ostzone war ein völlig undeutbarer, unbegreiflicher Ort für mich geworden.

Oft fiel mir jetzt Jan ein, der einzige DDR-Bürger, den ich einmal etwas näher kennengelernt hatte. Er hatte als Anhalter auf einer leeren, staubigen Straße am Rand der Hortobágy-Puszta in Ungarn gestanden, und wir hatten ihn mitgenommen. Ein paar Tage lang hatten wir die Puszta gemeinsam durchstreift und uns angefreundet. Nach dem Urlaub hatten wir uns noch eine Weile Briefe geschrieben, dann hatte Jan uns mitgeteilt, dass er sein Studium abgeschlossen und eine Stelle bei den Zeisswerken bekommen hatte. Es beschäme ihn, es uns sagen zu müssen, aber Kontakte mit dem westlichen Ausland seien ihm nun nicht mehr erlaubt.

Wenn ich an diese erste und einzige Erfahrung mit einem DDR-Bürger dachte, überfiel mich jähes Entsetzen. Was hatte ich getan? Wenn einem Mitarbeiter der Zeisswerke Kontakte mit dem westlichen Ausland untersagt waren, konnten sie dann einem Dichter erlaubt sein, der seine Gedichte im Lager des Klassenfeindes veröffentlicht hatte, wahrscheinlich von der Stasi beobachtet wurde? Mit meinen Freunden in Moskau korrespondierte ich nie per Post, das war viel zu gefährlich für sie, wir bedienten uns stets einer »okasija«, einer uns mehr oder weniger bekannten Person, die aus Moskau nach Deutschland reiste oder umgekehrt. Jedes Mal waren es langwierige und manchmal abenteuerliche Aktionen, die schließlich zu einer persönlichen Briefübergabe führten. Und den Brief an Jakob Stumm hatte ich einfach in den Briefkasten eingeworfen, ohne einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, was das für ihn bedeuten könnte. Es war schon Ende August, ich hatte immer noch keine Antwort bekommen, nicht einmal ein paar höfliche Dankesworte an eine westdeutsche Kollegin und Bewunderin, und immer wieder überfielen mich horrible Vorstellungen. Hatte ich Jakob Stumm ans Messer geliefert, hatte ich ihn politischen Repressalien ausgesetzt, hatte man in meinem Brief irgendeine schlecht getarnte staatsfeindliche Aktivität erblickt, in die Jakob Stumm verwickelt war? Antwortete er mir nicht, weil er das gar nicht konnte, da man ihn verhaftet hatte, da er im Gefängnis saß? Unentwegt kreiste ich im Rad meiner qualvollen Fragen nach dem Grund seines Schweigens, ich malte mir immer neue Horrorbilder aus, vielleicht, so sagte ich mir, hatte ich eine falsche Adresse bekommen, vielleicht war er inzwischen umgezogen, vielleicht war er für längere Zeit verreist, vielleicht war er krank, vielleicht war er tot, aber in der letzten Drehung des Rads kam ich immer wieder auf dieselbe Erklärung. Jakob Stumm schrieb mir nicht, weil er kein Interesse daran hatte, weil er ein ganz anderer war, als ich vermutet hatte. Nicht der Unterirdische und Verschollene, als der er mir in seinen Gedichten erschienen war, im Gegenteil, er war ein in der DDR bekannter und verehrter Untergrunddichter, dem die Verwerfung durch den Staat eine besondere Popularität verlieh, genau jenen Heiligenschein, mit dem ihn der Fotograf auf seinem Autorenfoto umgeben hatte. Nicht ich allein hatte erkannt, dass er ein großer, ein bedeutender Dichter war, mein Brief an ihn war nur einer von vielen. Ich hatte an das Ich seiner Gedichte geschrieben, nun sah ich die Augen eines Fremden auf meine Zeilen gerichtet, und mich versengte die Scham. Jakob Stumms Augen hatten sofort gelesen, was ich verschwiegen hatte, was zwischen den Zeilen stand, denn Augen wie die seinen konnten zweifellos zwischen den Zeilen lesen, und zwischen den Zeilen, die sich weitgehend um das Schreiben, um literarische Dinge drehten, hatte ich ihm viel mehr als meine Bewunderung angeboten, viel mehr als nur jede erdenkliche Unterstützung für ihn, falls er dieser bedürfen sollte, ich hatte ihm alles von mir angeboten, obwohl ich nichts besaß. Ich besaß nur ihn. Und diese meine Armut hatte er beim Lesen meines Briefes sofort erkannt. Ich hatte versucht, die Abgründe zwischen meinen Zeilen so gut wie möglich zu kaschieren, aber so etwas entging einem Sprachmeister wie Jakob Stumm natürlich nicht. Immer wieder fühlte ich den Blick seiner wissenden Augen auf mir, ich sah seine belustigt hochgezogene Augenbraue, bevor er meinen Brief zusammenknüllte und in den Papierkorb warf. Den ersten und dann noch einmal den zweiten.

Als ich schließlich bei der Telefonauskunft anrief, tat ich es nicht, weil ich hoffte, die Nummern der DDR könnten der westdeutschen Auskunft bekannt sein und jemand wie Jakob Stumm könnte dort überhaupt ein Telefon besitzen. Ich spielte nur ein Spiel. Ich wollte so tun, als wäre es eine Kleinigkeit, Jakob Stumms Telefonnummer zu erfahren und mit ihm in Verbindung zu treten, und ich wollte einmal hören, wie sein Name klang, wenn ich ihn ins Ohr der Außenwelt sprach. Ohne nachzudenken hatte ich die Nummer der Auslandsauskunft gewählt und wurde zu meiner Überraschung darüber belehrt, dass die Nummern der DDR bei der Inlandsauskunft zu erfragen waren. Der Alleinvertretungsanspruch der BRD für alle Deutschen hatte mich kurzerhand zur Bewohnerin eines Landes mit Jakob Stumm gemacht, und zwei Minuten später war ich im Besitz einer Telefonnummer, die man mir so prompt und selbstverständlich angesagt hatte, als hätte ich nach einem Anschluss irgendwo im Nachbardorf gefragt.