Nachtglut - Sandra Brown - E-Book
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Nachtglut E-Book

Sandra Brown

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Beschreibung

Atemberaubende Spannung, Tempo und prickelnde Leidenschaft: ein Thriller der Extraklasse!

Er kann warten, er ist schlau – und er hat finstere Rachepläne. Als es Carl Herbold gelingt, aus dem Gefängnis auszubrechen, hat er nur ein Ziel: die Vernichtung der Familie Corbett, dessen Oberhaupt ihn und seinen Bruder einst verstieß. Auf dem Weg nach Texas erfährt er, dass nun eine junge Frau auf der Corbett-Ranch wohnt: Anna, die Witwe von Corbetts Sohn. Dass ihm ausgerechnet die taubstumme Anna bei seiner Rache in die Quere kommt, damit hat Herbold jedoch nicht gerechnet …

  • »Es ist, als wäre man bei der Lektüre an eine Hochspannungsleitung angeschlossen!« (Kirkus Reviews)

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Seitenzahl: 654

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Buch

Niemand in der texanischen Kleinstadt Blewer hat je daran gezweifelt, dass Carl Herbold ein Psychopath ist. Aber Herbold kann auch sehr geduldig und gerissen sein. Denn er lebt für seine Rache: Rache an seinem verhassten Stiefvater Delray Corbett, der ihn und seinen Bruder einst verstoßen hat. Die Flucht aus dem Hochsicherheitsgefängnis ist für ihn nur der erste Schachzug in einem mörderischen Spiel. Denn auf dem Weg nach Texas hört Carl von der jungen Frau, die inzwischen auf der Corbett Ranch wohnt: Anna, die taubstumme Witwe von Corbetts Sohn. Herbolds ganz spezieller Feind, der rastlose Jack Sawyer, hat sich seit zwanzig Jahren von seiner Heimatstadt Blewer ferngehalten. Als er jedoch von Carl Herbolds Flucht erfährt, rast er wie von Furien gehetzt zur Corbett Ranch. Denn jetzt ist es für ihn an der Zeit, eine alte Rechnung zu begleichen. Dass er aber auf die schöne, empfindsame Anna Corbett treffen würde, hat Jack nicht erwartet. Und genau da setzt Herbold mit seinem diabolischen Katz-und-Maus-Spiel an …

Autorin

Sandra Brown arbeitete mit großem Erfolg als Schauspielerin und TV-Journalistin, bevor sie mit ihrem Roman »Trügerischer Spiegel« auf Anhieb einen großen Erfolg landete. Inzwischen ist sie eine der erfolgreichsten internationalen Autorinnen, die mit jedem ihrer Bücher die Spitzenplätze der »New York Times«-Bestsellerliste erreicht! Ihr großer Durchbruch als Thrillerautorin gelang Sandra Brown mit dem Roman »Die Zeugin«, der auch in Deutschland zum Bestseller wurde. Seither konnte die Autorin mit vielen weiteren Romane große Erfolge feiern. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Texas und South Carolina.

Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvaletund www.instagram.com/blanvalet.verlag

Sandra Brown

Nachtglut

Thriller

Deutsch von Mechtild Sandberg-Ciletti

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © der Originalausgabe 1998 by Sandra Brown Management Ltd.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2000 by Blanvalet Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Covergestaltung: bürosüd Coverabbildungen: Getty Images/National Geographic/Anne Keiser; Getty Images/Robert Harding World Imagery/Colin Bryan

wr · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-10746-8 V005 www.blanvalet.de

1

»Myron, hörst du mir überhaupt zu?«, fuhr Carl Herbold seinen Mithäftling gereizt an. Er schüttelte ungeduldig den Kopf und brummte: »Blödmann!«

Myron Hutts, offenbar taub für die Beleidigung, grinste weiter leer vor sich hin.

Carl schob sein Gesicht näher an seines heran. »Hey, hör auf, so dämlich zu grinsen, Myron! Die Sache ist ernst. Ist davon irgendwas bei dir angekommen? Hast du auch nur ein gottverdammtes Wort kapiert?«

Myron biss in seinen Schokoriegel. »Klar, Carl. Du hast gesagt, ich soll genau zuhören und gut aufpassen.«

»Okay.«

Carl beruhigte sich etwas, auch wenn er ziemlich sicher war, dass Myron nicht einmal einen Bruchteil dessen, was er ihm zu sagen hatte, verstehen würde. Myron war nicht gerade einer der Hellsten; genau gesagt war er total unterbelichtet.

Trotz seiner Kraft und ständigen Beflissenheit stellte er mit seinem Spatzenhirn ein Risiko für Carls wohldurchdachte Pläne dar. So ein Komplize hatte seine Nachteile.

Andererseits benötigte Carl Myron Hutts’ Hilfe. Er brauchte einen, der nicht fähig war, selbstständig zu denken, und tat, was man ihm sagte – ohne lange zu überlegen, ohne Fragen, Widerreden oder Skrupel. Eben deswegen war Myron letztlich doch der perfekte Partner. Selbst wenn er ein gottverdammter Einstein gewesen wäre – aber er hatte kein Gewissen.

Gewissen, das war »innerer Dialog«. Klasse, der Ausdruck, was? Carl hatte ihn aus einem Artikel in einer Zeitschrift. Er hatte ihn sich eingeprägt und schwups!, aus dem Hut gezogen, als er das letzte Mal vor dem Ausschuss für bedingte Haftentlassung antanzen musste. Fünf Minuten lang hatte er sich des Langen und Breiten über seine inneren Dialoge bezüglich seiner vergangenen Missetaten und des Unheils ausgelassen, das er in seinem eigenen Leben und dem anderer angerichtet hatte. Aus diesen Dialogen habe er erkannt, auf dem falschen Weg gewesen zu sein; sie hätten ihn ins Licht der Selbsterkenntnis und des Verantwortungsbewusstseins geführt. Er bereue, was er getan habe, und wünsche, dafür zu büßen.

Die Ausschussmitglieder hatten sich von den großen Worten nicht beeindrucken lassen. Sie hatten gemerkt, dass er ihnen nur einen Haufen Mist auftischte, und seinen Antrag auf bedingte Haftentlassung abgelehnt.

Aber mal angenommen, das Gewissen war tatsächlich ein innerer Dialog. Das verlangte abstrakte Vorstellungen, die Myron in seiner Beschränktheit nicht einmal in Erwägung zog. Doch Carl war es sowieso egal, ob Myron ein Gewissen hatte oder nicht. Der Typ tat, was ihm gerade in den Kopf kam, und basta. Genau deshalb hatte Carl ihn ausgewählt. Myron würde keine Muffen kriegen, wenn es unappetitlich wurde.

Der Kerl war selbst ein ziemlich unappetitlicher Typ, um nicht zu sagen grottenhässlich, mit seiner beinahe haarlosen weißen Haut. Nur die wulstigen Lippen leuchteten unnatürlich rot; die Iris seiner Augen hingegen waren praktisch ohne Farbe. Spärliche helle Augenbrauen und Wimpern ließen seinen ohnehin einfältigen Blick noch einfältiger wirken. Sein Haar war dünn, aber von grober Beschaffenheit, und stand, fast weiß, drahtartig von seinem Kopf ab.

Einen besonders unappetitlichen Anblick bot er gerade jetzt, wo ihm der zähe Saft der Nugatfüllung des Schokoladenriegels aus den Mundwinkeln troff. Carl musste wegschauen, als Myron mit langer Zunge nach dem Zeug leckte.

Manch einer fragte sich wahrscheinlich, wieso ausgerechnet er und Myron Kumpel waren – bei dem auffallenden Kontrast, der zwischen ihnen bestand –, Myron und der große, dunkle, gutaussehende Carl. Wenn es ihn packte, arbeitete er mit Gewichten, aber mit strenger Regelmäßigkeit absolvierte er täglich in seiner Zelle Liegestütze und andere Leibesübungen, um seinen kräftigen Torso fit zu halten. Er besaß ein absolut umwerfendes Lächeln, das an den jungen Warren Beatty erinnerte. Hatte man ihm jedenfalls gesagt. Er persönlich fand, er sähe besser aus als der Schauspieler, den er als Schwuchtel betrachtete. Aber eine tolle Frau hatte er, ja, Mrs. Beatty, eine total scharfe Nummer!

An Grips war Carl seinem Kumpel Myron eindeutig weit überlegen. Was Myron zu wenig hatte, das hatte er im Überschuss. Im Planen war er unschlagbar. Die genialsten Einfälle kamen ihm ganz von selbst. Außerdem besaß er ein echtes Talent dafür, eine Idee, die zunächst noch ganz nebelhaft war, anzureichern und zum großen Entwurf zu verdichten.

Wäre er beim Militär gewesen, so wäre er General geworden. Aber selbst die hochrangigsten Offiziere brauchten die gemeinen Soldaten, um ihre Strategien umzusetzen. Daher Myron.

Er hätte jeden Kerl in dem Schuppen hier haben können. Myron war den meisten Leuten unheimlich, sogar abgebrühten Kriminellen. Sie gingen ihm aus dem Weg. Aber Carl, der geborene Führer, zog die Leute an wie ein Magnet. Er gehörte mit zu den Alteingesessenen, und das hatte ihm unter der Zuchthausbevölkerung eine Menge Einfluss verschafft. Hinzu kam sein angeborenes Charisma. Er hätte jeden Beliebigen unter den Insassen zum Partner wählen können, allesamt cleverer und bösartiger als Myron – der war nämlich trotz seiner gewalttätigen Tendenzen ein gutmütiger Mensch. Aber jeder mit ein bisschen mehr Grips würde Carl Probleme verschaffen.

Er wollte keinen Partner, der seinen eigenen Kopf hatte und meinte, ihm dreinreden zu müssen. Meinungsverschiedenheiten lenkten einen ab und führten direkt in die Katastrophe, nämlich dazu, wieder geschnappt zu werden. Alles, was er für seinen Fluchtplan brauchte, waren ein zusätzliches Paar Augen und Ohren sowie jemanden, der schießen konnte und keine Angst hatte, es im Notfall auch zu tun. Myron Hutts erfüllte diese Voraussetzungen, brauchte also nicht schlau zu sein. Carl war schlau genug für beide.

Außerdem würde er mit Cecil schon Scherereien genug kriegen. Cecil dachte zu viel. Der analysierte jeden Furz bis zum Gehtnichtmehr. Und während er die Möglichkeiten hin und her drehte, verpasste er die Gelegenheiten. Er war so wie der Typ auf der Witzpostkarte, die Carl einmal gesehen hatte: Der hatte dagestanden und den Fotoapparat vor die Augen gehalten, um den Eiffelturm zu fotografieren, während direkt vor seiner Nase eine nackte Französin vorbeimarschierte. Das war Cecil.

Aber Carl wollte jetzt nicht über seinen älteren Bruder nachdenken. Später, wenn er allein war, würde er dafür Zeit haben.

Er lehnte sich an den Maschendrahtzaun und ließ seinen Blick über den Hof schweifen. Ständige Wachsamkeit war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Zwanzig Jahre im Zuchthaus hatten ihn gelehrt, immer auf der Hut zu sein, um gleich beim ersten Anzeichen von Ärger reagieren zu können. Er hatte eine Menge Einfluss und einen großen Kreis von Freunden, aber war nicht bei allen beliebt.

Drüben auf der anderen Seite des Hofs tummelte sich ein Trupp schwarzer Gewichtheber, die ihre gutgeölten Muskeln spielen ließen und ihn mit blankem Hass anstarrten, bloß weil er nicht einer von ihnen war. Da regten sich die Leute draußen über Bandenkriege, Straßenkämpfe und Vendettas auf. Lachhaft! Keiner, der nicht im Knast gewesen war, hatte von Banden auch nur einen blassen Schimmer. In keiner Gesellschaft auf der ganzen beschissenen Welt gab es Ausgrenzung, Polarisierung und Diskriminierung wie in der Zuchthausgesellschaft.

Er hatte Meinungsverschiedenheiten mit den schwarzen Häftlingen gehabt, die zum Austausch von Beschimpfungen und Handgreiflichkeiten geführt und zwangsläufig disziplinarische Maßnahmen nach sich gezogen hatten.

Aber weder heute noch an irgendeinem anderen Tag in absehbarer Zukunft würde er sich mit irgendjemandem hier anlegen. Bis zu dem Tag, an dem er und Myron zum Straßenbautrupp abkommandiert würden, wollte Carl Herbold sich vorbildlich benehmen. Das Arbeitsprogramm war eine Neueinführung im Rahmen der Gefängnisreform, die es sich zum Ziel erklärt hatte, den Häftlingen das Gefühl zu vermitteln, wieder nützliche Mitglieder der Gesellschaft zu werden. Die sozialen Aspekte interessierten ihn natürlich einen Dreck. Ihn interessierte einzig, was es für ihn persönlich bedeutete. Wenn die ihn aufriefen, den Bau hier zu verlassen, um draußen zu arbeiten, würde er als Erster im Bus sitzen.

Und deshalb verhielt er sich ruhig und tat nichts, wodurch er sich bei den Wärtern auffällig gemacht hätte. Keine Regelverstöße, keine Prügeleien, nicht einmal Widerspenstigkeit. Wenn er ein Schimpfwort aufschnappte, das gegen ihn gerichtet war, überhörte er es. Was ihm nicht passte, übersah er. Neulich nachts hatte er untätig zuschauen müssen, wie Myron einem Kerl einen blies. Der andere, ein dreckiger Weißer, der seine Frau umgebracht und zwei Jahre seiner lebenslänglichen Strafe abgesessen hatte, hatte Myron mit einer Belohnung gelockt, woraufhin der sich sofort breitschlagen ließ.

Die aggressiveren Häftlinge versuchten häufig, Myrons Schwachsinn auszunutzen. Im Allgemeinen pflegte Carl dann einzugreifen. Aber so kurz vor dem geplanten Ausbruch hatte er das Risiko eines Zusammenstoßes nicht eingehen wollen. Außerdem litt Myron wohl nicht allzu viel dabei. Für seine Dienste hatte er eine lebendige Maus bekommen, der er später mit dem langen spitzen Nagel seines kleinen Fingers den Bauch aufschlitzte.

»Also, merk dir, was ich dir gesagt hab, Myron«, mahnte Carl jetzt. Die Hofpause würde gleich vorüber sein, und danach würden sie kaum noch Gelegenheit finden, allein miteinander zu sprechen. »Wenn wir zum Straßenbautrupp eingeteilt werden, darfst du dir keine Aufregung anmerken lassen.«

»Okay«, sagte Myron, schon wieder abgelenkt von der blutenden Nagelhaut an seinem Daumen.

»Es wäre vielleicht sogar gut, wenn wir so täten, als wären wir sauer, dass wir da rausmüssen. Meinst du, du schaffst das? So zu tun, als wärst du sauer?«

»Klar, Carl.« Er lutschte mit dem gleichen Genuss, wie vorher an dem Schokoriegel, an seiner Nagelhaut.

»Wenn die nämlich glauben, wir wären scharf darauf …«

Der Schlag traf ihn aus heiterem Himmel. Er riss ihn von der Holzbank, auf der er gesessen hatte. Eben noch blickte er Myron ins grinsende, schokoladenverschmierte Gesicht, und im nächsten Moment lag er mit dröhnenden Ohren im Dreck, während alles rundherum vor seinen Augen verschwamm und seine Nieren mit Tritten bearbeitet wurden, dass sich ihm der Magen umdrehte.

Er vergaß seinen Vorsatz, allen Ärger zu vermeiden. Der Überlebensinstinkt gewann die Oberhand. Sich auf den Rücken rollend, schwang er sein Bein in die Höhe und trat seinen Angreifer mit aller Kraft in die Hoden. Der schwarze Gewichtheber, der sich offensichtlich nur auf seine Muskeln verließ, ohne an Taktik zu denken, hatte den Gegenangriff nicht erwartet. Laut aufheulend fiel er auf die Knie, die Hände an seiner zartesten Körperstelle. Natürlich konnten da die anderen Schwarzen nicht untätig bleiben. Die ganze Meute fiel über Carl her und hieb mit Fäusten auf ihn ein.

Die Wärter kamen mit schwingenden Schlagstöcken angerannt. Andere Häftlinge versuchten entweder den Kampf zu beenden oder anzuheizen. Sehr schnell war das Handgemenge beigelegt. Nach Wiederherstellung der Ordnung wurde der Schaden begutachtet, und er erwies sich als minimal. Nur zwei Häftlinge wurden mit Verletzungen ins Krankenhaus gebracht.

Einer war Carl Herbold.

2

»Ich fand den Abend sehr nett.«

Die Bemerkung seiner Frau veranlasste Ezra Hardge zu einem geringschätzigen Prusten. »Das war das zäheste Stück Fleisch, das ich je auf dem Teller hatte, und die Klimaanlage hat aus dem letzten Loch gepfiffen. Ich dachte schon, ich zerfließe in diesem schwarzen Anzug.«

»Dir hätte man heute Abend sowieso nichts recht machen können. Du wolltest unbedingt der Miesmacher sein!«

Ezra Hardge war seit fünfzig Jahren Sheriff von Blewer County und seit zweiundfünfzig Jahren mit Cora verheiratet. Zum ersten Mal hatte er sie bei einer Wiedererweckungsversammlung gesehen, an der er und seine Freunde nur zum Jux teilnahmen. Beinahe wie den Worten des Wandergeistlichen zum Trotz, der unter dem Zeltdach Hölle und Verdammnis predigte, hatte Cora eine freche rote Schleife im Haar und knalliges Rot auf den Lippen getragen. Während die Gemeinde sang, wanderte ihr Blick vom Gesangbuch über den Gang und traf Ezzy, der sie mit unverhohlenem Interesse und Wohlgefallen anstarrte. Was in ihren Augen blitzte, war nicht religiöser Eifer, sondern reiner Übermut. Sie hatte ihm zugezwinkert.

Die Aufmüpfigkeit war ihr geblieben, und ihm gefiel sie nach diesen langen Jahren immer noch.

»Die Leute hier haben es sich eine Menge Mühe und Geld kosten lassen, dir dieses Essen zu geben. Du hättest wenigstens ein bisschen Dankbarkeit zeigen können.« Sie schlüpfte aus ihrem Morgenrock und kam zu ihm ins Bett. »Man kann immerhin höflich sein!«

»Ich hab nicht um ein großartiges Essen mir zu Ehren gebeten … kam mir vor wie ein Affe …«

»Ach, es geht gar nicht um das Essen. Du bist wütend, weil du aufhören musst.«

Cora nahm meistens kein Blatt vor den Mund. Mürrisch zog Ezzy die Bettdecke hoch.

»Glaub ja nicht, dass ich mich auf deinen Ruhestand freue«, fuhr sie fort, während sie völlig unnötig ihr Kopfkissen zurechtklopfte. »Oder meinst du vielleicht, ich find’s lustig, dich in Zukunft den ganzen Tag zu Hause zu haben und ständig dein brummiges Gesicht sehen zu müssen? Ich seh’s schon, du wirst mir dauernd in die Quere kommen.«

»Dir wär’s wohl lieber gewesen, wenn mich irgendein besoffener Randalierer abgeknallt hätte, was? Dann müsstest du dir jetzt keine Gedanken darüber machen, wie du mich in Zukunft ertragen sollst.«

Cora kochte. »Du versuchst schon den ganzen Abend, mich zu reizen, und jetzt hast du’s endlich geschafft! Du weißt genau, dass solches Gerede mich wütend macht, Ezra Hardge.«

Sie riss am Messingkettchen der Nachttischlampe und tauchte das Schlafzimmer in Dunkelheit, rollte sich auf die Seite und drehte ihm den Rücken zu. Normalerweise schliefen sie einander zugewandt ein.

Zweifellos hatte er die Bemerkung absichtlich gemacht, weil er wusste, dass sie sie in Rage bringen würde. Offen gestanden hatte er während seiner Amtszeit als Sheriff jeden Tag darum gebetet, dass er nicht im Dienst draufgehen und als blutige Leiche zu Cora heimkehren würde.

Aber wenn man es einmal vom praktischen Standpunkt aus betrachtete, wäre es tatsächlich besser gewesen, er hätte in Ausübung seines Amtes das Zeitliche gesegnet. Es wäre sauberer und einfacher für alle Beteiligten gewesen. Den Gemeindevätern wäre die Peinlichkeit erspart geblieben, ihm nahezulegen, sich nicht noch einmal um das Sheriffsamt zu bewerben. Sie hätten sich die Ausgaben für die Fete heute Abend sparen oder das Geld zumindest für lohnendere Dinge verwenden können. Wenn er früher abgetreten wäre, brauchte er jetzt nicht einer Zukunft entgegenzublicken, in der er sich ungefähr so nützlich fühlen würde wie ein Paar Skier in der Sahara.

Zweiundsiebzig Jahre alt, auf die Dreiundsiebzig zugehend. Arthritis in allen Gliedern. So fühlte es sich jedenfalls an. Und sein Verstand war wahrscheinlich auch nicht mehr das, was er einmal gewesen war. Nein, er selbst hatte kein Nachlassen bemerkt; aber andere lachten wahrscheinlich bereits hinter seinem Rücken über die Anzeichen vorrückender Senilität.

Am schlimmsten war es, sich eingestehen zu müssen, dass sie möglicherweise recht hatten. Er war alt und abgewirtschaftet und hatte in diesem Amt nichts mehr zu suchen. Okay, das sah er ein. Auch wenn es ihm nicht gefiel – diese Sache mit dem Ruhestand –, er konnte ihn akzeptieren, weil den Leuten der Gemeinde mit einem Jüngeren besser gedient sein würde.

Er wünschte nur, er hätte die Arbeit nicht niederlegen müssen, bevor sie abgeschlossen war. Und sie würde so lange nicht abgeschlossen sein, bis er wusste, was Patsy McCorkle zugestoßen war.

Seit zweiundzwanzig Jahren teilte das Mädchen das Bett mit ihm und Cora. Natürlich nur im übertragenen Sinn. Vom schlechten Gewissen getrieben, gerade auch im Licht ihres Streits, drehte er sich herum und legte Cora die Hand auf die Hüfte. Er tätschelte sie liebevoll.

»Cora?«

»Ach, lass mich in Frieden«, fauchte sie. »Ich bin zu wütend.«

Als Ezra ein paar Stunden später sein altes Amt betrat, hob der diensthabende Deputy verschlafen den Kopf und sprang auf. »Hey, Ezzy, was, zum Teufel, machen Sie denn hier?«

»Tut mir leid, dass ich Sie aus Ihrer Nachtruhe gerissen hab, Frank. Lassen Sie sich von mir nicht stören. Ich hab noch ein paar Akten da, die rausmüssen.«

Der Deputy sah zur großen Wanduhr auf. »Um diese Zeit?«

»Ich konnte nicht schlafen. Und deshalb hol ich noch meine restlichen Sachen, wo ich jetzt offiziell weg bin. Sheriff Foster wird sicher gleich morgen einziehen wollen.«

»Ja, wahrscheinlich. Was halten Sie von ihm?«

»Guter Mann. Er wird ein tüchtiger Sheriff werden«, antwortete Ezzy aufrichtig.

»Kann sein, aber Ezzy Hardge ist er nicht.«

»Danke, Frank.«

»Tut mir leid, dass ich gestern Abend nicht zu dem Essen kommen konnte. Wie war’s denn?«

»Sie haben nichts verpasst. Ich hab mich noch nie in meinem Leben so gelangweilt.« Ezzy ging in sein Büro und machte Licht, wahrscheinlich zum letzten Mal. »Endlose Reden! Man braucht den Leuten nur ein Mikrofon in die Hand zu drücken, und sie können gar nicht mehr aufhören zu quasseln.«

»Na, Sie sind schließlich eine lebende Legende, Ezzy. Über so jemanden gibt’s viel zu sagen.«

Ezzy räusperte sich laut und nachdrücklich. »Ich bin nicht mehr Ihr Chef, Frank – aber wenn Sie weiter so reden, werd ich handgreiflich. Haben Sie vielleicht eine Tasse Kaffee für mich? Die könnte ich jetzt gebrauchen.«

»Klar. Kommt sofort.«

Unfähig, nach Coras grober Zurückweisung und diesem Abend, der ihn doch sehr aufgewühlt hatte, Schlaf zu finden, war er wieder aufgestanden, hatte sich angezogen und aus dem Haus geschlichen. Cora verfügte über ein Radarsystem wie eine Fledermaus, mit dem sie jede Bewegung und jedes Geräusch, das er machte, unweigerlich aufnahm. Er hatte keine Lust gehabt, sich von ihr vorhalten zu lassen, wie albern es sei, mitten in der Nacht loszuziehen, um etwas zu erledigen, wofür er sich eine Woche Zeit lassen durfte.

Aber da man ihn nun einmal in den Ruhestand versetzt hatte, sagte er sich, wollte man ihn bestimmt auch nicht mehr sehen – ganz gleich, wie oft man ihm versicherte, dass er im Sheriffsamt von Blewer County jederzeit willkommen sei. Und den anderen auf die Nerven zu fallen oder so ein jämmerlicher alter Knacker zu werden, der sich an den Glanz vergangener Tage klammerte und nicht wahrhaben wollte, dass er weder gebraucht wurde noch erwünscht war – das kam keinesfalls infrage.

In Selbstmitleid wollte er sich wirklich nicht suhlen, aber genau das tat er wohl jetzt gerade.

Er dankte dem Deputy, als dieser ihm einen dampfenden Becher Kaffee auf den Schreibtisch stellte. »Machen Sie bitte die Tür zu, wenn Sie rausgehen, Frank. Ich möchte Sie nicht stören.«

»Sie stören mich nicht. Ist eine ruhige Nacht.«

Trotzdem zog Frank die Tür hinter sich zu.

Ezzy ging es in Wirklichkeit nicht darum, den Deputy nicht zu stören. Er selbst wollte bei seiner Arbeit unbehelligt sein. Die amtlichen Akten waren selbstverständlich keine Geheimsache, sondern allen anderen Vollzugsbehörden – wie zum Beispiel der städtischen Polizei, dem Ministerium für Innere Sicherheit, den Texas Rangers – zugänglich, mit denen sein Amt zusammenarbeitete.

Aber die Aktenschränke in Ezzys Büro enthielten auch persönliche Aufzeichnungen – Listen von Fragen, die einem Verdächtigen zu stellen waren; Angaben zu Zeiten, Daten, Personen in Verbindung mit einem Fall; Aussagen von zuverlässigen Informanten oder Zeugen, die anonym zu bleiben wünschten. Größtenteils waren diese Aufzeichnungen in einer Art Kurzschrift niedergelegt, die er selbst entwickelt hatte und die nur er lesen konnte – meist mit einem Zweierbleistift auf irgendeinen Fetzen Papier gekritzelt, der zum betreffenden Zeitpunkt gerade zur Hand gewesen war. Ezzy sah sie als so privat an wie ein Tagebuch. Weit anschaulicher als die blumigen Reden, die er sich am vergangenen Abend im Gemeindezentrum hatte anhören müssen, dokumentierten sie sein Arbeitsleben.

Er trank einen Schluck Kaffee, rollte in seinem Sessel zu dem Aktenschrank aus Stahl hinüber und zog die unterste Schublade auf. Die Hefter waren nach Jahren geordnet. Die frühesten entnahm er zuerst, blätterte sie durch, fand sie nicht wert, aufgehoben zu werden, und versenkte sie in dem hässlichen braunen Metallpapierkorb voller Beulen, der schon so lange hier Dienst tat wie er selbst.

Systematisch leerte er eine Schublade nach der anderen und näherte sich unerbittlich dem Jahr 1975. Als er dort anlangte, war der Kaffee in seinem Magen sauer geworden und stieß ihm auf.

Eine Akte unterschied sich deutlich von den anderen; sie war umfangreicher und noch abgegriffener, ein Packen brauner Hefter, die ein breites Gummiband zusammenhielt. Die schmutziggrauen, an vielen Stellen eingerissenen oder welligen Ränder der Hefter erzählten ihre eigene Geschichte: wie oft die Unterlagen herausgenommen und durchgeblättert worden waren, wie oft Ezzy bei ihrem Studium seinen Kaffee über sie verschüttet hatte, wie oft sie wieder zwischen die weniger bedeutsamen Akten in die Schublade hineingequetscht worden waren, nur um sehr bald wieder herausgezogen und neuerlichem Studium unterworfen zu werden.

Er streifte das Gummiband ab und schob es über sein dickes Handgelenk. Dort befand sich bereits ein Kupferarmband, weil Cora behauptete, Kupfer sei gut gegen Arthritis – bis jetzt hatte er allerdings nichts davon gemerkt.

Nachdem er die Hefter in einem Stapel auf seinem Schreibtisch aufgebaut hatte, trank er von dem frischen Kaffee, den der Deputy ihm freundlicherweise gebracht hatte, und schlug dann den obersten auf. Das erste Blatt war eine Seite aus dem Jahrbuch der Highschool von Blewer County. Ezzy erinnerte sich genau an den Tag, an dem er sie aus dem Buch herausgerissen hatte. Abschnitt »Oberklassen«, dritte Reihe von oben, zweites Bild links: Patricia Joyce McCorkle.

Sie blickte direkt ins Objektiv, mit einem Ausdruck, als wollte sie sagen, sie hätte ein Geheimnis, das der Fotograf bestimmt liebend gern wissen würde. Unter der Rubrik »Wahlfächer« stand neben ihrem Namen: Chor, Spanisch, Hauswirtschaft. Ihr Tipp an die Mitschüler der unteren Klassen lautete: »Feiern, feiern, feiern!«

Schulabschlussfotos, bei denen man sich in Barett und Talar präsentieren muss, schmeicheln selten; Patsy jedoch sah extrem unattraktiv aus, schon deshalb, weil sie ohnehin keine Schönheit war. Sie hatte kleine Augen, eine breite, flache Nase, und der schmallippige Mund saß über einem fliehenden Kinn.

Aber beliebt war sie trotzdem gewesen, besonders bei den Jungen. Sehr schnell hatte Ezzy herausbekommen, dass Patsy McCorkle mehr Verehrer um sich versammelte als alle anderen Mädchen ihres Jahrgangs. Weil sie, wie eine ihrer Mitschülerinnen – die jetzt die Texaco-Tankstelle in der Crockett Street betrieb – ihm verlegen erklärt hatte, »jeden rangelassen hat, Sheriff. Sie verstehen, was ich meine?«

Ezzy verstand. Diese Mädchen, die »jeden ranließen«, hatte es auch zu seiner Schulzeit schon gegeben, und jeder wusste, wer sie waren.

Aber Patsys zweifelhafter Ruf hatte es ihm nicht leichter gemacht, an jenem heißen Morgen im August ihre Eltern aufzusuchen und ihnen jene Nachricht zu überbringen, die keine Mutter und kein Vater hören wollen.

McCorkle war Angestellter der Versorgungsbetriebe. Ezzy kannte ihn flüchtig, befreundet waren die beiden Männer nicht. McCorkle kam ihm entgegen, noch ehe er die vordere Veranda erreicht hatte. Er stieß die Fliegengittertür auf und sagte gleich als Erstes: »Was hat sie angestellt, Sheriff?«

Ezra bat, eintreten zu dürfen. Auf dem Weg durch die sauber aufgeräumten Zimmer zur Küche, wo schon Kaffee aufgesetzt war, berichtete McCorkle ihm, dass seine Tochter in letzter Zeit völlig außer Rand und Band sei.

»Es ist überhaupt nichts mit ihr anzufangen. Sie hat ihren Wagen demoliert, weil sie viel zu schnell und rücksichtslos fährt. Sie kommt jede Nacht erst in den frühen Morgenstunden nach Hause, trinkt bis zum Umfallen, steht dann morgens im Bad und reihert. Sie raucht Zigaretten, und ich möchte nicht wissen, was sonst noch. Patsy hält sich an keine unserer Regeln und versucht nicht einmal, es zu verheimlichen. Sie weigert sich, ihrer Mutter und mir zu sagen, mit wem sie ausgeht; aber ich habe gehört, dass sie sich mit diesen Herbolds rumtreibt. Als ich ihr deswegen Vorhaltungen machte und ihr verbieten wollte, sich mit solchen Kriminellen einzulassen, sagte sie, das ginge mich verdammt noch mal rein gar nichts an. Genau das waren ihre Worte. Sie könne ausgehen, mit wem sie wolle, auch mit verheirateten Männern, wenn es ihr Spaß mache. Wirklich, so, wie sie sich in letzter Zeit benimmt, Sheriff, traue ich ihr fast alles zu.«

Er reichte Ezzy eine Tasse frisch gebrühten Kaffee. »Es konnte gar nicht ausbleiben, dass sie irgendwann mit dem Gesetz in Konflikt geraten würde. Und da sie heute Nacht überhaupt nicht nach Hause gekommen ist, habe ich Sie eigentlich schon erwartet. Was hat sie angestellt?«, wiederholte er.

»Ist Ihre Frau da?«

»Sie ist oben … schläft noch.«

Ezzy nickte, sah zu seinen schwarzen Stiefeln hinunter, dann hinauf zu den gerüschten weißen Vorhängen am Küchenfenster, hinüber zu der roten Katze, die um ein Bein des Tisches strich, auf dem sein Kaffeebecher stand.

»Ihre Tochter ist heute Morgen tot aufgefunden worden, Mr. McCorkle.«

Diesen Teil seiner Arbeit hasste er. Zum Glück kam es nicht allzu häufig vor, dass er den Leuten solche Hiobsbotschaften ins Haus bringen musste – sonst hätte er sich wahrscheinlich schon längst nach einer anderen Tätigkeit umgesehen. Es ging verdammt an die Nieren, einem Menschen ins Auge zu blicken, dem man soeben eröffnet hatte, dass sein Kind oder Partner nie wieder nach Hause kommen würde. Und es war doppelt schwer, wenn der Betroffene sich noch Augenblicke zuvor im Zorn über den oder die Verstorbene geäußert hatte.

Alle Muskeln im Gesicht des Mannes schienen zu erschlaffen – wie durchgeschnitten. Nach diesem Tag sah McCorkle nie wieder aus wie früher. Die Leute im Ort machten ihre Bemerkungen über die Veränderung. Ezzy konnte auf den Moment genau sagen, wann sie stattgefunden hatte.

»Ein Autounfall?«, stieß McCorkle hervor.

Ezzy wünschte, es wäre so. Er schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Sie – äh – sie wurde kurz nach Tagesanbruch gefunden, draußen im Wald, am Fluss.«

»Sheriff Hardge?«

An der Küchentür stand Mrs. McCorkle in einem leichten Morgenrock mit Gänseblümchenmuster. Ihr Haar war aufgedreht, und ihre Augen waren vom Schlaf verquollen.

»Sheriff Hardge? Entschuldigen Sie, Ezzy?«

Ezzy drehte den Kopf zur Tür seines Büros und zwinkerte verwirrt den Deputy an. Er hatte vergessen, wo er war. Seine Erinnerung hatte ihn zweiundzwanzig Jahre in die Vergangenheit katapultiert. In der Küche der Familie McCorkle hörte er nicht Frank, sondern Mrs. McCorkle seinen Namen sagen, fragend und mit einem Anflug von Angst.

Er rieb sich die müden Augen. »Ja, Frank. Was ist denn?«

»Ihre Frau ist am Telefon. Sie wollte wissen, ob Sie hier sind.« Er zwinkerte. »Was soll ich ihr sagen?«

»Schon gut, Frank. Danke.«

Kaum meldete er sich, fiel Cora umgehend zornig über ihn her. »Was ist das für eine Art, dich aus dem Haus zu schleichen, während ich schlafe, und mir nicht zu sagen, wo du hinwillst?«

»Ich hab dir doch einen Zettel geschrieben.«

»Ja, da steht drauf, du wärst im Büro. Wie sollte ich das verstehen? Schließlich bist du gestern offiziell in den Ruhestand getreten.«

Er musste lächeln. Vor sich sah er sie zu ihrer vollen Größe von einem Meter fünfundfünfzig aufgerichtet, kerzengerade, als hätte sie ein Lineal im Rücken, die Hände in die Hüften gestemmt, mit blitzenden Augen. Es war ein Klischee, aber es passte: Im Zorn war Cora noch hübscher als sonst.

»Ich wollte dich eigentlich zum Frühstück im IHOP einladen, aber wenn du so ungenießbar bist, such ich mir vielleicht eine andere.«

»Als ob irgendeine andere sich überhaupt mit dir abgeben würde!« Nach einer gekränkten Pause fügte sie hinzu: »Ich bin in zehn Minuten fertig. Lass mich nicht warten.«

Er räumte auf, bevor er ging, und verstaute, was er aufbewahren wollte, in Kartons, die die Gemeinde aufmerksamerweise bereitgestellt hatte. Frank half ihm, die Kartons zum Wagen hinauszutragen. Als alles im Kofferraum untergebracht war, gab er Ezzy die Hand. »Wir sehen uns, Ezzy!«

»Machen Sie’s gut, Frank!«

Erst nachdem der Deputy wieder hineingegangen war, legte Ezzy die McCorkle-Akte zu den anderen. Er würde den Kofferraum nicht in Coras Beisein auspacken. Ein Blick auf die Akte, und sofort wüsste sie, was ihn mitten in der Nacht aus dem Bett getrieben und die vergangenen Stunden beschäftigt hatte. Dann würde sie wirklich sauer sein.

3

»Morgen ist es so weit, denk dran«, flüsterte Carl Myron zu.

»Klar, Carl. Ich denk dran.«

»Mach also bloß keinen Quatsch. Nicht dass du am Ende passen musst!«

»Bestimmt nicht, Carl.«

Total behämmert, dachte Carl, Myron in die wasserhellen Augen blickend, hinter denen sich nichts als geistige Öde dehnte.

Obwohl es eigentlich nicht ganz fair war, Myrons Verhalten in Zweifel zu ziehen, wo er selbst doch beinahe alles verpfuscht hätte. Zwar hatte er nur seine Haut retten wollen; aber wenn er noch einmal in so eine Situation geriete, würde er sich nicht mehr wehren.

Als dieser Nigger sich auf ihn gestürzt hatte, hatte er rotgesehen. Es hatte vier Männer gebraucht, ihn ins Krankenhaus zu befördern und im Bett festzuschnallen. Und selbst da noch hatte er es geschafft, den Pfleger in den Arm zu beißen. Ein Beruhigungsmittel hatten sie ihm nicht geben können, weil sie seinen Kopf noch nicht untersucht hatten, um das Ausmaß seiner Verletzung festzustellen.

Von mörderischen Kopfschmerzen geplagt, hatte er den Rest des Tages und die ganze Nacht getobt und gewütet. Er hatte gebrüllt wie ein Wahnsinniger und gegen Gott, den Teufel und die Nigger gewettert, die ihn womöglich seine einzige Chance auf Flucht gekostet hatten.

Rückblickend war ihm klar, dass es gescheiter gewesen wäre, still im Dreck liegen zu bleiben und sich von diesem Gewichtheber dreschen zu lassen, bis die Wärter angerückt wären und ihn weggezogen hätten. Wie viel mehr Schaden hätte er in den paar Sekunden schon anrichten können?

Man hatte eine leichte Gehirnerschütterung bei ihm festgestellt. Carl hatte sich ein paarmal übergeben, etwas unscharf gesehen; aber bis zum Spätnachmittag des folgenden Tages war das ausgestanden. Er hatte Kopfschmerzen gehabt, gegen die alle Schmerzmittel nichts ausrichteten. Schließlich waren sie von selbst vergangen. Seine Nieren taten ihm zwar weh, aber der Arzt hatte gesagt, es werde kein dauernder Schaden bleiben.

Ein paar unangenehme Tage folgten, aber er war dankbar gewesen für die Verletzungen. Sie zeigten dem Wärter, dass er das Opfer war und nur versucht hatte, sich zu verteidigen, indem er nach dem anderen Häftling trat.

Es war Carl höchste Genugtuung gewesen, das Krankenhaus heil und auf eigenen Füßen verlassen zu können, während der Nigger sich immer noch mit seinen geschwollenen Eiern quälte. Sie waren zu so grotesker Größe aufgegangen, dass das ganze Krankenhaus darüber witzelte; genauso wie über den Katheter, den man ihm in den Schwanz gesteckt hatte. Und bei der kleinsten Bewegung flennte er wie ein Säugling.

Letztendlich war also doch noch alles gut gegangen. Der Arzt hatte ihn gesund geschrieben – das hieß, dass er auch für den Straßenbau einsatzfähig war. Einmal mit knapper Not am Scheitern seiner Pläne vorbeigeschrammt, wollte er nun auf keinen Fall mehr ein Risiko eingehen.

Seit er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte er von den anderen Häftlingen, außer Myron, Abstand gehalten. Er redete mit niemandem, sah keinen schief an, schon gar nicht die Schwarzen. Mit Genuss hätte er vor seinem Verschwinden aus dem Bau noch einen von ihnen umgelegt, zum Dank für alles, was sie ihm im Lauf der Jahre angetan hatten; aber man musste in größeren Zusammenhängen denken, und da war es die Sache einfach nicht wert. Die Kerle bluten zu sehen, würde ihm vielleicht ein paar flüchtige Momente schadenfroher Befriedigung bringen, aber hinterher wär’s aus und vorbei. Er würde nie mehr rauskommen. Und er hatte eine Riesensehnsucht, die Sonne Mexikos zu sehen und die exotischen Genüsse zu kosten, die dieses Land bot.

Aber zuerst musste er hier raus.

Heute hatten sein und Myrons Name auf der Liste gestanden. Morgen war der große Tag. Nur auf ihn hatte er gewartet, auf ihn hin alles geplant. In wenigen Stunden würde er ein freier Mann sein. Wenn alles glattging. Es konnte immer noch alles Mögliche schieflaufen. Deswegen hatte er auch solches Magenflattern, dass er kaum die Wurst und das Sauerkraut auf seinem Teller runterbrachte.

Aber er aß das Zeug, um nicht aufzufallen, um keinen Verdacht zu erregen.

»Myron, bevor du heut Abend einschläfst, versuch, den Plan noch mal genau durchzugehen.«

Ein Löffel voll Sauerkraut verschwand in Myrons Mund. »Welchen Plan, Carl?«

»Ach, Scheiße«, knurrte Carl. Das war ja hoffnungslos. Wie oft hatten sie die Sache durchgesprochen? Wenn dieser Idiot ihm alles kaputtmachte, würde er ihn mit bloßen Händen erwürgen. Mit einem tiefen Seufzer der Resignation sagte er: »Schon gut, Myron. Lass mal. Bleib morgen einfach wie ’ne Klette an mir dran.«

»Okay, Carl.«

»Wenn ich dir sag, was du tun sollst, dann tust du’s, okay?«

»Okay.«

»Keine Widerreden und keine Diskussion, du tust es einfach, okay?«

»Okay.«

Los, schieb deinen Schwanz in den Fleischwolf, Myron, okay? Okay, Carl.

Carl, der vor Frust am liebsten laut gebrüllt hätte, rief sich ins Gedächtnis, dass dies genau die blinde Ergebenheit war, die er wollte und brauchte. Er war der Boss, er hatte das Sagen. Er war der verwegene, gutaussehende, mit allen Wassern gewaschene Ladykiller und Stratege. Bei so einem Unternehmen konnte nur einer die Befehle geben. Die anderen mussten spuren.

Also eine ideale Voraussetzung, dass Myron nichts im Kopf hatte und ihm sklavisch ergeben war! Mal angenommen nämlich, er würde zu Myron sagen, schneid dem Scheißwärter die Kehle durch, dann würde Myron das brav erledigen.

Er hatte Carl ohne Scham und Reue Geschichten aus seiner Kindheit erzählt, denen man nur entnehmen konnte, dass der kleine Myron Hutts ein total kranker Typ gewesen war: ein Junge, der nach Art eines Ein-Mann-Vernichtungskommandos sämtliche kleinen Haustiere in seiner Heimatgemeinde und den umliegenden Gebieten abgemurkst hatte, ehe die Polizei ihn schnappte und in die Psychiatrie verfrachtete. Familienangehörige hatten die Behörden mit Anträgen und Gesuchen bombardiert, bis er schließlich aus der Klapsmühle entlassen wurde. Ihre Freude darüber währte nicht lange.

Myron hatte ganz sachlich von dem Massaker berichtet. »Plop hat’s gemacht, und Oma ist die Perücke vom Kopf geflogen. Direkt in die Suppenschüssel.«

Diesen Teil erzählte Myron besonders gern, weil Oma mit Vorliebe Myrons Kopf als Perückenkopf benutzt hatte, wenn sie ihr Kunsthaar frisch ondulieren wollte. Die anderen hatten sich kaputtgelacht über den Anblick des langen, schlaksigen Myron in Großmutters grauer, mit rosaroten Schaumgummiwicklern gespickter Perücke.

Sein Kopf hatte außerdem als Punchingball herhalten müssen, wenn sein Vater im Suff ausgeflippt war. Von einem dieser Exzesse hatte Myron einen Hirnschaden davongetragen. Sein liebender Vater hatte den Kopf seines zweijährigen Sohnes wiederholt gegen den Heizkörper gedonnert. Es war Sommer gewesen und der Heizkörper kalt, aber das hatte den Schaden nicht gemindert.

Mit diesem Tag war Myron zum billigen Ziel verbaler und körperlicher Gewalt geworden. In der Schule wurde er gehänselt, von den Klassenrowdys regelmäßig misshandelt. Aber viel schlimmer war, dass seine eigene Familie – Dad, Mam, Schwester und Oma – den Jungen zu ihrem Amüsement quälte und demütigte.

An dem Abend, an dem Myron mit einer Axt und einer Flinte zum Essen kam, verging ihnen das Lachen.

Er schlachtete seine ganze Familie ab. Es war ein Wunder, dass er angesichts dieses Gemetzels nicht wegen Geisteskrankheit für unzurechnungsfähig erklärt und in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen worden war. Höchstwahrscheinlich hatte irgendein scharfer Staatsanwalt argumentiert, Myron wäre helle genug für den Knast; wenn man ihn in eine Anstalt einwiese, anstatt ihn auf Lebenszeit in einem Hochsicherheitsgefängnis in Verwahrung zu nehmen, bestünde die Gefahr, dass irgendein Schlaffi von einem Psychiater ihn für »geheilt« erklären und wieder auf die ahnungslose Menschheit loslassen würde. Und tatsächlich zeigte Myron nicht die geringsten Skrupel zu töten. Ob es Tiere oder Menschen waren, ganz gleich, Carl hatte oft genug zugesehen, wie Myron kleine Tiere stundenlang quälte, ehe er sie tötete.

O ja, Carl brauchte einen Myron. Man konnte natürlich auch argumentieren, dass er Myron genauso gnadenlos missbrauchte, wie es früher die Rowdys in der Schule getan hatten. Aber auf dem Ohr war Carl taub.

In einem plötzlichen Anfall von Zuneigung für den Mann, der ihn offensichtlich vergötterte, beugte sich Carl über den Tisch und lächelte seinem Verbündeten zu. »Hab ich dir schon mal gesagt, was ich tu, wenn ich hier raus bin, Myron?«

»Du suchst dir ’ne scharfe mexikanische Tussi.«

Carl lachte. »Das hast du nicht vergessen, was, Myron?«

»Ne, hab ich nicht vergessen.« Myron grinste, den Mund voll halb gekauter Wurst.

»Und was noch?«, fragte Carl. »Was tu ich noch?«

Myron schluckte geräuschvoll sein Essen hinunter. »Du legst die Arschlöcher um, die dich in den Knast gebracht haben.«

4

Jack Sawyer stieg aus dem Fahrerhäuschen seines Pick-ups. »Braucht ihr Hilfe?«

Der lose Kies der Einfahrt knirschte unter seinen Füßen. Die aufsteigenden Staubwölkchen setzten sich auf seine abgestoßenen Schlangenlederstiefel – Stiefel, die vor mehr als zehn Jahren von einem mexikanischen Sattelmacher gearbeitet worden waren. Der Alte hatte bei der Arbeit gern ein paar Tequilas gekippt, darum war Jacks linker Stiefel etwas größer als der rechte. Er hatte den Schuhmacher nie um eine Korrektur gebeten. Sein Fuß hatte sich ganz einfach dem kleinen Fehler angepasst.

Der Junge, an den seine Frage gerichtet war und der ihn mit unverhohlener Neugier betrachtete, als er näher kam, schien fasziniert von den Stiefeln. Jack hatte wenig Erfahrung mit Kindern, aber er schätzte den Jungen auf etwa fünf Jahre. Der Kleine puffte seine Mutter in den Oberschenkel, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen; doch sie schob nur seine Hand weg. Kopf und Schultern blieben unter der Motorhaube des Wagens.

Der Junge ging ihm entgegen. Sie trafen sich etwa auf halbem Weg zwischen dem stehen gebliebenen Auto und Jacks Pick-up. Der Kleine legte den Kopf in den Nacken, um zu Jack aufsehen zu können, und blinzelte gegen die grelle Mittagssonne.

»Hallo«, sagte Jack.

»Weißt du, dass ich ein Buch über Dinosaurier habe?«

»Ehrlich?«

»Und ein Video auch.«

»Hm.«

»Am liebsten mag ich den Velociraptor.«

»Na, so was! Ich auch«, sagte Jack.

»Wirklich?«

»Ja.«

»Cool. Magst du auch den Pterodactylus?«

»Der kann einem ganz schön Angst einjagen.«

Der Junge lachte beifällig und zeigte dabei vorne eine Zahnlücke. Der neue Zahn, der bereits ein Stück durchgestoßen war, bildete einen zackigen kleinen Gebirgskamm in der Lücke.

Er war ein niedliches Kind, in Shorts, Turnschuhen und einem T-Shirt mit dem Konterfei einer Zeichentrickfigur aus dem Fernsehen – die Jack zwar kannte, ohne sich jedoch ihres Namens zu entsinnen. Der Junge hatte ein frisches Gesicht mit ein paar Sommersprossen auf der Nase. Einige Strähnen dunklen Haares klebten ihm schweißfeucht in der Stirn.

»Wie heißt du?«

»Jack. Und du?«

»David.«

»Freut mich, dich kennenzulernen, David.« Er wies mit einer kurzen Kopfbewegung zum Wagen. »Was habt ihr denn für Schwierigkeiten?«

Der Junge zuckte die Achseln, wobei er beide Schultern bis fast zu den Ohren hochzog und gleichzeitig die Arme ausbreitete. »Ich weiß nicht. Meine Mama und ich wollten in die Stadt, aber wie wir ins Auto gestiegen sind, hat’s nur so gemacht.« Er gab ein Röcheln von sich und zuckte mit dem ganzen Körper, wie von Krämpfen geschüttelt. »Dann ist der Motor ausgegangen, und jetzt springt er nicht mehr an.«

Jack nickte und machte sich auf den Weg zum Wagen und zu der Frau, die nicht halb so entgegenkommend war wie ihr Sohn. Vielleicht wollte sie keine Einmischung. Vielleicht hatte sie auch Angst vor Fremden und glaubte, wenn sie ihn ignorierte, würde er wieder verschwinden.

»Äh – Madam? Kann ich Ihnen behilflich sein?«

Der Junge trat zu seiner Mutter, legte seinen Handballen an ihren Oberschenkel und drückte ein paarmal dagegen. Diesmal richtete sie sich auf und drehte sich ungeduldig herum. Erst da bemerkte sie offenbar Jack; sie fuhr zurück, als hätte sie sich verbrannt.

»Meine Mama ist gehörlos«, erklärte der Junge. »Sie hat dich nicht kommen gehört. Ich glaub, du hast sie erschreckt.«

Den Eindruck hatte Jack auch. Ihr Blick flog hastig von ihm zu seinem Wagen, dann wieder zurück zu ihm – als versuchte sie festzustellen, ob von ihm Gefahr drohe.

Der Kleine sagte: »Wenn man sich anschleicht, wird sie wütend.«

»Ich wusste nicht, dass ich mich anschleiche.« Jack bot ihr die Hand, um sich zu entschuldigen.

Ihre Reaktion bestand darin, den Jungen an sich zu reißen und sich an den Kühlergrill ihres Wagens zu pressen.

»Ma-ma!«, protestierte David und entwand sich ihr. Er sprach mit Zunge und Händen. »Du brauchst keine Angst zu haben. Er ist nett. Er heißt Jack. Er …«

Mit erhobener Hand gebot sie ihm zu schweigen.

»Sag ihr, dass es mir leidtut. Ich wusste nicht …«

»Sie kann dir alles von den Lippen ablesen«, unterbrach ihn der Junge. »Ich zeig ihr mit Zeichen, was du sagst – aber sie kann gut von den Lippen lesen.«

Jack sah sie an und sagte mit übertriebenen Mundbewegungen: »Können Sie mich verstehen?«

Ihre Augen verengten sich ein wenig. Aus Ärger, vermutete Jack. Er hatte allerdings keine Ahnung, was an ihm sie so verstimmte. Sie nickte einmal kurz und ziemlich heftig, wobei sich ihr langes Haar aus dem Knoten am Oberkopf löste. Es hatte die gleiche dunkle Farbe wie das des Jungen, doch die Sonne brachte kupferrote Strähnen zum Vorschein.

»Ich wollte Sie nicht erschrecken, Madam. Eigentlich wollte ich zu Mr. Corbett. Aber da ich nun schon mal hier bin, würde ich Ihnen gern helfen, Ihren Wagen wieder in Gang zu bringen.«

Der Junge stieß sie an. »Okay, Mama?«

Verneinend schüttelte sie den Kopf.

Enttäuscht sagte der Junge zu Jack: »Ich glaube, sie will nicht.«

»Ich möchte wirklich nur helfen, Madam«, versicherte Jack.

Sie behielt ihn misstrauisch im Auge, während sie dem Jungen Handzeichen machte, die dieser übersetzte. »Sie sagt, vielen Dank, aber wir rufen die Werkstatt an.«

»Ja, das können Sie natürlich tun. Aber vielleicht ist es gar nicht nötig.« Jack wies auf den Wagen. »Es ist am Ende nur eine Kleinigkeit.«

Ihre Finger bewegten sich rasend schnell, und ihre Lippen bildeten lautlos Wörter dazu. Ihre Mimik verriet, was sie sagte; dennoch sah Jack zu David, um es sich übersetzen zu lassen.

»Sie sagt, wenn es nur eine Kleinigkeit ist, kann sie’s auch selbst richten. Sie sagt, sie ist gehörlos und nicht – das hab ich nicht mitgekriegt, Mama. Was bedeutet das Zeichen?« Er tippte sich mit zwei Fingern an die Stirn.

Die junge Frau buchstabierte das Wort mit den Fingern, und David übersetzte die einzelnen Buchstaben. »Was für ein Wort kommt dabei raus, Jack?«

»Dumm«, gab der Auskunft.

»Ach so. Sie wird immer sauer, wenn die Leute denken, nur weil sie nichts hört, ist sie dumm.«

»So hab ich das wirklich nicht gemeint.« Jack, der jetzt selbst etwas ungeduldig wurde, rieb sich das Kinn. »Soll ich mir nun den Wagen anschauen oder nicht? Wenn nicht, such ich mir nämlich schleunigst ein schattiges Plätzchen. Die Hitze ist ja die H-ö-Doppel-l-e.«

Mit seinen kurzen, kleinen Fingern buchstabierte David das Wort nach. »Was heißt das, Jack? Hölle?«

Ohne dem Jungen zu antworten, sagte Jack: »Also, wie machen wir’s, Madam?«

David übersetzte ihre Antwort. »Danke, aber Mr. Corbett wird sich darum kümmern.«

»Ist er da?«

»Da hinten.« David zeigte mit dem Finger in die Richtung. »Die Stiere haben einen Teil vom Zaun eingerissen. Mein Opa ist gerade dabei, ihn wieder zu richten.«

»Dein Opa?«

»Ja.«

»Warum nicht dein Dad?«

»Er ist tot.«

»Tot?«

»Ja. Er ist vor meiner Geburt gestorben.«

Jack sah die Frau an, deren Blick zornig auf ihren Sohn gerichtet war. Sobald sie die Aufmerksamkeit des Jungen hatte, begann sie zu gestikulieren.

»Sie sagt, ich rede zu viel.«

»Mein Angebot steht. Müssen Sie dringend in die Stadt?«

Vielleicht zermürbte seine Hartnäckigkeit sie schließlich, obwohl sie nicht den Eindruck machte, als gäbe sie leicht klein bei. Oder es gefiel ihr die Aussicht auf ein schattiges Plätzchen. Wie auch immer, sie war nahe daran, sein Angebot anzunehmen, als ihr Blick seinen Gürtel streifte.

David, der den Blick bemerkte, sagte: »Kann sein, dass dein Messer ihr Angst macht.«

»Ach so. Wenn das alles ist.« Jack öffnete die lederne Scheide. Die Frau erstarrte. Er zog das Messer langsam heraus und legte es auf seine offene Hand. Dann ging er vor David in die Hocke, um den Jungen das Messer genauer betrachten zu lassen.

»Das hat ein indianischer Krieger gemacht, David. Ein Komantsche. Vor langer, langer Zeit.«

»Wow!«, rief der Junge ehrfürchtig. Er streckte die Hand aus, um die Waffe zu berühren, zog sie aber gleich wieder ängstlich zurück.

»Du kannst es ruhig anfassen.«

»Wieso ist es so holprig?«

»So haben die Indianer damals ihre Messer gemacht.«

David strich mit dem Finger über die bläuliche, gewellte Klinge. »Cool«, sagte er im gleichen andächtigen Ton.

Jack richtete sich langsam auf. Ohne seinen Blick von der Frau zu wenden, schob er das Messer wieder in die Scheide. Dann hob er kapitulierend beide Hände.

Sie fand die spielerische Gebärde nicht witzig; doch sie trat zur Seite, wenn auch mit abweisendem Blick, und bedeutete ihm, er könne sich den Motor ansehen.

Er nahm seinen Cowboyhut aus Strohgeflecht und seine Sonnenbrille ab, deponierte die Sonnenbrille in der Höhlung seines Huts und legte diesen auf den Kotflügel. Dann kroch er unter die Kühlerhaube und beugte sich über den Motor. Ein Schweißtropfen fiel von seiner Stirn auf das heiße Gehäuse und verdampfte mit einem kurzen Zischen.

Das war ja mal eine ganz neue Erfahrung! Noch nie hatte er mit einer Gehörlosen zu tun gehabt. Obendrein mit einer, die so einen Riesenkomplex hatte.

Er drehte sich kurz um und bat sie, den Motor anzulassen und aufs Gas zu treten. Jack war kein großer Automechaniker, aber in diesem Fall lag die Diagnose auf der Hand. Die Benzinleitung war verstopft. Er machte sich an die Arbeit.

David bezog Posten an seiner Seite. Offensichtlich in dem Bestreben, Jack zu beeindrucken, prahlte er: »Wir haben eine ganze Ranch.«

»Ja, das sehe ich.«

»Nur wir drei. Mama, Opa und ich. Ich hätte gern einen Bruder oder eine Schwester – aber Mama sagt immer, ich mach ihr allein schon genug zu schaffen, und außerdem kann man ohne einen Daddy keine Kinder bekommen. Magst du Pfirsichkuchen, Jack? Meine Mama kann prima Pfirsichkuchen backen. Und Opa macht Vanilleeis, und ich darf auf dem Fass sitzen, wenn er kurbelt. Das Eis kann man zum Pfirsichkuchen essen, aber ohne alles schmeckt’s auch gut. Kannst du schwimmen? Opa hat gesagt, wenn er mal Zeit hat, bringt er’s mir bei. Aber Mama hat Angst, dass im Fluss Schlangen sind. Wir haben hier einen Fluss, und ich hab schon viele Fische gefangen. Opa und ich haben sie ausgenommen, und Mama hat sie dann gekocht, und wir haben sie gegessen. Ein bisschen paddeln kann ich schon, so wie ein Hund, weißt du. Magst du dir nachher mal mein Zimmer anschauen? Ich habe ein Poster von den Dallas Cowboys an der Schranktür. Hast du auch einen Sohn?«

»Nein, ich habe nie einen Sohn gehabt. Und auch keine Tochter.« Er lächelte zu dem kleinen Jungen hinunter, während er einen Filter aus der Benzinleitung entfernte.

Die Frau wartete in ihrer Nähe. Sie machte irgendwelche Zeichen. David übersetzte mit bekümmerter Miene: »Sie sagt, du hast wahrscheinlich schon ganz heiße Ohren, weil ich so viel – das Letzte hab ich nicht mitgekriegt.«

»Quassle?«, meinte Jack.

»Vielleicht«, gestand David. »Opa nennt mich manchmal Quasselstrippe.«

»Mich stört’s nicht, wenn du mir was erzählst. Ich hab gern Leute um mich.«

»Zu uns kommt nie jemand.«

»Und warum nicht?« Jack richtete die Frage an David, sah aber die Frau dabei an.

»Ich glaub, weil meine Mama nicht hören kann.«

»Hm.« Jack hob den Filter an seinen Mund und blies kräftig hindurch. Dann setzte er ihn wieder ein und bedeutete ihr, den Wagen noch einmal anzulassen. Sie stieg ein und drehte den Zündschlüssel. Nachdem sie mehrmals das Gaspedal durchgetreten hatte, sprang der Motor an.

Jack ließ die Kühlerhaube herunter und wischte sich die Hände. »Na also.« Er setzte Hut und Sonnenbrille wieder auf. »Jetzt müsste er eigentlich laufen wie geschmiert. Ihr hattet ein bisschen Dreck im Filter.«

»Du bist echt gescheit!«

»So gescheit auch wieder nicht, David. Mir ist das Gleiche mal mit meinem Auto passiert. Ich musste fünfzig Dollar dafür blechen, dass ein Mechaniker den Schmutz rausgeblasen hat.« Er wandte sich der Mutter des Jungen zu. »Jetzt würde ich gern mit Mr. Corbett sprechen.«

»Darf ich ihm zeigen, wo Opa ist, Mama?«

Sie schüttelte den Kopf und bedeutete dem Jungen einzusteigen.

»Wenn du mir nur die Richtung verrätst, dann find ich ihn schon«, sagte Jack.

»Er ist da drüben, an den Bäumen vorbei«, erklärte David. »Aber ich bring dich hin. Es ist nicht weit.«

Davids Mutter stampfte mit dem Fuß, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. Mit blitzschnell fliegenden Fingern erteilte sie ihm einen Befehl.

»Ach, Mama, bitte! Warum darf ich nicht hierbleiben, bei Opa und Jack? Ich mag nicht zum Einkaufen fahren.«

Den Arm in Schulterhöhe pfeilgerade ausgestreckt, wies sie auf die Mitfahrertür des Wagens.

Jack klopfte David auf die Schulter. »Folg lieber.«

»Bist du noch hier, wenn ich zurückkomme?«

»Mal sehen.«

»Hoffentlich. Also dann, tschüs, Jack!«

»Tschüs!«

David trottete hinten um den Wagen herum. Als er an seiner Mutter vorbeikam, senkte er den Kopf, sodass sie seinen Mund nicht sehen konnte, und schimpfte leise: »Du bist eine ganz gemeine Mama.«

Jack hatte Mühe, sich ein Lächeln zu verkneifen. Er tippte sich an die Hutkrempe. »Auf Wiedersehn, Madam!«

Sie setzte sich hinter das Steuer und schlug die Tür zu. Nachdem sie ihren Gurt festgemacht und sich vergewissert hatte, dass auch David angeschnallt war, wandte sie sich Jack zu.

Durch das offene Fenster teilte sie ihm mit Fingerzeichen etwas mit, was vermutlich »Danke« hieß.

Er sah dem davonfahrenden Wagen nach, der an der Hauptstraße in Richtung zum Ort abbog. Schmiedeeiserne Lettern, die sich zu dem Namen »Corbett Ranch« zusammenfügten, überspannten in einem Bogen die Einfahrt. Nicht sehr originell, dachte Jack, aber Hinweis genug.

Er drehte sich herum und musterte das Haus, einen adretten einstöckigen Holzbau, weiß, mit dunkelgrünen Läden an den vorderen Fenstern. Zu beiden Seiten der Haustür standen auf Podesten Farne; Schalen mit blühenden Blumen zierten rechts und links die drei Treppenstufen, die zur breiten Veranda unter dem von stabilen Säulen getragenen Dach hinaufführten. Es war ein hübsches Haus; aber es unterschied sich durch nichts von Tausenden anderer solcher Ranchhäuser, die man überall in den mittleren Südstaaten antraf.

Jack überquerte den Hof und trat durch ein Tor, ging an einem langen Stallgebäude und einer Pferdekoppel vorüber, wo mehrere Pferde an einer Krippe Heu fraßen und mit ihren Schweifen nach Fliegen schlugen. Hinter der Koppel öffnete er das Tor zu einer Weide und achtete auf seinem Weg durch das Gras sorgsam auf Kuhfladen.

Es gab, dachte er, eigentlich genug Gründe, auf der Stelle umzukehren, zum Wagen zurückzulaufen und wieder abzuhauen.

Die Nachricht von dem Gefängnisausbruch in Arkansas war bis nach Corpus Christi hinunter gedrungen. Presse, Funk und Fernsehen der gesamten Region hatten darüber berichtet. Das Interesse der meisten, die davon hörten, war wahrscheinlich nur flüchtiger Natur gewesen, ihn aber hatte die Story aufgeschreckt wie ein Donnerschlag. Beinahe ehe er sich’s versah, war er auf dem Weg nach Blewer. Er war um Mitternacht angekommen und hatte sich ein Zimmer in einem Motel genommen.

In Bezug auf Hotels war er nicht anspruchsvoll, und das Zimmer erwies sich als durchaus komfortabel; trotzdem hatte er den Rest der Nacht wach gelegen und sich auf einem Kabelsender das John-Wayne-Filmfestival angesehen, während er innerlich mit sich und dem zwanghaften Impuls haderte, der ihn einen guten Job hatte hinwerfen und hierherkommen lassen.

Aber so lebte er im Grund genommen seit dem Tag, an dem er erwachsen geworden war – immer auf Abruf, stets auf dem Sprung. Er war ein Einzelgänger, ein Abenteurer, ein unsteter Wanderer ohne Bindungen. Seine gesamte irdische Habe hatte in seinem Lieferwagen Platz. Er ging, wohin er wollte, und machte halt, wann und wo es ihm beliebte. Wenn ihm ein Ort gefiel, blieb er. Wenn er ihn leid war, zog er weiter. Jack hatte einen Führerschein und eine Sozialversicherungsnummer, aber kein Bankkonto und keine Kreditkarte. Das Geld, das er verdiente – durch Jobs, die ihn gerade reizten –, reichte ihm.

Bei Tagesanbruch, als Rio Bravo sich dem Ende näherte, war er aufgestanden, hatte sich rasiert und geduscht und in der Donutbäckerei gegenüber vom Motel gefrühstückt. Bei einer Tasse gutem Kaffee hatte er seinen inneren Streit mit einem Kompromissentscheid beigelegt: Es war eine Schnapsidee und riskant obendrein; aber er würde trotzdem an ihr festhalten und tun, wozu es ihn trieb.

Er musste es tun.

Im Lauf der Jahre war er viele Male in diese Gegend gekommen, immer auf der Durchfahrt, interessiert und neugierig, aber nie bereit anzuhalten. Und jedes Mal, wenn er an der Corbett Ranch vorübergefahren war, hatte er sich gefragt, was das für Leute waren, die hinter dem schmiedeeisernen Tor lebten. Aber seine Frage schien ihm nicht so wichtig, dass er haltgemacht hätte, um sich Antwort zu holen.

Dies war, bei allen Heiligen, der letzte Ort auf Erden, an dem er etwas zu suchen hatte. Wieso hatte er nur das Gefühl, hier sein zu müssen?

Sicher, Carl Herbolds Gefängnisausbruch. Aber das war nur der Auslöser gewesen. Irgendetwas in seinem Inneren trieb ihn immer wieder hierher. Er hatte versucht, die Verbindung zu vergessen, ihr davonzulaufen, aber sie holte ihn stets erbarmungslos ein. Genauer gesagt, er trug sie mit sich, wohin er auch ging.

Seine Reisen hatten ihn mit den unterschiedlichsten religiösen Überzeugungen bekannt gemacht. Mit einem Schamanen eines der Stämme in Arizona, der glaubte, im Drogenrausch zeigten sich ihm die Götter, hatte er Peyote probiert. Einen Sommer hatte er als Caddie für einen golfspielenden Rabbi gejobbt, der ihm vom Bund Gottes mit den Menschen und dem verheißenen Messias erzählte. Bei einem Freilicht-Rockkonzert hatte er mit einer Gruppe Theologiestudenten über das Evangelium diskutiert.

Alle waren tief davon überzeugt gewesen, dass ein höherer Wille ihr Schicksal bestimme; dass ein höherer Wille ihnen zumindest helfe, den rechten Weg zu wählen.

Jack wusste nicht, welche Religion – ob überhaupt eine – Gültigkeit besaß. Er war nicht imstande, sich einen allmächtigen Gott vorzustellen, der den Kosmos geschaffen hatte, nur um dann die Geschicke der Menschen mit solcher Verdrossenheit und Launenhaftigkeit zu lenken. Ihm war rätselhaft, warum sich Naturkatastrophen ereignen mussten. Er verstand nicht, warum guten Menschen Schlimmes widerfuhr, warum die Menschheit Seuchen, Hunger und Krieg erleiden musste. Und er hatte seine Zweifel an der Erlösung.

Aber er wusste, dass es die Sünde gab. Und die Schuld, die sie begleitete.

Man konnte es Vorsehung oder Schicksal oder Gott oder auch schlicht Gewissen nennen. Irgendetwas – ein höherer Wille – hatte ihn getrieben, alles aufzugeben und hierherzukommen, als er erfuhr, dass Carl Herbold auf freiem Fuß war.

Was als Nächstes geschehen würde, stand in den Sternen. Jack wusste es jedenfalls nicht. Selbst in dem Moment, als er unter dem schmiedeeisernen Torbogen hindurchgefahren war, hatte er nicht gewusst, was er an dem ihm unbekannten Ort sagen oder tun würde. Jack hatte keinen konkreten Plan. Er hatte nicht damit gerechnet, in der Einfahrt von Delray Corbetts Ranch auf eine Frau und ein Kind zu treffen. Von jetzt an würde er es nehmen, wie es kam.

So oder so, in wenigen Sekunden würden die Würfel fallen.

Als er den Rancher entdeckte, der, im Gras kniend, mit einem widerspenstigen Stück Stacheldraht kämpfte, zögerte er nur einen Augenblick. Dann legte er die Hände um den Mund und rief: »Mr. Corbett?«

5

Delray Corbett drehte sich um, als er seinen Namen hörte. Widerwillig richtete er sich auf. Er war ungefähr einen Meter fünfundsiebzig groß, ein Mann Mitte sechzig, ein wenig schwammig um die Taille, mit stämmigen Beinen und strengem Gesicht. Sein Unmut darüber, einen Fremden auf seinem Weideland zu sehen, war offenkundig. Aber Jack wollte sich von der finsteren Miene nicht abschrecken lassen.

»Mr. Corbett«, sagte er, dem Mann seine Rechte bietend. »Jack Sawyer.«

Betont gemächlich zog Corbett den Arbeitshandschuh von seiner Rechten und gab Jack anstandshalber die Hand. Unter dem Schirm seiner Mütze hervor musterte er Jack mit unfreundlichem Blick.

Jack wies mit einer Kopfbewegung zum Zaun. »Ich habe gehört, dass ein paar Stiere Ihren Zaun eingerissen haben.«

»Und woher wissen Sie das?«

»Von Ihrem Enkel.« Er deutete auf Corbetts Unterarm, durch den sich ein langer blutiger Riss zog. »Sind Sie am Stacheldraht hängen geblieben?«

Corbett wischte mit einer wegwerfenden Bewegung über die Verletzung. »Das ist nichts. Wo haben Sie meinen Enkel getroffen?«

»Vor dem Haus.«

»Und Sie haben versucht, ihn auszuhorchen«, fragte er aufgebracht. »Verdammt noch mal. Ich hab Ihren Leuten doch schon gesagt, dass ich nichts weiß. Lassen Sie uns in Ruhe.«

»Entschuldigen Sie, Mr. Corbett, Sie scheinen mich mit jemandem zu verwechseln. Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«

Das war geflunkert. Natürlich gehörte Delray Corbett zu den Leuten, die man nach Herbolds Gefängnisausbruch als Erste befragen würde. Und anscheinend hatten sich die Behörden schon bei ihm gemeldet. Er war wütend über die Belästigung. Oder fürchtete die Auswirkungen. Beides verständlich.

»Ich weiß nicht, was Sie glauben, aber Sie täuschen sich«, versicherte Jack ihm. »Ich habe mit Ihren Angehörigen nur gesprochen, weil Ihre Schwiegertochter Schwierigkeiten mit ihrem Wagen hatte.«

Corbett warf einen besorgten Blick zum Haus.

»Es war nichts weiter«, erklärte Jack. »Nur ein bisschen Dreck in der Benzinleitung. Der Wagen läuft wieder.«

Corbetts Blick kehrte zu ihm zurück. »Sie sind also von niemandem geschickt worden?«

»Nein.«

»Dann entschuldigen Sie!«

»Schon gut.«

Immer noch misstrauisch, zog Corbett ein Taschentuch aus der Hüfttasche seiner Jeans und nahm einen Moment seine Mütze ab, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Er hatte sehr dunkles Haar, fast ohne Grau.

»Hat Anna Ihnen was gegeben?«

Anna. Sie hieß Anna. Diese Neuigkeit beschäftigte Jack so sehr, dass er nicht hörte, was Corbett weiter sagte. »Wie bitte?«, fragte er.

»Sind Sie hergekommen, weil Sie Geld von mir haben wollen? Ich meine, dafür, dass Sie den Wagen wieder in Ordnung gebracht haben«, ergänzte er, als er sah, dass Jack nicht verstand, was er meinte.

»Nein, Sir«, entgegnete Jack beinahe schroff. »Das hab ich gern getan. Ich bin hier, weil ich mit Ihnen sprechen möchte.«

Sofort war Corbett wieder auf der Hut. »Wollen Sie was verkaufen?«

»So könnte man sagen.«

»Tja, dann verschwenden Sie nur Ihre Zeit. Ich habe nichts nötig.«

»Auch mich nicht?«

»Was?«

»Ich brauche Arbeit. Sie brauchen einen Helfer. Meine Arbeitskraft ist zu verkaufen.«

Corbett machte ein Gesicht, als warte er auf die Pointe. Schließlich sagte er: »Soll das Ihr Ernst sein?«

»Aber sicher. Ich könnte gleich jetzt anfangen und Ihnen mit dem Zaun da helfen.«

Corbett trat einen Schritt nach rechts, genau zwischen Jack und die bereitliegende Rolle Stacheldraht, entweder um sie Jacks Blick zu entziehen oder vor seinem Zugriff zu schützen; es war nicht zu erkennen. Offenkundig war hingegen, dass Corbett Jacks Angebot nicht für bare Münze nahm.

Er sagte mit frostiger Höflichkeit. »Bemühen Sie sich nicht, Mr. Sawyer. Trotzdem vielen Dank!« Er schob das Taschentuch ein, setzte seine Mütze auf und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

»Sie haben mich gar nicht bis zu Ende angehört.«

»Ich beschäftige keine Leute.«

»Das sieht man.« Die Bemerkung traf, genau wie Jack gehofft hatte. »Nichts für ungut, Mr. Corbett! Aber hier gibt’s ganz schön was zu tun, soweit ich sehen kann. Wenn Sie mich fragen, muss der ganze Zaun erneuert werden, nicht nur das Stück da. Das heißt, Löcher ausheben, Pfosten aufstellen …«

»Ich weiß, was es heißt«, fuhr Corbett ihn gereizt an.