Narr - Gerd Schilddorfer - E-Book
SONDERANGEBOT

Narr E-Book

Gerd Schilddorfer

4,6
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In einem kleinen österreichischen Weindorf geschieht ein grausiger Mord: Der Lehrer von Mittelalterforscher Georg Sina wird gefoltert und an einem Baum aufgehängt. Unweit des Tatorts finden Sina und Reporter Paul Wagner ein Steinkreuz mit geheimnisvollen Symbolen. Zur gleichen Zeit bergen zwei Abenteurer im Berliner Untergrund eine mysteriöse Truhe und lösen damit bei mehreren Staaten Alarm aus. Wo sind die vier verschlüsselten Dokumente aus der Zeit des Wiener Kongresses? Wer sie besitzt, hält die Macht in Händen. Die Ereignisse überschlagen sich: Mitglieder der österreichischen Regierung werden systematisch ermordet, der ermittelnde Kriminalkommissar wird Opfer eines Anschlags... Schritt für Schritt setzen Sina und Wagner die verschiedenen Puzzleteile zusammen und entdecken ein ungeheuerliches Komplott. Es geht zurück auf den genialen Strategen Metternich, zieht sich durch die europäische Geschichte und mündet in ein wahnwitziges Ultimatum. Sina und Wagner müssen jetzt weit mehr als ihr eigenes Leben retten: Durch die Unterwelt von Berlin und Wien, über alte Friedhöfe, durch modrige Gewölbe und geheime Kammern der Hofburg führt die Jagd nach der Wahrheit. Der neue Thriller des Autorenduos Schilddorfer & Weiss nimmt seine Leser mit auf eine Achterbahnfahrt durch Geschichte und Gegenwart.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1028

Bewertungen
4,6 (34 Bewertungen)
24
5
5
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für

unsere Großmütter Christine Geyer und Maria »Midi« Weiss, zwei einmalige, starke und lebenskluge Frauen – weil sie uns gelehrt haben, uns selbst und andere nicht so ernst zu nehmen.

… und für alle, die wie wir Geschichte und Geschichten lieben.

Besuchen Sie uns im Internet unterwww.langen-mueller-verlag.de

© 2011 by LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München Alle Rechte vorbehalten Covergestaltung: Wolfgang Heinzel unter Verwendung einer Illustration von Stefanie Bemmann Illustrationen im Innenteil: David G.L. Weiss eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7844-8024-4

Prolog – 29.8.2009

Wien, Innere Stadt/Österreich

Genau um 6:09 Uhr war die Sonne an diesem Morgen blutrot über Wien aufgegangen. Ihre ersten Strahlen, die über die Dachfirste glitten, kündigten das Kommen eines weiteren heißen Augusttages an. Kaum eine halbe Stunde später begannen sich die Straßen an diesem Samstag zu füllen. Wenn auch gemächlicher als unter der Woche, rollten die ersten Vorboten der mittlerweile üblichen Verkehrslawine in die Innenstadt. Viele Wiener waren auf Urlaub gefahren, nach Italien ans Meer oder an eine jener All-inclusive-Destinationen, die nichts mehr dem Zufall überließen. Die Stadt schien trotz der Tag und Nacht anhaltenden, drückenden Hitze auszuatmen. Es würde ein ganz gewöhnlicher Sommertag werden in Wien, oder vielleicht einer, an dem wieder einmal Geschichte in der Stadt an der Donau geschrieben würde. Die alarmierenden tagespolitischen Ereignisse der letzten Zeit deuteten auf Zweiteres hin.

Wilma Palm war bereits seit mehreren Stunden wach, die Nervosität und die Hitze der Nacht hatten sie kaum schlafen lassen. Jetzt lief sie, nach einem schnellen Frühstück im Stehen, den Ring, die Wiener Prachtstraße, entlang. Es blieb ihr nicht mehr viel Zeit, um vor ihrer Chefin im Büro am Stubenring einzutreffen. Seit der Wahl und dem Amtsantritt vor zwei Jahren hatte sie es sich zur Angewohnheit gemacht, mindestens eine Stunde vor der Ministerin an ihrem Arbeitsplatz zu sein, um alles für den reibungslosen Tagesablauf der Politikerin vorzubereiten. Die Regierung war angesichts der Finanzund Bankenkrise aus der Sommerpause zurückgeholt worden. Auch Palm hatte daraufhin auf ihren Urlaub verzichten müssen, er war von höchster Stelle ersatzlos gestrichen worden.

Aber nicht nur deswegen war Wilma Palm wütend. Aufgrund der europäischen Finanzministerkonferenz hatte die Fahrbereitschaft der Regierung alle Wagen ihres Fuhrparks im Einsatz, um die ausländischen Politiker von den Hotels zur Hofburg und wieder zurück zu bringen. Palm hatte überhaupt kein Problem damit, die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen, aber genau an diesem Morgen behinderte ein Schwertransport die Straßenbahnen entlang der Ringstraße. Tieflader, beladen mit Baumaschinen, waren im alljährlich wiederkehrenden sommerlichen Rhythmus zu riesigen Baustellen in der Bundeshauptstadt unterwegs – dieses Jahr war der Rennweg dran, wo der Fahrbahnbelag und die Straßenbahnschienen erneuert werden sollten. Die MA 46, die Magistratsabteilung der Stadt Wien für Verkehrsorganisation und technische Verkehrsangelegenheiten, hatte das Büro der Ministerin nicht darüber informiert, dass bereits am Wochenende mit den Arbeiten begonnen und daher mit massiven Verkehrsbehinderungen zu rechnen sein würde.

»Das ist doch so selbstverständlich wie das Amen in der Kirche, dass gerade heute alles drunter und drüber geht«, ärgerte sich Palm laut und rätselte, warum die Baufirmen ausgerechnet die für die Konferenz so wichtige Ringstraße dazu benutzen mussten, um die schweren Geräte an ihren Einsatzort zu bringen. Am meisten haderte sie jedoch mit sich selbst, weil sie am Schottentor nicht die U-Bahn und damit den kürzesten Weg genommen, sondern sich für die oberirdische Ringlinie entschieden hatte.

Zum selben Zeitpunkt verließ eine Gruppe Polizisten das Polizeikommissariat in der Rossauer Kaserne, überquerte die MariaTheresien-Straße und erreichte schließlich ebenfalls den Schottenring. Ihre Aufgabe war es, die Abbieger aus den Seitengassen und Nebenfahrbahnen umzuleiten, um einen Transporter nicht zu behindern, der einen hausgroßen gelben Bagger in den dritten Bezirk überstellte.

Einer der Uniformierten postierte sich an der Einfahrt zur Gonzagagasse, während seine Kollegen weiter unten in Richtung Donaukanal ihre Positionen einnahmen.

Amüsiert beobachtete der Polizist eine kleine, etwas untersetzte Frau mit kurzen, blonden Haaren, die ein dickes Bündel aus losen Akten und bunten Schnellheftern unter den Arm geklemmt hatte. In der anderen Hand trug sie eine bis zum Bersten gefüllte Aktentasche. Das Kostüm stand ihr überhaupt nicht und wirkte ein wenig aufgesetzt, fast wie eine Verkleidung, fand der Polizist. Die blonde Frau stöckelte im Schnellschritt an ihm vorbei und schimpfte hörbar vor sich hin. Sie ist wohl in Eile, dachte der Uniformierte und hielt einen Autofahrer davon ab, dem Schwertransport zu nahe zu kommen. Dann blickte er wieder zu der Frau, die sichtlich mit ihren Stöckelschuhen kämpfte. Sie stolperte, strauchelte, aber gewann gerade noch ihr Gleichgewicht wieder.

»Die trägt ansonsten wohl eher flache Schuhe, so wie sie läuft …«, wunderte sich der Schutzmann halblaut und schüttelte mitleidig den Kopf. Er musste aber unweigerlich kichern, erinnerte ihn die Gestalt doch zunehmend an Daisy Duck.

Die Kleine kommt daher wie eine Ente, dachte sich auch der Fahrer des Sattelschleppers mit dem riesigen Bagger auf der Ladefläche und lachte in sich hinein.

Ein Uniformierter am Straßenrand winkte ihm einen freundlichen Gruß zu.

»Ja, ja. Dein Freund und Helfer, zumindest ab und zu …«, murmelte der Mann und grüßte halbherzig zurück. In seinem Innersten freute er sich aber, dass die Fahrbahnen exklusiv für ihn frei gehalten wurden. Er drehte das Radio lauter, als der Sprecher gerade über die »Verkehrsbehinderung durch eine Reihe von Schwertransporten in der Wiener Innenstadt« berichtete.

Ich bin im Verkehrsfunk, grinste er in sich hinein. Auch ein kleiner Werktätiger kann es ins Radio schaffen, wenn er sich nur genug anstrengt und sein Bagger groß genug ist. Mit sich und der Welt im Reinen zündete er sich eine Zigarette an und lauschte den Schlagzeilen. Die Hauptmeldung in den Nachrichten waren an diesem Morgen die europäischen Politiker, die in Wien ihre Köpfe zusammensteckten, um einen Weg aus der Krise zu finden, die von den internationalen Großbanken verursacht worden war.

»Aber auch eure Karossen müssen warten, wenn ich, Martin Kurecka, hier fahre!«, kommentierte er halblaut, als er fast im Schritttempo an den gesperrten Kreuzungen mit den Reihen der wartenden schwarzen Limousinen vorbeifuhr. Zufrieden blies er den Rauch seiner Zigarette aus dem offenen Seitenfenster. Kurecka schaute zwischen den Stämmen der Bäume des Grünstreifens durch, zu der kleinen, drallen blonden Frau hinüber, die jetzt fast genau neben ihm herlief. Dann stutzte er, schaute nochmals hin und traute seinen Augen nicht.

Wilma Palm hatte ein solches Geräusch noch nie gehört. Es war eine Mischung aus lautem Rascheln und Knirschen, gefolgt von Knacken wie brechendes, ja zerfaserndes Holz. Sie hielt an, blieb regungslos stehen und fuhr dann wie elektrisiert herum. Hinter ihr erblickte sie jedoch nur einen Polizisten in unmittelbarer Nähe des Grünstreifens, der mit weit aufgerissenen Augen vor sich auf den Boden starrte.

Martin Kurecka hatte sofort eine Vollbremsung eingeleitet. Der Schwertransport mit dem riesigen Bagger kam nur mühsam zum Stehen, dumpf klopfte die Hydraulik und die Reifen quietschten. Er schaltete den Motor ab, zog die Handbremse fest und sprang aus dem Führerhaus. Mit wenigen Schritten war er neben dem Polizisten und der kleinen blonden Frau im grauen Kostüm, die wie erstarrt dastanden und ihn gar nicht zu bemerken schienen. Alle drei konnten ihren Blick nicht von dem fünf Meter tiefen und eineinhalb Meter breiten Loch zu ihren Füßen abwenden, in dem einer der Alleebäume der Ringstraße, eine ganze Jungpappel, gerade bis zum Wipfel verschwunden war.

Nussdorf ob der Traisen/Österreich

Die drei Männer hatten Zeit. Es lag in ihrer Tradition, in ihrem Denken und in ihrer Art, dem Tod zu begegnen. Manchmal dauerte es kürzer, bis die hagere Gestalt im langen schwarzen Mantel kam, manchmal eben länger. Aber er kam immer, nichts konnte ihn aufhalten. Das war Gesetz seit Anbeginn der Welt und es würde sich nie ändern. So standen sie geduldig im Schwarz des Hausschattens, nebeneinander in der Dunkelheit vereint, an die raue, von der Sommerhitze noch warme Wand gelehnt und lauschten in die Nacht. Samtig strich der Wind durch die Weingärten vom Donautal herauf und brachte die Blätter in den Obstbäumen ganz leise zum Rascheln. Es war eine rabenschwarze, mondlose Nacht, eine zum Verlieben und zum Sterben, zwei Wochen vor dem nächsten Vollmond, dem Herbstmond.

Einer der Männer im schwarzen Kampfanzug beugte sich vor, drehte sich zur Seite und blickte aufmerksam durch das offene, gelblich erleuchtete Fenster des alten, gedrungenen Bauernhauses, während der zweite mit vor der Brust verschränkten Armen zu dösen schien. Der dritte Mann wiederum schaute hinauf zu den Sternen, die wie Myriaden von galaktischen Glühwürmchen in der Sommernacht flimmerten.

Durch die geblümten, bunt bestickten Vorhänge, die sich im leichten Windzug bauschten, konnte man zwei Männer in ein Gespräch vertieft erkennen. Sie saßen sich an den Stirnseiten eines groben Tisches gegenüber, vor ihnen eine bauchige grüne Weinflasche, die schon fast leer war. Der ältere der beiden, sein Gesicht dem Fenster zugewandt, musste über siebzig sein und machte einen nervösen und gleichzeitig müden Eindruck. Seine unstetig hin und her gleitenden Hände schoben das volle Rotweinglas vor sich im Zickzack über die Tischplatte, einem undefinierbaren Muster folgend, während er leise und manchmal zögernd sprach. Die üppigen, weißen Haare waren zerzaust und standen in alle Richtungen ab, verliehen ihm einen leicht anarchistischen, vernachlässigten und zugleich ungebändigten Eindruck. Seine hellen Augen jedoch blickten freundlich und nachsichtig auf sein Gegenüber. Das runde, von der Sonne gebräunte Gesicht hatte kaum Falten, und wären nicht die zahlreichen Altersflecken gewesen, die wie große Sommersprossen von einer verschwenderischen Hand verteilt seine Züge übersäten, man hätte ihn für gut fünfzehn Jahre jünger gehalten.

Der jüngere Mann ihm gegenüber saß mit dem Rücken zum Fenster. Seine dunklen, von einzelnen grauen Strähnen durchzogenen Haare waren zu einem Zopf geflochten. Er hatte breite Schultern und die Art, wie er sich auf den Tisch lehnte und sein Glas zwischen den Fingern drehte, verriet kaum etwas von seiner Aufregung. Er blickte den alten Mann auf der anderen Seite des Tisches nachdenklich an. Diesen Besuch hatte er lange vor sich hergeschoben, viel zu lange. Erst war er sich wie damals vorgekommen, in den überfüllten Hörsälen, den endlosen Proseminaren, mit den harten Sitzbänken und einer Atmosphäre aus Bohnerwachs und Angstschweiß, die sich in den ehrwürdigen Räumen seit Generationen festgesetzt hatte. In seiner Erinnerung stand er wieder und wieder aufgeregt vor der Prüfungskommission, und Professor Kirschner, der gefürchtete und geachtete Doyen der Fakultät, betrachtete ihn mit einem Blick, der irgendwo zwischen Herablassung und unendlicher Weisheit schwankte.

Doch heute Abend hatte das Gefühl der Anspannung und Beklemmung schneller nachgelassen, als er es vermutet hätte. Je länger der Besuch gedauert hatte, umso mehr war die Nervosität einer Zuneigung und einem Verständnis gewichen, die offenbar schon lange in ihm geschlummert hatten.

Musik und Lachen kamen aus der Ferne, gedämpft durch die warme Nachtluft. Auf dem kurz gemähten Rasenplatz hinter dem Rathaus des kleinen Weinbauernortes lag der Mittelpunkt des alljährlichen Keller- und Erntedankfestes und vor einer niedrigen Bühne, auf der eine dreiköpfige Gruppe schamlos ihre Instrumente quälte, machten einige Paare undefinierbare Schritte über schnell zusammengefügte, rohe Holzbretter. Die meisten Besucher jedoch zogen von Weinkeller zu Weinkeller, angelockt von den großzügig verteilten Gratis-Kostproben. Alle Winzer waren stolz darauf, ihre besten Weine vorzustellen, und manche Besucher kamen deswegen sogar aus dem achtzig Kilometer entfernten Wien.

Zwei Polizisten warteten in sicherer Entfernung an der einzigen Ausfallstraße, ausgerüstet mit genügend Teströhrchen, auf das Unvermeidliche. Die drei Männer in Schwarz hatten sie beim Vorbeifahren aus dem Wagen heraus gesehen, als sie ihre Polizeikontrolle aufbauten, und hatten keinen weiteren Gedanken an sie verschwendet.

»Du kannst ruhig hier schlafen, Georg, das Haus ist groß genug«, meinte der alte Mann nach einem langen Schweigen und nahm einen Schluck Rotwein. »Wir könnten noch ein paar Weinkeller heimsuchen und die Winzer schädigen.«

Der Angesprochene lächelte, hielt die fast leere Zweiliterflasche wie zur Bestätigung schräg gegen das Licht der alten Deckenlampe und winkte ab. »Ich glaube, wir haben für heute genug. Ich wollte Ihnen endlich den lange versprochenen Besuch abstatten und nicht Ihren Weinvorrat vernichten, Professor.« Er fühlte sich wohler bei dem Abstand, den das »Sie« mit sich brachte. Mit einem Mann, den man jahrelang gefürchtet und respektiert hatte, von dem das Wohl oder Wehe in den ersten Jahren des Studiums abgehangen hatte, mit dem war man nicht nach vier Stunden per »Du«. Auch nicht, wenn fast fünfzehn Jahre vergangen waren.

Das Liebespaar, das eng umschlungen durch den Obstgarten auf das Haus zuschlenderte, achtete sorgsam darauf, nicht in den Lichtschein des Fensters zu gelangen. Die drei Männer an der Hauswand sahen alarmiert zu, wie die beiden jungen Leute sich küssten und dann im hohen Gras unter einem der Pfirsichbäume verschwanden. Als zwei der Männer fragend den Schatten neben dem Fenster anschauten, schüttelte der nur leicht den Kopf und seine beiden Gefährten lehnten sich wieder an die Mauer, entspannten sich. Aber sie ließen die Stelle unter dem Baum nicht mehr aus den Augen und grinsten nicht einmal, als nach einiger Zeit verräterisches Rascheln und Stöhnen durch die laue Nacht drang.

Die beiden haben eine einzige Chance, dachte der größte der drei, als er schließlich wieder zu den Sternen hochschaute. Sie sind schnell fertig oder sie sind tot.

In der Stube des kleinen Bauernhauses kämpfte der alte Mann mit sich, endlich den entscheidenden Satz zu sagen, die richtigen Worte zu finden, den Einstieg in die unglaubliche Geschichte, die er erzählen wollte. Während er noch immer das alte Pressglas mit dem letzten Rest Zweigelt in seinen Händen drehte, beobachtete er genau sein Gegenüber. Georg Sina war nicht gerade der Typus des Universitätsprofessors aus dem Schulbuch. Abgewetzte Jeans, ein dunkles T-Shirt, das sich seiner besseren Tage nicht mehr erinnerte, muskulöse Unterarme und Hände, die sicherlich fest zupacken konnten. Die dunklen Haare endeten in einem langen Zopf auf seinem Rücken, eine Tatsache, die alle jene immer wieder in Verwirrung stürzten, die hinter der Institutstür mit der Aufschrift »Professor Dr. Georg Simon Sina, Mediävistik« einen traditionellen Anzugträger mit Pensionsberechtigung erwarteten.

»Man hört viel Gutes von dir und viel Abenteuerliches über dich. Du sollst sogar deine Stelle an der Universität wieder angenommen haben.«

Sina nickte stumm und teilte den letzten Rest des Weins möglichst gerecht zwischen den beiden Gläsern auf.

»Das wird meinen alten Freund Meitner gefreut haben«, fuhr der Weißhaarige fort, »ich weiß, dass er dich schmerzlich vermisst hatte am Institut.« Universitätsprofessor DDr. Wilhelm Meitner, von seinen Studenten respektvoll »Wilhelm der Streitbare« genannt, Vorstand des Instituts für Geschichte an der Universität Wien, war tatsächlich begeistert gewesen, als Sina nach drei Jahren der totalen Isolation nach dem Tod seiner Frau wieder an die Universität zurückgekehrt war – und nach dem Enträtseln des kaiserlichen Codes Friedrichs III., was Sinas Ruf noch näher an die Legende gerückt hatte.

»Viele meiner Studenten würden Ihnen widersprechen und mich viel lieber auf irgendwelchen ausgedehnten Entdeckungsreisen durch Burgund oder auf den Spuren der Mauren sehen«, grinste der Wissenschaftler. »Das hätte einigen von ihnen einen weiteren Prüfungstermin erspart und mir ein paar Nieten, die unbedingt eine akademische Karriere vor sich sehen.« Er nahm den letzten Schluck Rotwein, stellte das Glas auf der zerkratzten Tischplatte ab und stand auf. »Meitner ist ein Querdenker und ein Genie …«, meinte er mehr zu sich selbst als zu Kirschner, der sich nun ebenfalls schwerfällig aus dem Stuhl erhob.

»… der nur noch von dir übertroffen wird«, lächelte der alte Mann und stützte sich schwer auf die Armlehne seines Sessels.

Sina winkte ab, hängte seine Lederjacke über die Schultern, trat ans Fenster und schob die Vorhänge zurück. »Es gehört immer auch viel Glück dazu«, gab er zu bedenken und warf einen Blick aus dem Fenster in den Garten. Im Licht, das aus dem Zimmer in die Nacht fiel, sah er ein junges Paar, das vorsichtig tastend durchs hohe Gras zwischen den Obstbäumen ging. Es hielt sich an der Hand und das Mädchen kicherte leise, als es seinen Rock glatt strich.

Buch I Der Lehrer

30.8.2009

Exelberg, Wienerwald/Österreich

Es war eine Minute nach Mitternacht, die gelben Zahlen der großen Digitaluhr in der Motorradverkleidung sprangen auf 00:01, als die durchgestrichene Ortstafel von Wien an Paul Wagner vorbeiflog und er die Honda CBR900 Fireblade in die erste lang gestreckte Kurve zog. Die aufgeblendeten Doppelscheinwerfer des siebzehn Jahre alten, aufwendig restaurierten Rennmotorrads leuchteten das graue Band der Straße überraschend hell aus. Die Fireblade der ersten Baureihe hatte noch den kurzen Radstand und die kleineren Räder, was ihr eine größere Wendigkeit verlieh als den Nachfolgemodellen. Deswegen bevorzugte sie Wagner für seine »Nachtflüge«, wie er die schnellen Runden durch den Wienerwald nannte.

Die letzten Häuser der Stadt huschten an dem Motorradfahrer vorbei, die Honda röhrte auf und dann wand sich die Straße durch den Wald, eine Kurve reihte sich an die nächste. Der Journalist kannte die Strecke auswendig, hatte sie sich auf Dutzenden Ausfahrten eingeprägt, wie Tausende von Motorradfahrern aus Wien in den letzten dreißig Jahren. Der Exelberg war die Hausstrecke nach Westen hinaus, die Kehren in das Donautal hinab der Ursprung von Legenden und der Schauplatz von unzähligen inoffiziellen Zweikämpfen. In den frühen Siebzigerjahren hatten die Ausfahrten des »Triumph-Klubs« immer in erbitterte Rennen ausgeartet. Der Rettungswagen, der gewohnheitsmäßig an allen Wochenenden die Biker begleitete, kam selten unbelegt nach Hause. Es waren die wilden Jahre gewesen, wo man sich auf den ersten Kawasakis und Hondas mit den englischen Nortons oder Triumphs um die Vorherrschaft auf der Straße und die schnelleren Streckenzeiten duellierte. Wer als Erster bremste, hatte schon verloren. Manche bremsten nur selten und wenn, dann immer zu spät …

Mein Gott, das ist so lange her, ging es Wagner durch den Kopf, als er die Honda hochschaltete und voll beschleunigte. Wie ein Tänzer auf einer dünnen Linie führte er das Motorrad mit viel Gefühl an der Rutschgrenze des Hinterreifens entlang die Bergstraße hinunter. Er war eins mit der Maschine, spürte den Vierzylinder und sah die Sekunden wegticken, raste in einem Tunnel aus Licht durch die warme Nacht und spürte, wie ihm die Schweißtropfen unter der Lederjacke den Rücken hinunterrannen. Der Wind brachte kaum Kühlung, die Nadel des Drehzahlmessers schnellte über die 12000er-Marke und Paul war versucht, vor Lebensfreude einfach laut loszuschreien. Das waren die Momente, in denen er dem Leben so nahe war wie sonst nie. Ebenso wie dem Tod.

Die nächste Kehre flog auf ihn zu, der Asphalt war zum Greifen nahe und auf einigen kleinen Steinen rutschte der Hinterreifen kurz weg, die Honda fing sich wieder und Wagner beschleunigte erneut voll den Berg hinunter. Die gelben Sekunden tickten und Paul lächelte zufrieden. Bei der Halbzeitmarke war er zwei Sekunden schneller als das letzte Mal.

Vielleicht hat sich doch nicht so viel verändert, dachte er sich und sah die Tafel der Geschwindigkeitsbeschränkung mit der Zahl 50 an sich vorbeifliegen. »Die sollten endlich einen Einser davormalen«, murmelte er in seinen Helm und konzentrierte sich auf die nächste Kehre. Er schaltete vier Gänge hinunter, mit schnellem Zwischengas, und die Verzögerung der Bremsen drückte ihn auf den Tank. Die Honda blieb eisern in der Spur und Paul wich keinen Zentimeter von der Ideallinie, zog durch die Kurve und das Vorderrad der CBR hob sich einige Zentimeter, als er wieder herausbeschleunigte. Der Schub des Vierzylinders wollte nicht enden, die Straße schien immer schmaler zu werden, die nächste Kurve tauchte im Licht auf, umgeben von einer grünen Wand aus Gebüsch und dahinter die Endlosigkeit des dunklen Donautals. Der Nachtflug ging immer weiter den Berg hinunter, wie im Zeitraffer in einem Film, der gefährlich real war. Paul war auf dem Weg zu einer neuen persönlichen Bestzeit, als plötzlich eine rote Lampe im Cockpit regelmäßig zu blinken begann.

»Wer zum Teufel …«, fluchte Wagner und richtete sich hinter der Verkleidung auf, wollte es nicht glauben und schaute ein zweites Mal hin. Die Lampe hörte nicht auf zu blinken. Er bremste die Rennmaschine ab und rollte auf einen kleinen Parkplatz, der in einer der Kehren eingerichtet worden war. Als er den Zündschlüssel umdrehte, der Motor verstummte und die Scheinwerfer erloschen, war es stockdunkel und totenstill. Nur der Motor und der Auspuff knackten leise. Wagner zog den Helm vom Kopf und das Handy aus seiner Lederjacke. Die Lampe im Cockpit hörte auf zu blinken, als er das Gespräch seufzend annahm.

»Herr Professor, du hast mich mit deinem unglaublichen Gespür für den richtigen Zeitpunkt gerade die Bestzeit gekostet«, stieß er vorwurfsvoll hervor und holte tief Luft. »Schläfst du nicht? Hast du um diese Uhrzeit keine bessere Beschäftigung, als mit mir zu telefonieren? Wie etwa Arbeiten deiner Studenten in Grund und Boden zu verbessern, mittelalterliche Kreuzworträtsel zu lösen oder Ähnliches?«

»Ich glaube, du solltest schnellstens hierherkommen«, meinte die Stimme am anderen Ende der Leitung und Paul konnte die Anspannung plötzlich körperlich spüren. Sie schien zu knistern und sich wie eine Flamme durch Löschpapier zu fressen. »Ich bin in Nussdorf ob der Traisen. Folg einfach der Hauptstraße bergauf bis zum Ende. Ich warte auf dich vor dem weißen Bauernhaus.«

»Gib mir zwanzig Minuten, ich bin gar nicht weit weg«, erwiderte Wagner rasch und unterdrückte das Bedürfnis, weiter nachzufragen. Er steckte das Telefon ein und setzte den weißen Vollvisierhelm mit den fünf dunkelroten gotischen Buchstaben A.E.I.O.U und den beiden chinesischen Drachen wieder auf. Mit aufheulendem Motor beschleunigte die Fireblade vom Parkplatz auf die Straße, wurde rasch kleiner und verschwand schließlich um die nächste Kehre im Dunkel der Nacht.

Schloss Schönbrunn, Wien/Österreich

Der Abend war mühsam gewesen. Der Empfang der Finanzminister der Europäischen Union samt ihren Frauen im Bundeskanzleramt war noch erträglich gewesen, dann hatten sich die Herren zu Beratungen in die Hofburg zurückgezogen und der österreichischen Ministerin für Wirtschaft, Familie und Jugend war die Aufgabe zugefallen, die Damen in das weltberühmte Marionettentheater in Schloss Schönbrunn zu begleiten, wo man Mozarts »Zauberflöte« gab. Der Bankenskandal, der die meisten Länder Europas bis in die Grundfesten erschüttert und auch in Österreich ein Erdbeben in der Banken- und Wirtschaftslandschaft ausgelöst hatte, führte die Minister seit Monaten immer wieder zusammen, in wechselnden Hauptstädten, aber immer in derselben Besetzung. So trafen sich die Gattinnen der Staatsdiener öfter als sonst, wie zu einem ambulanten Fünf-Uhr-Tee in London oder Bukarest, Rom oder Prag. Diesmal war die Sitzung in Wien anberaumt worden und wieder waren alle gekommen. Die Hauptstadt Österreichs zählte weltweit gesehen zu den angenehmen und überaus beliebten Konferenzstädten.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!