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Was wird dargestellt? "Als Führer und Kanzler der deutschen Nation und des Reiches melde ich vor der Geschichte nunmehr den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich." Mit diesen Worten beschließt Adolf Hitler am 15. März 1938 seine Rede am Wiener Heldenplatz. 250.000 Menschen, die auch aus den umliegenden Bundesländern eingetroffen sind, jubeln ihm zu. Im nunmehr 8. Band der Reihe "Nationalsozialismus in den Bundesländern" beschäftigen sich die Autoren unter anderem mit folgenden Fragen: Wie kommt es zum Aufstieg der Nationalsozialisten? Was begeistert die Wienerinnen und Wiener daran? Wie erleben junge Menschen diese Zeit und wie ergeht es den Wiener Jüdinnen und Juden? Was passiert am "Spiegelgrund"? Wie verläuft der Bombenkrieg in Wien? An wen richtet sich der Band Das Buch adressiert eine interessierte LeserInnenschaft und wird daher in einer leicht verständlichen Sprache ohne komplexe wissenschaftliche Terminologie und weitgehend ohne wissenschaftlichen Apparat geschrieben. Es fasst die Erkenntnisse der (lokalen) Geschichtswissenschaft somit für einen breiten Kreis an Interessierten zusammen.
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Seitenzahl: 662
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Nationalsozialismus in denösterreichischen Bundesländern
herausgegeben von Horst Schreiberim Auftrag von _erinnern.at_www.erinnern.at
Band 8
Martin Krist / Albert Lichtblau
Opfer . Täter . Gegner
Editorial
Werner Dreier, Horst Schreiber: Vorwort
Nationalsozialismus in Wien
Wien 1918–1938
Welche Auswirkungen hat der Erste Weltkrieg?
Deutsch-Österreich – ein Teil Deutschlands?
Ist Wien multikulturell?
Wie sieht die politische Situation nach 1918 aus?
Welche wirtschaftlichen Probleme gibt es in Wien?
Welche Auswirkungen hat der Austrofaschismus?
Irma Trksak: Eine widerständige Wiener Slowakin
Renée Wiener: Die Rebellin
Ignaz Seipel: Bundeskanzler, Priester und Vertreter des politischen Katholizismus
Karl Seitz: Bürgermeister des Roten Wien
Albert Massiczek: Nazi-Faszination
Amon Leopold Göth: Vom Verlegersohn zum Mörder
NS-Machtübernahme: Begeisterung und Verfolgung
Wie ergreifen die Nationalsozialisten die Macht?
Wie geht der „Anschluss“ vor sich?
Was geschieht am 15. März 1938 auf dem Heldenplatz?
Was ist das „Anschlusspogrom“?
Wie verläuft die Volksabstimmung am 10. April 1938?
Was geschieht mit den GegnerInnen des Nationalsozialismus?
Wer sind in Wien die Nazis und ihre höchsten Repräsentanten?
Warum wird aus Wien „Groß-Wien“?
Hermann Neubacher: Ein Opportunist als Wiener NS-Bürgermeister
Odilo Globocnik: Vom Gauleiter zum Massenmörder
Aufbruchsstimmung und neue Zwänge
Was versprechen die Nationalsozialisten den Menschen?
Wie „beseitigen“ die Nationalsozialisten die Wohnungsnot?
Welche Zwänge gibt es in der Arbeitswelt?
Was verstehen die Nationalsozialisten unter „Volksgemeinschaft“?
Welche Rolle sollen Frauen einnehmen?
Johannes Katzler: Ein Profiteur wird Inhaber von sieben Buchhandlungen
Paula Wessely: Eine beliebte Schauspielerin im Dienste der NS-Propaganda
Baldur von Schirach: Gauleiter von Wien und Auftraggeber der Judendeportation
Käthe Leichter: Lebenslanger Kampf gegen Faschismus und für Frauenrechte
Jugend und Schule
Worin bestehen die Ziele der NS-„Erziehung“?
Wie wird die Jugend für den NS-Staat begeistert?
Wie verändert sich die Schule im Nationalsozialismus?
Wie macht sich die „Rassenlehre“ in der Schule bemerkbar?
Was geschieht mit den jüdischen SchülerInnen nach dem „Anschluss“?
Wie sieht das Leben der jüdischen SchülerInnen nach dem Schulausschluss aus?
Was sind Napola-Schulen?
Wie rekrutiert der nationalsozialistische Staat Jugendliche für Napola-Schulen?
Gibt es unter den Jugendlichen Protest und Verweigerung?
Wie wirkt sich der „totale Krieg“ auf die Jugend aus?
Dagmar Ostermann: „Ich bin ja ein Herkules“
Mano Fischer: Als „U-Boot“ überlebt
Peter Marvan: Als Luftwaffenhelfer im Flakturm
Franz Egger: Ein Arbeiterkind aus Salzburg in der Napola
Der NS-Terrorapparat
Welche Rolle spielt die Justiz?
Wie verhält sich die Polizei?
Was macht die Gestapo?
Woher kommen die Informationen und Anzeigen?
Welche Rolle spielt die Wehrmachtsjustiz?
Karl Ebner: Judenreferent der Gestapo
Karl Everts: Ein Wehrmachtsrichter
Otto Hartmann: Der Spitzel
Rosa Schandl: „Der Jud’ muss weg!“ – Eine Denunziantin im engsten Familienkreis
Walter Kämpf: Von Gestapo-Spitzeln verraten
Verfolgung homosexuell orientierter Menschen
Auf welcher Grundlage werden Homosexuelle kriminalisiert?
Welche homosexuelle Subkultur gibt es vor 1938 in Wien?
Auf welche Weise verfolgt das NS-Regime Homosexuelle?
Wie sieht die Situation für Homosexuelle nach dem Ende des Nationalsozialismus aus?
Josef Kohout: Der Mann mit dem „Rosa Winkel“
Dorothea Neff: Rettung der jüdischen Geliebten
Friedrich Guzmann: Homosexueller Stricher in Frauenkleidern
NS-Euthanasie: Tötung von psychisch Kranken, Behinderten, „Missliebigen“ und „Schwer Erziehbaren“
Warum werden psychisch Kranke und Behinderte getötet?
Welche Folgen hat das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“?
Was ist unter der NS-Euthanasie zu verstehen?
Wie wird der Massenmord durchgeführt?
Kommt es auch zur „Euthanasie“ an Jüdinnen und Juden?
Wie kommt es zur „Wilden Euthanasie“?
Wie gehen die NS-Behörden mit schwangeren Zwangsarbeiterinnen um?
Wie sind die Lebensbedingungen in der „Arbeitsanstalt für asoziale Frauen“?
Was geschieht in der Kindereuthanasieanstalt „Am Spiegelgrund“?
Werden die TäterInnen der NS-Euthanasie nach 1945 verurteilt?
Gibt es Erinnerungszeichen für die NS-Euthanasieopfer?
Heinrich Gross: Die Nachkriegskarriere eines NS-Euthanasiearztes
Hermine Hlavek: Ermordet in Schloss Hartheim
Alois Kaufmann: Als Kind in den Fängen der NS-Erziehung
Der Völkermord an den Roma und Sinti
Wer sind Roma, Sinti und Lovara?
Woher stammt die Ablehnung gegenüber diesen Menschen?
Wie werden Roma und Sinti in der NS-Zeit verfolgt?
Wie erfolgt der Völkermord an den Roma und Sinti?
Wie sieht die Situation für Roma und Sinti nach 1945 aus?
Die Geschwister Ceija, Johann Mongo und Karl Stojka
Der Völkermord an den Jüdinnen und Juden
Was ist rassistischer Antisemitismus?
Wie ergeht es der jüdischen Bevölkerung nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich?
Welche Bedeutung haben die „Nürnberger Rassengesetze“?
Was sind „Arisierungen“?
Was geschieht beim Novemberpogrom 1938?
Was sind Kindertransporte?
Wie sieht das Schicksal der jüdischen Wienerinnen und Wiener aus?
Welche Funktion hat die jüdische Gemeinde in der NS-Zeit?
Wie kommt es zum Massenmord an Jüdinnen und Juden?
Was wussten die Wienerinnen und Wiener?
Lucia Heilman: Überlebt, weil jemand hilft
Ari Rath: Rettungsanker Palästina
Norbert Abeles: Lebensrettender Kindertransport
Vilma Neuwirth: Eine jüdisch-nichtjüdische Patchwork-Familie
Karl Hölblinger: Der Fahrer zur Gaskammer
KZ und Zwangsarbeit
Warum kommt es zur Zwangsarbeit?
Welche Konzentrationslager gibt es in Wien?
Wer sind die ZwangsarbeiterInnen?
Wer profitiert von der Zwangsarbeit?
Wie ergeht es den ungarisch-jüdischen ZwangsarbeiterInnen?
Haben sich die ZwangsarbeiterInnen gewehrt?
József Bihari: Als ungarisch-jüdischer Zwangsarbeiter in Wien
Hermine Braunsteiner: SS-Aufseherin in den KZ Ravensbrück und Majdanek
Antonie Lehr: Als freiwillige Zivilarbeiterin nach Wien
Widerstand
Was ist Widerstand?
Weshalb ist Widerstand gegen das NS-Regime so schwierig?
Welche Widerstandsgruppen gibt es in Wien?
Welche Bedeutung hat der Widerstand in Wien?
Oswald Bouska: SS-Mann und Retter jüdischer Kinder
Hedwig Urach: Ein lebenslanger Kampf gegen den Faschismus
Othmar Trenker (Trnka): Ein Wiener Polizeijurist macht Karriere
Helene Kafka – Schwester Maria Restituta: Opfer einer Denunziation
Krieg und Heimatfront
Wie verläuft der Krieg?
Was ist die Heimatfront?
Wie ist die Stimmung der WienerInnen während des Krieges?
Wie werden die WienerInnen vom Krieg abgelenkt?
Wie viele Wiener Soldaten der Wehrmacht sterben in Stalingrad?
Welche Auswirkungen hat der Bombenkrieg in Wien?
Warum kommt es in Wien zur Ermordung alliierter Bomberpiloten?
Wie erfolgt die Befreiung Wiens?
Warum kommt es zu Vergewaltigungen von Wiener Frauen?
Ilse Rupprecht: Die Russen kommen
Alfred Pietsch: Arbeitsdienstmann und deutscher Soldat
Erhard Raus: Ein Österreicher in den höchsten Wehrmachtsrängen
Vom Ende der NS-Zeit bis zur Gegenwart
Wie verläuft die rechtliche Aufarbeitung der NS-Zeit?
Wer sind die DPs (Displaced Persons)?
Wie sieht jüdisches Leben in Wien aus?
Wie aktuell ist die Erinnerung an die NS-Zeit?
Ist Wien wieder multikulturell?
Taras Borodajkewycz: „Ich habe niemals meine Mitgliedschaft bei der NSDAP verleugnet“
Simon Wiesenthal: Recht nicht Rache
Christine Mjka: Bezirksrätin mit „afroamerikanischer“ Herkunft
Ceija Stojka: Immer noch „dreckige Zigeunerin“
Anhang
Begriffe und Personen
Anmerkungen
Ausgewählte Literatur
Danke
Autoren
„Ich war ja ziemlich klein, gell. Und bin in der düsteren Baracke rein, von einem Bett zum anderen. (…) Aber ich hab keine Ruhe gegeben, so lang bis ich ihn gefunden hab. Und er hat gesagt: ‚Da bin i, da bin i.‘ (…) Sag ich: ‚Ossi, wir gehen bald nach Hause. Wir gehen bald wieder in den sechzehnten Bezirk auf unseren Platz beim Kongressbad. Dann gemma schwimmen ins Kongressbad.‘ (…) Er schaut mich an und sagt zu mir, ganz so wie es war: ‚Schau mich an! I komm da nimma auße, Ceija, aber du denkst an mich.‘ Das war das Letzte. (…) Am nächsten Tag in der Früh sind wir draußen vor der Baracke gesessen, (…) und da hab ich gesehen, wie sie meinen kleinen Bruder –, seine kleine Hand hat hin und her gebaumelt. (…) Da bin ich nachgerannt, wo man ihn hinaufgehaut hat, auf die anderen Toten. (…) Ich hab mir das Hemdl obegrissen und hab ihn zugedeckt. (…) Ja, er liegt heute dort. Irgendwo auf an Grashalm liegt sein Staub, seine Knochen. Nicht nur von ihm. Von viele, viele Millionen Menschen. Wie soll man das vergessen?“
So erinnert sich Ceija Stojka an das Sterben ihres jüngeren Bruders Ossi in Auschwitz, der ins Konzentrations- und Vernichtungslager kam, nur weil er ein „Zigeuner“ war, wie er als Mitglied der Volksgruppe der Roma verächtlich bezeichnet wurde. Im neuen Wien-Band der Reihe „Nationalsozialismus in den österreichischen Bundesländern“ von _erinnern.at_ begegnen die Leserinnen und Leser Ossis Schicksal in einer der 47 Kurzbiographien, in denen die Lebenswege und Handlungsspielräume von Tätern, Mitläuferinnen und Profiteuren sowie Widerstandskämpferinnen, Opfern und Ausgegrenzten beschrieben sind.
Die Sachtexte im vorliegenden Buch vermitteln einen Überblick über die wesentlichen Themen zum Nationalsozialismus auf dem neuesten Stand der Forschung in einer gut verständlichen Sprache. „Nationalsozialismus in Wien. Opfer. Täter. Gegner“ behandelt die Vorgeschichte der NS-Diktatur und die Machtübernahme, die Ursachen für die Begeisterung und Aufbruchsstimmung, die Angebote des NS-Regimes, um die Zustimmung der Bevölkerung zu erreichen, und schildert die Arbeits- und Wohnpolitik der NS-Behörden. In den Mittelpunkt treten die Darstellung des Terrorapparats und die aus der „Volksgemeinschaft“ Ausgeschlossenen, speziell jene Gruppen, die aus rassistischen und biopolitischen Gründen sowie wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt wurden: Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti, Menschen mit Behinderung und psychisch Kranke, „Asoziale“, „schwer Erziehbare“ sowie Homosexuelle. Die Autoren gehen auf die Fragen ein, wie die Wienerinnen und Wiener den Krieg an der Heimatfront erlebten und auf welche Weise das NS-Regime ausländische Arbeitskräfte ausbeutete, speziell in drei KZ-Nebenlagern und einem Unterkommando des Konzentrationslagers von Mauthausen in Groß-Wien. Die Leserinnen und Leser erfahren aber auch, was Menschen dazu bewegte, sich Ansprüchen des Nationalsozialismus zu entziehen oder gar Widerstand zu leisten. Die Autoren schenken ihre Aufmerksamkeit dem Kriegsende und der Befreiung, aber auch der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der Erinnerungskultur. Martin Krist gibt der Erziehung und Normierung der Kinder und Jugendlichen in der Hitlerjugend und in der Schule breiten Raum, er verweist auf die Eliteschulen der Diktatur, die nationalpolitischen Lehranstalten (Napola), von denen sich drei in Wien befanden. Albert Lichtblau legt einen Schwerpunkt auf das multikulturelle Wien, in dem besonders die tschechische Gemeinschaft – „Wien ist Wien, aber ohne Tschechen wär’s hin“, hieß es in einem Lied – und die jüdische Bevölkerung hervorstachen, war doch Wien auch nach 1918 eine der bedeutendsten jüdischen Gemeinden Europas.
Die beiden Autoren sind als Wissenschaftler ausgewiesene Experten in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus, erfahren in der Vermittlung des Themas in der Schule und an der Universität. Sie leisten wichtige Beiträge für _erinnern.at_: bei der Erstellung von Arbeitsmaterialien für den Unterricht, von Lehr- und Lernmitteln wie der Wanderausstellung „Darüber sprechen“ auf der Basis von Video-Interviews mit Überlebenden des Holocaust oder auch eines Lernheftes mit ergänzenden Online-Materialien zu Rassismus und Antisemitismus.
„Nationalsozialismus in Wien. Opfer. Täter. Gegner“ ist der achte Band der von erinnern.at_ herausgegebenen Jugendsachbuchreihe zum Nationalsozialismus in den österreichischen Bundesländern. Er wendet sich an ein jugendliches Lesepublikum wie auch an Erwachsene, die sich für die Geschichte der Stadt interessieren, in der sie wohnen. Das Buch unterstützt LehrerInnen in ihrer Unterrichtsgestaltung und ist in der außerschulischen Jugendarbeit einsetzbar. Die einzelnen Kapitel sind durch Fragestellungen gegliedert, um das Lesen und Verstehen einfacher zu machen. Sie sind in sich geschlossen, müssen daher nicht der Reihenfolge nach gelesen werden; die Leserinnen und Leser können also je nach Interesse und Notwendigkeit quer ins Buch einsteigen. Die exemplarischen Kurzbiographien eröffnen persönliche Zugänge und erzählen Geschichten von einzelnen Leben, von Verfolgung, Verstrickung und Widersetzlichkeit, die nicht schwarz-weiß, sondern vielfach schattiert sind und deshalb die LeserInnen zur Positionierung herausfordern. Rund 400 Fotos und Abbildungen illustrieren den Text, ergänzen ihn aber auch und erzählen eigene Geschichten. Am Ende des Buches finden die Leserinnen und Leser ein umfangreiches Sach- und Personenlexikon.
Wien war vor der Zeit der Verfolgung ein bedeutendes Zentrum jüdischer Kultur in Europa. In Wien feierten die Nationalsozialisten die Machtübernahme und in Wien wurde die von ihnen ausgelöste Gewalt sichtbar: Sie begann mit den Pogromen gleich nach der Machtergreifung 1938 und endete mit der Zerstörung weiter Teile der Stadt 1945.
Das Wissen um die Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ist grundlegend für das Verständnis der Stadt, wie sie sich nach 1945 entwickelte. Dieses Buch bietet dieses notwendige Wissen klar gegliedert und gut lesbar. Wir wünschen ihm viele Leserinnen und Leser!
Werner Dreier
Horst Schreiber
_erinnern.at_
Reihenherausgeber
Die Schriftstellerin Gina Kaus beschreibt eine Demonstration Ende des Ersten Weltkriegs in der Herrengasse: „Bataillone der Arbeiterschaft“ kommen aus den Außenbezirken ins Zentrum. Von Euphorie ist bei ihnen, so Kaus, wenig zu spüren. „Müde und schmutzig, in elende Lumpen gekleidet, mit bleichen, abgezehrten Gesichtern kamen sie. Sie kamen schweigend. Sie trugen Plakate, auf denen stand: ‚Wir wollen Frieden und Brot.‘“1
Ein Bekannter von Kaus, der Schriftsteller Franz Werfel, fühlt sich dennoch in revolutionäre Stimmung versetzt und ruft lauthals: „Nieder mit Habsburg! Es lebe die Republik!“2 Die Ernüchterung erfolgt sofort, denn der deutschnationale Parlamentsabgeordnete Karl Hermann Wolf konfrontiert Werfel mit der Frage: „Sind Sie ein Deutscher?“3 Werfel ist Jude, und damit kein „Deutscher“ in den Augen eines Rassisten wie Wolf.
Dass Kaiser Karl I. im November 1918 angesichts der Niederlage im Ersten Weltkrieg zurücktritt, Wien verlässt und den Weg zur Gründung einer Republik frei macht, erscheint bis dahin unvorstellbar. Doch es geschieht: Nach 700 Jahren Regentschaft danken die Habsburger ab und hinterlassen Wien als eine europäische Metropole mit einem monströsen Apparat von Bürokratie, Adel und Militär. Über Nacht wird aus dem riesigen Reich des Vielvölkerstaates der Habsburgermonarchie mit seinen mehr als 51 Millionen Menschen ein Ministaat mit nur mehr 6,5 Millionen Menschen: Deutsch-Österreich. Vom imperialen Glanz bleibt Wien der Schatten der Vergangenheit.
Die Stimmung im Land ist dementsprechend gedrückt. Die Republik Deutsch-Österreich ist nicht das Ergebnis eines breiten politischen Willens, sondern das Ergebnis einer militärischen Niederlage, ein Staat wider Willen. Wie soll dieses kleine Land überleben, das einem Wurmfortsatz der Habsburgermonarchie ähnelt? Die Friedensverträge werden in Österreich wie in Deutschland als aufgezwungene Knebelverträge wahrgenommen, als eine Art zweite Niederlage nach der militärischen Katastrophe. Die deutschnationalen Kräfte sinnen auf Rache, sehnen sich nach einer Wiederherstellung der verletzten Ehre der „Deutschen“ und trachten nach Abschaffung der Friedensverträge. Selbst die Konservativen haben für die neugegründete Republik nicht viel übrig, noch im Monat der Ausrufung verunglimpfen sie diese abfällig als „Judenrepublik“.4 Das alles lässt nichts Gutes für die Zukunft erahnen. Heute wissen wir: Der brüchige Frieden sollte nur 21 Jahre lang dauern.
Für die Mehrheit der Wienerinnen und Wiener sind die angeblich „wilden Zwanziger Jahre“ alles andere als wild oder gar faszinierend. Sie sind mit vielerlei Mühsal und Ängsten konfrontiert, mit der Sorge ums tägliche Überleben, mit der katastrophalen Unterversorgung an Lebensmitteln, einer drückenden Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit, schließlich auch mit einer hohen Kindersterblichkeit. Ende 1918 wütet eine Pandemie in der Stadt, die „Spanische Grippe“. Sie rafft nicht nur die Armen und Unterernährten dahin, sondern auch berühmte Persönlichkeiten wie den expressionistischen Maler Egon Schiele und dessen schwangere Ehefrau Edith.5 Schwer traumatisierte Soldaten und Verwundete mit amputierten Gliedmaßen prägen das Stadtbild Wiens. Revolutionen wie im benachbarten Ungarn und Bayern können jederzeit auch in Österreich ausbrechen, letztlich bleibt die Revolution aber aus.
Die 1893 in Wien geborene Schriftstellerin Gina Kaus beschreibt in ihren Erinnerungen die unruhige Zeit rund um das Ende des Ersten Weltkriegs.(Foto: ÖNB)
Der 1890 in Prag geborene Franz Werfel wird einer der erfolgreichsten Schriftsteller seiner Zeit. Die revolutionäre Stimmung zu Kriegsende 1918 reißt ihn mit. Sein „Revolutions-Aufruf“ gilt der Befreiung vom Leid: „Brüllend verbrenne im Wasser und Feuer – Leid! Renne, renne, renne gegen die alte, die elende Zeit!“(Foto: ÖNB)
Der Erste Weltkrieg hinterlässt tausende Menschen, denen Beine oder Arme fehlen, die blind sind oder aufgrund traumatischer Kriegserfahrungen pausenlos zittern. Bei der Rede von Adolf Hitler am Heldenplatz erhalten sie einen Ehrenplatz. Bis zum Ausbruch des nächsten Krieges dauert es nur mehr eineinhalb Jahre.(Foto: ÖNB)
Während die aus der Habsburgermonarchie hervorgegangenen Staaten wie Ungarn oder die Tschechoslowakische Republik sich ihrer von national gesinnten Kräften herbeigesehnten Selbstständigkeit erfreuen, fehlt dieses befreiende Gefühl einer eigenen Nationalstaatlichkeit in der neugegründeten Republik Deutsch-Österreich völlig. Weder die politischen Parteien noch die Mehrheit der Bevölkerung glauben an die Überlebensfähigkeit des neuen Staates. Es gibt eine große Bereitschaft, die Eigenstaatlichkeit Deutsch-Österreichs aufzugeben und das Land an Deutschland anzuschließen. Abstimmungen in Salzburg und Tirol enden mit der Zustimmung einer überwältigenden Mehrheit für eine Angliederung an Deutschland. Doch die Siegermächte verbieten das in dem mit Österreich ausverhandelten Friedensvertrag von Saint-Germain-en-Laye. Ein Grund für das Anschluss-Verbot ist die durchaus berechtigte Sorge, dass Deutschland ansonsten zu mächtig werden könnte. Auch der Staatsname Deutsch-Österreich muss abgeändert werden. Am 21. Oktober 1919 beschließt das Parlament, den Staat fortan „Republik Österreich“ zu nennen.
Der „Kikeriki“ ist ein radikales antisemitisches Witzblatt. Was immer in der Gesellschaft als Problem vorliegt: Hinter allem Unglück stecken die Juden, so die simple Botschaft. Für Antisemiten sind die Juden sogar Schuld am „Anschlussverbot“. In den 1930er Jahren sympathisiert die Satirezeitschrift offen mit dem Nationalsozialismus und wird deswegen 1933 verboten.(Abbildung: „Kikeriki“, 3.5.1921, ANNO/ÖNB)
Die Antwort ist einfach und unmissverständlich: Ja. In Wien leben 1918 Menschen aus allen Teilen der früheren Habsburgermonarchie mit unterschiedlichen Erstsprachen wie Tschechisch, Slowakisch, Ungarisch, Jiddisch, Ukrainisch, Rumänisch, Polnisch, Romanes, Slowenisch, Kroatisch oder Italienisch.6 Sie alle prägen den Alltag in Wien: die Speiseeishändler aus Italien genauso wie die tschechischen Schuster, Schneider, Ziegelarbeiter und Ziegelarbeiterinnen, Ammen, Dienstmädchen und Köchinnen. Sie prägen nicht nur den Alltag, sondern hinterlassen auch Spuren im Wienerischen. Strawanzen, Gspusi, Techtelmechtel sind einige der von den italienisch Sprechenden übernommenen Wörter, barabern, pomali, Strizzi von den tschechisch Sprechenden. Beisl, Masen, Pofel und Reibach stammen aus dem Jiddischen.7
Wien bleibt bis zum Ersten Weltkrieg ein Magnet für Menschen aus der gesamten Habsburgermonarchie, die Arbeit und neue Lebensperspektiven suchen oder die aus der geistigen Enge des Dorfes und der Kleinstadt ausbrechen wollen. Vor dem Ersten Weltkrieg ist deutlich mehr als die Hälft e der Bevölkerung Wiens nicht in dieser Stadt geboren. Der Zusammenbruch der Monarchie veranlasst jedoch Tausende, aus Wien abzuwandern, etwa weil die Lebensmittelversorgung in ihrem Herkunft sland besser ist. Der Anteil der Menschen, die in Wien leben, aber anderswo zur Welt gekommen sind, geht daraufh in markant zurück. Bei der Volkszählung 1923 leben in Wien aber immer noch knapp 30 Prozent, die in einem anderen Land als Österreich geboren wurden.
Tabelle 1: Geburtsländer der Wiener Bevölkerung 1910–19348
Obwohl zwischen 1918 und 1923 rund 150.000 Personen aus Wien in die Tschechoslowakei zurückwandern, bleiben die im Gebiet der Tschechoslowakei Geborenen weiterhin die wichtigste Zuwanderungsgruppe. 1934 umfasst diese Gruppe 292.880 Menschen, unter ihnen sind aber auch viele, die in deutschen Familien aufgewachsen sind. Nicht ohne Grund wird um die Jahrhundertwende vom „Česká Víden“ gesprochen, dem tschechischen Wien. Wie wichtig diese Menschen für das Gedeihen der Stadt sind, besingt ein Lied, in dem es heißt: „Wien ist Wien, aber ohne Tschechen wär’s hin“.9
Der tschechischen und slowakischen Minderheit in Wien kommt zugute, dass sie mit der 1918 neu gegründeten Tschechoslowakischen Republik eine staatliche „Schutzmacht“ hat und Österreich sich sowohl im Friedensvertrag von Saint-Germain-en-Laye als auch im Brünner Vertrag dazu verpflichtet, Minderheitenrechte zu achten und auch Schulen für tschechischsprachige Kinder zu betreiben.
Wie für jede ethnische Minderheit gilt: Die „Wiener Tschechen“ gibt es nicht. Über 300 tschechische und slowakische Vereine „bilden das Rückgrat der Minderheit“10 und sind Abbild ihrer Vielfältigkeit. Um ein Beispiel zu geben: Mitte der 1920er Jahre zählen die tschechischen Sportvereine in Wien mehr als 10.000 Mitglieder. Sie unterscheiden sich durch ihre politische Orientierung und sind tschechisch-national, sozialdemokratisch, kommunistisch oder katholisch wie der Sportverein Orel.11 Der Fußballklub Slovan spielt bis 1930 in der höchsten österreichischen Liga und ist der Stolz der tschechischen Gemeinde.
Zugewanderte aus Böhmen und Mähren prägen das Wiener Stadt- und Berufsleben als Schneider und Schneiderinnen, als Ammen und Köchinnen, als Arbeiterinnen und Arbeiter in den Ziegelwerken am Stadtrand oder auch als Schuster. Sie alle sind für das Wirtschaftsleben unentbehrlich, viele tschechische Namen erinnern noch heute an diese wichtige Gruppe.(Foto: ÖNB)
Der Tormann von Slovan verteidigt gegen den legendären Rapid-Mittelstürmer Richard „Rigo“ Kuthan. Slovan schlägt Rapid 5:4. Der Sportovni Klub Slovan ve Vídni wird 1902 in Favoriten gegründet. Zwischen 1923 und 1950 spielt Slovan neun Mal in der obersten Liga, 1924 erreicht die Mannschaft das Pokalfinale.(Abbildung: „Illustriertes Sportblatt“, 17.10.1925, ANNO/ÖNB)
In den tschechischen und slowakischen Vereinen kommen die Menschen zusammen, die ihre Sprache und Herkunftskultur bewusst pflegen und an ihre Kinder weitergeben wollen. Aber der Anpassungsdruck ist groß. Das Zusammenleben bleibt von vielen Widerwärtigkeiten und eigenartigen Formen des Wiener Schmähs geprägt. Wer etwa in der Straßenbahn tschechisch spricht, läuft Gefahr, angepöbelt und nachdrücklich aufgefordert zu werden, gefälligst deutsch zu sprechen. Es gibt eine Kultur der Abwertung von Zugewanderten, des sich Lustig-Machens über die anderen, die ärmer sind, die die Sprache nicht beherrschen und nicht verstanden werden. Meist handelt es sich um eine bösartige Witzelei, bei Kindern führt dies immer wieder zu Raufereien, etwa wenn die tschechischen Schulkinder als „falsche Behm“ beschimpft werden.12 Der Druck der Mehrheitsgesellschaft führt auch zum Phänomen der Überanpassung, die den Makel der Herkunft beseitigen soll. Um Anerkennung in einer deutsch geprägten Umwelt buhlend, überbetonen viele ihre deutschnationale Gesinnung. „Was ist den Herrn Stipany, Bolek, Sedlaczek, Busek, Krobot, Kaschka, Turek, Trepesch, Hora, Hryak, Matula, Ceremuga, Hawlitschek, Grzesicki, Kuna, Knotek, Walny, Abrahamsberg, Maurek, Luchesi, Stano, Bedra, Holuska, Jurda, Wanek, (…), Kusicka, Marschalek und Takacs gemeinsam? Sie alle haben bei den Gemeinderats- und Bezirksvertretungswahlen vom 24. April 1932 für die Nationalsozialistische Arbeiterpartei (NSDAP) kandidiert.“13 Obwohl bereits die Namen die multiethnische Herkunft der Mitglieder der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei verraten, bekämpft sie dennoch das „slawische Blut“ in Wien. Die Realität steht quer zur nationalsozialistischen Phantasie von einer „reinen“, „deutsch-arischen Herrenrasse“. Für Adolf Hitler und sein Gefolge bleibt Wien nicht zuletzt wegen der Herkunft der Menschen aus vielen verschiedenen Ländern eine verhasste Stadt. Nach der NS-Machtübernahme wird ernsthaft überlegt, nicht nur die jüdische, sondern auch die tschechische und sonstige „fremdvölkische“ Bevölkerung aus Wien abzuschieben.14
Es ist eine Besonderheit, dass mehr als 90 Prozent aller Juden und Jüdinnen Österreichs in Wien leben. Das hat damit zu tun, dass sie sich in einigen Bundesländern erst ab 1848 bzw. 1867 niederlassen dürfen und die jüdischen Gemeinden dort sehr klein bleiben. Wien ist auch nach 1918 eine der bedeutendsten jüdischen Gemeinden Europas. 1923 erreicht die jüdische Bevölkerung in Wien mit 201.513 Personen ihren Höchststand. Jeder zehnte Wiener und jede zehnte Wienerin gehören zu diesem Zeitpunkt der jüdischen Religion an. Der Anstieg bis 1923 hat mit der Ankunft tausender Menschen zu tun, die während des Weltkriegs aus Angst vor den als judenfeindlich geltenden russischen Truppen ins Landesinnere geflüchtet sind.15 Bis zur nächsten Volkszählung 1934 verliert die Gruppe mit „israelitischer“ Religionszugehörigkeit allerdings mehr als 25.000 Mitglieder. Die Ursachen dafür sind Abwanderung, sinkende Geburtenzahl, das Ende der Zuwanderung aus den Gebieten der ehemaligen Habsburgermonarchie, Überalterung, aber auch sehr viele Religionsaustritte.
Tabelle 2: Religionszugehörigkeit in Wien (Volkszählung 1923 und 1934)16
Die Herkunft der jüdischen Bevölkerung Wiens ist ausgesprochen vielfältig. Laut Volkszählung 1923 sind 57,7 Prozent der anwesenden Juden und Jüdinnen im Ausland geboren, zumeist in einem Land der ehemaligen Habsburgermonarchie. Bei den Römisch-Katholischen liegt der Anteil der im Ausland Geborenen nur bei 25,5 Prozent. Mit 82,1 Prozent liegt allerdings der Anteil der im Ausland Geborenen bei der kleinen Gruppe der Griechisch- und Armenisch-Katholischen am höchsten.17
Nach dem Vorstoß russischer Truppen fliehen im Ersten Weltkrieg zehntausende Juden und Jüdinnen aus den östlichen Gebieten der Habsburgermonarchie ins Landesinnere. Sie haben Angst vor den als judenfeindlich berüchtigten russischen Truppen.(Foto: ÖNB)
Ferienaktion für jüdische Kinder aus Wien im Burgenland: Wohltätigkeit gehört zu einer der wichtigen Aufgaben der jüdischen Gemeinde, das betrifft alle Altersgruppen, die bedürftig sind. Im Sommer 1936 werden 418 Kinder aus Wien am Land in Heimen oder bei jüdischen Familien untergebracht und versorgt.(Foto: Bericht des Präsidiums und des Vorstandes der Israelitischen Kultusgemeinde Wien über die Tätigkeit in den Jahren 1933–1936, Wien 1936)
Die Vielfältigkeit der jüdischen Gemeinde beruht nicht nur auf den unterschiedlichen Herkunftsregionen, sondern auch auf unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Orientierungen. Es gibt orthodoxe, konservative, chassidische, reformorientierte, liberale und wenig oder gar nicht religiöse Jüdinnen und Juden. In Österreich zwingt ein Gesetz all diese Gruppen dazu, sich gemeinsam in einer Israelitischen Kultusgemeinde zusammenzuschließen, deren Leitung bis zur NS-Machtübernahme regelmäßig von den männlichen Mitgliedern gewählt wird. Die Orthodoxen sind die am strengsten religiös Praktizierenden. Als zahlenmäßige Minderheit sehen die Orthodoxen ihre Interessen in den Kultusgemeinden nicht genügend berücksichtigt. Vergeblich versuchen sie, aus dem Zwangsverband der Einheitsgemeinde auszubrechen, so wie dies in anderen Ländern wie im benachbarten Ungarn üblich ist. Bei den Wahlen zur Führung der Israelitischen Kultusgemeinde stehen politisch orientierte und religiöse Gruppen in Konkurrenz zueinander. Bis in die 1930er Jahre dominieren politisch liberale Gruppen die Israelitische Kultusgemeinde in Wien, während orthodoxe oder sozialdemokratische Listen mit jeweils um die 10 Prozent nur auf geringe Zustimmung stoßen.18 Angesichts des Erstarkens nationalistischer Strömungen in Europa wundert es nicht, dass in den 1930er Jahren bei den Kultusgemeinderatswahlen mehrheitlich jüdisch-nationale zionistische Listen gewählt werden, die für den Aufbau einer jüdischen „nationalen Heimstätte“ in Palästina eintreten.19 Bei den Wahlen ist davon allerdings wenig zu spüren, da es vor allem um Angelegenheiten innerhalb der Israelitischen Kultusgemeinde Wiens geht, etwa um die Öffnung des Wahlrechtes für ausländische und weibliche Mitglieder.
Die Ringer des jüdischen Sportklubs Hakoah (Kraft) treten bei Sportveranstaltungen immer wieder als Schutz für andere Sportler und Sportlerinnen des Vereins auf. Sie sind die stärksten Ringer des Landes und wissen sich im Notfall körperlich zu wehren.(Foto: ÖNB)
Der 1932 gegründete Bund jüdischer Frontsoldaten entwickelt sich innerhalb kurzer Zeit zu einem der wichtigsten jüdischen Vereine. Seine uniformierten Mitglieder zeigen Wehrhaftigkeit nach außen. Sie stellen sich kampfbereit gegen Angriffe auf Synagogen und andere antisemitische Überfälle.(Foto: Sammlung Kriegsfield, Jüdisches Museum Wien)
Wie bei der tschechischen Minderheit spiegeln Vereine die Vielfältigkeit der jüdischen Gemeinde wider. Zur Zeit der NS-Machtübernahme existieren in Österreich rund 600 jüdische Vereine, die allermeisten davon in Wien.20 Die sensationellen Erfolge der Fußballsektion des jüdischen Allroundsportklubs Hakoah („Kraft“) ragen heraus. In der Saison 1924/25 gewinnt Hakoah die österreichische Fußballmeisterschaft. Der Verein stellt mit seiner Ringermannschaft auch die stärksten Männer des Landes und widerlegt eindrucksvoll die Vorurteile von körperlich schwachen und faulen Juden. Menschen, die antisemitisch denken, interessieren solche Fakten allerdings nicht. Im Notfall haben sie eine Ausrede parat, die da lautet: Ausnahmen bestätigen die Regel.
Das Zusammenleben ist keineswegs harmonisch, regierten in Wien doch bereits von 1896 bis 1918 antisemitische, deutschnationale Bürgermeister. Nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie nimmt die Judenfeindschaft sogar noch zu. Trotzdem prägen jüdische Kreative und Intellektuelle – manche haben die Religionsgemeinschaft verlassen – die Kultur von Wien wie der Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud, die Schriftsteller Karl Kraus, Arthur Schnitzler, Franz Werfel, Stefan Zweig und die zu ihrer Zeit bekannten Schriftstellerinnen Gina Kaus und Vicky Baum oder der Komponist Arnold Schönberg. Der legendäre Kabarettist und Komponist von Wienerliedern Hermann Leopoldi ist ein prominentes Beispiel dafür, wie sehr gerade das Wienerlied von jüdischen Künstlern profitiert. Einen seiner großen Erfolge widmet Leopoldi dem Rapid-Torjäger Josef „Pepi“ Uridil mit „Heute spielt der Uridil“. 1938 tritt Uridil der NSDAP bei, im selben Jahr deportieren die Nationalsozialisten Hermann Leopoldi ins KZ Buchenwald. Dort komponiert er das „Buchenwaldlied“. Den Text dazu verfasst Fritz Löhner-Beda, der auch den Text zu Franz Lehárs Operette „Das Land des Lächelns“ schrieb. Leopoldi kommt frei und flüchtet in die USA,21 Löhner-Beda kommt Ende 1942 im KZ Auschwitz-Monowitz ums Leben.
„Man kann sagen was man will, so wundervoll trifft keiner mehr ins Goal. Jawohl!“ Dem Komponisten Hermann Leopoldi gelingt nach der Internierung im KZ ebenso die Flucht nach Amerika wie Robert Katscher, dem Texter des Schlagers „Heute spielt der Uridil“. Der von ihnen verehrte Fußballer mit dem tschechischen Namen Josef Uridil schließt sich dem Nationalsozialismus an.(Abbildung: Imagno)
Die Ausrufung der Republik ermöglicht Frauen erstmals, aktiv und passiv an Wahlen teilzunehmen. Nicht nur wegen des Wahlrechts haben Frauen mehr Gewicht im politischen Leben als in der Monarchie. Viele Männer sind im Weltkrieg ums Leben gekommenen, der Anteil der Frauen in Wien steigt deshalb steil an. Noch 1934 sind rund 55 Prozent von Wiens Bevölkerung weiblich.22 Auch die Bevorzugung von Reichen durch sozial ungerechte Wahlgesetze hat nun endlich ein Ende. Die Auswirkungen der Wahlreform auf den Wahlausgang sind enorm und leiten in Wien eine politische Trendwende ein. Nicht mehr die antisemitisch geprägte Christlichsoziale Partei, sondern die Sozialdemokratische Arbeiterpartei ist nun die bestimmende politische Kraft, die von 1918 bis zu den Gemeinderatswahlen 1932 mit absoluter Mehrheit allein regieren kann. Wien ist zunächst noch Teil von Niederösterreich, so dass die Sozialdemokratie auch die niederösterreichische Landespolitik bestimmen kann. Die Christlichsoziale Partei drängt erfolgreich auf die Loslösung Wiens von Niederösterreich, um sich dort aus der sozialdemokratischen Dominanz zu befreien. Das „Rote Wien“ steht im krassen politischen Gegensatz zu den konservativ und deutschnational geprägten Bundesländern.23 In der österreichischen Provinz entwickelt sich eine Abneigung gegen die einzige Großstadt des Landes, gegen das kulturelle Leben und die ethnisch vielfältige und durchmischte Bevölkerung Wiens mit hohem jüdischen Anteil.
Die verheerenden Folgen des Kriegs und die ökonomischen Krisen nach 1918 verunsichern die Menschen, belasten sie mit Sorgen und Ängsten. Der Weltkrieg hat viele Männer brutalisiert. Politische Ziele mit Mitteln der Gewalt durchzusetzen, ist für sie eine Kriegserfahrung und scheint nun gerechtfertigt zu sein. Die Parteien verfügen über eigene oder ihnen nahestehende Wehrverbände, die militärisch straff ausgerichtet sind wie der Republikanische Schutzbund der Sozialdemokratie oder die Heimwehren auf Seiten der Konservativen. Gewalttätige Zusammenstöße stehen auf der Tagesordnung. Trauriger Höhepunkt ist am 15. Juli 1927 der Brand des Justizpalastes mit hunderten Verletzten, 85 Todesopfern unter den Demonstrierenden und vier toten Polizisten. Nationalistische Organisationen wie die Frontkämpferverbände rüsten auf, die nationalsozialistischen militärischen Formationen von SS und SA schrecken vor Gewalt und Terror nicht zurück.24 Zwei antisemitisch motivierte Morde erregen besonderes Aufsehen. Der Schriftsteller Hugo Bettauer und der Juwelier Norbert Futterweit werden Opfer nationalsozialistischer Mordattacken.
Einer der Orte, an denen es wiederholt zu Gewalt kommt, ist die Wiener Universität.25 Bildung ist in dieser Zeit keineswegs ein Hemmschuh für extremen Rassismus. Immer wieder stürmen deutschnationale Studenten und Burschenschafter Hörsäle und schreien „Juden raus“, „Juda verrecke“ oder „Saujuden raus“. Da es der Polizei nicht erlaubt ist, die Universität zu betreten, können die antisemitischen Rabauken ungehemmt wüten und jüdische Studenten und Studentinnen misshandeln. Die Studentin Minna Lachs beschreibt einen Überfall auf „Blümchen, (…) einen typisch intellektuell aussehenden Studenten“ mit starken Augengläsern.26 „Die Korpsstudenten hatten zuerst Blümchens Augengläser zerschlagen, und er bot in seiner Wehrlosigkeit einen jammervollen Anblick.“ Die wehrlos Verfolgten versuchen dem Spießrutenlauf zu entkommen. Die Polizei steht vor der Universität und sieht den prügelnden Burschenschaftern zu, ohne eingreifen zu können. Minna Lachs protestiert mit Gleichgesinnten hinter dem Polizeikordon. „Wir schrien alle ‚Feiglinge, Feiglinge‘ im Chor, ‚das ist deutscher Mannesmut, eine ganze Bande gegen einen!‘“27 Ein Polizist flüstert ihr zu: „Vorsicht, Fräulein, die merken sich ihr Gesicht, und dann kommen Sie dran.“28
Die nichtjüdische Bevölkerung wird entblößt und mit verbundenen Augen dargestellt. Sie kann deswegen das vermeintliche Unheil nicht erkennen und hängt wie eine Marionette an den Schnüren der sie beherrschenden Juden. Auf diesem Plakat aus dem Jahr 1920 verspricht die Christlichsoziale Partei, die Juden mit aller Gewalt aus dem Land zu vertreiben. Um dies zu rechtfertigen, werden Juden als übermächtig dargestellt.(Abbildung: Wienbibliothek, Plakatsammlung)
Der Journalist Hugo Bettauer schreibt Krimis, den 1924 verfilmten Roman „Die Stadt ohne Juden“ und gibt „Er und Sie. Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik“ heraus. Am 10. März 1925 betritt der nationalsozialistisch gesinnte Zahntechniker Otto Rothstock Bettauers Büro in der Langen Gasse 5–7 und schießt auf ihn. Sein Motiv: Judenhass. Bettauer stirbt am 26. März 1925 an den Folgen des Attentats. Rothstock wird wegen Unzurechnungsfähigkeit in eine Anstalt eingewiesen, aber bereits nach kurzer Zeit als geheilt entlassen.(Foto: ÖNB)
Antisemitische Studenten attackieren unbehelligt jüdische Studierende in der Universität. An den Säulen hängen „Juden Eintritt verboten“-Parolen.(Foto: ÖNB)
Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei ist trotz vereinzelter antijüdischer Aussagen die einzige Großpartei, die für jüdische Mitglieder offen steht und in der einige prominente Politiker und Politikerinnen jüdischer Herkunft oder jüdischen Glaubens aktiv sind. Unter ihnen der Theoretiker des Austromarxismus Otto Bauer oder der spätere österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky, der allerdings der Israelitischen Kultusgemeinde den Rücken kehrt und austritt. Da die bürgerlich Liberalen erfolglos sind und die anderen Parteien antisemitisch, bleiben jüdischen Wählerinnen und Wählern abgesehen von der Sozialdemokratie kaum Alternativen. Anfangs gibt es Versuche, mit eigenen jüdischen Listen anzutreten. 1919 schaffen es drei Abgeordnete einer jüdischnationalen Partei in den Gemeinderat, doch bei den Wahlen 1923 erzielt eine jüdische Liste nur mehr ein Mandat, spätere Kandidaturen bleiben erfolglos. Auch Mitglieder der tschechischen und slowakischen Sprachgruppen betätigen sich politisch. Die Tschechoslowakische Partei erzielt bei den Wiener Gemeinderatswahlen 1919 mit acht Mandaten und 8,4 Prozent aller Stimmen einen Achtungserfolg.29 Bei den nächsten Gemeinderatswahlen schließen sich die tschechischen Sozialdemokraten der österreichischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei an. Die übriggebliebene tschechoslowakische Einheitsliste ist zu schwach, um nochmals Mandate zu erringen.
Die Nationalsozialisten spielen erst im Zuge des Aufstiegs ihrer Partei im benachbarten Deutschland in der Wiener Kommunalpolitik eine wichtige Rolle. Bei den Landtags- und Gemeinderatswahlen im April 1932 ziehen sie mit 17,4 Prozent der gültigen Stimmen erstmals in den Wiener Gemeinderat ein. Obwohl die NSDAP in Österreich in mehrere Richtungen zerstritten ist, profitiert sie von der Schwäche der anderen Parteien. Ihr Stimmengewinn 1932 erklärt sich vor allem aus Verlusten der deutschnationalen Parteien und der Christlichsozialen sowie aus dem Zugewinn vieler Stimmen aus dem Lager der NichtwählerInnen. Nach zahlreichen terroristischen Anschlägen wird die NSDAP im Juni 1933 verboten. Trotzdem geht der NS-Terror weiter.
In der Ersten Republik versuchen jüdische Parteien, die jüdische Wählerschaft für sich zu mobilisieren. Im Aufruf der jüdischen Wahlliste 1920 soll der dargestellte Löwe Stärke verkörpern. In der Hebräischen Bibel ist der Löwe Symbol für den Stamm Juda.(Abbildung: Wienbibliothek, Plakatsammlung)
Der Gauleiter der NSDAP in Österreich Alfred Frauenfeld spricht am Heldenplatz anlässlich des Parteitags 1932. Die gewaltbereiten Nationalsozialisten präsentieren sich gerne als Opfer des Kampfes.(Foto: ÖNB)
Der Krieg hinterlässt Wien in einer tristen Lage. Die Ernte ist schlecht, die Bundesländer weigern sich, Wien ausreichend mit Lebensmitteln zu beliefern. Immer mehr Menschen stochern in Mistkübeln auf der Suche nach Essbarem, die Not trifft die Armen am härtesten. Wer etwas einzutauschen hat, fährt aufs Land, um zu „hamstern“, auch wenn das verboten ist. Für einen Teppich oder einen Ehering bekommt man etwas Milch, Butter, Eier oder Schmalz. Staatskanzler Karl Renner appelliert an die Alliierten, „Wien vor dem Verhungern zu retten“.30
Im Hungerwinter 1918 suchen Menschen verzweifelt nach Essbarem, auch auf abgeernteten Feldern.(Foto: ÖNB)
Zu sehen sind die Stammgäste beim Herbsthofer in der Favoritenstraße. Rechts steht Heinrich, der seit über 20 Jahren in diesem Elendsquartier lebt.(Foto: Bruno Frei, Jüdisches Elend in Wien. Bilder und Daten. Wien/Berlin 1920)
Die Versorgungskrise betrifft alle Bevölkerungsgruppen, also auch die jüdische. 1920 veröffentlicht der Journalist Bruno Frei eine Sozialreportage über das „Jüdische Elend in Wien“. Er schreibt: „Menschen im Elend braucht man nicht zu suchen, es gibt ihrer genug.“31 Frei sucht zwei Jahre lang die Notquartiere auf und fotografiert sie. Das Klischee, dass jüdische Kriegsflüchtlinge „schachern, daß sie wuchern, daß sie hamstern, daß sie gewinnen“, empört Bruno Frei. Der Antisemitismus sieht „nur das eine nicht, daß sie leiden. Wozu das auch den Denkfaulen sagen? Es steht geschrieben im Katechismus der Dummheit: Der Jud ist schuld!“32 Wie erbärmlich die Armen leben, ob jüdisch oder nichtjüdisch, beschreibt Bruno Frei detailliert. Eine der Geschichten handelt vom Herbsthofer in der Favoritenstraße, wo es zwei feuchte große Schlafsäle mit 159 Schlafstätten gibt. Einer der Bedauernswerten, die dort leben, ist Heinrich, der schon seit 20 Jahren auf einem Drahtgestell ohne Strohsack schläft. Frei schreibt von „fürchterlicher Ausdünstung“. Armut hat einen unangenehmen Geruch, die Luft ist zum Schneiden. Der Hunger ist ein ständiger Begleiter des Elends, so Bruno Frei: „Hunger des Abends, Hunger in der Früh. Immer Hunger. Schaudernd gedenken sie des 40jährigen Hofer, der aufs Klosett ging und dort an Entkräftung starb, des ‚Simons‘, der sich abends hinlegte und frühmorgens tot war. Die Hungersnot geht um.“33
Der 1930 in Döbling fertiggestellte Karl-Marx-Hof ist mehr als einen Kilometer lang und gilt als das Wahrzeichen des kommunalen Wohnbaus der Stadt Wien.(Foto: ÖNB)
Das Bürgertum hungert nicht, es wird von anderen Sorgen geplagt: vom rasanten Verfall des Geldes durch die gewaltige Inflation und wüster Währungsspekulation. Ersparnisse eines ganzen Lebens gehen verloren, Vermögen lösen sich in Nichts auf. Wer Schulden hat, profitiert davon, dass das Geld von Tag zu Tag weniger Wert hat. So auch die Gemeinde Wien, die auf diese Weise ihre Schulden loswird.
Von 1918 bis 1920 regiert in Österreich die Sozialdemokratie mit den Christlichsozialen als Koalitionspartner. Die Sozialdemokratie ist der Motor einer Politik, die angesichts der darniederliegenden privaten Betriebe in den Aufbau der Wirtschaft investiert und soziale Reformen auf den Weg bringt: die Einführung von Kollektivverträgen, der Arbeitslosenunterstützung, des Achtstundentages, des Arbeitsurlaubes und des Mieterschutzes. Nach den verlorengegangenen Wahlen und dem Austritt aus der Regierung Ende 1920 konzentriert sich die Sozialdemokratie auf Wien. Ihre Reformpolitik erregt international Aufsehen. Mit Sonder- und Luxussteuern finanziert die Gemeinde ihren groß angelegten kommunalen Wohnbau, mit dem sie die Bauwirtschaft und den Arbeitsmarkt belebt. Tausende Arbeiterinnen und Arbeiter können ihre Barackensiedlungen und Notunterkünfte verlassen und moderne Wohnungen beziehen. Die Architektur der Gemeindebauten prägt noch heute das Stadtbild, ähnlich wie die Prachtbauten aus der Gründerzeit entlang der Ringstraße. Ende 1933 verwaltet die Gemeinde Wien 61.617 Wohnungen und 5.257 Siedlungshäuser.34 Sie errichtet Kinderhorte, Kindergärten und Freibäder, gibt kostenlos ein Wäschepaket für Säuglinge aus, sorgt für den Rückgang der Kindersterblichkeit und der Arme-Leute-Krankheit Tuberkulose. Die Stadtverwaltung nimmt darauf Bedacht, dass Menschen, die in Armut leben, in ihrer Würde respektiert und nicht als Bittstellende gedemütigt werden.
Stadtrat Hugo Breitner, der mit Wohnbausteuern für die Finanzierung des groß angelegten Bauprogramms in Wien sorgt, ist den Rechten verhasst, besonders dem Führer der Heimwehr und Vizekanzler zur Zeit des Austrofaschismus, Ernst Rüdiger Starhemberg. Für ihn ist Breitner als Jude ein Fremder. „Nur wenn der Kopf dieses Asiaten in den Sand rollt, wird der Sieg unser sein“, brüllt Starhemberg bei einer Wahlkampfrede am Heldenplatz 1930.(Foto: ÖNB, Fayer, Wien)
Der Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 bedroht dieses Reformprogramm. Die Produktion geht drastisch zurück, Betriebe schließen, die Arbeitslosigkeit explodiert, Löhne sinken, Selbstmorde mehren sich, die Zahl der Neugeborenen sinkt dramatisch. Gibt es in Wien 1929 noch 18.410 Lebendgeburten, sind es 1937 nur mehr 10.032.35 Die Regierungskoalition im Bund aus Christlichsozialen und Deutschnationalen, für die sowohl die sozialdemokratische Wirtschafts- und Sozialpolitik als auch die Steuerpolitik in Wien ein „rotes Tuch“ ist, kürzt die finanziellen Mittel für Österreichs Hauptstadt spürbar. Das Wohnbauprogramm kommt deswegen zum Erliegen, das Wohlfahrtswesen kann nur mit Müh und Not einigermaßen aufrechterhalten werden.36
Der Zusammenbruch demokratischer Strukturen beginnt in Österreich wie eine Operette, allerdings ohne Happy End. Im Zuge einer heftigen Auseinandersetzung in einer tumultartig verlaufenden Sitzung des Nationalrates treten am 4. März 1933 die drei Parlamentspräsidenten zurück. Die Regierung unter dem christlichsozialen Bundeskanzler Engelbert Dollfuß nutzt diese Gelegenheit, um den Nationalrat lahmzulegen. Da keiner der Parlamentspräsidenten mehr den Vorsitz hat, müsste die Regierung den Nationalrat für die nächste Sitzung einberufen, was sie mit Absicht unterlässt. Nach diesem „kalten Staatsstreich“ führt der christlichsoziale Kanzler Engelbert Dollfuß das Land auf Grundlage einer Notstandsverordnung aus dem Ersten Weltkrieg autoritär. Regierungsnahe Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes treten zurück und schalten so den Gerichtshof aus. Am 31. März 1933 wird der sozialdemokratische Republikanische Schutzbund, am 27. Mai 1933 die wenig einflussreiche Kommunistische Partei Österreichs verboten. Schritt für Schritt beseitigen Dollfuß und sein wichtigster Koalitionspartner, die im Parlament als „Heimatblock“ zusammengeschlossenen Heimwehren, die Demokratie: Mit Notverordnungen erfolgt die Einschränkung der Presse-, der Vereins- und der Versammlungsfreiheit, das Verbot von Streiks und Betriebsräten, die Einführung der Todesstrafe sowie die Einrichtung des Anhaltelagers Wöllersdorf für politische Gegner.37
In der Geschichtsforschung wird aktuell darüber debattiert, ob der Begriff „Austrofaschismus“ geeignet ist, das politische System der Jahre 1933 bis 1938 zu charakterisieren.38 Historikerinnen und Historiker sprechen etwa von einer halbfaschistisch-autoritären Diktatur, einem faschistisch verkleideten autoritären Regime, einer Kanzler- oder Regierungsdiktatur, dem Ständestaat oder auch nur vom Dollfuß-Schuschnigg-Regime.39 Nicht zuletzt aufgrund ähnlicher Entwicklungen in anderen Staaten ist aus einer europäischen Perspektive die Verwendung des Begriffs Faschismus für die Jahre 1933 bis 1938 angebracht. Der Austrofaschismus orientiert sich anfangs an der faschistischen Regierungsform im benachbarten Italien, das zunächst auch die Schutzmacht für die Unabhängigkeit Österreichs gegenüber NS-Deutschland ist.
Mit der NSDAP gelangt 1932 eine Partei in den Wiener Gemeinderat, die Institutionen dieser Art, also demokratische Instanzen, zerstören will, um diktatorisch mit Gewaltmaßnahmen regieren zu können.(Foto: ÖNB)
Bei der Wahl in Innsbruck 1933 erhalten die Nationalsozialisten 41 Prozent der Stimmen. Dies ist Anlass für die Regierung Dollfuß, alle Wahlen bis auf Weiteres abzusagen. Daraufhin gehen die Nationalsozialisten noch stärker dazu über, Terroranschläge zu verüben. Am 19. Juni 1933 wird die NSDAP deshalb verboten. Als Hauptgegnerin der Regierung sieht Vizekanzler Emil Fey, zugleich Sicherheitsminister und Führer der faschistischen Heimwehr, jedoch die Sozialdemokratie. Er lässt ihre Parteiheime und Wohnungen ihrer Funktionäre nach Waffen durchsuchen, so auch die Wiener Parteizentrale.
Im Februar 1934 wird die Sozialdemokratische Arbeiterpartei nach kurz anhaltenden Kämpfen ausgeschaltet, der sozialdemokratische Wiener Bürgermeister Karl Seitz verhaftet. Arbeiterheime und Gemeindebauten wie der Karl-Marx-Hof werden unter Beschuss genommen. Einer mit 6. Oktober 1934 datierten polizeiinternen Auflistung zufolge „standen in Wien den 55 Toten auf Seiten des Regierungslagers 131 Tote auf Seiten der Zivilbevölkerung gegenüber; von diesen waren 16 Angehörige des Republikanischen Schutzbundes, 36 sonstige Sozialdemokraten und 6 Kommunisten. Unter den Verwundeten, die Polizei und Bundesheer in die Hände gefallen waren, befanden sich nach Polizeiangaben 19 Schutzbündler, 122 sonstige Sozialdemokraten und 4 Kommunisten.“40 Zahlreiche sozialdemokratische Funktionäre, die angesichts der Massenverhaftungen mit Verfolgung bis hin zu einem Todesurteil rechnen müssen, flüchten ins Ausland. Andere, wie der 1970 bis 1983 amtierende Bundeskanzler Bruno Kreisky, werden verhaftet und interniert.
Der Karl-Marx-Hof wird während der Kämpfe im Februar 1934 durch Artilleriebeschuss schwer beschädigt.(Foto: ÖNB)
Die Regierung löst den sozialdemokratisch dominierten Wiener Gemeinderat auf und ersetzt ihn durch die sogenannte Wiener Bürgerschaft, deren Mandatare nicht gewählt werden, sondern die der Bürgermeister gemäß dem Autoritätsprinzip einsetzt oder abberuft. Entsprechend dem Selbstverständnis des neuen Regimes sollen darin alle Stände vertreten sein, so auch die Religionsgemeinschaften.
Mit der im Mai 1933 gegründeten Vaterländischen Front will die Regierung nach Ausschaltung der Opposition möglichst viele Menschen an das neue Regime binden. Der „Parteienstaat“ soll mit Hilfe der Vaterländischen Front und Gottes Segen überwunden werden. Das Ganze klappt nicht so reibungslos wie vorgesehen. Während die Christlichsoziale Partei 1934 aufgelöst wird, behalten die im Heimatschutz versammelten, weiterhin legalen Wehrverbände eine Eigenständigkeit innerhalb der Vaterländischen Front. Nach der Ermordung von Engelbert Dollfuß übernimmt der Führer der faschistischen Heimwehren, Ernst Rüdiger Starhemberg, bis zu seinem unfreiwilligen Rücktritt die Führung der Vaterländischen Front. Spannungen zwischen dem politischen Flügel und den Interessen der Wehrverbände sind vorprogrammiert. Im Oktober 1936 werden die Heimwehren aufgelöst und in die Vaterländische Front bzw. Frontmiliz übergeführt.41 Die hohen Mitgliederzahlen beruhen keineswegs auf Begeisterung, sondern auf Kalkül und Zwang zum Beitritt. Wer etwa der Wehrformation Heimatschutz oder dem Österreichischen Gewerbebund angehört, ist automatisch auch Mitglied der Vaterländischen Front. Einige Privilegien wie Stipendien für Studierende gibt es nur für Mitglieder der Vaterländischen Front. Ein Mitgliederstand von 2,15 Millionen Menschen zeigt, wie hoch der Erfassungsgrad Ende 1935 ist.42
Bei den Kundgebungen der Heimwehr kommt es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Bis 1936 spielt die Heimwehr unter Ernst Rüdiger Starhemberg eine führende Rolle im Austrofaschismus.(Foto: ÖNB)
Die Wirtschaftspolitik des Austrofaschismus verfolgt zwei Hauptziele: eine Stabilisierung der Schilling-Währung und ein ausgeglichenes Budget. Der erwartete Selbstheilungsprozess der Wirtschaft setzt allerdings nicht ein. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit fehlt es an einer ansatzweise effektiven Arbeitsplatz-Politik. Die austrofaschistischen Prestigeprojekte in Wien, der Bau der Höhenstraße und der Reichsbrücke, tragen wenig zum Abbau der Arbeitslosigkeit bei. Ende Dezember 1934 sind mehr als 70 Prozent der Arbeitslosen in Wien „ausgesteuert“.43 Sie leben ohne jegliche staatliche Unterstützung, viele von ihnen ziehen bettelnd durch die Bezirke.
Das bis dahin Modernität ausstrahlende „Rote Wien“ versinkt im kleingeistig konservativ-antisemitischen Mief der hausgemachten Diktatur Österreichs. Der Austrofaschismus ist alles andere als attraktiv und unfähig, den Menschen Hoffnung auf eine Besserung ihrer tristen Lage zu geben.
„Mir fällt zu Hitler nichts ein“, schreibt der scharfzüngige Schriftsteller Karl Kraus und drückt damit vermutlich die Fassungslosigkeit vieler darüber aus, dass ein aggressiver Schreihals wie Adolf Hitler mit seiner Partei in Deutschland und Österreich derartigen Zulauf und Anerkennung finden kann.44
In seinem 1933 verfassten Buch „Die Dritte Walpurgisnacht“ legt Karl Kraus die gewalttätige Sprache des Nationalsozialismus bloß und macht sich besorgt über die „göttliche Mission“ des „Führers“ lustig.(Foto: ÖNB)
Beim Erntedankfest der Deutschen Gesandtschaft 1935 mit dem ehemaligen Reichskanzler und nunmehrigen Botschafter in Wien, Franz von Papen, wird Naziherrlichkeit zelebriert. Während der Austrofaschismus sich gegen die verbotene Sozialdemokratie hart zeigt, gibt er dem massiven Druck von NS-Deutschland nach und geht auf dessen Forderungen ein.(Foto: ÖNB)
Die Frage nach dem Erfolg des Nationalsozialismus lässt sich nur teilweise mit Frustration, Ängsten, Arbeitslosigkeit, aufgestauter Wut, die in Hass umschlägt, Antisemitismus, Revanchegelüsten für die Niederlage im Ersten Weltkrieg, dem Reiz der Uniformen, dem Angebot der Partei, dass jeder Mensch für die Bewegung wichtig sei oder mit simplen Erklärungen für eine komplizierte Welt begründen. Es sind viele Faktoren, die dazu führen, dass so viele Menschen einem letztendlich mörderischen „Führer“ folgen. Für junge Menschen ist die NS-Bewegung ein Angebot, sich aus den Fängen autoritärer Familienverhältnisse zu lösen. Sie glauben, sich mit ihrer Rebellion von den Eltern emanzipieren zu können, geraten dabei allerdings von einem autoritären System in das nächste. Die propagandistisch verbreiteten Angebote der NS-Ideologie sind verführerisch: Das Zugehörigkeitsgefühl zu einer höherstehenden „Rasse“ stärkt das Selbstbewusstsein, versetzt in die Lage, auf andere herabzublicken. Uniformität ermöglicht, sich einer verschworenen Gemeinschaft zugehörig zu fühlen, die dem Leben einen Sinn gibt. Hinzu kommen seit dem Parteiverbot der Reiz des Unerlaubten in der Illegalität oder der Glaube an Erlösung von Zukunftsängsten durch einen missionarisch agierenden „Führer“. Gleichzeitig verbreiten die Nationalsozialisten mit Terroraktionen weiterhin Angst. Sie schrecken auch nicht davor zurück, beim erfolglosen NS-Putschversuch im Juli 1934 den österreichischen Bundeskanzler Engelbert Dollfuß zu ermorden. So absurd es klingen mag: Jene, die Terror und Gewalt verbreiten, versprechen, für Ordnung, Ruhe und Frieden zu sorgen, sollten sie an die Macht kommen. Viele glauben ihnen das.
In Österreich spielen neben wirtschaftlichen und politischen Krisen noch andere Faktoren eine Rolle. Der Aufstieg und die Machtübernahme der NSDAP in Deutschland 1933 wirken offensichtlich anziehend, immerhin ist der internationales Aufsehen erregende „Star“ der Partei, Adolf Hitler, vormaliger Österreicher. Das Fehlen eines ausgeprägten österreichischen Nationalbewusstseins schwächt die Abwehr gegen die Anschluss-Pläne von NS-Deutschland. Das für den ermordeten Bundeskanzler geschriebene Dollfuß-Lied ist ein gutes Beispiel für das Liebäugeln mit deutschnationalen Gesinnungen, die den Österreich-Patriotismus aushöhlen. Schüler und Schülerinnen müssen in Erinnerung an den ermordeten Bundeskanzler ab 1934 singen:
„Ihr Jungen, schließt die Reihen gut,
Ein Toter führt uns an.
Er gab für Österreich sein Blut,
Ein wahrer deutscher Mann.“45
Letztendlich hält Österreich dem vom Deutschland ausgeübten massiven Druck nicht stand und verliert mit der Besetzung im März 1938 seine Eigenständigkeit.
Irma Trksak wird 1917 in Wien geboren. Ihre Eltern Anna und Stefan Trksak kommen wie Tausende andere vor dem Ersten Weltkrieg nach Wien, um Arbeit zu finden. Sie stammen aus der Slowakei, das damals zur ungarischen Reichshälfte der Monarchie gehört. Die Eltern lernen einander in Wien in einem slowakischen Kulturverein kennen.
Irmas Vater ist Schuster. Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitet er als Hilfsarbeiter in einer Eisfabrik, wird Maschinist und engagiert sich politisch als Sozialdemokrat und Gewerkschafter. Die Mutter spricht schlecht Deutsch, sie kümmert sich um den Haushalt und die Kinder, die sie mit Strenge erzieht. Für wichtige Einkäufe fehlt es an Geld. „Wenn wir einmal etwas Neues bekommen sollten, konnten meine Eltern das nur auf Raten kaufen. Es war in ärmeren Familien so üblich, dass sogenannte ‚Ratenjuden‘ ihnen das Geld für den Einkauf von Kleidung oder größere Anschaffungen im Haushalt vorstreckten. Frau Grünspan hieß die Frau, die immer mit uns einkaufen gegangen ist und uns das Geld dafür geliehen hat. Sie hatte einen großen Bogen mit den Beträgen und sie kam jede Woche kassieren. Mutter zahlte in kleinen Raten die Schulden ab.“ Familie Trksak ist zwar arm, trotzdem geht es ihr besser als vielen anderen Arbeiterfamilien. Immerhin ist der Vater nie arbeitslos und die Familie nicht von Almosen abhängig. In der Fabrikswohnung gibt es kein elektrisches Licht, die Hausaufgaben schreiben die Kinder am Abend beim Schein der Petroleumlampe. Dennoch spricht Irma von wunderschönen Erinnerungen an ihre Kindheit.46
Irma Trksak(Foto: Irma Trksak)
Irma Trksak besucht eine der tschechischen Schulen Wiens. Sie spricht Deutsch, Slowakisch als Erst- und Tschechisch als Unterrichtssprache. Schon als Schulkind ist sie mit Feindseligkeiten konfrontiert: „Am Brigittaplatz wurden wir Tschechen von anderen Kindern abgepasst (…) ‚falsche Behm‘ haben sie uns nachgeschrien“.47 Die tschechischen Kinder wehren sich unter Einsatz von Schultaschen mit einer „festen Rauferei“. Irma ist eine gute Schülerin. Nach dem Besuch der Volksschule in der Karajangasse wechselt sie ans Realgymnasium des Komenský-Vereins am Sebastianplatz, wo sie auch maturiert.
Als der Bürgerkrieg im Februar 1934 ausbricht, ist Irma mit ihrer Klasse gerade auf Schikurs. Über ihre Rückkehr nach Wien zu den Eltern berichtet sie: „Wir sind dann zu den Plätzen des Kampfes gefahren. Es war schrecklich zu sehen, was Österreicher den eigenen Leuten antun konnten. Aber wir haben nicht damit gerechnet, dass der Faschismus noch ärger werden könnte.“ Die Leitung der verbotenen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei findet Zuflucht in Brünn, wo die Arbeiter-Zeitung bis 1937 erscheint. Um sie in Österreich vertreiben zu können, muss die auf dünnem Papier gedruckte Zeitung illegal über die Grenze gebracht werden. Irma und ihr Vater bringen die Zeitung in Wien zu den ihnen bekannten sozialdemokratischen Familien.
Irma absolviert einen Lehrgang zur Ausbildung als Lehrerin an der Pädagogischen Akademie in Prag. Nach ihrem Abschluss erhält sie eine erste Anstellung als Lehrerin in der Volksschule in der Vorgartenstraße und in einer Hauptschule als Turnlehrerin. Turnen ist eine von Irmas Leidenschaften. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme kann Irma noch einige Zeit weiterunterrichten, doch 1939 wird ihr Vertrag nicht mehr verlängert. Wegen ihrer slowakischen Familie gilt sie als Mensch zweiter Klasse. Tschechische und slowakische Vereine werden aufgelöst, Kinder in die deutschsprachigen Schulen geschickt. Auch deswegen schließt sie sich dem kommunistisch gesinnten tschechoslowakischen Widerstand in Wien an. Doch wie sich wehren? Viel ist nicht möglich angesichts der NS-Gewalt. Gemeinsam mit ihrem Partner Ludwik Štěpánek und anderen stellt Irma Flugblätter her, die vor allem Arbeiter und Arbeiterinnen zum Widerstand aufrufen. Nach Kriegsausbruch kontaktieren sie Soldaten und fordern sie auf, die Wehrmacht zu verlassen und zu desertieren. Für dieses Vergehen der Wehrkraftzersetzung droht die Todesstrafe. Noch gefährlicher wird es, als ihre Widerstandsgruppe Sabotageakte ausführt. Als Spitzel die Gruppe unterwandern, fliegt sie schließlich auf. Bei Irmas Freund Ludwik Štěpánek entdeckt die Gestapo im Garten ein vergrabenes Abziehgerät für die Herstellung der Flugblätter. Selbst noch in der Haft leistet er Widerstand. Als die Wärter in seiner Gefängniszelle einen selbstgebauten Sender entdecken, ist die Lage hoffnungslos. Ludwik Štěpánek begeht Selbstmord.
Irma Trksak wird im September 1941 verhaftet und kommt im Polizeigefängnis Rossauer Lände in Einzelhaft. Den Verhören hält sie stand, niemanden aus ihrer Gruppe verrät sie. Ein Jahr später wird sie ins Konzentrationslager Ravensbrück überstellt. Als Schreiberin bei der Firma Siemens verfälscht sie die Statistiken über die Arbeitsleistungen der Zwangsarbeiterinnen, um diese zu schützen. Später wird sie Stubenälteste und muss nicht mehr in der Fabrik arbeiten. Sie setzt alles daran, dass die inhaftierten Frauen ihr Selbstwertgefühl nicht verlieren. Die SS sieht die Frauen nur als minderwertige Arbeitstiere. Rund um Irma Trksak werden Zukunftspläne geschmiedet, offene Gespräche geführt, das Kriegsgeschehen in der Hoffnung auf die Niederlage von NS-Deutschland diskutiert und an Sonntagen Lieder gesungen. Sie lässt auch zu, dass Sketches aufgeführt werden, die sich über die SS lustig machen. Jemand verrät Irma, so dass die Gestapo sie zur Strafe anfangs 1945 in das nahe gelegene KZ Uckermark verlegt, wo kranke und ältere Häftlingsfrauen ermordet werden.
Irma Trksak überlebt und wird eine engagierte Zeitzeugin, die, solange es ihre Gesundheit zulässt, Schulen besucht.48 Wenn sie von ihrer Kindheit erzählt, vergleicht sie die Feindlichkeit von damals mit jener der Gegenwart: „Wir waren die Tschuschen von damals.“
2017 lebt Irma Trksak in Wien.
Aus: Cécile Cordon, Ich weiß, was ich wert bin. Irma Trksak – Ein Leben im Widerstand. Wien 2007.
Irma Trksak ist begeisterte Sportlerin.(Foto: Irma Trksak)
„She is a character“, würde als Beschreibung für die 1924 geborene Renée Wiener im Englischen passen. Noch im hohen Alter fährt sie mit ihrem Auto bei jedem Wetter rasant von ihrem Wohnort in Great Neck zum Atlantik, um schwimmen zu gehen.
Renée wächst in der Hinteren Zollamtsstraße 9 in einer jüdisch-orthodoxen Familie auf. Ihre Mutter Frida stammt aus dem Burgenland, ihr Vater Leopold Kurz aus Deutschland. Die beiden heiraten gegen den Willen ihrer Eltern. In jüdisch orthodoxen Kreisen ist eine Liebesheirat zu dieser Zeit noch ungewöhnlich, denn die meisten Ehen werden „arrangiert“: Das bedeutet, die Eltern suchen mit Hilfe von Heiratsvermittlern die Ehefrau bzw. den Gatten für ihre Kinder aus.
Renées Vater ist zwar in Polen geboren, aber von Kindestagen an in Deutschland aufgewachsen. Dieser polnische Hintergrund wird in der Familie verschwiegen, denn die „Ostjuden“ haben einen schlechten Ruf in Wien. Die Familie Kurz lebt eine modern jüdisch-orthodoxe Lebensform, die es so heute nicht mehr gibt. Die religiösen Regeln werden streng eingehalten, besonders der Sabbat und die Feiertage. Die Familie besucht regelmäßig die Synagoge und isst koscher. Aber außerhalb der Wohnung fällt ihre tiefe Religiosität nicht auf, der Lebensstil ist an die Umwelt angepasst, die Kleidung bürgerlich. Der Vater trägt keine Kippa, die Mutter rasiert sich ihr Haar nicht ab. In den streng orthodoxen Familien tragen die Frauen normalerweise ein Kopftuch oder eine Perücke (Scheitel). Die Familie Kurz praktiziert ein religiöses Leben, das das Jüdische nach außen hin versteckt.
Renée Wiener(Foto: Renée Wiener)
Renée hadert als Kind mit der ihr aufgezwungenen Rolle als Mädchen. „Ich (…) wusste ganz genau, wie ich nicht aussehen wollte: Wie so ein braves Mäderl mit Hut und Handschuhen. Sobald ich aus der Haustür war, zog ich die Strümpfe aus. Den ganzen Winter lief ich mit blaugefrorenen Knien herum.“
In der Volksschule sind nur wenige Kinder jüdisch. Renée verehrt ihre Lehrerin, Frau Schmidt. „Da traf es mich dann besonders hart, dass sie mich bestrafte, weil ich ein Mädchen verdrosch, das mich ‚Saujüdin‘ genannt hatte. Ich kannte den Ausdruck überhaupt nicht, noch nie hatte jemand so etwas zu mir gesagt, aber es war schon klar, dass das etwas sehr Ekelhaftes ist. Die Lehrerin sah nicht ein, dass das nicht eine ‚normale‘ Prügelei unter Kindern war, sondern etwas Ernsteres.“
Schon als Kind ist Renée widerständig, auch gegen die strengen religiösen Vorschriften lehnt sie sich auf. In der Schule tauscht sie ihre koscheren Sandwiches gegen die Schinkenbrote der anderen. „Da waren beide Seiten glücklich, denn das Pausenbrot der anderen schmeckt ja immer besser. Später hätte ich das nicht mehr getan, da war es mir sehr wichtig, koscher zu essen. Aber in der Schule war jedes Gebot für mich nur ein störendes Verbot.“
Renée funktioniert nicht so, wie sich das ihre bürgerlichen Eltern vorstellen. Sie hasst den Klavierunterricht, will lieber hinaus in den Park spielen gehen. „Ich bekam jeden Tag Ohrfeigen wegen dem Klavier spielen! Ich sollte üben und zwar jeden Tag ein paar Stunden – und das in einem Zimmer, das im Winter nicht geheizt war. Zumindest davon hat mich Hitler befreit!“
Die Familie lebt im 3. Bezirk, die Mutter ist Hausfrau, der Vater mit Import und Export von Metall beschäftigt. Im Haushalt lebt ein Dienstmädchen, Anna, die aus einer streng katholischen Familie vom Land kommt. „Als ich klein war, nannte ich sie mein ‚drittes Elter‘. Ich hatte sie sehr lieb. Sie hielt mir immer die Stange und verteidigte mich gegen jeden.“ Anna verhält sich wie so viele andere Dienstmädchen in jüdischen Haushalten auch: Sie nimmt als fromme Katholikin die Vorschriften der jüdischen Religion sehr ernst und ist manchmal strenger als Renées Mutter. „Sie konnte nicht nur koscher kochen, sie wusste genau, was man an den Feiertagen machen kann und was nicht.“ Anna nimmt Renée ohne Wissen der Eltern mit in die Kirche. Renée faltet zwar die Hände, aber ein Kreuzzeichen kommt nicht in Frage. „Der Gottesdienst, der Weihrauch und das Herumfuchteln mit der Monstranz faszinierten mich. Ich fühlte mich irgendwie gut in der Kirche.“
In der Familie ist Renée der Star. Als ihre Mutter 1931 schwanger wird, empfindet Renée die kleine Schwester Hanna als Konkurrenz. Sie erzählt offen über ihren Vorschlag an die Mutter, den Säugling nach der Geburt im Spital zurückzulassen. Ein anderes Mal springt sie mit voller Wucht von der Kommode auf den Bauch der Mutter. „Das war Absicht, ich war schon sechs Jahre alt und wusste, was ich tat. Da bekam ich eine Tracht Prügel.“ Die Konkurrenz um die Eltern wird ein Leben lang bleiben, Renée vergewissert sich immer wieder, der Liebling ihres Vaters und die Nummer Eins beim Dienstmädchen Anna zu bleiben.
Renée lebt mit einem „Gefühl der Sicherheit“, das sie nach den dramatischen Ereignissen ihrer Jugend nie wieder verspürt. „Es bestand überhaupt kein Zweifel, dass alles gut ausgehen würde, was immer auch passierte. Obwohl diese Zeit politisch sehr unruhig war, hatten sich die Eltern eine solide Existenz aufgebaut und vermittelten uns immer absolute Sicherheit.“
Von Politik bekommt sie wenig mit, die Eltern sprechen darüber nicht mit den Kindern. Woran sie sich erinnert, ist die Ermordung von Bundeskanzler Dollfuß: „Die Eltern waren sehr aufgeregt und besorgt, sogar die Anna saß dabei und hörte zu, wenn die Radiomeldungen kamen.“ Die Mutter ist zionistisch eingestellt, doch für den religiös orthodox eingestellten Vater ist es unvorstellbar, nach Palästina auszuwandern.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ergreift die Familie die Flucht. Sie hetzt von einem Ort zum anderen. In Südfrankreich wird Renées Vater verhaftet, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Ihre Mutter und Schwester überleben in Verstecken. Renée schließt sich dem zionistischen Widerstand an, der Anschläge verübt und Kinder von jüdischen Familien versteckt oder über die Grenze in die Schweiz in Sicherheit bringt. Nach Kriegsende wandert sie in die USA aus und arbeitet als Sozialarbeiterin mit drogenabhängigen jungen Menschen.
2017 lebt Renée Wiener in der Nähe von New York.
Aus: Renée Wiener, Von Anfang an Rebellin. Die Geschichte einer jüdischen Widerstandskämpferin. Hrsg. v. Maria Ecker/Albert Lichtblau. Wien 2012.
Renée Wiener mit falschem Namen im Widerstand in Frankreich(Abbildung: Renée Wiener)
Ignaz Seipel ist einer der prägenden Politiker der Ersten Republik. An seiner Person ist die Verstrickung der katholischen Kirche in die Politik der Zwischenkriegszeit deutlich zu sehen. Sein politischer Katholizismus richtet sich gegen die Sozialdemokratie, gegen das „Rote Wien“ und gegen die neu entstandene republikanische Staatsform. Diese Politik führt zur Ausschaltung der Demokratie in Österreich und zur austrofaschistischen Diktatur.
Ignaz Seipel wird am 19. Juli 1876 als Sohn eines Fiakers in der Märzstraße geboren. Er maturiert 1895 am k.k. Staatsgymnasium in Meidling (heute das GRG 12, Rosasgasse). Danach studiert er Katholische Theologie an der Universität Wien und wird am 23. Juli 1899 zum Priester geweiht. 1903 promoviert er zum Doktor der Theologie. Bereits 1909 erhält er eine Professur für Moraltheologie in Salzburg, ab 1917 lehrt er an der Universität Wien. 1921 erhält er einen Würdentitel der katholischen Kirche, den eines Prälaten. Seipel verfolgt aber auch politische Ziele. So gehört er von Oktober bis November 1918 der letzten Regierung der Monarchie als Arbeits- und Sozialminister an. Ab 1919 ist Seipel einer der Führer der Christlichsozialen Partei und ab 1921 auch deren Obmann.
Ignaz Seipel(Foto: Martin Krist)
Als zweimaliger Bundeskanzler (1922 bis 1924 und 1926 bis 1929) ist Seipel einer der einflussreichsten Politiker der Ersten Republik. Er steht der Demokratie äußerst skeptisch gegenüber und unterstützt den Aufbau rechtsextremer Organisationen. Seipel gehört ab 1920 der Geheimorganisation „Vereinigung für Ordnung und Recht“ an, die eine gewaltsame Ausschaltung der Sozialdemokratie plant. Nach seinem Aufstieg zum Bundeskanzler sorgt Seipel persönlich für Geldflüsse an paramilitärische Organisationen wie die radikal antisemitische Frontkämpfervereinigung. Innerhalb der Christlichsozialen Partei schaltet er den demokratischen Flügel um Johann Nepomuk Hauser und Jodok Fink aus.
Die Fotomontage mit dem ersten Kanzler der austrofaschistischen Diktatur, Engelbert Dollfuß (links), und dem Gründungsvater des „Ständestaates“, Ignaz Seipel (rechts), zeigt die enge politische Verbundenheit der beiden autoritären Politiker. Im Hintergrund ihre gemeinsame Grabstätte.(Abbildung: Martin Krist)
1922 gelingt es Seipel, in Genf eine Völkerbundanleihe über 650 Millionen Goldkronen zu erhalten, mit der die von der Inflation zerrütteten Staatsfinanzen saniert werden. Seine Wirtschaftspolitik, aber auch die der anderen bürgerlichen Bundeskanzler der Ersten Republik, kann so beschrieben werden: sparen statt investieren, Schuldenabbau statt Arbeitsbeschaffungsprogramme. Besonders die ärmeren Schichten der Bevölkerung leiden unter dieser Politik, die eine hohe Arbeitslosigkeit erzeugt. Deshalb steht Seipel auch in scharfem Gegensatz zur Sozialdemokratie.