Nationaltheater - Henrik Müller - E-Book

Nationaltheater E-Book

Henrik Müller

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Beschreibung

National, irrational, geschäftsschädigend Rund um den Globus läuft ein Großangriff auf unseren Wohlstand. Die neuen Nationalisten wollen Grenzen schließen, den Handel beschränken, die internationale Verflechtung der Wirtschaft zurückdrehen. Für den Exportweltmeister Deutschland ist diese schleichende Deglobalisierung besonders fatal, denn sie stellt sein Geschäftsmodell infrage, sagt der Wirtschaftsexperte Henrik Müller. Und keine der großen Fragen und Krisen der Gegenwart lässt sich national lösen. Mit dem nüchternen Blick des Ökonomen seziert Müller die Argumente der Neonationalisten und zeigt anhand von Zahlen, Fakten und Beispielen, wie ihre populistische Politik unsere Wirtschaft ruiniert. Brechen nach der Wahl von Trump auch in Europa die Dämme?

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Henrik Müller

NATIONALTHEATER

Wie falsche Patrioten unseren Wohlstand bedrohen

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Rund um den Globus läuft ein Großangriff auf unseren Wohlstand. Die neuen Nationalisten wollen Grenzen schließen, den Handel beschränken, die internationale Verflechtung der Wirtschaft zurückdrehen. Für den Exportweltmeister Deutschland ist diese schleichende Deglobalisierung besonders fatal, denn sie stellt sein Geschäftsmodell infrage, sagt der Wirtschaftsexperte Henrik Müller. Und keine der großen Fragen und Krisen der Gegenwart lässt sich national lösen. Mit dem nüchternen Blick des Ökonomen seziert Müller die Argumente der Neonationalisten und zeigt anhand von Zahlen, Fakten und Beispielen, wie ihre populistische Politik unsere Wirtschaft ruiniert.

Brechen nach der Wahl von Trump auch in Europa die Dämme?

Vita

Henrik Müller, Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der TU Dortmund, war zuvor viele Jahre stellvertretender Chefredakteur des manager magazins. Der promovierte Ökonom ist Träger mehrerer renommierter Journalistenpreise und Autor diverser Bücher zu wirtschaftspolitischen Themen. 2014 erschien sein Buch Wirtschaftsirrtümer.

Inhalt

EINLEITUNG: DER ANGRIFF — Wie die offene Welt unter die Räder kommt

STEUERUNGSLOS DURCH EINE TURBULENTE WELT

1. DIE VIER SACKGASSEN — Warum die Menschheit dabei ist, kollektiv vor die Wand zu fahren

DIE ÖKONOMISCHE SACKGASSE

Wenig Wachstum, kaum Fortschritt

Letzter Ausweg Handelskrieg

TTIP und die seltsamen Deutschen

DIE DEMOGRAFISCHE SACKGASSE

Halb gezogen, halb gedrückt – Migration im digitalen Zeitalter

DIE ÖKOLOGISCHE SACKGASSE

Ein globaler Pakt gegen den Stillstand – und seine Feinde

DIE SICHERHEITSPOLITISCHE SACKGASSE

Die gewalttätige Globalisierung

Die nächste Schwelle

Selbstzufrieden und selbstgerecht: ein Blick auf die Deutschen

2. DIE GLOBALISIERUNG SCHAFFT SICH AB — Von Peking bis Pegida: Warum die Neonationalisten auf dem Vormarsch sind

EINE KURZE GESCHICHTE DER JÜNGSTEN VERGANGENHEIT

BRÖCKELNDER WOHLSTAND – STRESSTEST FÜR DIE DEMOKRATIE

DIE GELDUMWÄLZPUMPE

WARUM DER KAPITALISMUS IM LEERLAUF HEISS LÄUFT

WAS MACHT EIGENTLICH EIN UNTERNEHMER – AUSSER GELD?

WO SICH FRUST UND ZORN GUTE NACHT SAGEN

GEFANGEN IM ABSTIEGSFATALISMUS

FAILED STATES, »ISLAMISCHER STAAT« UND DIE GLOBALISIERUNG DES TERRORS

ZEITEN DES ZORNS, WELTWEIT GESEHEN

TÜRKISCHE SÄUREBÄDER

3. KRIEG DEN PALÄSTEN — Weshalb die globalisierten Eliten in Politik und Wirtschaft am Pranger stehen

PESSIMISMUS SCHÜRT ZYNISMUS

FAKTEN? FIKTIONEN? EGAL!

UNSER TÄGLICHES DRAMA

WARUM HÖREN WIR DEN POPULISTEN ÜBERHAUPT ZU?

DIE LÄRMSPIRALE

ANTI-GLOBALISTISCHER POPULISMUS

DER POPULISMUSZYKLUS

ANGRIFF AUF DIE NOTENBANKEN

ACHTEN SIE AUF RISIKEN UND NEBENWIRKUNGEN!

4. MIT DEM KÜHLEN BLICK DES ÖKONOMEN — Wozu man Nationalstaaten braucht – und wozu nicht

EIN MARKT, EINE NATION, EINE REGIERUNG, EIN GESETZ

EINE WIRTSCHAFTSNATION – DER FALL DEUTSCHLAND

DIE NATIONALE »ZIVILRELIGION«

NATION BUILDING – DAS VOLK ALS ERFINDUNG UND ALS VORSTELLUNG

ÖFFENTLICHKEIT UND DEMOKRATIE

NATIONALE SCHATTENSEITEN: VON FEINDBILDERN UND KOLLEKTIVEM IRRSINN

DIE WELT SIEHT ZU MIT GRAUSEN

5. VON BRÜSSEL NACH UTOPISTAN — Wie sich der Nationalstaat überwinden lässt

DIE DEMOKRATISIERUNG DER GLOBALISIERUNG

DIE RÜCKKEHR DER GESCHICHTE?

DIE STUNDE DER TECHNOKRATEN

WO BITTE GEHT ES NACH EUROPA?

EUROPAS LEBENSLÜGEN

DIE GROSSE VAROUFAKIS-SHOW

DAS »TRILEMMA« DER GLOBALISIERUNG

DAS KONZERT DES 21. JAHRHUNDERTS

DAS GLOBALE LAGERFEUER

SCHLUSS: DIE SACHE MIT DEM PATRIOTISMUS — Warum wir uns vor falschen Alternativen hüten sollten

Anmerkungen

Literatur

Register

EINLEITUNG: DER ANGRIFF

Wie die offene Welt unter die Räder kommt

Rund um den Globus läuft derzeit ein Großangriff auf unseren Wohlstand. Populisten gewinnen Wahlen. Die Rhetorik wird schriller. Grenzen schließen sich, selbst in Europa. Die internationale Verflechtung der Wirtschaft wird nach und nach zurückgenommen. Wir stehen am Beginn einer De-Globalisierung, einer Entwicklung, die insbesondere für die offene deutsche Wirtschaft hochproblematisch ist, weil sie das bundesrepublikanische Geschäftsmodell infragestellt. Es ist ungewiss, ob die exportorientierte Industrie, auf die sich dieses Land lange stützen konnte, auch künftig noch die tragende Säule des Wohlstands sein kann.

Einstweilen verkommt Politik zum Nationaltheater, und dieses entspinnt sich als Tragödie. Populistische Patrioten und despotische starke Männer versprechen Schutz – vor Zuwanderern, vor ausländischer Konkurrenz, vor Terror und Unsicherheit. Doch sie werden das genaue Gegenteil erreichen: weniger Wohlstand, weniger Jobs, weniger Sicherheit. Auf nationaler Ebene lassen sich die Probleme, mit denen wir es aktuell und in Zukunft zu tun haben, nicht lösen. Heute leben sechsmal so viele Menschen auf der Erde wie um 1900. Der Planet wird so intensiv genutzt wie nie zuvor. Wir beeinflussen einander, egal ob wir es akzeptieren wollen oder nicht. Ressourcen werden knapp: Wasser, Luft, fruchtbares Land. Zäune und Mauern bauen, nationale Märkte schützen, ausländische Investoren draußen halten – das sind keine vernünftigen Optionen, weil sie die Bevölkerungen ärmer machen und ihr Leben instabiler.

Die Menschheit ist zur Zusammenarbeit verdammt, mehr noch: zu Formen internationaler Regierungsführung, zu echter gemeinsamer governance. Aber diese Erkenntnis ist derzeit so unpopulär, dass sie in den Debatten kaum noch eine Rolle spielt. Die etablierten Eliten in Politik und Wirtschaft sind ängstlich, müde und kleinmütig geworden. Sie igeln sich ein, ziehen sich aus den Debatten zurück und überlassen den Populisten das Feld. Wie gesagt: eine Tragödie.

Viel steht auf dem Spiel. Was wird aus unserem Wohlstand, unserer Sicherheit, unserer Umwelt, unserem Frieden?

Von überall erreichen uns besorgniserregende Signale.

In den USA hat Donald Trumps dumpf dröhnende Kampagne die Politik verändert. Sein Wahlsieg im November 2016 hat offenbart, dass sich mit protektionistischen und chauvinistischen Sprüchen punkten lässt. Auf Fakten kommt es dabei nicht an. Im Herzen der westlichen Weltmacht vollzieht sich eine allmähliche Abkehr von der Welt. Als Präsident des immer noch größten und mächtigsten Landes ist Trumps Triumph eine historische Zäsur mit globalen Auswirkungen. Der Westen in seiner bisherigen Form hört auf zu existieren. Ob und inwieweit die USA künftig noch ihre Rolle als militärische Schutzmacht Europas und Teilen Asiens ausüben werden, ist völlig offen. Ökonomisch schickt sich Trump an, ein Vabanquespiel zu wagen. Wenn sich der größte Binnenmarkt der Weltwirtschaft auf einen protektionistischen Kurs begibt, werden die Schockwellen gerade seine größten Handelspartner treffen, ganz besonders Deutschland. Die angekündigten Ausgabenprogramme in Verbindung mit Steuersenkungen werden einen massiven Anstieg der Staatsverschuldung zur Folge haben. Entsprechend heftig waren bereits vor seinem Amtsantritt die Reaktionen der Finanzmärkte: steigende Zinsen, höhere Inflationserwartungen, Wechselkursschwankungen. Eine Zeit der Unruhe und der Unsicherheit beginnt.

Eigentlich wäre mehr Europa die adäquate Antwort auf die neuen Herausforderungen. Doch die Europäische Union (EU) ist nach Jahren der schwelenden Krise von akuten Zerfallsprozessen bedroht. Nach dem Brexit-Referendum vom Sommer 2016 ist Großbritannien dabei, aus der EU auszusteigen. Eine Kettenreaktion hat eingesetzt: Auch andere Mitgliedstaaten spielen mit der Exit-Option. Europa, in den Nachkriegsjahrzehnten eine Säule der Stabilität, scheint in Auflösung begriffen.

In Frankreich verschiebt das Auftrumpfen des Front National (FN) das politische Spektrum nach rechts. Wahlsiege des FN und seiner Parteichefin Marine Le Pen würden die – nach ihrem Selbstbild – Nicht-mehr-ganz-so-große-Nation aus der Währungsunion und der EU herauskatapultieren. Die europäische Integration in ihrer bisherigen Form wäre dann endgültig am Ende.

In Polen führt die katholisch-nationalkonservative Kaczyński-Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) das einstige mittelosteuropäische Vorzeigeland fort von europäischer Integration und westlichem Laisser-faire. In Ungarn verfolgt Viktor Orbán einen spezifisch magyarischen Mix aus Nationalstolz, ethnischer Abgrenzung und Willkommenskultur für internationale Investoren. In den Niederlanden gelang es im Frühjahr 2016 per Referendum, die EU-Außenpolitik auszuhebeln und das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine zu stoppen – es war keine Sachentscheidung, sondern ein Aufbegehren gegen die EU.

Auch die Bundesrepublik mit ihrer postnationalen Nachkriegsgeschichte ist nicht mehr immun gegen nationale Versuchungen. Die Alternative für Deutschland (AfD) hat sich binnen weniger Jahre etabliert. Parallel dazu redet Linken-Frontfrau Sahra Wagenknecht einer Stärkung »kleinteiliger Strukturen« das Wort, die Schluss machen soll mit einem globalkapitalistischen »Wirtschaftsfeudalismus«.1 Von Links wie Rechts nimmt der Druck auf die offene Wirtschaftsordnung zu. Dass Deutschland über stabile Regierungen verfügt, die als Orientierungsanker im In- und Ausland dienen, ist inzwischen keine Selbstverständlichkeit mehr: Im Zweifel verfügen auch große Koalitionen aus Christ- und Sozialdemokraten nicht mehr über jene satten Regierungsmehrheiten, die bislang als selbstverständlich galten. Der Bundesrepublik, in den vergangenen Jahren Europas informelle Führungsmacht, droht, was viele Nachbarländer längst plagt: ein zersplittertes, zerstrittenes und deshalb kaum noch bewegungsfähiges politisches System. Die Folgen werden weit über Deutschlands Grenzen hinaus spürbar sein.

Auch in wichtigen Schwellenländern entfaltet sich ein trübes Panorama. Staatschefs, die einst als moderate Landesväter gestartet waren – wie Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei und Wladimir Putin in Russland –, setzen längst auf Repression im Innern und schroffe Abgrenzung nach außen, auf heimatländisch tönende Propaganda und territoriale Ausdehnung. Vor dem Einsatz von Waffengewalt für die nationale Sache schrecken sie nicht zurück.

In Japan steuert Premier Shinzo Abe sein Land mit schrillen Obertönen. Die expansive Wirtschaftspolitik (»Abenomics«) ist eingebettet in eine Erzählung nationaler Selbstbehauptung, militärische Aufrüstung inbegriffen.

Währenddessen ist Präsident Xi Jinping auf dem chinesischen Festland dabei, mit harter Hand die Macht im Staate zu rezentralisieren. Nach langem Boom ist die Wirtschaft erlahmt. Umso mehr erhöht er den Konformitätsdruck im Innern. Und weil die kommunistische Doktrin in einem faktisch erzkapitalistischen Land ideologisch nicht mehr recht greift, setzt er harte patriotische Akzente: Er beschwört einen »chinesischen Traum«, um die »chinesische Identität« zu stärken und eine »korrekte Einstellung zu Geschichte, Nation, Staat und Kultur« zu stärken.2 Nebenbei positioniert er sein Land nach außen als regionale Vormacht mit Expansionsdrang.

Es ist deprimierend: Überall auf der Welt sind nationale Reflexe zurück. Parolen dominieren die Politik. Das Fiktive triumphiert über das Faktische. Breitbeinige Posen ersetzen komplexe Problemlösungen.

STEUERUNGSLOS DURCH EINE TURBULENTE WELT

Nicht nur Populisten und Autokraten nähren die Illusion, sie wären Herren der Lage. Auch echte Demokraten im Westen tun gern so, als hätten sie alles im Griff. Doch davon kann längst keine Rede mehr sein. Manchmal erreichen sie sogar das Gegenteil dessen, was sie eigentlich wollten – weil eine dicht verwobene Weltwirtschaft, Weltgesellschaft, Weltbiosphäre nationale Grenzen schlicht ignoriert.

Ein paar Beispiele – die Aufzählung ließe sich verlängern: Die europäischen Regierungen pochen gern auf ihre nationale Souveränität, weshalb es weder eine europäische Bundespolizei noch eine gemeinsame Armee gibt. Die Folgen: Terroristen können sich nach wie vor weitgehend ungehindert durch den Schengen-Raum bewegen. Der Zuzug von Kriegsflüchtlingen konnte nur notdürftig gebremst werden, indem man die Türkei für Hilfe bezahlt. Und ohne die USA, die ihre Militärpräsenz in Osteuropa unter Barack Obama verstärkt haben, die unter Trump aber ihre sicherheitspolitischen Koordinaten komplett verändern dürften, hat Europa gegenüber Russland keine Chance.

Der Klimagipfel von Paris Ende 2015 hat beschlossen, die Nutzung von fossilen Brennstoffen langfristig zu beenden, um einen ökologischen Zusammenbruch des Planeten zu verhindern. Wie dieses große Ziel in den kommenden Jahren und Jahrzehnten erreicht werden soll, ist völlig unklar. Nationale Regierungen und Parlamente sind hoffnungslos überfordert, wenn sie sich um globale Emissionsziele kümmern sollen.

Nicht nur dem Klima, auch der weltweiten Finanzstabilität würde es helfen, wenn die Achterbahnfahrt des Ölpreises gebremst würde. Doch die Förderländer sind nicht in der Lage, sich auf ein effektives Management des Ölangebots zu einigen.

Staaten, Unternehmen und Bürger in aller Welt werden von hohen Schulden förmlich erdrückt. Die Folgen sind Finanzlabilität, zumal in den Schwellenländern, sowie schwaches Wachstum und hohe Arbeitslosigkeit, zumal in Europa. Eigentlich bräuchte es einen Plan zum weltweiten Schuldenabbau. Daran ist aber nicht zu denken, nicht einmal innerhalb der Eurozone.

Überall in den reichen Ländern ist die Erosion der Steuerbasis durch Offshore-Firmen ein Problem, seit langem schon. Die Enthüllungen der Panama-Papers-Affäre im Frühjahr 2016 haben das Thema einmal mehr ins Scheinwerferlicht gerückt. Aber nationale Finanzbehörden stehen auf offenen Kapitalmärkten allzu oft auf verlorenem Posten.

Immer drängender stellt sich die Frage: Wer regiert die Welt?

Eigentlich wäre auf vielen Feldern ein überstaatliches Vorgehen nötig: mehr Koordination, teils sogar die abgestufte Abgabe nationaler Souveränität an überstaatliche Institutionen – von der Eurozone und der Europäischen Union bis hin zum gemeinsamen Management von globalen Systemen wie den Finanzmärkten, dem Klima oder den Ozeanen.

Doch die politische Realität sieht anders aus: Statt gezielt die überstaatliche Zusammenarbeit zu verbessern, ist eine Internationale der Nationalpopulisten auf dem Vormarsch. Einzelstaatliche Souveränität wird wieder zum Fetisch. Die Behauptung politischer Handlungsfähigkeit ersetzt politisches Handeln.

Das Resultat ist dramatisch: der Verlust von Steuerungsfähigkeit.

Hochgradig mobile Akteure (Konzerne, Nichtregierungsorganisationen, aber auch gut informierte Migranten) überwinden Grenzen mühelos. Nationale Hoheitsansprüche werden durch grenzüberschreitende Effekte teils eingeschränkt, teils ad absurdum geführt. In einer hochgradig interdependenten Welt können einzelne Staaten nicht mehr viel ausrichten.

Zugegeben, das Problem ist nicht neu. Schon im 19. Jahrhundert beschäftigten sich westliche Denker mit der Frage, wie sich eine Welt aus Nationalstaaten befrieden lasse. Der Historiker Mark Mazower hat es in seinem hochinteressanten Buch Governing the World dargelegt.3 Damals bestand die Hoffnung, die Machtbalance zwischen den Großmächten könnte, ergänzt um ein dichtes Netz von technokratischen Verträgen, für dauerhafte Stabilität sorgen. Im 20. Jahrhundert brach dieses Gleichgewicht zusammen, die beiden Weltkriege waren der sichtbare Ausdruck.

In den Nachkriegsjahrzehnten war es dann mit der nationalen Souveränität nicht mehr weit her: Hegemoniale Blöcke, zusammengehalten von den Weltmächten USA und der Sowjetunion, schränkten die Handlungsoptionen der übrigen Staaten erheblich ein. Westeuropa versuchte es mit dem Aufbau eigener Institutionen, was letztlich zu EU und Euro führte.

Der Fall der Mauer und die folgende Globalisierung schließlich beendeten die Doppelhegemonie der Nachkriegszeit. In den neunziger Jahren herrschte zunächst der Glaube, der Vormarsch der westlichen Demokratie und die inhärente Stabilität der Weltmärkte würden quasi automatisch für einen fairen Ausgleich in der Welt sorgen. Frieden und Prosperität würden sich ausbreiten, staatliche Eingriffe, egal ob auf nationaler oder auf internationaler Ebene, seien kaum noch nötig.

Inzwischen ist es offensichtlich, dass die Dinge so nicht laufen: Schwach regulierte Finanzmärkte sind alles andere als stabil. Internationale Konzerne – von Google bis Volkswagen – sind inzwischen bedeutende globale Machtfaktoren. Autoritäre Regierungen – von China bis Russland – zeigen expansive Gelüste. Informationen sind in Echtzeit rund um den Globus verfügbar. Terroristen bedrohen die innere Sicherheit. Bilder aus weit entfernten Weltgegenden sorgen für Gefühlsstürme und beeinflussen die Öffentlichkeit. Zig Millionen Flüchtlinge machen sich auf den Weg zu einem besseren, sichereren Leben.

7,4 Milliarden Menschen bevölkern inzwischen den Planeten. Es wird eng auf der Erde. Entsprechend konfliktreich werden die Zeiten. Nationalstaaten waren das Ordnungsprinzip des 19. Jahrhunderts. Zu glauben, sie seien auch die Lösung für die Probleme des 21. Jahrhunderts, ist eine gefährliche Illusion.

Dieses Buch sucht Antworten auf fünf fundamentale Fragenkomplexe:

Warum ausgerechnet jetzt? Warum erstarkt gerade jetzt das nationale Moment und stellt die Globalisierung infrage? Welche Kräfte treiben diesen Trend? Kapitel 2 erklärt, wie die Globalisierung sich abschafft – und warum von Peking bis Pegida die Neonationalisten auf dem Vormarsch sind.

Was haben die Eliten falsch gemacht? Wieso geht die neue Globalisierungsangst einher mit einem massiven Vertrauensverlust in die traditionellen Führungszirkel in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft? Warum treten sie den Neu-Nationalen nicht entschiedener entgegen? Kapitel 3 analysiert den Krieg gegen die Paläste – und weshalb die globalisierten Eliten in Politik und Wirtschaft am Pranger stehen.

Warum gibt es überhaupt Nationalstaaten? Wie sind sie einst entstanden? Welches sind ihre ökonomischen Funktionen? Warum erscheinen sie uns heute als natürliche Ordnung der Welt? Kapitel 4 wählt den kühlen Blick des Ökonomen – und sagt, wozu man Nationalstaaten braucht und wozu nicht.

Gibt es Alternativen zum Nationalstaat? Wie ließen sich die großen überstaatlichen Probleme lösen? Welche Gegenentwürfe sind denkbar? Wird dadurch die Demokratie ausgehöhlt? Wie sähe eine wirklich funktionsfähige EU aus? Kapitel 5 wagt eine gedankliche Reise von Brüssel nach Utopistan – und erörtert, inwieweit sich der Nationalstaat überwinden lässt.

Was kann Patriotismus heute bedeuten? Das Schlusskapitel stellt die Frage nach der nationalen Identität ins Zentrum – und warnt vor falschen Alternativen.

Der Rückbezug aufs Nationale ist umso problematischer, als sich die Menschheit an der Schwelle zu einer hochgefährlichen Epoche befindet. Wir stehen vor zwei Arten von Herausforderungen: vor unmittelbaren und vor langfristigen. In den kommenden Jahren und Jahrzehnten wird sich entscheiden, wie es weitergeht: ob wir gemeinsam in der Lage sind, friedlich und fair einen eng besiedelten und hochgradig intensiv genutzten Planeten zu bewohnen – oder ob wir uns durch Krieg, Terror, Umweltzerstörung und Ausbeutung gegenseitig das Leben zur Hölle machen. Die derzeitigen Entwicklungspfade sind nicht nachhaltig. Die Lage ist aber keineswegs hoffnungslos. Umsteuern ist möglich. Doch klar ist auch: Nur übernationale Ansätze versprechen tragfähige Lösungen, weil die Probleme sich nicht an nationale Grenzen halten.

Es sind vor allem vier Sackgassen, aus denen die Welt herausfinden muss: ökonomische, demografische, ökologische und sicherheitspolitische. Mit ihnen befasst sich das folgende Kapitel.

1. DIE VIER SACKGASSEN

Warum die Menschheit dabei ist, kollektiv vor die Wand zu fahren

Ein Blick in die Nachrichtenseiten genügt, um den Eindruck zu gewinnen, die Welt sei aus den Fugen geraten. Terroristen, Selbstmordattentäter und Amokläufer schlagen quer durch Europa zu. Der »Islamische Staat« und andere islamistische Gruppen überziehen weite Teile Arabiens und Nordafrikas mit Krieg, Terror und Ausbeutung. Millionen von Flüchtlingen machen sich auf den Weg nach Europa. In der Türkei schwingt sich der Präsident zum Alleinherrscher auf, lässt Oppositionelle und Akademiker verfolgen und die Presse gleichschalten. In Europa ist ein neuer kalter Krieg zwischen dem Westen und Russland ausgebrochen: Entlang der NATO-Ostgrenze stehen sich immer größere Militärkontingente gegenüber. Währenddessen ist der Westen im Begriff, sich selbst zu zerlegen: Bereits im Wahlkampf hat Amerikas neuer Präsident Donald Trump die unbedingte Solidarität mit den NATO-Partnern aufgekündigt, per Interview in der New York Times. Die EU steckt in einer existenziellen Krise. Selbst einzelne westeuropäische Länder zeigen Auflösungserscheinungen; Schotten, Katalanen, Flamen werden nicht müde, eigene Staaten zu fordern. Deutschland ist mit seiner unabweisbaren europäischen Führungsrolle überfordert.

Die gegenwärtigen Entwicklungen beschwören ein altes westliches Trauma herauf: den Niedergang des Römischen Imperiums. Dessen Hochkultur wurde einst überrannt vom Ansturm der Barbaren aus dem Norden, um dann in jahrhundertelangem Kulturverfall zu versinken. Natürlich, Geschichte wiederholt sich nicht, jedenfalls nicht eins zu eins. Und doch: Vor unseren Augen scheint die offene, zivile, friedliche Ordnung auseinanderzubrechen und einer gefährlichen Unordnung zu weichen.

Die große Frage ist: Warum? Die nächsten beiden Kapitel untersuchen die politökonomischen Ursachen der derzeitigen Stresssymptome. In diesem Kapitel geht es zunächst um die Frage, welches destruktive Potenzial sich für die Zukunft aus der Renationalisierung entwickelt. Vor allem vier Faktoren spielen dabei eine Rolle:

Die Weltwirtschaft produziert nicht mehr die gewohnten Wohlstandszuwächse vergangener Jahrzehnte. Deshalb werden die Verteilungskämpfe schärfer – innerhalb von Gesellschaften, zwischen Kulturen und Religionen, zwischen Staaten.

Die Weltbevölkerung wächst weiter, aber regional höchst ungleichmäßig, sie ist besser informiert und wird immer mobiler. Migrationsströme und die damit verbundenen kulturellen Reibungen nehmen deshalb zu – innerhalb von Gesellschaften, zwischen Staaten, zwischen Kontinenten.

Das Weltklima verändert sich spürbar, ein Prozess, bei dem viele auf der Verliererseite enden werden. Wasserknappheit und Ernteausfälle bedrohen gerade jene Gebiete, die die größten Bevölkerungszuwächse aufweisen.

Der Weltfrieden wird bedroht durch neue Terrorgruppen wie den »Islamischen Staat«, die sich an keine Regeln halten, und durch den Expansionsdrang von Nuklearmächten wie Russland und China, die versuchen, Territorien und Einflusssphären auszudehnen. Was innere und was äußere Sicherheit ist, lässt sich immer schwerer auseinanderhalten.

Diese vier Faktoren bedingen einander gegenseitig: Bleiben Wohlstandszuwächse aus, werden die Geburtenraten langsamer zurückgehen als bislang erwartet, wodurch wiederum die Weltbevölkerung umso schneller wächst, sodass der Klimawandel noch schwieriger zu bremsen sein wird und die Sicherheitslage umso prekärer. So, wie die Dinge derzeit laufen, befindet sich die Menschheit in vier Sackgassen gleichzeitig. Es lohnt sich, diese nacheinander zu erkunden.

DIE ÖKONOMISCHE SACKGASSE

Die Weltwirtschaft ist gefangen in einer Schuldenspirale. Seit Jahren schon. Auch wenn viel vom Sparen und Kürzen geredet wird: Die Zahlen offenbaren ein anderes Bild. Sagenhafte 140 Billionen US-Dollar, mehr als das Doppelte des globalen Sozialprodukts, betragen die gesamten Verbindlichkeiten von Staaten, Unternehmen und Bürgern,4 wie die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) errechnet hat. Seit 2007, dem Jahr vor dem Ausbruch der Finanzkrise, hat sich das Schuldenloch um ein Drittel vergrößert.5 Es ist nicht so, dass die Welt allmählich aus den roten Zahlen herauswüchse. Im Gegenteil: Wie in einer Kettenreaktion zieht sich die Auf-Pump-Wirtschaft rund um den Globus. Es ist stets das gleiche Muster: Zunächst verschulden sich Unternehmen und Bürger. Dann bricht eine akute Finanzkrise aus. Darauf folgt eine quälend lange Phase, in der die Wirtschaft lahmt und die staatliche Verschuldung immer weiter steigt. Selbst wenn es Unternehmen und Bürgern gelingt, ihre Verbindlichkeiten allmählich abzubauen, so wiegt die gesamte Schuldenlast der Volkswirtschaften doch immer schwerer.6

Es begann in Japan mit dem Nippon-Boom der achtziger Jahre. In den Neunzigern sprang der Funke über auf Westeuropa und Nordamerika, wo insbesondere während der vermeintlich goldenen Nullerjahre die Verschuldung von Bürgern und Unternehmen stark anstieg. Als die Finanzkrise von 2008/09 das Spiel beendete, ging es in den Schwellenländern weiter: Vor allem China ließ seine Staatsbanken von der Kette und weitete die Kreditvergabe an Unternehmen drastisch aus, um den Investitionsboom weiter zu finanzieren. Inzwischen treiben sogar Ölexporteure wie Saudi-Arabien die Verschuldung in die Höhe. Das Resultat: Seit 2007 ist die Schuldenlast in den Schwellenländern um rund die Hälfte gestiegen, auf inzwischen 170 Prozent des BIP, wobei die öffentlichen Verbindlichkeiten bislang kaum angewachsen sind (siehe Abbildung 1).

1. Globale Schuldentürme

Verbindlichkeiten von Staaten, Unternehmen und privaten Haushalten

Quelle: Bank für Internationalen Zahlungsausgleich

So könne das auf keinen Fall auf Dauer weitergehen, mahnt die BIZ. Setzt sich der bisherige Trend fort, rutscht die Welt in die kollektive Pleite. Würden die Notenbanken rund um den Globus die Zinsen nicht künstlich niedrig halten, wäre die Lage längst prekär. Entsprechend dramatische weltwirtschaftliche Auswirkungen dürfte die sich ankündigende Hochzinspolitik der USA unter Trump zeitigen.

Es gibt nur wenige Länder, die sich der Kettenreaktion bislang entzogen haben. Die größte unter den solideren Volkswirtschaften ist die Bundesrepublik. Kein anderes Land von vergleichbarer Wirtschaftskraft geht so konservativ mit Geld um. Sparen, Kürzen, Lohnzurückhaltung – die Bundesrepublik ist eine rare Ausnahme. Unternehmen und Bürger sind nur moderat verschuldet, die staatliche Schuldenlast sinkt sogar. Deutschland, ein massiver Fels inmitten einer unsoliden Welt – so jedenfalls sehen sich die Deutschen selbst.

Doch das scheinbar schöne Bild hat eine wenig beachtete Kehrseite: Die Bundesrepublik ist inzwischen eine der größten Geldverleihnationen. 2015 flossen aus Deutschland netto 232 Milliarden Euro in den Rest der Welt, so die Bundesbank.7 Der größte Teil davon wurde in Wertpapiere gesteckt, überwiegend in Anleihen, zunehmend aber auch in Aktien. So geht das seit anderthalb Jahrzehnten. Das sparsame Deutschland erwirtschaftet ständig mehr Geld, als im Inland ausgegeben wird. Die Überschüsse werden im Ausland investiert. So hat sich seit Anfang 2000 ein gigantisches Vermögen aufgebaut. Netto verfügt Deutschland derzeit über Forderungen gegenüber dem Rest der Welt in Höhe von über 1,5 Billionen Euro, mehr als 50 Prozent des deutschen BIP.

Man muss allerdings bezweifeln, dass dieses Geld gut angelegt ist. Denn das deutsche Auslandsvermögen besteht letztlich aus den Verbindlichkeiten der anderen. Es geht um sehr große Summen. Zwischen 2001 und 2015 hat die Bundesrepublik Leistungsbilanzüberschüsse von aufsummiert 2 Billionen Euro eingefahren, insbesondere durch die hohen Exportüberschüsse. Das Auslandsvermögen beträgt aber lediglich 1,5 Billionen. 500 Milliarden Euro sind also verloren gegangen – 20 Prozent des BIP. Und niemanden stört’s. Die Verluste dürften sich noch vergrößern: Wenn am Ende überschuldete Staaten und Unternehmen ihre Außenstände nicht vollständig begleichen können, weil die Schuldner zahlungsunfähig sind, muss Deutschland Forderungen abschreiben.

Das deutsche Beispiel zeigt: Kein Land kann sich der globalen Schuldendynamik entziehen. Wir hängen alle mit drin, Schuldner genauso wie Gläubiger. Wer spart, droht am Ende als der Dumme dazustehen.

Wenig Wachstum, kaum Fortschritt

Die hohen Schulden wären nicht weiter schlimm, würde die Weltwirtschaft dynamisch wachsen. Dann ließen sich mit etwas Ausgabendisziplin die Verbindlichkeiten allmählich abbauen. Aber das ist nicht der Fall. Die ökonomische Dynamik ist weltweit abgeflaut. Die hohen Zuwächse früherer Jahrzehnte sind Geschichte. Im Schnitt der OECD-Länder hat sich der Wachstumstrend (»Potenzialwachstum«) seit dem Jahr 2000 halbiert, auf nur noch 1 Prozent jährlich.8 Rund um den Globus wird deutlich weniger investiert als früher. Auch China schafft längst nicht mehr seine frühere Wachstumsnorm von 10 Prozent jährlich, während rohstoffexportierende Volkswirtschaften wie Russland und Brasilien in schweren Krisen stecken.

Beunruhigend ist insbesondere die Produktivitätsentwicklung: Seit mehr als zwei Jahrzehnten fallen die Zuwächse des Outputs pro Arbeitsstunde in den reichen Volkswirtschaften immer weiter Richtung Nulllinie. Die Schwellenländer scheinen diesem Trend mit einem Jahrzehnt Verspätung zu folgen (Abbildung 2).

2. Fortschritt? Welcher Fortschritt?

Zunahme der Arbeitsproduktivität

Quelle: BIZ (2016), S. 10.

Ökonomen ringen um Erklärungen. Von »säkularer Stagnation« ist die Rede:9 von zu schwacher Nachfrage, bedingt durch die Alterung der Bevölkerung, ungleiche Einkommensverteilung und die Digitalisierung. Andere sehen die Innovationskraft erlahmen, weil die wirklich nützlichen Dinge schon alle erfunden worden seien und die Kosten für neue Entdeckungen und Entwicklungen immer weiter stiegen.10 Die Digitalisierung drücke das gemessene Wirtschaftswachstum, weil dadurch der Marktwert vieler Güter drastisch sinkt.11

Viele Erklärungen, die um die Deutungshoheit konkurrieren. Weithin unbestritten ist jedoch, dass die hohen Schulden eine zentrale Rolle beim Abflauen des Wachstums spielen.12 Denn der Schuldendienst bindet Mittel: Wenn ein großer Anteil der laufenden Einkommen, Cashflows und Steuereinnahmen in Zins und Tilgung fließt, dann fehlen Gelder für Investitionen und Innovationen. Entsprechend schmaler fällt das künftige Produktionspotenzial aus – entsprechend schwieriger wird es, hohe Schuldenlasten zu tragen. Wir nähern uns dem Ende der Sackgasse.

Kapitel 2 wird sich eingehend mit der Anatomie des gegenwärtigen Wirtschaftsmodells, den Ursachen und Folgen der derzeitigen schleichenden Krise beschäftigen. An dieser Stelle soll der Hinweis genügen, dass die Weltwirtschaft dabei ist, insgesamt in die Schuldenfalle zu taumeln. Das ist neu. Seit dem Zweiten Weltkrieg waren Schuldenkrisen stets auf ein Land oder eine Gruppe von Ländern beschränkt. Ob die lateinamerikanische Schuldenkrise der achtziger Jahre, der Japan-Crash von 1990, die Mexiko-Krise von 1994/95 oder die Asien-Krise von 1997/98 – all diese ökonomischen Unwetter fanden statt in einer ansonsten heiteren weltwirtschaftlichen Großwetterlage, sodass Nordamerika und Westeuropa die angeschlagenen Volkswirtschaften mitziehen konnten. Nach dem Lehman-Crash und der folgenden großen Rezession von 2008/09 wiederum profitierte der Westen von der Dynamik der Schwellenländer, die inzwischen zu stattlicher Wirtschaftskraft herangewachsenen waren. Heute allerdings ist es mit der automatischen Stabilisierung der Weltwirtschaft nicht mehr weit her: Praktisch alle großen Wirtschaftsräume nähern sich gleichzeitig einem Zustand übermäßiger Verschuldung. Anders als früher ist es sinnlos, auf eine automatische Rettung von außen zu hoffen.

Das Finanzsystem ist bislang nicht zusammengebrochen, weil die Notenbanken mit immer neuen Wellen von Liquidität die Märkte fluten und so den Schuldendienst künstlich verbilligen. Die Probleme sind nicht gelöst, bloß vertagt. Entsprechend hoch bleiben die Schuldenstände, und sie steigen immer weiter.

Letzter Ausweg Handelskrieg

In dieser Situation ist es letztlich zwecklos, wenn einzelne Staaten gegen die hohen Schulden ansparen: Wer Ausgaben kürzt, dämpft die Nachfrage, wodurch wiederum das Wachstum leidet und die Schuldenlast umso schwerer wiegt. Auch solide scheinende Gläubigernationen wie Deutschland sind keineswegs immun: Wenn die globale Nachfrage schwächelt, leiden die Exporte. Und wenn Schuldner in die Knie gehen, können sie ihre Forderungen nicht mehr begleichen.

Wie gesagt, wir alle stecken gemeinsam in der globalen ökonomischen Sackgasse.

Und je tiefer wir in diese Sackgasse hineingeraten, desto düsterer wird es. Denn letztlich sind die hohen Schulden nicht kompatibel mit einer offenen Weltwirtschaft. Ohne Wachstum erscheint der internationale Handel als Nullsummenspiel. Was der eine gewinnt, verliert der andere. Das Versprechen, wonach der freie Austausch der Nationen den Wohlstand in der Breite mehrt – jahrhundertelang empirisch erprobt –, verliert an Überzeugungskraft. Es ist das typische Phänomen einer Dauerkrise: Die ökonomisch Schwachen versuchen, sich vor scheinbar übermächtigen internationalen Wettbewerbern zu schützen. So war es auch in den dreißiger Jahren, als die globale Depression in einen Handelskrieg ausartete. Das politökonomische Muster ist dabei stets das gleiche: Die Angst vor der Konkurrenz schweißt schlagkräftige Koalitionen aus Arbeitern, Gewerkschaftern, Wirtschaftsvertretern und Politikern zusammen. Die Nutznießer des freien Handels, Konsumenten und wettbewerbsfähige Unternehmen, können ihre Interessen hingegen kaum organisieren, geschweige denn durchsetzen.

Auch heute versuchen protektionistische Politiker wieder, den internationalen Austausch zurückzudrehen. Von Donald Trump in den USA über Marine Le Pen in Frankreich bis zu Beppe Grillo in Italien – sie versprechen Schutz vor Konkurrenten, wahlweise aus China, Mexiko oder Deutschland, die angeblich schuld sein sollen an all den Zumutungen der Gegenwart. Sie treffen damit einen Nerv, gerade in Regionen, in denen die Arbeitslosigkeit hoch ist und die Einkommensentwicklung schwach.

Dabei ist die grenzüberschreitende Bewegungsfreiheit für Menschen und Güter eine Errungenschaft, die in den Nachkriegsjahrzehnten in mühsamen Verhandlungen erreicht wurde. Der internationale Austausch wurde immer intensiver. Der Handel nahm schneller zu als das Sozialprodukt, ein Indikator für die zunehmende Verflechtung der Weltwirtschaft. Rezessionen unterbrachen die fortschreitende Globalisierung nur vorübergehend. Doch in diesem Jahrzehnt ist das Muster durchbrochen: Seit 2012 stagniert die Globalisierungsintensität. Sie geht sogar leicht zurück (Abbildung 3).

3. Auf der Nulllinie

Globalisierungsintensität: Differenz zwischen Wachstum des Welthandels und der Weltwirtschaft in Prozent

Quelle: IWF, eigene Berechnungen

Verantwortlich für das Erlahmen des Welthandels sind vor allem die großen Schwellenländer. Im vorigen Jahrzehnt waren sie die stärksten Antreiber der Globalisierung. Jetzt importieren sie immer weniger: China, Indien, Indonesien, Russland, Südafrika, Brasilien, Argentinien – überall der gleiche Trend.13 Ein Rückgang, der zum Teil von veränderten Marktbedingungen herrührt – niedrige Rohstoffpreise drücken auf die Handelsbilanzen. Aber erkennbar ist auch das verstärkte Bemühen, mehr im jeweiligen Inland zu produzieren. China ist heute in der Lage, deutlich komplexere Güter herzustellen als noch vor zehn Jahren. Dabei helfen sollen unter anderem Subventionen, Billigkredite für eigentlich insolvente Zombie-Konzerne beispielsweise, gerade in Branchen mit Überkapazitäten wie der Stahlindustrie.